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Es ist immer schon Liebe gewesen. Liebe mit vielen Masken, Umwegen und hässlichen Wahrheiten.
Als Lenora Astalis erfährt, dass Vaughn Spencer eines der begehrten Stipendien für die Kunst-Akademie ihres Vaters bekommen hat, sieht sie ihre Chance gekommen: Endlich kann sie sich dafür rächen, dass Vaughn ihr an der All Saints High das Leben zur Hölle gemacht hat. Doch es kommt ganz anders, denn Lenora soll Vaughns Assistentin werden und mit ihm zusammenarbeiten! Je besser sie das Künstler-Genie mit dem eiskalten Blick kennenlernt, desto deutlicher wird, dass sich hinter seiner grausamen Fassade mehr verbirgt als angenommen. Und bald kann Lenora das Prickeln, das sie schon immer in Vaughns Nähe gespürt hat, nicht mehr ignorieren ...
"L. J. Shen schreibt keine Bücher, sie erschafft Kunstwerke, die allesamt eine tiefere Bedeutung haben." Charlie Books
Band 3 der ALL-SAINTS-HIGH-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin L.J. Shen!
Die ALL-SAINTS-HIGH-Reihe:
1. Die Prinzessin
2. Der Rebell
3. Der Verlorene
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Seitenzahl: 578
Titel
Zu diesem Buch
Leserhinweis
Widmung
Playlist
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
Epilog
Dank
Triggerwarnung
Die Autorin
Die Romane von L. J. Shen bei LYX
Impressum
L. J. Shen
All Saints High
DER VERLORENE
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anja Mehrmann
Als Lenora Astalis ihren Abschluss an der All Saints High macht, fällt ihr ein Stein vom Herzen. Endlich kann sie die Menschen hinter sich lassen, die ihr das Leben dort so schwer gemacht haben, und sich ganz ihrer Kunst widmen. Doch dann erfährt sie, dass Vaughn Spencer – das Bildhauer- Genie mit dem eiskalten Blick und die Nemesis ihrer Highschool-Zeit – eines der begehrten Stipendien für die Kunst- Akademie ihres Vaters bekommen hat! Zuerst liegt Lenoras Welt in Scherben, hatte sie doch selbst gehofft, auf Carlisle Castle lernen zu dürfen. Doch dann sieht sie ihre Chance gekommen: Denn Lenora soll Vaughns Assistentin werden und mit ihm zusammenarbeiten! Jetzt kann sie sich für die Erniedrigungen und die Quälereien rächen, die sie durch Vaughn erfahren musste. Aber selbst die besten Pläne haben ihre Schwächen, denn je mehr Zeit sie mit dem Künstler-Genie verbringt, desto deutlicher wird, dass sich hinter seiner grausamen Fassade ein dunkles Geheimnis verbirgt. Und schon bald kann Lenora das Prickeln, das sie schon immer in Vaughns Nähe gespürt hat, nicht mehr ignorieren …
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für Ratula Roy, Marta Bor und den Hoffnungsschimmer, der in jedem düsteren Moment unseres Lebens aufblitzt.
»Saints« – Echos
»Give You Hell« – The All-American Rejects
»Dirty Little Secret« – The All-American Rejects
»Handsome Devil« – The Smiths
»Bad Guy« – Billie Eilish
»My Own Worst Enemy« – Lit
»Help I’m Alive« – Metric
»Bandages« – Hot Hot Heat
»Peace Sells« – Megadeth
»Boyfriend« – Ariana Grande ft. Social Club
Lenora, 12; Vaughn, 13
Du hast nichts gesehen, gar nichts.
Er wird nicht kommen, um dich zu holen.
Er hat nicht einmal dein Gesicht gesehen.
Ich zitterte am ganzen Leib, während ich die Szene, deren Zeugin ich gerade geworden war, aus meiner Erinnerung zu löschen versuchte.
Ich schloss fest die Augen, krümmte mich auf der harten Matratze zusammen und begann, nervös hin und her zu schaukeln. Die rostigen Metallfüße des Betts verursachten ein wimmerndes Geräusch, als sie über den Boden schrammten.
Carlisle Castle war mir schon immer irgendwie unheimlich gewesen, aber noch zehn Minuten zuvor hatte ich geglaubt, das läge an den Geistern und nicht an den Schülern.
Nicht an einem dreizehnjährigen Jungen, dessen Gesicht an die Skulptur DerBarberinische Faun erinnerte – es war auf träge Art schön und unglaublich majestätisch.
Es konnte auf keinen Fall an Vaughn Spencer liegen.
Ich war an diesem Ort aufgewachsen und noch nie einem derart beängstigenden Wesen begegnet wie diesem dreisten amerikanischen Jungen.
Es hieß, Carlisle sei eine der Burgen in Großbritannien, in denen es am meisten spukte. In der Anlage, im siebzehnten Jahrhundert auf den Ruinen einer Festung aus dem elften Jahrhundert errichtet, waren anscheinend gleich zwei Geister zu Hause. Der erste war einem Diener erschienen, der vor Jahrzehnten im Keller eingesperrt gewesen war. Er schwor, er habe den Geist von Madame Tindall gesehen, die ihre Fingernägel ins Mauerwerk der Wände grub, um Wasser bettelte und behauptete, sie sei von ihrem Ehemann vergiftet worden. Der zweite Geist – der ihres Ehemannes, Lord Tindall – war nachweislich dabei beobachtet worden, wie er bei Nacht die Gänge unsicher machte und gelegentlich ein schief hängendes Bild geradezurücken versuchte, ohne es auch nur um einen Zentimeter zu bewegen.
Es hieß, Madame Tindall habe in dem Augenblick, in dem ihr klar wurde, dass er sie vergiftet hatte, das Herz des Lords mit einem Steakmesser durchbohrt und selbiges sicherheitshalber noch einmal umgedreht. Der Sage nach wollte ihr Mann das junge Mädchen heiraten, das er nach jahrelanger kinderloser Ehe mit Madame geschwängert hatte. Die Leute schworen, man könne das Messer noch immer in der Brust des Lords sehen. Angeblich klapperte es, wenn er lachte.
Wir waren vor knapp zehn Jahren eingezogen, als Papa die Carlisle Prep, eine renommierte Kunstschule, eröffnet und die talentiertesten Künstler aus ganz Europa eingeladen hatte.
Und alle waren sie gekommen. Schließlich war er der große Edgar Astalis, der Mann, dessen lebensgroße Napoleon-Statue namens Der Kaiser mitten auf den Champs-Elysées stand.
Aber auch sie fürchteten sich vor den Gespenstern, die es gerüchteweise hier gab.
Alles an diesem Ort war gruselig.
Die Burg ragte über einem nebligen Tal in Berkshire auf. Von oben betrachtet erinnerten ihre Umrisse an zwei gekreuzte schwarze Schwerter. Efeu und wilde Rosensträucher rankten sich an den steinernen Mauern des Innenhofs empor und verbargen geheime Pfade, die nachts häufig von den Schülern benutzt wurden. Die Gänge ähnelten einem Labyrinth, das im Kreis herum und darum stets zum Bildhaueratelier zurückführte.
Zum Herzen der Burg.
Stolz durchstreiften die Schüler die Säle, mit angespannten Gesichtern, die Wangen von der Kälte des scheinbar endlosen Winters gerötet. Das Carlisle-Privatinstitut für besonders Begabte und Befähigte blickte auf öffentliche Schulen wie Eton und Craigclowan herab. Papa war der Meinung, dass gewöhnliche Institute lediglich entschlussschwache, verwöhnte, mittelmäßig talentierte Schüler förderten, aber niemals echte Wegbereiter hervorbrachten. Unsere Uniform bestand aus einem schwarzen Umhang, über dessen linker Brusttasche in leuchtendem Gold das Motto von Carlisle eingestickt war:
Ars longa, vita brevis.
Die Kunst währt lange, das Leben nur kurz. Die Botschaft war klar: Der einzige Weg zur Unsterblichkeit führte über die Kunst. Mittelmäßigkeit galt geradezu als vulgär. Wir lebten in einer Ellenbogengesellschaft und waren durch unsere Gier, durch Verzweiflung und blinden Idealismus aneinandergekettet.
An dem Tag, an dem ich sah, was ich nicht hätte sehen dürfen, war ich erst zwölf Jahre alt. Ich war die jüngste Schülerin des Sommerlehrgangs der Schule, dicht gefolgt von Vaughn Spencer.
Anfangs war ich eifersüchtig auf diesen Jungen, der anstelle von Augen zwei Schlitze besaß, durchdringend und so kalt wie Stein. Obwohl er erst dreizehn war, arbeitete er bereits mit Marmor. Sein schwarzes Cape ignorierte er und verhielt sich auch sonst wie jemand, der mehr Rechte hatte als die anderen Schüler. Er ging sogar an Dozenten vorbei, ohne sich leicht zu verbeugen – etwas, das es an dieser Schule noch nie gegeben hatte.
Auch ich verbeugte mich, obwohl ich die Tochter des Direktors war.
Wenn ich es mir recht überlege, war ich sogar diejenige, die sich am tiefsten verbeugte.
Man sagte uns, wir stünden über allen anderen, weil wir die Künstler der Zukunft seien, und zwar weltweit gesehen. Wir hatten Talent und Status, besaßen Geld und Möglichkeiten. Aber wenn wir Silber waren, war Vaughn Spencer Gold. Wenn wir gut waren, war er brillant. Wenn wir leuchteten, glühte er mit der Kraft von tausend Sonnen und versengte alles um sich herum.
Es war, als hätte Gott ihn auf besondere Weise erschaffen, als hätte er bei ihm auf jedes Detail geachtet. Seine Wangenknochen waren scharf wie Messerklingen, seine Augen leuchteten im blassesten Blau, das in der Natur vorkam, und seine Haare waren tiefschwarz. Er war so blass, dass ich die Adern unter seiner Haut sehen konnte, aber sein Mund war so rot wie frisches Blut – warm, lebendig und trügerisch.
Er faszinierte mich und machte mich gleichzeitig wütend, aber ich blieb auf Abstand zu ihm wie alle anderen auch. Vaughn Spencer war nicht hierhergekommen, um Freundschaften zu schließen. Das machte er sehr deutlich, indem er weder im Speisesaal noch bei einer der zahlreichen geselligen Veranstaltungen auftauchte.
Und es gab noch etwas, das Vaughn im Gegensatz zu mir besaß: die Anerkennung meines Vaters. Ich hatte keine Ahnung, warum der große Edgar Astalis solchen Wirbel um einen Jungen aus Kalifornien machte, aber so war es nun mal.
Papa meinte, Vaughn würde später etwas Besonderes vollbringen, er würde eines Tages so groß sein wie Michelangelo.
Ich glaubte ihm.
Und deshalb hasste ich Vaughn.
Tatsächlich hatte ich ihn bis vor exakt fünfzehn Minuten gehasst, dem Zeitpunkt, an dem ich die Dunkelkammer betrat, um die Fotos zu entwickeln, die ich am Tag zuvor aufgenommen hatte. Fotografie betrieb ich als Hobby, nicht als Kunst. Meine künstlerische Tätigkeit konzentrierte sich auf Assemblage, das Erschaffen von Skulpturen aus Abfall. Es gefiel mir, aus hässlichen Dingen etwas Schönes zu machen, beschädigte Dinge in etwas Makelloses zu verwandeln.
Das gab mir Hoffnung. Ich wollte damit allem Hoffnung geben, was nicht perfekt war.
Okay, wie auch immer. Eigentlich hätte ich auf einen Tutor warten sollen, der mich in die Dunkelkammer begleiten würde. So lautete die Regel. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die Bilder, die ich gemacht hatte, furchtbar nichtssagend sein würden. Ich wollte sie ein weiteres Mal aufnehmen, und vorher sollte sie niemand sehen.
Es war mitten in der Nacht. Eigentlich hätte ich dort allein sein müssen.
Und während mich heftige Eifersucht auf Vaughn Spencer quälte, überraschte ich ihn bei etwas, das mich verwirrte und gleichzeitig auf seltsame Art wütend auf ihn machte.
Als ich im Bett lag und mich an mein peinliches Benehmen in der Dunkelkammer erinnerte, schlug ich mir mit der Hand vor die Stirn. Ich hatte »Pardon« gemurmelt, die Tür wieder zugeschlagen und war zurück in mein Zimmer gerannt.
Immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend, eilte ich die Treppe in den ersten Stock hinunter, stieß dabei beinahe die Statue eines Kriegers um, schrie auf und bog in den Gang zu den Schlafräumen der Mädchen ab. Alle Türen sahen gleich aus, und vor lauter Panik war mein Blick derart verschwommen, dass ich mein Zimmer nicht fand. Ich riss jede Tür auf und steckte den Kopf hinein. Ich hielt Ausschau nach der weißen Decke, die Mum für mich gehäkelt hatte, als ich noch ein Baby war. Als ich endlich im richtigen Zimmer ankam, hatte mich fast jedes Mädchen in diesem Flügel verflucht, weil ich es aus dem Schlaf gerissen hatte.
Ich verschwand in meinem Bett, und dort blieb ich, versteckt unter meiner Decke.
Er wird dich nicht finden.
Die Mädchenzimmer darf er nicht betreten.
Ob Genie oder nicht, wenn er es täte, würde Papa ihn rauswerfen.
Plötzlich hörte ich Schritte im Flur, und mir schlug das Herz bis zum Hals. Die Aufsicht pfiff im Dunkeln leise ein Schlaflied. Plötzlich hörte ich etwas heftig poltern. Ein kehliges Stöhnen war vor meinem Zimmer zu hören, und ich rollte mich noch enger zusammen. Mein Atem rasselte wie eine Kette im Verlies.
Quietschend öffnete sich die Tür. Ein Windzug kam herein, bei dem sich die Härchen an meinem Arm aufrichteten. Meine Muskeln verkrampften sich, wurden so hart wie ein Stück getrockneter Tonerde – und fühlten sich genauso zerbrechlich an.
»Blasses Gesicht, schwarzes Herz, goldenes Erbe.«
Mit diesen Worten hatte Onkel Harry – in diesen heiligen Hallen auch als Professor Fairhurst bekannt – Vaughn einmal einem Kollegen beschrieben.
Die Energie, die Vaughn Spencer in jedes Zimmer trug, war unverkennbar, denn sie verschluckte alles andere wie ein Staubsauger. Auf einmal schien Gefahr in der Luft zu liegen, und ich fühlte mich, als versuchte ich unter Wasser zu atmen.
Während ich mich schlafend stellte, spürte ich, wie mir unter der Decke die Knie zitterten. Die Sommer auf Carlisle Castle waren unerträglich schwül, und ich war nur mit Shorts und einem Tanktop bekleidet.
Er bewegte sich in der Dunkelheit, aber ich konnte ihn nicht hören, sodass noch mehr Angst in mir hochkroch. Mir kam der Gedanke, dass er mich umbringen … mich tatsächlich erwürgen könnte. Ich war mir sicher, dass er die Aufsichtskraft niedergeschlagen hatte, die nachts in unseren Gängen patrouillierte, um sicherzugehen, dass niemand gegen den Zapfenstreich verstieß oder die anderen Schüler mit gespenstischen Geräuschen erschreckte. Kein Feuer brennt so heiß wie eines, das sich an einer Demütigung entzündet, und an diesem Abend hatte ich etwas gesehen, wofür Vaughn sich schämte. Obwohl ich so rasch wieder verschwunden war, hatte ich es in seinem Gesicht gesehen.
Vaughn war niemals etwas peinlich. Mit arroganter Miene stand er stets zu dem, was er war.
Plötzlich wurde mir die Bettdecke mit einer präzisen Bewegung von den Schultern bis zu den Füßen hinuntergezogen. Ohne Sport-BH zeichneten sich meine Rosenköhlchen – wie meine ältere Schwester Poppy meine Brüste gern nannte – unter dem Shirt ab, sodass er sie vermutlich deutlich sehen konnte. Ich kniff die Lider noch fester zusammen.
Himmel. Warum hatte ich nur diese verdammte Tür geöffnet? Warum hatte ich ihn gesehen? Warum hatte ich die Aufmerksamkeit eines der begabtesten Jungen der Welt erregt?
Er war zu Höherem bestimmt, und ich war zu dem bestimmt, was er als angemessen für mich erachtete.
Ich spürte, wie er mit einem Finger meinen Hals berührte und ihn dann an meinem Rücken hinunterwandern ließ. Seine Haut war durch die bildhauerische Arbeit ausgetrocknet und kalt. Er ragte über mir auf und betrachtete das, was wir beide pathetisch als meine schlafende Gestalt ansahen. Aber ich war hellwach und nahm alles deutlich wahr – die Drohung, die von der Berührung ausging, den Geruch nach Steinstaub und Regen und dazu dieser schwache, süßliche Duft, der, wie ich später herausfinden würde, von einem Joint kam. Aus spaltbreit geöffneten Augen sah ich, wie er den Kopf schieflegte und mich musterte.
Bitte. Ich werde es niemandem erzählen.
Wenn er mit dreizehn bereits derart beeindruckend war, wie würde er erst als erwachsener Mann sein? Ich hoffte, dass ich es niemals würde herausfinden müssen, obwohl dies vermutlich nicht unsere letzte Begegnung sein würde. Es gab auf dieser Welt nur wenige berühmte Künstler, die von Milliardären abstammten, und unsere Eltern bewegten sich in denselben gesellschaftlichen Kreisen.
Bevor er an die Schule kam, war ich Vaughn schon einmal begegnet, und zwar, als er mit seiner Familie im Sommerurlaub in Südfrankreich war. Meine Eltern hatten eine Weinprobe für wohltätige Zwecke veranstaltet, und Baron und Emilia Spencer hatten daran teilgenommen. Ich war damals neun, Vaughn war zehn. Mum hatte mich dick mit Sonnenmilch eingecremt und mir einen hässlichen Hut aufgesetzt, und weil ich noch nicht schwimmen konnte, musste ich ihr hoch und heilig versprechen, dass ich nicht ins Wasser gehen würde.
Darum lief es darauf hinaus, dass ich während der gesamten Ferien unter einem Sonnensegel am Strand lag und Vaughn heimlich beobachtete, während ich die Seiten meines Fantasyromans umblätterte. Er stürzte seinen mageren Körper in die Wellen – er stürmte mit der Wildheit eines hungrigen Kriegers ins Mittelmeer – und holte Quallen an Land. Er hielt sie an der Oberseite fest, damit sie ihn nicht stechen konnten. Eines Tages pikste er tote Quallen mit einem hölzernen Eisstiel. Dann zerteilte er die Tiere und murmelte dabei, dass Quallen sich immer genau in der Mitte teilten, egal, wie man den Schnitt setzte.
Er war seltsam. Gefühllos und anders als alle anderen. Ich hatte keinerlei Bedürfnis, mit ihm zu reden.
Während eines der zahlreichen eindrucksvollen Events in jener Woche schlich er sich hinter den Springbrunnen, an den ich mich zum Lesen gelehnt hatte, und teilte einen Schokoladen-Brownie, den er vor dem Essen geklaut haben musste. Er reichte mir eine Hälfte, ohne dabei zu lächeln.
Widerwillig schnaubend, weil ich das blöde Gefühl hatte, ihm von nun an etwas schuldig zu sein, nahm ich den Kuchen an. »Mummy kriegt eine Herzattacke, wenn sie das rausfindet«, sagte ich. »Ich darf keinen Zucker essen.«
Dann stopfte ich mir das ganze Ding in den Mund und kämpfte mit der klebrigen Masse auf meiner Zunge. Die süße, fettige Nougatcreme färbte meine Zähne braun.
Sein Mund, ein missbilligender Strich, teilte seine ansonsten gleichmütige Miene in zwei Hälften. »Deine Mom ist doof.«
»Meine Mum ist super!«, rief ich empört. »Außerdem habe ich gesehen, wie du die Holzstiele in die Quallen gesteckt hast. Du bist einfach nur ein böser Junge.«
»Quallen haben kein Herz«, sagte er und betonte jedes einzelne Wort, als würde diese Tatsache sein Verhalten rechtfertigen.
»Dann habt ihr ja etwas gemeinsam«, sagte ich und starrte weiterhin die noch unberührte Hälfte des Brownies in seiner Hand an.
Er machte ein finsteres Gesicht, aber aus irgendeinem Grund schien ihn diese Beleidigung nicht weiter zu stören. »Übrigens haben sie auch kein Gehirn. Das haben sie mit dirgemeinsam.«
Ich blickte geradeaus und schenkte ihm keine Beachtung mehr. Ich wollte mich nicht mit ihm streiten, keine lautstarke Szene machen. Papa würde sauer werden, wenn ich die Stimme erhob, und Mum wäre enttäuscht, was mir aus irgendeinem Grund noch mehr ausgemacht hätte.
»Braves Mädchen«, zog Vaughn mich auf. Seine Augen funkelten boshaft, und anstatt in seinen Brownie zu beißen, hielt er mir auch noch das zweite Stück hin.
Ich nahm es und hasste mich selbst für meine Schwäche.
»Du bist ein braves, anständiges und total langweiliges Mädchen.«
»Und du bist hässlich«, sagte ich achselzuckend, obwohl das leider nicht stimmte.
»Hässlich oder nicht, wenn ich dich küssen wollte, würdest du dich nicht dagegen wehren.«
Ich verschluckte mich an der Schokolade in meinem Mund und ließ das Buch fallen, das ohne Lesezeichen zuklappte. Mist.
»Wie kommst du denn darauf?« Empört starrte ich ihm ins Gesicht.
Er kam näher, seine flache Brust berührte meine, die genauso flach war. Er roch nach etwas Fremdem, Gefährlichem, Wildem. Vielleicht nach goldenen kalifornischen Stränden.
»Mein Dad sagt, dass brave Mädchen böse Jungs mögen. Und ich bin böse. Richtig böse.«
Und nun waren wir hier und erneut in eine Auseinandersetzung verwickelt. Dummerweise war er wirklich alles andere als hässlich, und er schien zu überlegen, wie er mit dem Geheimnis umgehen sollte, das wir seit wenigen Minuten teilten.
»Soll ich dich umbringen? Dir wehtun? Dich wegjagen?«, überlegte er laut und strahlte eine unbarmherzige Energie aus.
In meinem Hals wuchs ein Kloß, der sich nicht hinunterschlucken ließ.
»Was soll ich mit dir anstellen, Good Girl?«
Er erinnerte sich also an den Spitznamen, den er mir damals am Strand gegeben hatte, und das machte alles noch schlimmer. Bis jetzt hatten wir wenigstens so getan, als würden wir uns überhaupt nicht kennen.
Vaughn ging in die Knie, sodass sein Gesicht auf einer Höhe mit meinem war. Ich spürte seinen heißen Atem – das einzig Warme an ihm – an meinem Hals. Meine Kehle war wie ausgetrocknet, und jeder Atemzug fühlte sich an wie ein Messerstich. Trotzdem spielte ich mein Affentheater weiter, denn wenn ich ihn davon überzeugen konnte, dass ich schlafgewandelt war, würde er mich vielleicht mit seiner Wut verschonen.
»Wie gut kannst du ein Geheimnis wahren, Lenora Astalis?«, fragte er, und seine Stimme schien sich wie eine Schlinge um meinen Hals zu legen.
Ich wollte husten. Ich musste husten. Er machte mir Angst. Ich hasste ihn, leidenschaftlich und mit der Hitze von tausend glühenden Sonnen. Seinetwegen kam ich mir gleichzeitig wie ein Angsthase und wie ein Spitzel vor.
»Okay. Wer feige genug ist, um sich schlafend zu stellen, kann auch ein Geheimnis für sich behalten. So bist du nämlich, Astalis. Ich könnte dich zerschmettern wie einen Kürbis und zusehen, wie deine Kerne vor meinen Füßen tanzen. Kleines, braves Mädchen.«
Ich hasste Vaughn, aber weil ich mich ihm gegenüber nicht behaupten konnte, hasste ich mich selbst noch mehr. Weil ich nicht die Augen öffnete und ihm ins Gesicht spuckte. Weil ich ihm seine unnatürlich blauen Augen nicht auskratzte. Weil ich ihn nicht verhöhnte, so wie er alle Schüler an der Carlisle Prep verhöhnte.
»Übrigens, deine Lider zucken«, sagte er spöttisch und lachte leise.
Er richtete sich auf, und seine Finger berührten flüchtig meinen unteren Rücken. Auf einmal schnippte er mit den Fingern. Das Geräusch zerriss die Luft, ich erschrak mich fast zu Tode und keuchte auf, ließ die Augen aber geschlossen und tat noch immer so, als schliefe ich.
Er lachte.
Dieser Scheißkerl lachte.
Würde er mich vorerst verschonen? Würde er mich von nun an im Auge behalten? Sich rächen, wenn ich den Mund aufmachte? Er war völlig unberechenbar. Ich wusste nicht, wie mein Leben am nächsten Morgen aussehen würde.
Und dann wurde mir klar, dass ich tatsächlich ein braves Mädchen war, Vaughn sich selbst aber drei Jahre zuvor unterschätzt hatte.
Er war kein Junge. Er war ein Gott.
Kurz nach den Geschehnissen während des Sommerkurses auf Carlisle Castle verlor ich meine Mum. Die Frau, die so besorgt war, dass ich mir einen Sonnenbrand holen oder das Knie aufschlagen könnte, ging schlafen und wachte nie wieder auf. Herzstillstand. Als wir sie fanden, lag sie wie eine verwunschene Disney-Prinzessin in ihrem Bett, die Augen geschlossen und ein Lächeln auf ihrem rosigen Gesicht, das aussah, als steckte sie noch voller Pläne für den nächsten Tag.
Eigentlich sollten wir an diesem Tag an Bord einer Yacht nach Thessaloniki gehen. Eine Reise, auf der wir historische Schätze hatten suchen wollen, die wir aber niemals antraten.
Es war das zweite Mal, dass ich mich schlafend stellen wollte, während mein Leben sich auf schlimme Weise zum Schlechteren wendete – einfach, weil es dazu in der Lage war. Es war sehr verlockend, sich kopfüber ins Selbstmitleid zu stürzen, aber ich widerstand der Versuchung.
Ich sah zwei Möglichkeiten: Entweder ich zerbrach oder ich wurde zu einer stärkeren Version meiner Selbst.
Ich entschied mich für Letzteres.
Als Papa ein paar Jahre später einen Job in Todos Santos annahm, war ich nicht mehr das Mädchen, das zu schlafen vorgab, wenn es mit etwas Unangenehmem konfrontiert wurde.
Poppy, meine ältere Schwester, ging mit ihm nach Kalifornien, aber ich bat ihn, auf Carlisle Castle bleiben zu dürfen.
Ich blieb da, wo ich meine künstlerische Tätigkeit ausüben konnte, und ging gleichzeitig Vaughn Spencer aus dem Weg, der auf der anderen Seite des Ozeans die All Saints High besuchte. Eine Win-win-Situation, oder?
Aber nun bestand Papa darauf, dass ich mein Abschlussjahr bei ihm und Poppy in Südkalifornien verbrachte.
Blöd nur, dass die neue Lenny unfähig war, Vaughn einfach zu ignorieren.
Ich war nicht mehr ängstlich.
Ich hätte den größtmöglichen Verlust erlitten und ihn überlebt. Mir jagte niemand mehr Angst ein.
Nicht einmal ein zorniger Gott.
Lenora, 17; Vaughn, 18
Ich bin mit unersättlichem Zerstörungsdrang auf die Welt gekommen.
Es hatte nichts mit dem zu tun, was mir geschehen war.
Mit der Geschichte meines Lebens.
Mit meinen Eltern.
Mit dem verdammten Universum.
Ich tickte völlig anders. Statt Adern hatte ich Drahtseile. Eine leere, schwarze Schachtel anstelle eines Herzens. Ein lasergesteuertes Sichtgerät zum Erkennen von Schwächen anstelle von Pupillen.
Schon als Kind taten mir Wangen und Augen weh, wenn ich lächelte. Es fühlte sich unnatürlich an und beängstigend. Ich hörte sehr früh auf zu lächeln.
Und dem Beginn des Abschlussjahres an der Highschool nach zu urteilen, würde es für mich auch in Zukunft nichts zu lächeln geben.
»Atme zehnmal hintereinander tief durch«, hörte ich im Geist die sanfte Stimme meiner Mutter flehen.
Es war eines der wenigen Male in meiner miserablen Existenz, dass ich auf sie hörte. Mit der Faust gegen jeden Spind auf dem Flur zu schlagen, war vermutlich die dämlichste Methode der Welt, um von der Schule zu fliegen, mir alle Knochen der linken Hand zu brechen und gleichzeitig meine Karriere zu zerstören.
Ich war zwar nicht wegen der brillanten geistigen Fähigkeiten der Lehrer hier und noch weniger wegen des bescheuerten Abschlusszeugnisses. Aber im Gegensatz zu meinem besten Freund, dem hohlköpfigen Knight Cole, hatte ich keinen rot glänzenden Selbstzerstörungsknopf, den ich unbedingt drücken wollte.
Eins.
Zwei.
Drei.
Fuck, nein.
Lenora Astalis war tatsächlich hier. Gesund und munter und in demselben Postleitzahlengebiet wie ich. In meinem Reich. Ich hatte ihre Existenz in einer Schublade meines Gehirns verstaut, die normalerweise für unbefriedigende Pornos und geistlosen Small Talk mit Mädchen reserviert war, bevor sie auf die Knie gingen, um mir den Schwanz zu lutschen.
Aber ich erinnerte mich an sie, darauf kannst du deinen Arsch verwetten. Mein braves Mädchen. So liebenswürdig, dass sie fast alles tun würde, was man von ihr verlangte, und dabei musste man nicht einmal höflich sein. Vermutlich war das beim schöneren Geschlecht eine vorteilhafte Eigenschaft, aber Good Girl war selbst für meinen Geschmack zu unterwürfig, ja geradezu rein.
Damals hatte sie blondes Haar wie Gold, glänzende Schuhe und einen verängstigten Gesichtsausdruck, der ohne Worte »Bitte tut mir nichts« sagte. Mit dem Carlisle-Cape sah sie aus wie die dämlichere Freundin von Hermine Granger. Lenora Astalis hatte die nervtötende Eigenschaft, immer prüde, korrekt und erbärmlich rechtschaffen auszusehen.
Und jetzt? Jetzt sah sie … anders aus.
Die Gothic-Klamotten und das schwarze Zeug, das sie um die Augen herum aufgetragen hatte, beeindruckten mich nicht. Das war nur die Tarnung dafür, dass sie kein Rückgrat hatte und sich in die Hosen machen würde, sobald neben ihr jemand das F-Wort sagte.
Good Girl stand neben ihrem neuen Spind, jetzt mit rabenschwarzem Haar. Sie trug gerade eine Extraschicht Eyeliner auf (den sie ebenso wenig brauchte wie ich einen weiteren Grund, die Welt zu hassen) und starrte in den kleinen Spiegel, der innen an der Tür ihres Spinds klebte. Sie trug ein OBEY-Beanie, hatte das Wort aber mit einem dicken Filzstift korrigiert, sodass auf dem Etikett jetzt Disobey stand.
Fuck,was für eine Rebellin! Jemand sollte die Obrigkeit benachrichtigen, bevor sie womöglich was total Verrücktes anstellte – in der Cafeteria nicht biologisch angebaute Blaubeeren essen oder so was.
»Yo, Muffelkopf, was geht?« Knight, mein bester Freund, Nachbar, Cousin und Vollzeit-Trottel, klopfte mir von hinten auf die Schulter und umarmte mich kurz. Ich richtete den Blick auf einen unsichtbaren Punkt vor mir und ignorierte ihn genauso, wie ich Astalis ignorierte. Bei allem gebührenden Respekt, den ich nicht hatte – Lenora verdiente meine Aufmerksamkeit einfach nicht. Im Geist machte ich mir eine Notiz, dass ich sie daran erinnern musste, wo sie stand.
Oder besser gesagt: kniete.
Ich erinnerte mich noch genau, wie sie reagiert hatte, als ich damals nachts in ihr Zimmer geschlichen war. Wie sie unter meinen Fingern erschauert war, so zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe, die förmlich darum bettelte, zerschmettert zu werden. Aber sie zu zerstören würde mir nicht mehr das übliche Hochgefühl verschaffen. Es würde ungefähr so befriedigend sein, wie einem Baby den Schnuller wegzunehmen. Meine Entscheidung, sie zu verschonen, beruhte nicht auf Freundlichkeit. Ich war von Natur aus pragmatisch.
Ich war kurz vor dem Ziel.
Und sie würde mir dabei nicht im Weg stehen.
Risiko. Rendite. Rückzahlung.
Es war überflüssig, sie zu verletzen. Astalis hatte all die Jahre ihr kleines rosa Mündchen gehalten – offensichtlich war sie eingeschüchtert. Ich wusste, dass sie nicht geplappert hatte, weil ich nachgeforscht hatte. Ich hatte meine Augen und Ohren überall. Sie hatte meinen Namen nie erwähnt, und als ihre Schwester zu Beginn der zehnten Klasse in die Staaten gezogen war, blieb sie in England, vermutlich, weil sie eine Scheißangst vor mir und vor dem hatte, was ich mit ihr machen würde. Gut. Das hatte super geklappt.
Aber diese fragile Zuversicht zerbrach in der Sekunde, in der ich sie hier sah.
In meinem Königreich.
Ein trojanisches Pferd, den Bauch voller schlechter Erinnerungen und anderem Bullshit.
»Eure Abgefucktheit erstrahlen heute mal wieder in besonderem Glanz«, sagte Knight. Er musterte mich von oben bis unten und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, das die Farbe einer getoasteten Scheibe Brot hatte und aussah wie aus einer Shampoowerbung. Er war der Star unter den Quarterbacks, der Ballkönig und der beliebteste Typ an der Schule.
Aber hey, Hauptsache, es half ihm, besser zu schlafen und seinen Adoptivkind-Komplex zu beruhigen.
»Ich wundere mich, dass du durch den Dunst deiner selbstgerechten Fürze überhaupt noch was sehen kannst«, spottete ich, blieb vor meinem Spind stehen und öffnete die Tür.
Nur sechs Spinde von Astalis’ Schrank entfernt, fiel mir plötzlich auf. Karma war echt ein Arschloch.
Knight stützte sich mit dem Ellbogen am Nachbarspind ab und musterte mich eingehend. Ohne es zu wollen, versperrte er mir die Sicht auf Lenora. Egal. Ihr Robert-Smith-Outfit verlieh ihrer ohnehin schon farblosen Erscheinung auch nicht mehr Sexappeal.
»Kommst du heute Abend zu Arabellas Schulanfangsparty?«
»Eher lasse ich mir den Schwanz von einem hungrigen Hai lutschen.«
Arabella Garofalo erinnerte mich an diese überzüchteten winzigen Hunde mit diamantbesetzten rosa Halsbändern und piepsigem Gebell, die einem gern in die Wade bissen und sich selbst anpissten, wenn sie aufgeregt waren. Sie war gemein, verbittert und hatte eine große Klappe, aber vor allem – und das war vielleicht das Schlimmste – war sie viel zu scharf darauf, mit mir Sex zu haben.
»Warum lässt du dir nicht von Hazel einen blasen? Die hat gerade eine altmodische Zahnspange mit Brackets bekommen, die Wirkung dürfte ungefähr dieselbe sein«, schlug Knight mir freundlicherweise vor, ehe er eine Flasche Alkaline-Wasser aus seinem ledernen Designer-Rucksack holte und einen Schluck trank.
Ich wusste, dass Wodka in der Flasche war. Wahrscheinlich hatte er auch ein paar Oxycodon eingeworfen, bevor er sich auf den Weg gemacht hatte. Neben diesem Arschloch sah Hunter S. Thompson wie ein verdammter Pfadfinder aus.
»Alkohol vor zehn?« Ich verzog den Mund zu einem halben Lächeln. In Form einer Flut von Liebesbriefen und Nackt-Selfies quoll die Anbiederei einiger Mitschüler aus meinem Spind. Keines dieser Mädchen war mutig genug, tatsächlich herzukommen und mit mir zu reden. Ich sammelte alles ein und warf es in die nächste Mülltonne, ohne dabei den Augenkontakt zu Knight zu unterbrechen. »Ich dachte, mit achtzehn noch Jungfrau zu sein, wäre als Bilanz für dein Abschlussjahr erbärmlich genug.«
»Leck mich, Spencer«, sagte er und trank noch einen Schluck.
»Verschwindest du endlich, wenn ich das mache? In dem Fall würde ich nämlich drüber nachdenken.«
Ich schlug meinen Spind zu. Knight wusste nichts von Lenora Astalis, und ich hatte keineswegs vor, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Im Augenblick war sie nur ein unbedeutender Gothic-Freak ohne jeglichen sozialen Status, und das würde sie auf diesen Fluren auch bleiben, solange ich ihr gegenüber keine Spur von Gefühl zeigte.
Die ich – Spoileralarm – tatsächlich nicht hatte.
»Werd bloß nicht frech, Spence.«
»Ich bin so brav wie eine Klosterschülerin«, versetzte ich und warf mir den Rucksack über die Schulter. Oder etwa nicht?
»Na super. Dass Luna, Daria und ich deine Freunde sind, hat dich nicht annähernd so menschlich gemacht, wie deine Eltern gehofft haben. Es ist echt zwecklos mit dir.«
Mit ausdrucksloser Miene starrte ich ihn an. »Sprichst du Chinesisch mit mir? Besorg dir lieber was Fetthaltiges zu essen und eine Flasche Wasser, man kriegt ja schon eine Alkoholvergiftung, wenn du einen nur anhauchst.«
»Wie du willst. Noch mehr erstklassiges englisches Fleisch für mich.« Knight winkte mir fröhlich zu und setzte sich in Bewegung.
Kopfschüttelnd folgte ich ihm. Als ob der Typ sich etwas aus Fleisch mache würde. Er war ein verdammter Veganer, eine richtige Pussy, jungfräulicher als Olivenöl extra vergine. Er würde nur mit einem einzigen Mädchen ins Bett gehen. Und das war Luna Rexroth, seine Sandkastenliebe, die ein College in einer weit entfernten Stadt besuchte – und hoffentlich weniger armselig war als er und sich dort flachlegen ließ.
Wie auch immer, das englische Fleisch, wie Knight es so zartfühlend genannt hatte, bezog sich zweifellos auf Lenora, und das bedeutete, dass ihre Anwesenheit an der All Saints High bereits Aufmerksamkeit erregt hatte.
Mir war klar, warum ihre ältere Schwester, Wie-hieß-sie-noch-gleich Astalis, bei den Kerlen so gut ankam. Ich hatte sie erlebt. Sie sah aus wie eine dieser übersprudelnden Blondinen aus Massenproduktion, die süchtig nach Aufmerksamkeit waren und für ein Paar High Heels mit roter Sohle ihre Seele verkaufen würden.
»Die einzige englische Tusse, die mich interessiert, ist Margaret Thatcher.« Ich steckte mir ein Pfefferminz-Kaugummi in den Mund und schob Knight ebenfalls eins zwischen die Zähne, ohne ihn um Zustimmung zu bitten. Sein Mel-Gibson-Atem war so feuergefährlich, dass er die ganze verdammte Schule abfackeln konnte, wenn er sich einen Joint anzündete.
»Die ist tot, Bro.« Er kaute gehorsam und runzelte die Stirn.
»Stimmt«, gab ich zurück und verlagerte meinen Rucksack auf die andere Schulter, damit meine Hände etwas zu tun hatten. Es war erst halb zehn, und der Tag war jetzt schon unfassbar beschissen.
Als Knight weiterhin wie eine Klette an mir klebte, obwohl wir die erste Stunde getrennt Unterricht hatten, blieb ich stehen. »Du bist ja immer noch da. Warum?«
»Lenora.« Er öffnete wieder seine »Wasser«-Flasche und trank einen großzügigen Schluck.
»Einfach irgendeinen Namen in den Raum zu stellen ergibt noch kein Gespräch, Kumpel. Versuch’s mal mit ’nem ganzen Satz. Sprich mir nach: Ich. Brauche. Einen. Entzug. Und. Einen. Guten. Fick.«
»Die Schwester von Poppy Astalis. Schärfer als Wasabi.« Knight ignorierte den Seitenhieb. »Sie ist im gleichen Jahrgang wie wir. Hat was von einem braven Mädchen.« Er verzog das Gesicht zu einem diabolischen Grinsen, drehte sich um und musterte Lenoras schwarzgekleidete Gestalt. Sie stand ein paar Meter von uns entfernt und konnte uns bei dem Geräuschpegel offenbar nicht hören. »Aber ich kann ihre spitzen Reißzähne sehen. Die ist der geborene Killer, sag ich dir.«
Poppy. Das ist also der Name von Wie-hieß-sie-noch-gleich. Okay, lag ich nur knapp daneben.
Lenora war etwas jünger als ich, und wenn sie jetzt schon in der Abschlussklasse war, musste sie ein Jahr übersprungen haben. Verdammter Nerd. Überraschte mich aber nicht weiter.
Knight fuhr fort, mir ihren Steckbrief vorzulesen.
»Ihr Vater ist dieser angesagte Künstlertyp – der mit dem großkotzigen Kunstinstitut in der Innenstadt. Aber ehrlich gesagt falle ich vor Langeweile ins Koma, wenn ich das alles noch mal wiederholen muss. Kommen wir also gleich zur Sache – das schwarze Schaf der Familie ist dieses Jahr hier, und jetzt will natürlich jeder ein Stück Lamm haben.«
Die Fleischmetaphern wurden immer gruseliger, und abgesehen davon wusste ich sehr gut, wer Edgar Astalis war.
»Ich nehme an, jetzt kommt der Teil, an dem ich so was wie Interesse heucheln sollte.« Ich setzte ein Zahnlächeln auf. Knight log. Niemand wollte Lenora anfassen. Dafür war sie zu weit entfernt vom konventionellen Aussehen heißer Bräute. Die schwarzen Klamotten. Der Eyeliner. Das Lippenpiercing. Genauso gut konnte man sich einen auf ein Marilyn-Manson-Poster runterholen.
Knight verdrehte theatralisch die Augen.
»Mann, du zwingst mich wirklich, es laut und deutlich auszusprechen. Ich habe doch gesehen, wie du Miss Durchgeknallt mit den Augen verschlungen hast.« Er klopfte mir auf die Schulter, als wäre er mein weiser alter Mentor. »Du hast Glück, wenn du sie mit diesem Blick nicht geschwängert hast.«
»Sie kam mir bekannt vor, das ist alles.«
Und das stimmte, denn ich hatte seit der Sekunde, in der ihr Vater und ihre Schwester in der Stadt aufgetaucht waren, auch mit ihrem Erscheinen gerechnet.
In der Schule.
Im Gym.
Auf Partys.
Im Grunde war es sinnlos, aber ich hielt Ausschau nach ihr – sogar auf meinen eigenen Partys, bei denen uneingeladene Gäste niemals willkommen waren. Sie war wie ein dunkler Schatten, der mir überallhin folgte, und ich wollte in unserer imaginären Beziehung unbedingt die Oberhand behalten. Fuck, ich durchstöberte sogar ihren verdammten Instagram-Account und fand auf diese Art heraus, was sie sich ansah und anhörte, nur um ihre kulturelle Welt besser zu verstehen und sie zu knacken, sollte sich je die Gelegenheit ergeben.
Und verdammt, genau so war es gekommen.
Ich beschloss auf der Stelle, dass Knight trotz seines Status als mein bester Freund nicht von mir erfahren würde, dass ich Lenora kannte. Das würde die Dinge nur komplizierter machen und mein Geheimnis immer näher ans Tageslicht bringen.
Tatsächlich kratzte die Wahrheit an mir und hinterließ Spuren einer unangenehmen Wirklichkeit. In schlaflosen Nächten zog ich in Erwägung, meinen Eltern zu erzählen, was mir zugestoßen war. Ich hatte anständige Eltern, das musste ich zugeben. Aber letztlich kam immer dasselbe dabei heraus: Niemand konnte mir den Schmerz nehmen. Absolut niemand.
Nicht einmal meine fast perfekten, liebevollen, besorgten und mächtigen Milliardärseltern.
Wir kommen allein auf diese Welt, und wir sterben auch allein. Wenn wir krank sind, kämpfen wir allein dagegen an. Unsere Eltern können keine Chemotherapie für uns durchstehen. Sie sind nicht diejenigen, die ihre Haare verlieren, den Eimer vollkotzen oder in der Schule einen Tritt in den Hintern bekommen. Wenn wir einen Unfall haben, sind nicht unsere Eltern diejenigen, die auf dem Operationstisch um ihr Leben kämpfen und viel Blut oder ein Körperteil verlieren. »Ich bin für dich da« ist der dümmste Satz, den ich je gehört habe.
Sie waren nicht für mich da.
Sie haben es versucht. Und sind gescheitert. Wenn du einen Blick auf deinen unerschütterlichen Beschützer werfen willst, auf die Person, auf die du dich immer verlassen kannst, dann schau in den Spiegel.
Ich hatte vor, mich für meinen Schmerz zu rächen, und es gab da eine Schuld, für deren Begleichung ich sorgen musste.
Genau das würde ich tun. Bald.
Was meine Eltern anging: Die liebten mich, machten sich Sorgen um mich, würden für mich sterben, blablabla und fucking bla. Wenn meine Mutter wüsste, was in meinen Kopf vorging, was tatsächlich an jenem Tag bei der Auktion in der Pariser Galerie geschehen war, würde sie einen kaltblütigen Mord begehen.
Aber das war mein Job.
Und ich würde es genießen.
»Du willst mir also erzählen, dass du Lenora Astalis nicht heiß findest?« Knight wackelte mit den Augenbrauen, stieß sich vom Spind ab und fiel mit mir in Gleichschritt.
Ich betrachtete sie ein weiteres Mal. Sie balancierte ihre Lehrbücher auf dem Weg zum Labor auf der Hüfte, anstatt sie sich an die Brust zu drücken wie der Rest der adretten Mädels an der All Saints High. Sie trug einen sehr kurzen schwarzen Jeansrock, Netzstrümpfe, die an den Knien und am Hintern zerrissen waren, und Armeestiefel, die noch mitgenommener aussahen als meine eigenen. Nicht einmal die Lippen- und Nasenringe konnten ihre Schüchternheit überspielen. Sie ließ ihren rosa Kaugummi platzen und starrte stur geradeaus. Entweder ignorierte sie mich oder sie hatte mich tatsächlich nicht bemerkt, als sie sich an mir vorbeidrängte.
Ihre Schönheit – wenn man es so nennen konnte – wirkte auf mich rein und unschuldig.
Eine kleine Stupsnase, große blaue Augen mit grünen und goldenen Flecken und schmale rosige Lippen. An ihrem Gesicht war nichts falsch, aber auffallend attraktiv war es auch nicht. In diesem Meer sonnengebräunter kalifornischer Mädchen mit glänzendem Haar, gebräunter Haut und Körpern aus Muskeln und Kurven würde sie nicht weiter auffallen – jedenfalls nicht positiv.
Ich zog eine Augenbraue hoch und drängte mich an Knight vorbei in den Klassenraum. Er folgte mir.
»Du willst wissen, ob ich mir von ihr einen runterholen lassen würde? Möglich, kommt auf meine Laune an und darauf, wie betrunken ich bin.«
»Wie unglaublich großzügig von dir. Aber das wollte ich gar nicht wissen. Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass Lenora und ihre Schwester tabu für dich sind.«
»Ach ja?«, fragte ich, aber nur, um ihn bei Laune zu halten, denn eher würde die Hölle zufrieren, als dass ich einen Befehl von Knight Cole befolgte. Oder von wem auch immer, wenn wir schon mal dabei sind.
»Du darfst den Astalis-Mädchen nicht das Herz brechen. Ihre Mom ist nämlich vor ein paar Jahren gestorben. Sie hatten es schwer und können deine dämliche Selbstbeweihräucherung absolut nicht gebrauchen. Und zufällig ist das ja deine liebste Freizeitbeschäftigung. Deshalb sage ich dir eins: Wenn du sie anfasst, mache ich dich fertig. Vor allem die, die so morbide aussieht. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Lenoras Mutter ist gestorben?
Wieso hatte ich das nicht erfahren, als Poppy in die Staaten gezogen war?
Ach ja, stimmt. Ihre Existenz war mir deutlich weniger wichtig als die dummen Partys von Arabella.
Ich wusste zwar, dass die Mutter nicht mit Edgar und Poppy in das Haus gezogen war, hatte aber immer gedacht, dass sie entweder geschieden waren oder dass die Frau mit ihrem talentierten Kind in England geblieben war.
Für Knight waren Mütter ein heikles Thema, wofür es mehr Gründe gab, als ich aufzählen konnte. Ich wusste, dass er es persönlich nehmen würde, wenn ich Good Girl vorsätzlich das kleine Herz brach. Zu seinem Glück hatte ich weder Interesse an dem Organ noch an dem Mädchen, dass es mit sich herumtrug.
»Keine Sorge, Captain Nuttenglück. Ich werde sie nicht ficken«, sagte ich, stieß die Tür zu meinem Klassenzimmer auf und stürmte hinein, ohne Knight eines weiteren Blickes zu würdigen. Nie war mir ein Versprechen leichter gefallen.
Als ich mich hinsetzte und zur Tür blickte, sah ich durch das Fenster, wie er sich mit dem Daumen über die Kehle fuhr – eine Drohung, mich umzubringen, falls ich mein Wort brach.
Mein Vater war Anwalt, und Semantik, der Sinngehalt der Sprache, war sein Spezialgebiet.
Ich hatte gesagt, ich würde nichts mit ihr tun.
Aber ich hatte nie behauptet, dass ich ihr nichts tun würde.
Wenn ich Lenora öffentlich den Hintern versohlen musste, um sicherzustellen, dass sie sich benahm, dann würde ich das eben tun.
Und danach würde ihr Po definitiv mir gehören.
Die Gelegenheit, Lenora Astalis in die Enge zu treiben, ergab sich drei Tage später. Arabellas Party hatte ich ausfallen lassen, und mich überraschte es nicht, zu erfahren, dass auch Lenora sich dort nicht hatte blicken lassen. Aber ihre Schwester Poppy war auf der Party gewesen. Sie hatte getanzt, getrunken, sich unter die Leute gemischt und Arabella und Alice hinterher sogar beim Saubermachen geholfen.
Lenora wirkte auf mich nicht wie ein Partygirl. Sie besaß dieses merkwürdige Gen, das sie überall auffallen ließ wie einen bunten Hund, sogar wenn sie sich nicht anzog wie die böse Fee aus dem Märchen. Ich konnte das beurteilen, denn ich selbst hatte dieses Gen auch. Wir waren Unkraut, das den Asphalt sprengte und die gepflegte Landschaft dieser eleganten Stadt ruinierte.
Am ersten Tag schwänzte ich die letzte Stunde und folgte ihrem Auto, um herauszufinden, wo sie wohnte. Sie fuhr einen schwarzen Lister Storm – etwas völlig anderes als der Mini Cooper ihrer Schwester – und wurde fünfmal angehupt, weil sie an einer roten Ampel nicht rechts abbog. Zweimal zeigte sie dem anderen Fahrer den Mittelfinger. Einmal parkte sie tatsächlich in zweiter Reihe und durchwühlte ihre Tasche, um einem Obdachlosen etwas Kleingeld zu geben.
Als die Fahrt zu Ende war, musste ich grinsen. Edgar Astalis hatte seine Mädchen in ein Schloss am Meer gesetzt, mit einem hohen weißen Lattenzaun davor und sorgfältig geschlossenen Vorhängen.
Nett. Vorhersehbar. Sicher.
Genau wie seine nutzlosen kleinen Töchter.
Ich wendete und fuhr zurück zur Schule, wo ich Poppy mit ihrem blöden Akkordeon bei der Probe der Marschkapelle vorfand. Ihre Prada-Tasche hing lässig an der Lehne ihres Stuhls, und sie wandte mir den Rücken zu. Ich fischte ihren Hausschlüssel heraus, fuhr in die Stadt, ließ eine Kopie machen und war gerade rechtzeitig zurück, um den Schlüssel zurückzulegen, ehe sie ihre Tasche nahm und mit der Band einen Milchshake trinken ging.
Am nächsten Tag beschattete ich Lenora und achtete darauf, ob außer ihr noch jemand im Haus war. Poppy nahm an allen möglichen außerschulischen Aktivitäten teil, inklusive Band, Nachhilfe, Englischklub und Wandern. (Sie war genau die Art Teeniemädchen, die einen Riesenaufstand um alles machten, was sie taten, und wenn es nur spazieren gehen war.) Edgar Astalis riss sich von morgens bis abends in dem Kunstinstitut, das er mitbegründet hatte, den Arsch auf und war folglich nirgendwo zu sehen.
Das schwarze Schaf – das süße Lamm – war nachmittags ganz allein und wartete darauf, vom Wolf gefressen zu werden.
Am dritten Tag – heute – würde ich zuschlagen. Inzwischen war ich mit Lenoras Routine vertraut, und ich gab ihr vierzig Minuten Zeit, um sich in ihrer eigenen Ignoranz zu sonnen. Solange saß ich in meinem verbeulten Truck, die Füße auf dem Armaturenbrett, während sie ihren Nachmittag gestaltete. Ich skizzierte derweil mit langen gerundeten Strichen eine Skulptur auf meinem Zeichenblock, wobei mir ein halb gerauchter Joint im Mundwinkel hing.
Als es vier Uhr schlug und mein Handywecker summte, stieg ich aus und machte mich auf den Weg zum Grundstück der Astalis. Ich schloss die Tür auf und spazierte hinein, als wäre ich der Eigentümer. Ich durchquerte den Eingangsbereich, das Wohnzimmer mit den antiken Möbeln und den Akzenten aus cremefarbenem Marmor und ging auf die gläserne Schiebetür zu. Ich schob die Türflügel auseinander, blickte auf den nierenförmigen Pool und entdeckte Good Girl.
Mit anmutigen, kurzen Zügen schwamm sie Bahnen unter Wasser. Ich ging zum Rand des Pools und zündete den Rest meines Joints an. Dann zog ich meine zerrissene schwarze Jeans und das verwaschene, ehemals schwarze Hemd aus, das meine Mutter so sehr hasste. Ich verabscheute es, durch Abstammung reich zu sein, aber das war eine andere Geschichte, die Lenora niemals hören würde, denn unsere Kommunikation würde mit dem heutigen Tag enden.
Wenn ich das nächste Mal etwas klarstellen musste, würde ich es mit Handlungen tun und nicht mit Worten.
Ich stieß eine Rauchwolke aus und sah zu, wie Lenoras Kopf aus dem Wasser auftauchte und zum ersten Mal, seit ich hier eingedrungen war, vor mir erschien.
Mir fiel auf, dass sie die ganze Zeit kein einziges Mal Luft geholt hatte.
Sie war nicht mehr das Kind in Südfrankreich, das nicht mal schwimmen konnte. Sie hatte dazugelernt.
Und sie war völlig nackt.
An ihren Wimpern hingen dicke Wassertropfen und liefen ihr über die Wangen.
Sie stützte die Ellbogen auf den Beckenrand und checkte auf ihrer Polar-Uhr die Zeit. Offenbar sah sie im Augenwinkel, dass etwas – jemand – ihr die Sonne verstellt. Blinzelnd sah sie auf und schützte ihre Augen mit einer Hand vor der Sonne.
»Was zum Teufel machst du denn hier, Spencer?« Sie zuckte zurück, als wäre ich vor ihren Augen explodiert.
»Das frage ich mich selbst schon die ganze Zeit, Astalis, genauer gesagt, seit dein langweiliger Hintern in meinem Revier aufgetaucht ist. Ich vermute, du hast dich auf dem Weg in die Feenwelt verirrt, in der du derzeit versunken bist.«
Es war eigenartig. Obwohl wir einander nach ihrer Ankunft nicht erneut offiziell vorgestellt worden waren, schienen wir uns an alles Wichtige zu erinnern, was uns betraf. Ich wusste, dass sie Fantasy las, The Smiths und The Cure hörte und Simon Pegg für witzig hielt. Sie wusste, dass ich die Sorte Arschloch war, die in ihr Haus einbrechen und irgendwelchen Unsinn von ihr verlangen würde, und sie wusste auch, dass ich sie beobachtet hatte.
Das bestätigte meine anfängliche Vermutung. Sie hatte mich in der Schule bemerkt, genau, wie ich auch sie bemerkt hatte. Und keiner von uns beiden hatte es für klug gehalten, den anderen zur Kenntnis zu nehmen. Nicht in der Öffentlichkeit.
Ich zog an meinem Joint, setzte mich auf das Sprungbrett und hob ihren Bademantel langsam mit den Fingerspitzen hoch, als ekelte ich mich davor.
»Tztztz.« Ich schüttelte den Kopf und betrachtete mein böses Grinsen, das sich in ihren leuchtenden blau-grün-golden-weiß-der-Teufel-wie-farbigen hypnotisierenden Drusilla-Augen spiegelte. »Nacktbaden? Brave Mädchen machen sich nichts aus nahtloser Bräune. An dieser Schule wird dich sowieso keiner flachlegen. Ich fürchte, das ist etwas, dem ich auf keinen Fall zustimmen kann.«
»Ich fürchte, das ist etwas, wofür ich deine Zustimmung nicht brauche«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme und tat so, als müsste sie gähnen.
»So läuft das nicht, Good Girl. Wenn ich hier zu jemandem sage: ›Spring!‹, fragt er nur: ›Wie hoch?‹ Und schon morgen werden alle wissen, dass du nicht ganz richtig im Kopf bist. Danach fasst dich keiner mehr auch nur mit der Kneifzange an.«
»Na so was!« Sie klatschte betont langsam in die Hände und stieß einen sarkastischen Pfiff aus. »Endlich bist du am oberen Ende der Nahrungskette, stimmt’s, Spence?«
Sie benutzte den Spitznamen, den ich so sehr hasste. Sie hatte also an der Schule von mir gehört und wusste mit Sicherheit, dass ich eine ganze Legion von Fans hatte. Gut so.
Ich legte den Kopf schief. Sie tat so, als wäre ihr völlig egal, wie beliebt ich war. So what? »Vorsicht, Lenora. Du stehst nicht mal auf der Karte für die Veganer, Lenora.«
»Beiß mich trotzdem.«
»Höchstens, um Blut zu saugen, Baby.«
»Von deiner Hand zu sterben wäre immer noch besser, als mit dir zu reden, Spencer.«
Lenora beugte sich vor und versuchte, den Bademantel zu schnippen, den ich zwischen den Fingern hielt, aber ich war zu schnell. Ich warf das Ding hinter mich, stand auf, rauchte meinen Joint zu Ende und warf ihn in ihren Pool. Das Wasser roch nach Chlor und Baumwolle. Jungfräulich und rein, nicht nach Teenager-Hormonen und teurem Parfüm. Ich war mir sicher, dass Edgar Astalis, dem die Hälfte aller Galerien in London, Mailand und Paris gehörte, mindestens zweimal pro Woche einen Poolreiniger kommen ließ. Vielleicht konnte der Typ Good Girl ja mit dem Sex versorgen, den sie in der Schule nicht bekommen würde.
»Was willst du?«, fauchte sie mich an. Ihre Lippen wurden noch schmaler, als sie dummerweise ohnehin schon waren.
Lenora war weit davon entfernt, zum Reich der hinreißenden Mädels zu gehören wie zum Beispiel Daria, meine Nachbarin. Sie war ein klassischer heißer Feger mit dem Zeug zur Schönheitskönigin. Oder Luna, meine Sandkastenfreundin. Die war absolut umwerfend. Lenora war bestenfalls hübsch – und auch das nur aus einer bestimmten Perspektive. Momentan lief ihr Eyeliner die Wangen hinunter. Sie sah aus wie ein Horrorclown.
Ich lächelte. »Nur um auf dem Laufenden zu bleiben, Dummerchen, wie geht’s denn so? Sammelst du immer noch Abfall?«
»Assemblage.« Sie stützte sich auf den Rand des Pools, und ihre Handballen wurden weiß. Ein Windstoß fuhr durch den Garten, und die blonden Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Sie fühlte sich unwohl.
Genau wie ich.
»Ich mache Kunst aus alten Sachen, die keiner mehr haben will. Der einzige Unterschied zwischen dir und mir ist, dass du nichts anderes als Stein und Marmor benutzt – das Material, aus dem auch dein Herz ist.«
»Und außerdem bin ich gut.« Ich fuhr mir mit der Zunge über die Zähne und ließ die Lippen schnalzen.
»Wie bitte?« Ihre Wangen färbten sich rot, passend zu ihren Ohren.
Zum ersten Mal, seit sie nach Todos Santos gekommen war, sah ich Lenora Astalis rot werden, und zwar nicht vor Verlegenheit, sondern vor Wut. Vielleicht hatte sie sich verändert, aber nicht so sehr, dass sie eine würdige Gegnerin gewesen wäre.
»Dass du Abfall benutzt, ist nicht der einzige Unterschied zwischen uns. Ich bin außerdem talentiert, und du bist …« Ich sammelte die Asche von meinem Joint auf und warf sie auf ihr Handtuch. »… Papas zimperlicher Liebling, der aussieht wie Bellatrix Lestrange.«
»Fick dich«, zischte sie.
»Nein danke. Ich stehe nur auf Hübsche.«
»Und auf Hohlköpfe«, versetzte sie.
»Ja, stimmt«, sagte ich und fuhr nach einer kurzen Pause kopfschüttelnd fort: »Aber du hast trotzdem keine Chance bei mir.«
Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, und ich hatte Knight versprochen, sauber zu bleiben. Aber irgendetwas an der Situation brachte mich dazu, mir besonders viel Mühe zu geben. Zweifellos ihr Trotz.
Ich legte mich auf eine der zahlreichen türkisfarbenen Liegen, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte in die Sonne.
»Verdammt. Wird allmählich windig hier draußen, was?«
Solange ich nicht verschwand, war sie in diesem Pool gefangen, denn wenn sie herauskam, würde ich sie nackt sehen. Ich war fest entschlossen, die Lage auszureizen. Ich glaubte, ihre Zähne schon klappern zu hören, aber sie jammerte oder beschwerte sich nicht.
»Komm zur Sache, Spencer, ehe ich die Polizei rufe.« Um einen besseren Blickwinkel auf mich zu haben, schwamm sie ans andere Ende des Beckens. Die graue Steinumrandung wurde nass.
»Tu das. Meiner Familie gehört die ganze Stadt hier, inklusive der Bullen. Um ehrlich zu sein, bin ich mir ziemlich sicher, dass dein Vater eine Herzattacke kriegt, wenn du dafür sorgst, dass er auf der schwarzen Liste meines Vaters landet. Und dein Onkel auch. Wie geht’s Harry Fairhurst überhaupt? Schleimt er immer noch um meine Eltern herum, damit sie seine unterdurchschnittlichen Bilder kaufen?«
Ich übertrieb nicht. Meinen Vater, Baron »Vicious« Spencer, hielten außer meiner Mutter und mir alle Menschen für das größte Arschloch der Welt. Ihm gehörte das Einkaufszentrum in dieser Stadt, und er besaß eine Investmentgesellschaft, deren Profit pro Quartal höher war als das Budget eines durchschnittlichen europäischen Landes. Mit anderen Worten: Er war reicher als Gott. Außerdem waren unzählige Leute aus den benachbarten Orten bei ihm angestellt, er spendete bei örtlichen Wohltätigkeitsveranstaltungen und schickte jedes Jahr zu Weihnachten lächerlich großzügige Geschenkkarten an die Gesetzeshüter in unserer Stadt. Die Polizei würde weder ihn noch mich jemals anfassen.
Sogar Lenoras Vater Edgar und ihr Onkel Harry standen unter der Fuchtel meines Vaters. Aber im Gegensatz zu ihr hatte ich nicht vor, die Verbindungen meiner Familie zu benutzen, um zu bekommen, was ich wollte.
Aber das wusste sie natürlich nicht.
Sie wusste überhaupt nur sehr wenig über mich – außer dieser einen entscheidenden Sache, von der ich wünschte, wir könnten sie beide vergessen.
»Es tut mir leid, wenn ich dich bei deinen kleinen Allmachtsfantasien störe, aber könntest du vielleicht mal ausspucken, was du hier eigentlich willst? Und zwar möglichst, bevor ich eine Lungenentzündung kriege?«, fragte sie mit ihrem vornehmen englischen Akzent und schlug mit der Hand auf den Beckenrand.
Ich lachte nur leise und starrte weiter in die Sonne, wobei ich das Brennen in meinen Augen ignorierte. Ich wünschte, der riesige Feuerball könnte Erinnerungen ebenso gut zerstören wie Netzhäute.
»Ich dachte, ihr Engländer seid so stolz auf euer gutes Benehmen.«
»Und ich dachte, Amerikaner sind immer direkt«, gab sie zurück.
»Sind wir auch.«
»Dann komm endlich zur Sache, und hör auf zu labern.«
The Good, the Bad and the Ugly. Ich war alle drei in einer Person.
Beinahe hätte ich den Mund zu einem echten Lächeln verzogen. Beinahe. Aber dann fiel mir wieder ein, wer sie war. Und was sie wusste.
»Was diesen Zwischenfall betrifft, dessen Zeugin du wurdest …«
»Entspann dich, Vaughn. Mach dir nicht ins Hemd.« Sie hatte tatsächlich den Nerv, mich zu unterbrechen. Ihr nasser Mund bewegte sich schnell, als sie sagte: »Ich habe dein Geheimnis nicht weitererzählt, und dazu wird es auch niemals kommen. Das ist nicht meine Art, und es geht mich nichts an. Ob du es glaubst oder nicht: Es hatte nichts mit dir zu tun, dass ich damals nicht mit Dad und Poppy nach Kalifornien gegangen bin. Ich liebe die Carlisle Prep. Es ist das beste Kunstinstitut in Europa. Ich hatte keine Angst vor dir. Soweit es mich betrifft, sind wir uns noch nie begegnet, und außer den üblichen Informationen, die man an der All Saints High so mitkriegt, weiß ich nichts von dir.«
Sie wartete auf die Frage. Normalerweise duldete ich ein solches Verhalten nicht, aber sie amüsierte mich. Ein Zirkusäffchen – ich sagte es bereits.
»Nämlich?« Ich beugte mich vor.
»Dass du ein mieses, sadistisches Arschloch bist, dem es Spaß macht, Mädchen zu benutzen und Leute zu mobben.«
Falls sie auf eine meinem Ruf entsprechende Reaktion wartete, musste ich sie enttäuschen. Ich beugte mich vor, stütze die Ellbogen auf die Knie und sah ihr aus schmalen Augen ins Gesicht.
»Warum sollte ich dir glauben?«
Sie stützte die Hände auf den Beckenrand, drückte sich hoch, kam in einer fließenden Bewegung aus dem Wasser und stand schließlich vor mir.
Kein Bikini-Oberteil.
Kein Unterteil.
Nichts.
Good Girl war vollkommen nackt, nass und kühn, und in diesem speziellen Augenblick wirkte sie nicht mehr ganz so durchschnittlich wie sonst.
Sagen wir mal, falls es eine Stimmungslage gab, in der ich sie ein klein wenig anziehend fand, erlebte ich sie gerade jetzt.
Ihre Brüste waren klein, aber rund und fest. Die Nippel waren hart und rosig und schienen mich anzubetteln, an ihnen zu saugen. Ihr Körper war kurvig, obwohl sie ihre seidige, glatte Haut sonst immer unter den schwarzen Netzstrümpfen und der Lederhose versteckte, und zwischen ihren Beinen konnte ich einen hellen Haarflaum sehen. Nur leicht, aber es reichte, um mir zu zeigen, dass sie von Natur aus blond war – weder gewachst noch gebleicht oder zu Tode frisiert.
Auf der Innenseite eines Schenkels war eine Tätowierung zu sehen, aber ich konnte nicht erkennen, was es war. Glotzen hätte bedeutet, dass sie gewonnen hatte.
Als ich ihr wieder ins Gesicht blickte, dachte ich, dass es vielleicht doch nicht ganz so langweilig war. Alles an ihr war klein – Nase, Lippen, Sommersprossen und Ohren –, aber ihre Augen waren riesig und von türkis schimmerndem Blau. Und die Flut tiefschwarzer Haare mit dottergelben Ansätzen änderte auch nichts daran, dass sie war, was sie war.
Durchschaubar, bedauernswert und leicht verrückt.
Ich stand auf und reckte das Kinn. Mir war vollkommen bewusst, dass ich keine verräterische Erektion bekommen würde, wenn ich es nicht wollte. Das war eine der guten Seiten meines verkorksten Zustands. Ich hatte meine Libido komplett unter Kontrolle. Die meisten Teenagerschwänze waren Verräter und hatten meine Freunde schon oft in die Scheiße geritten. Mein Schwanz tat das nicht. Er gehorchte. Und genau in diesem Moment gönnte ich ihr nicht die Genugtuung der Erkenntnis, dass ich Lust hatte, sie zu ficken.
Wir standen uns direkt gegenüber. Ich war eineinhalb Köpfe größer als sie, aber mit dem gereckten Kinn, dem Todesblick und ihrer bemerkenswert aufsässigen Haltung kam sie mir gar nicht mehr so klein vor.
Sie war nicht mehr das vor Angst zitternde Mädchen, das sich in jener Nacht schlafend gestellt und mich mit ihrem verkrampften Körper angefleht hatte, ihr nichts an zu tun.
Sie war ihr ähnlich und trotzdem anders.
Unschuldig, aber nicht mehr unterwürfig.
»Du kannst mir glauben«, sagte sie nun, »weil ich dich erst mal zur Kenntnis nehmen müsste, ehe ich dich vernichten könnte. Weißt du, um das Leben eines Menschen ruinieren zu wollen, muss man ihn hassen. Eifersüchtig auf ihn sein, auf irgendeine Art leidenschaftlich auf ihn reagieren. Aber du erweckst gar nichts in mir, Vaughn Spencer. Nicht einmal Abscheu. Auch kein Mitleid, obwohl ich dich im Grunde bemitleiden sollte. Du bist nur ein flüchtiger Augenblick, an den ich mich nicht erinnern kann – unscheinbar, überflüssig und sofort wieder vergessen. Du bist der Typ, von dem ich einmal geglaubt habe, dass er mich umbringen könnte, und wegen dir – ja, wegen dir – habe ich den Weg eingeschlagen – ja, wegen dir –, der mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Unbesiegbar. Du machst mir keine Angst mehr, Spencer. Ich bin unzerstörbar. Versuch’s doch mal.«
Ohne den Blick zu senken, trat ich einen Schritt zurück. Ich wusste, wenn ich ihr zu nahe kam, würde ich sie erwürgen. Und zwar nicht, weil ich ihr nicht abnahm, dass ich ihr egal war, sondern gerade weil ich es ihr glaubte.
Lenora Astalis war ich wirklich scheißegal.
Sie wusste, dass ich auf derselben Schule war wie sie, und hatte mich keines Blicks gewürdigt.
Sie redete nicht über mich.
Dachte nicht an mich.
War nicht hinter mir her.
Und das war … neu für mich.
Die Leute bemühten sich um mich – sie wollten mir entweder einen blasen oder meine Freundin oder mein Freund, mein Laborpartner, Verbündeter, Ebenbürtiger oder mein Haustier sein. Sie gaben sich große Mühe, an mich heranzukommen, betrachteten mich mit unwandelbarer Faszination. Und ich? Ich nährte die Legende. In der Öffentlichkeit aß ich nicht, schlief nicht und redete auch nicht viel. Ich ließ mir auf Partys von Mädels den Schwanz lutschen, das war das einzig Menschliche, das ich mir gestattete. Und außerdem wollte ich eher mir selbst als anderen etwas beweisen.
Ich grinste süffisant, umfasste mit einer Hand ihr Kinn und zog sie zu mir. Sie glaubte, ich hätte den Rückzug angetreten, dabei wollte ich nur noch einen Blick auf ihren süßen Hintern werfen.
»Weißt du, Good Girl, wir werden uns in den nächsten Jahren noch häufiger sehen.«
»In den nächsten Jahren?« Sie lachte gekünstelt und machte sich nicht die Mühe, ihre Arme zu verschränken, um ihre Brüste vor mir zu verbergen. Was nicht unbedingt gut für mich war. Ja, ich hatte meinen Schwanz unter Kontrolle, aber er hatte es nicht verdient, dermaßen gereizt zu werden.
»Warte lieber noch mit den Freundschaftsarmbändern, Spencer. Ich habe nämlich nicht vor, hierzubleiben. Nächstes Jahr gehe ich nach England zurück.«
»Ich auch«, sagte ich gleichmütig.
Das war von Anfang an der Plan gewesen. Sobald ich den Abschluss hatte, würde ich nach England zurückgehen und tun, was ich tun musste, bevor ich irgendwo in Europa ein Atelier eröffnen konnte. Ein Neubeginn.
»Du gehst nach England?« Sie blinzelte und versuchte zu verstehen, was diese Information für sie bedeutete. Am liebsten hätte ich ihr zwischen die Schenkel gefasst, um herauszufinden, was sie in ihr auslöste.
»Auf die Carlisle Prep«, knurrte ich. »Dort gibt es ein Praktikum, das auf das College vorbereitet.«
»Ich weiß. Dafür bewerbe ich mich auch.« Sie holte tief Luft. Endlich wurde sie doch leicht panisch.
Endlich. Zu sehen, wie ihr Gesicht die Farbe verlor, wärmte mir das Herz. Es war wie die ersten Sonnenstrahlen nach einem langen Winter.
Das Praktikum war ein Halbjahresprogramm, bei dem man unter Anleitung von Edgar Astalis und Harry Fairhurst an einem Objekt seiner Wahl arbeitete. Astalis bewegte extra deswegen seinen eingebildeten Hintern aus Kalifornien nach England zurück. Er liebte Carlisle wie ein verdammtes eigenes Kind.
Du wirst dir noch wünschen, du hättest dich um dein Kind genauso gut gekümmert wie um deine Schule, Arschloch.