All Saints High - Die Perfekte - L. J. Shen - E-Book

All Saints High - Die Perfekte E-Book

L.J. Shen

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Beschreibung

DU BIST MEIN ANFANG, MEINE MITTE UND IRGENDWANN VERMUTLICH MEIN VERDERBEN. HILF MIR DABEI, UNSER HAPPY END ZU SCHREIBEN

Bailey und Lev. Sie sind beste Freunde, seit sie Kinder waren. Bis Bailey aufs College geht und sich plötzlich alles verändert. Während die ehrgeizige Bailey ihren großen Traum von einer Ballettkarriere an der Juilliard verfolgt, bleibt Mädchenschwarm Lev als Star-Quarterback an der All Saints High zurück und muss sich den hohen Erwartungen seines Vaters stellen. Doch obwohl sich die beiden voneinander entfernt haben, ist Lev sofort zur Stelle, als Baileys perfekte Fassade zu bröckeln beginnt und sich ihr Traum auf einmal in einen Albtraum verwandelt. Denn schon immer schlug Levs Herz einzig und allein für Bailey ...

»Ich war überglücklich, an die All Saints High zurückzukehren. Ich habe jahrelang auf die Geschichte von Bailey und Lev gewartet, und sie hat all meine Erwartungen übertroffen.« COFFEEANDBOOKSWITHSTEPH

Band 4 der New-Adult-Reihe ALL SAINTS HIGH

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Seitenzahl: 647

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Motto

Playlist

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von L. J. Shen bei LYX

Impressum

L. J. Shen

All Saints High

DIE PERFEKTE

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Perfekte Tochter, Schwester und Primaballerina – schon immer hat Bailey Followhill versucht, in allen Bereichen ihres Lebens makellos zu sein. Nur bei ihrem besten Freund Lev Cole kann sie diese Fassade ablegen. Obwohl der Star-Quarterback der All Saints High und die Vorzeigeschülerin nicht unterschiedlicher sein könnten, sind sie seit ihrer Kindheit unzertrennlich. Und beide spüren auf einmal, dass ihre Gefühle füreinander weit über Freundschaft hinausgehen. Doch als Baileys großer Traum, an der Juilliard zu tanzen, wahr wird, ändert sich plötzlich alles. Der Druck an der Schule verwandelt ihren Traum allerdings schon bald in einen Albtraum, und sie greift zu Schmerzmitteln, um den hohen Anforderungen gerecht zu werden. Auch bricht sie den Kontakt zu Lev ab, der sich in Kalifornien den Erwartungen seines Vaters stellen muss. Als Bailey mit einer Überdosis im Krankenhaus landet, ist Lev trotz allem sofort an ihrer Seite. Aber diese Bailey, die Drogen nimmt und ihn von sich stößt, ist nicht mehr seine beste Freundin und das Mädchen, in das er sich verliebt hat. Ist ihre Liebe stark genug, diese Herausforderung zu überstehen?

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Dieses Buch ist für meinen geliebten Mann, der bei jedem unserer – sage und schreibe –drei Söhne den Namen Lev kategorisch abgelehnt hat. Das ist echt der Gipfel der Gemeinheit, Sir.

Irgendwann, irgendwie, irgendwo wirst du dich selbst finden. Dieser, und nur dieser Moment kann die glücklichste oder traurigste Stunde deines Lebens sein.

Pablo Neruda

Playlist

»Rehab« – Amy Winehouse

»Falling Apart« – Michael Schulte

»The Show Must Go On« – Queen

»It Ends Tonight« – The All-American Rejects

»Be Alright« – Dean Lewis

»Him & I« – G-Eazy and Halsey

»Boys of Summer« – The Ataris

»Die For You« – The Weeknd & Ariana Grande

»ceilings« – Lizzy McAlpine

»people pleaser« – Cat Burns

»Freak Me« – Silk

»Goodbyes« – Post Malone feat. Young Thug

Prolog

Lev

Vierzehn Jahre alt

Ich stehe vor dem Grab meiner Mutter und frage mich, warum zum Teufel meine Augen trocken sind.

Vorhin in der Kirche konnte ich den Sarg nicht anschauen. Knight sagt, dass Mom hübsch aussah. Ruhig und friedlich. Aber auch … überhaupt nicht wie sie selbst.

Ich habe während des Trauergottesdienstes die ganze Zeit die Lider fest zusammengekniffen, so, wie ich es als kleiner Junge immer tat, wenn ich im Vergnügungspark Geisterbahn fuhr. Und jetzt verliere ich die Nerven, weil ich vielleicht einen Fehler begangen und die letzte Gelegenheit, Moms Gesicht in echt und nicht auf einem Foto zu betrachten, verpasst habe.

Das Schlimmste am Verlust eines geliebten Menschen ist, dass die Lücke, die sein Tod hinterlässt, angefüllt ist mit unzähligen Dingen, die man vermisst.

Kein Kuscheln mehr an verregneten Tagen.

Keine zu Herzchen geschnittenen Obststücke in meiner Brotbox.

Keine Schlaflieder, wenn ich krank bin und vorgebe, Moms Singen sei nervig und peinlich, obwohl es das Beste auf der Welt ist seit der Erfindung der Bratkartoffel.

Bailey umarmt mich so fest, als wollte sie meine Knochen pulverisieren. Sie ist inzwischen zehn Zentimeter größer als ich, was blamabel und ärgerlich und mal wieder typisch für mich ist. Meine Nase ist in ihrem Haar vergraben, und ich tue so, als würde ich weinen, um nicht wie ein Freak zu wirken. Doch in Wahrheit bin ich nicht traurig oder niedergeschmettert oder irgend so was in der Richtung. Sondern stinksauer. Zornig. Auf hundertachtzig.

Mom ist von uns gegangen.

Was, wenn sie friert? Oder Klaustrophobie hat? Ihr das Atmen schwerfällt? Was, wenn sie sich fürchtet? Vom Verstand her weiß ich, dass all das ausgeschlossen ist. Meine Mutter ist tot. Aber mit meiner Rationalität ist es momentan nicht weit her. Vermutlich könnte ich das verflixte Wort in meiner aktuellen Gemütsverfassung noch nicht mal buchstabieren. Ich habe das Gefühl, als würde ich körperlich allein durch Baileys Umarmung zusammengehalten. Würde sie sie lockern, zerbräche ich in tausend winzige Marmorsplitter, die in den Ritzen und Spalten des Friedhofs verschwänden.

Die Trauergäste gehen zurück zu ihren Autos. Dad legt eine zittrige Hand auf meine Schulter, um mich von dem Grab wegzuführen. Bailey gibt mich widerwillig frei, und ich klammere mich an ihren Händen fest. In diesem Augenblick brauche ich sie so dringend wie die Luft zum Atmen, ist sie das Einzige, das mich im Hier und Jetzt verankert.

Sie scheint das zu spüren, denn sie wendet sich meinem Vater zu und fragt: »Darf ich bitte bei euch mitfahren, Onkel Dean?«

Danke, lieber Gott.

»Natürlich, Bails«, antwortet mein Vater zerstreut, sein Blick unverwandt auf Knights Rücken gerichtet. Mein Bruder hat gerade selbst eine Menge zu bewältigen, und Dad versucht sicherzustellen, dass er nicht noch ein weiteres Familienmitglied verliert. Für gewöhnlich stört es mich nicht, das pflegeleichte Kind zu sein, das sich eher im Hintergrund hält. Aber heute gilt das nicht. Ich habe keine Mutter mehr, obwohl ich gerade mal vierzehn bin. Die ganze Welt soll gefälligst stillstehen, doch sie besitzt die Dreistigkeit, sich vollkommen ungerührt weiterzudrehen, als wäre mein Leben nicht soeben in die Brüche gegangen.

Bevor wir in den Wagen steigen, greife ich erneut nach Baileys Hand und ziehe sie näher zu mir heran. »Wenn ich dir sagen würde, dass ich von hier abhauen will, an irgendeinen weit entfernten Ort … zum Beispiel nach, keine Ahnung, Kansas … wie würdest du reagieren?«

Ihre großen blauen Augen halten meinen Blick fest. »Lass uns bei Sonnenaufgang losreiten, Cowboy.«

»Im Ernst?«

Sie nickt kurz. »Stell mich auf die Probe, Lev. Du bist mein bester Freund. Ich werde dich niemals im Stich lassen.«

Seltsamerweise ist die Vorstellung, wie Bailey und ich vor all dem hier weglaufen, das Einzige, das mir in diesem Moment Halt gibt. Für alle anderen mag sie das typische brave Mädchen sein, aber für mich ist sie wie eine Droge.

Die Fahrt verläuft schweigend. Mir ist, als wäre ich eine Seite, die aus einem Buch gerissen wurde und jetzt ziellos durch die Gegend flattert. Nur die Erinnerung an ein Zugehörigkeitsgefühl ist mir noch geblieben. Dann halten wir vor unserem Haus. Die schwarz gekleideten Gäste treten einer nach dem anderen ein; sie sehen aus wie Dämonen. Ohne meine Mutter ist es kein Zuhause mehr, sondern nur noch ein mit teuren Möbeln vollgestopfter Ziegelbau.

Unsichtbare Efeuranken umschlingen meine Fußknöchel, ich kann mich nicht von der Stelle rühren. Keiner bemerkt es, außer Bailey. Sie bleibt zusammen mit mir hinter den anderen zurück, und plötzlich widerstrebt es mir zutiefst, dass alle meine Träume und Hoffnungen mit ihr assoziiert sind. Weil sie schon morgen ebenfalls tot sein könnte. Ein Busunfall. Ein Herzinfarkt im zarten Alter von fünfzehn. Eine Entführung mit fatalem Ausgang. Die Möglichkeiten sind unerschöpflich, und ich bin ein ausgemachter Pechvogel, was Menschen, die mir am Herzen liegen, betrifft.

»Auf nach Kansas?« Bailey fasst meine Finger und streicht mit ihren darüber wie über die Tasten eines Klaviers.

Ich schüttle nur den Kopf, bekomme kein Wort durch meine viel zu enge Kehle.

»Wir müssen nicht reingehen.« Ihre Hände gleiten höher, schließen sich um meine Oberarme, um mich zu stützen. Woher weiß sie, dass ich drauf und dran bin zusammenzubrechen? »Wir können bei mir abhängen, Fondue essen und South Park gucken.« Ihre Augen funkeln wie Saphire.

Erneut regt sich Groll in mir. Bailey ist ja so verständnisvoll, obwohl sie in Wirklichkeit einen Scheiß versteht. Sie hat eine Mutter. Eine gesunde obendrein. Und einen Vater. Und eine Schwester, die keine Suchtprobleme hat. Ihr Leben ist perfekt, meins dagegen eine Vollkatastrophe.

Sie ist eine in voller Blüte stehende Blume, und ich bin ein Stück Dreck, aber das ist okay, weil Blumen in Dreck wurzeln und ich daher ganz genau weiß, wie ich sie zurechtstutzen kann.

Ich schüttle ihre Hände ab, drehe mich auf dem Absatz um und stapfe aus der Einfahrt. Baileys Mary Janes klappern voll Dringlichkeit über den Asphalt, als sie mir, laut meinen Namen rufend, hinterhersetzt.

»Lev, bitte! Habe ich irgendetwas Falsches gesagt?«

Um fair zu sein, hatte sie nicht den Hauch einer Chance, etwas Richtiges zu sagen. Aber scheiß auf Fairness. Ich leide, und sie ist Ballast. Noch ein geliebter Mensch, den ich verlieren werde.

Meine Schritte beschleunigen sich, ich renne jetzt. Keine Ahnung, wo ich hinwill, aber ich kann es nicht erwarten, dort anzukommen. Der noch vor wenigen Sekunden strahlend blaue Himmel verdunkelt sich und bricht auf, Donnergrollen ertönt, und es fängt wie aus Kübeln an zu schütten. Ein Gewitter ist ungewöhnlich für einen Sommer in Südkalifornien. Das Universum ist zornig, aber ich bin zorniger.

Jedes Mal, wenn Bailey mich am Ärmel meines Hemds erwischt, lege ich noch einen Zahn zu. Wir spurten eine halbe Stunde durch den Regen, sind beide nass bis auf die Knochen, trotzdem gibt sie nicht auf. Irgendwie verschlägt es uns schließlich in den Wald am Stadtrand. Die langen, mächtigen Äste und das dichte, mit ihnen verflochtene Blätterwerk der Bäume bilden einen schützenden Baldachin über uns. Ich nehme meine Umgebung nun halbwegs wahr, erkenne, dass sie schön und friedlich und weit genug von diesem blöden Friedhof entfernt ist. Plötzlich begreife ich, dass es kein Entkommen gibt vor meiner neuen Wirklichkeit – dem Tod meiner Mutter –, und bleibe stehen.

Endlich kapiere ich, was mit einem gebrochenen Herzen gemeint ist. Weil dieses Organ in meiner Brust nämlich sauber in zwei Hälften gespalten wurde.

Meine Lungen brennen wie Feuer, als ich mich zu Bailey umdrehe, die derart durchnässt ist, dass ihr schwarzes Kleid sich regelrecht an ihrem Körper festgesaugt hat. Ihre Lippen sind blau vor Kälte, und ihre Haut ist so blass, dass ich die violetten Äderchen darunter sehen kann.

»Verschwinde«, knurre ich, obwohl ich mir in Wahrheit wünsche, dass sie für immer bei mir bleibt.

Sie kommt einen Schritt näher und schiebt trotzig das Kinn vor. »Ich werde dich nicht verlassen.«

»Verpiss dich, Bailey!«, brülle ich und beuge mich vornüber. Mir ist, als hätte sie mir einen Tritt in den Magen versetzt.

Sie wird ihr Versprechen brechen und fortgehen. Fall nicht drauf rein, Lev.

»Es tut mir so leid.« Ihre Augen schwimmen in Tränen, und ihre Finger spannen sich an, als wollten sie nach mir greifen.

Umarme mich.

Geh weg.

Fuck. Fuck. Fuck.

Wieder klappt mein Mund auf, und noch mehr Bullshit sprudelt heraus. »Spar dir dein Mitleid. Du solltest dich lieber selbst bedauern, schließlich bist du die Blindgängerin, die mit einem Achtklässler rumhängt, anstatt mit Kids in ihrem Alter.«

Bailey ignoriert meinen Seitenhieb. »Ich wünschte, es wäre nie passiert.« Sie greift abermals nach meinen Fingern, um beruhigend darüber zu streichen, so wie sie es immer tut, wenn ich aufgewühlt bin.

Ich stoße ein bitteres Lachen aus. »Und ich wünschte, du wärst nie passiert.«

»Wäre ich doch nur an ihrer Stelle gestorben.« Ihr von Tränen und Schlamm fleckiges Gesicht ist schmerzverzerrt, und ich muss es gut sein lassen. Trotz meiner furchtbaren Seelenpein darf ich nicht den einzigen Lichtblick, den mein Leben aktuell zu bieten hat, zerstören. Bailey gibt mir einen Grund zu kämpfen, obwohl jede Zelle meines Körpers aufgeben möchte.

»Jetzt labere bloß nicht so eine Scheiße.« Ich spucke zwischen uns auf den Boden.

Sie schüttelt den Kopf und massiert sich mit zitternden Händen die Schläfen. In Wirklichkeit zweifle ich nicht an ihren Worten. Und es bringt mich schier um, dass ich mir, obwohl ich mich fühle, als hätte man mich bei lebendigem Leib ausgeweidet, trotzdem nicht wünsche, Bailey wäre an Moms Stelle.

»Das tue ich nicht. Es ist mein voller Ernst. Ich möchte lieber tot sein, als dich leiden zu sehen.«

Für eine Sekunde herrscht Stille, bevor sich meiner Kehle der wildeste, furchterregendste, markerschütterndste Schrei entringt, den ich je gehört habe und der einen Schwarm Raben veranlasst, panisch aus den Baumkronen zu flüchten.

Dann gebe ich meinen Gefühlen endlich ein Ventil und verfalle in Raserei.

Außer mir vor Zorn zerfetze ich einen dichten Vorhang aus Spinnweben, packe einen jungen Baum, als wäre es ein menschlicher Hals, und breche ihn mit bloßen Händen entzwei. Blut sickert aus den Wunden in meinen Handflächen, und ich habe mir einen Fingernagel abgerissen, der auf den matschigen Boden vor meinen Füßen gefallen ist. Trotzdem spüre ich keinen Schmerz.

Bailey kreischt, aber ich kann sie nicht hören. Ich dresche die Fäuste gegen Eichenstämme, wirble mit der Fußspitze Morast auf, zerstöre Vogelnester, rupfe Blumen aus der Erde und schmeiße sie von weißglühender, blindwütiger Rage erfüllt in den Fluss, als wären es abgetrennte Köpfe. Anschließend zerre ich eine Sitzbank aus der Verankerung und schleudere sie hinterher. Ich hinterlasse eine Schneise der Verwüstung, fordere die Natur heraus, und dieses eine Mal scheine ich den Kampf ausnahmsweise zu gewinnen.

Irgendwann bemerke ich durch den Regenschleier, dass ich nicht der Einzige bin, der Amok läuft. Auch Bailey führt einen Vernichtungsfeldzug, sie reißt unter lautem Gebrüll ebenfalls Pflanzen aus dem Boden und Rinde von den Bäumen und wirkt dabei so wild und frei und zügellos, wie ich es noch nie bei ihr erlebt habe.

Dies ist vermutlich für uns beide das erste Mal, dass wir kein mustergültiges Verhalten an den Tag legen. Zu beobachten wie Bailey zur Abwechslung Dinge zerstört, anstatt sie in Ordnung zu bringen, stellt etwas mit mir an. Sie schlägt mit der Faust gegen einen Baum, ich erkenne, dass sie blutet, und der Gedanke, sie könnte Schmerzen haben, bewirkt, dass ich wieder zu Sinnen komme. Ich halte inne und blicke mich um. Dann atme ich tief durch, lasse Sauerstoff in meine Lunge hinein- und Kohlendioxid aus ihr herausströmen. Der Wind hört auf zu heulen, der Regen stoppt, und auch Bailey kommt zum Stillstand.

Die Minuten verstreichen, doch wir verharren in Regungslosigkeit, stehen im Wald wie zwei Bäume, und nur das leise Plätschern des nahen Flusses durchbricht die Stille. Für einen Augenblick sind wir die einzigen Geschöpfe auf dieser Welt, die einzigen Überlebenden meiner mentalen Apokalypse. Bis ich auf einmal Vogelstimmen höre. Bailey und ich schauen beide gleichzeitig zu dem Ast, auf dem eng aneinandergeschmiegt zwei vom Regen feuchte Tauben hocken. Die eine putzt mit ihrem Schnabel das Gefieder der anderen, die gurrende Laute von sich gibt.

Ich könnte schwören, dass sie uns dabei unverwandt ansieht. Verliere ich gerade den Verstand? Hat ganz den Anschein. Und es wäre nur die logische Konsequenz dieser phänomenal beschissenen Woche.

»Guck mal, Levy.« Bailey zeigt mit leuchtenden Augen auf die beiden Vögel über unseren Köpfen. »Weißt du, wie man die nennt?«

»Geflügelte Ratten?« Ich verziehe das Gesicht, bin nicht in Stimmung für eine Ornithologiestunde. Bailey ist ein nahezu unerschöpflicher Quell an nutzlosen Informationen über Tiere und praktisch jedes andere Thema unter der Sonne.

»Nein, Turteltauben. Sie gelten als Symbol für Glück und ewige Liebe und sind bekannt für ihre partnerschaftliche Treue.«

»Sie sind Überträger parasitärer Krankheiten.« Ich wische meine blutige Faust an meinem schwarzen Anzug ab und spucke auf den Boden.

»Wenn sie sich aufplustern, sehen ihre Flügel exakt aus wie ein in der Mitte gefaltetes Herz. Verstehst du, worauf ich hinauswill? Ein Herz, Levy.«

Ich blinzle. »Bist du high?« Es würde mir gerade noch fehlen, mich um einen weiteren Menschen mit Suchtproblemen sorgen zu müssen. Knight reicht mir vollkommen.

»Erkennst du es denn nicht?« Sie nimmt meine beiden Hände und zieht mich zu dem Baum, in dem die Tauben sitzen. »Diese Tragödie birgt Hoffnung in sich. Es ist eine himmlische Botschaft!«

»Du meinst, von meiner Mom?«, frage ich ganz bedächtig, um ihr die Idiotie ihrer Behauptung vor Augen zu führen, obwohl ich ihr verzweifelt gern glauben würde. Und wenn es jemanden gibt, der mich von der Existenz übernatürlichen Hokuspokus überzeugen kann, dann ist das Bailey. Sie ist unfassbar schlau.

Ihre Augen funkeln wie Sterne, als sie nickt. »Der plötzliche Wolkenbruch? Die Tauben? Rosie versucht, dir etwas mitzuteilen.«

»Dass der Klimawandel uns noch das Fürchten lehren wird?«

Bailey schüttelt energisch den Kopf. »Dass du nicht allein bist, sondern immer Menschen um dich haben wirst, die dich lieben.« Sie ergreift meine Finger und spielt mit ihnen.

»Was für Menschen?«, brumme ich.

»Solche wie mich«, flüstert sie und umfängt meine Hände fester.

»Ja, aber über kurz oder lang wirst auch du von hier weggehen.« Ein grimmiges Lächeln zuckt über mein Gesicht. »Ist das alte Lied.« Knight macht gerade dasselbe wegen Luna durch, und auch die beiden waren mal unzertrennlich. »Du wirst ein College besuchen, und ich –«

»Selbst dann werde ich immer für dich da sein.« Ihre Stimme klingt flehentlich, als wolle sie mich beschwören, ihr zu glauben. »Probier’s einfach aus, Lev. Ruf mich mitten im Semester an, wenn du mich brauchst, und ich werde alles stehen und liegen lassen und zu dir kommen. Ohne Fragen zu stellen.«

Ich gehe nicht darauf ein. »Du wirst irgendeinen Jungen kennenler–«

»Romantische Gefühle sind flüchtig, wohingegen eine Freundschaft beständig ist.« Sie schüttelt den Kopf. »Kein noch so toller Junge könnte dir jemals den Rang ablaufen. Du bist mein Seelengefährte.«

Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um ihr zu sagen, dass ich sie liebe und ich dieser hypothetische Junge sein möchte. Sie für mich allmählich zu einem spirituellen Mittel der Selbstzerstörung wird. Ich ihr Gesicht vor Augen habe, wenn ich mir einen runterhole. Ihr Lachen ein eigenartiges Gefühl in meiner Brust auslöst und wenn sie weint, ich sie küssen und ihren Schmerz in mich aufsaugen will, um an ihrer Stelle zu leiden.

Ich falle auf die Knie, und Bailey lässt sich, unsere Finger noch immer ineinandergeflochten, mit mir in den Morast sinken. Mein Kopf sackt auf ihre Schulter, und da fließen sie endlich, die Tränen. Heiß und unaufhaltsam strömen sie über meine Wangen, als müssten sie eilig irgendwohin. Bailey hält mich fest in ihren Armen, streichelt mit den Händen über mein Haar, meinen Rücken, meinen Nacken und raunt mir all die tröstlichen Worte zu, die ich unbedingt hören will.

Dass mein Leben wieder in Ordnung kommen wird und eine glückliche Zukunft auf mich wartet. Dass jedem Regenbogen ein Unwetter vorausgeht, weil das Universum auf diese Weise für ein Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten sorgt.

Ich weine und weine, bis ich völlig ausgetrocknet bin. Mein tiefer Kummer wird von Erschöpfung verdrängt, meine Lider sind so stark geschwollen, dass ich sie kaum öffnen kann. Ich hebe noch immer nicht den Kopf, möchte für ein paar weitere Momente die Geborgenheit genießen, die mir meine beste Freundin bietet.

»Können wir einfach so bleiben?« Ich streiche mit den Lippen über ihre Schulter.

»Für immer«, flüstert Bailey an meinem Ohr. »Ich muss nirgendwohin. Außer vielleicht nach Kansas.«

Sie versucht, einen Witz zu machen, um die Lage zu sondieren und festzustellen, ob ich bereit bin, mich nicht länger wie ein Arsch aufzuführen.

Ich vergrabe weiterhin das Gesicht in ihrer Halsbeuge, bin zu feige, um aufzublicken. »Wie sieht der Himmel aus, Täubchen?«

Bailey erstarrt, als ich sie mit ihrem neuen Spitznamen anrede. Kurz befürchte ich, dass sie mich auslachen, ihn als abgeschmackt bezeichnen und sagen wird, dass ich sie ebenso gut eine geflügelte Ratte nennen könnte. Doch dann entspannt sie sich wieder.

Ihre Stimme klingt heiter wie Vogelgesang, als sie antwortet: »Blau und so klar wie der helle Tag, Levy.«

1. Kapitel

Bailey

Neunzehn Jahre alt

»Alter! Nicht zu fassen, dass Lauren es mit irgendeinem Touri getrieben und sich dabei den Knöchel verstaucht hat. Ich würde vor Scham im Boden versinken.« Meine Mitbewohnerin Katia streicht mit einem Contouring Stick unter ihrem Wangenknochen entlang, bevor sie mit der Zungenspitze über ihre obere Zahnreihe fährt, um Spuren ihres Lippenstifts zu entfernen. Ihre Augen funkeln, als sie sich im Spiegel betrachtet.

Unser Zimmer im Wohnheim der Juilliard ist kleiner als mein begehbarer Kleiderschrank zu Hause und chaotisch eingerichtet. Zwei Stockbetten, ein klappriger Schreibtisch, ein paar Dekokissen, die Wände tapeziert mit Broadway-Plakaten und herzförmig ausgeschnittenen inspirierenden Zitaten. Daria behauptet, unserer Unterkunft Behaglichkeit einhauchen zu wollen, käme dem Versuch gleich, ein Schwein mit Lippenstift aufzuhübschen. »Aber bei euch sind es gleich ein ganzes Dutzend Schweine, und ihr habt nur einen einzigen billigen Lippenstift zur Verfügung.«

Andererseits ist meine Schwester Vertrauenslehrerin an einer Highschool und keine weltbekannte Ballerina. Sie hat es nie auf die renommierte Juilliard geschafft, darum spricht vermutlich bloß der Neid aus ihr.

»Hallo? Erde an Bailey? Soll ich einen Suchtrupp losschicken, damit er dein Hirn findet?« Katia legt den Contouring Stick auf den Tisch und greift nach einem Pinsel, um das Make-up zu verblenden. »Die dumme Nuss hat wegen eines Tinder-Dates ihre Karriere in den Sand gesetzt! Sie ist noch armseliger als Kylie, die wegen ihrer krassen Gewichtszunahme ihr Engagement am Bolschoi-Theater verloren hat.«

»Mann, Kylie hat Lupus.« Ich schüttle den Kopf. Was für ein gemeines Biest.

»Selena auch, trotzdem ist sie immer noch ein heißes Gerät.« Katia verdreht ihre haselnussbraunen Augen. »Irgendeine Ausrede haben sie doch immer, oder? Wenn man in unserer Branche Erfolg haben will, muss man die Arschbacken zusammenkneifen.«

»Du weißt, ich mag Lauren. Und diese Geschichte wurde bisher nicht von verlässlicher Seite bestätigt.« Ich lehne es kategorisch ab, mich an Katias Lästereien – ihrem Lieblingshobby – zu beteiligen.

»Nicht bestätigt?«, quiekst sie. »Diese blöde Kuh hat eine Schiene am Fuß und einen Rückfahrschein in ihr Scheißkaff in Oklahoma in der Tasche. Was verlangst du noch? Einen tiefschürfenden Artikel im The Atlantic?«

»Okay, aber können wir jetzt lieber darüber reden, wie toll dir dieser Lidschatten steht«, schlage ich, bestrebt, das Thema zu wechseln, vor und drücke eins der Zierkissen auf meinem Bett an meine Brust.

»Schatten zu erzeugen ist nun mal meine große Leidenschaft.« Ihre platinblonde Haarmähne schwingt über ihre Schulter, als sie den Kopf zu mir dreht und mir zuzwinkert. Dann richtet sie sich gerade auf und wirft den Pinsel in ihr Schminktäschchen. Sie trägt mein paillettenbesetztes Gucci-Minikleid, das ich von Daria abgestaubt habe.

Katia ist vor acht Jahren zusammen mit ihrer Mutter von Lettland in die USA ausgewandert und hat ein Vollstipendium für die Juilliard. Wir teilen uns seit unserem ersten Tag hier ein Zimmer und halten – sehr zu Katias Leidwesen – einen strikten, aus Ramen-Suppen, Pizza Rolls und hochfliegenden Träumen bestehenden Diätplan ein. Sie hat zu intervenieren versucht, als ich das Abo für glutenfreie Biokost kündigte, das meine Eltern für mich eingerichtet haben, als ich ans College wechselte, aber ich habe mich bewusst dafür entschieden, mich mit meinem achtzehnten Geburtstag finanziell von ihnen abzunabeln. Und bis dato halte ich mich ganz gut über Wasser.

Es ist nämlich so, dass zu viel Geld die kreative Ader versiegen lässt. Weil Kunst aus Entbehrung geboren wird und Privilegien dem Schaffensprozess im Wege stehen. In der Kunst geht es um Blut, um Tod. Darum, die eigene Geschichte durch ein Medium – sei es Farbe auf Leinwand, Ton, Tanz oder Gesang – zu erzählen. Wovon handelt meine? Von ein paar dilettantischen Maniküren und der unglückseligen Phase, in der ich eine Zahnspange tragen musste?

Ich habe irgendwo mal folgendes Zitat einer Autorin namens Amy Chua gelesen: »Weißt du, was ein ausländischer Akzent ist? Ein Zeichen von Tapferkeit.« Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie perfekt und monoton ich mich mit meinem Valley-Akzent, meinen pastellfarbenen Strickjacken und meinem behaglich reichen Elternhaus stets in mein Umfeld eingefügt habe.

Bis ich auf der Juilliard gelandet bin.

»Lieber Himmel, Bails, jetzt sei nicht so eine Spaßbremse. Ich mag Lauren ja auch. Obwohl sie eine Schlampe ist, weil sie mit Jades Ex rumgemacht hat.« Katias Stimme zerteilt den Nebel in meinem Kopf wie ein scharfes Messer. Meine Schmerzen sind kaum auszuhalten. Ich habe drei Stressfrakturen – eine in jedem Schienbein, eine in der Wirbelsäule –, die wie verrückt pochen und meine Aufmerksamkeit fordern.

»Er hat ihr eine Mitfahrgelegenheit angeboten.« Ich ziehe die Nase kraus. »Alles andere ist reine Spekula–«

»Es ist einfach eine Schande, weil es ihr Abschlussjahr war. Sie hatte schon einen Broadway-Vertrag in der Tasche. Für Hamilton. Sie wäre ein festes Mitglied des Ensembles geworden. Und jetzt muss sie zurück nach Oklahoma –«

»Montana«, verbessere ich sie mit schmerzerstickter Stimme.

»Wo sie vermutlich auf der Schweinefarm ihres Vaters arbeiten –«

»Er ist kein Farmer.«

»Wie auch immer. Jedenfalls kann man mit niemandem so schlecht über Leute tratschen wie mit dir, Bails. Hast du noch nie davon gehört, dass brave Frauen nicht in die Geschichte eingehen?« Katia kippt den Rest ihres Biers, mit dem sie vorgeglüht hat, hinunter und versenkt die leere Büchse im Mülleimer.

»Das ist nicht wahr«, murmle ich. Mir ist klar, dass ich wie eine kleinliche Besserwisserin rüberkomme, trotzdem kann ich mich nicht beherrschen. »Was ist mit Eleanor Roosevelt? Und Harriet Tubman oder Ma–«

»Lalalala.« Katia hält sich die Ohren zu und stolziert zur Tür. »Dies ist ein College. Ich bin hier, um Spaß zu haben, und nicht, um mir neues Wissen anzueignen.« Sie hält mit der Hand an der Türklinke inne und wirft mir über die Schulter einen Blick zu. »Bist du dir sicher, dass du nicht mitkommen willst zu Luis’ Party? Die Lehrbücher laufen dir nicht weg.«

»Das weiß ich. Und ja, ich bin mir sicher.« Ich zeige auf meinen Fußknöchel, der aktuell die Größe eines Tennisballs hat. »Ich sollte ihn wohl besser schonen.«

Katia verzieht das Gesicht. »Hast du zumindest das Vortanzen gerockt?«

Umgekehrt wird eher ein Schuh draus. Darum wird’s Zeit, dass du dich verziehst, damit ich mich mit Schmerzmitteln zudröhnen, drittklassige Reality-TV-Spielshows glotzen und in Selbstmitleid baden kann.

»Na klar«, behaupte ich. »Jetzt schwirr ab, und amüsier dich für uns beide, okay?«

Sie hebt drei Finger. »Großes Pfadfinderehrenwort.«

»Schreib mir, falls du dich nicht fahrtüchtig fühlst.« Das sage ich immer, wenn Katia ausgeht. So bin ich nun mal. Bailey Followhill, die ewige Chauffeurin. Das Mathe-Ass. Die Einserschülerin, die sich für wohltätige Zwecke engagiert und der einige sogar zutrauen, dass sie einmal als erste Frau ins Oval Office einziehen wird. Mommys und Daddys ganzer Stolz. Die Perfekte, das Vorzeigekind, das stets parat steht, um die Lücken zu schließen, die ihre glamourösere ältere Tochter hinterlässt. Weil ich einfach nicht aus meiner Haut herauskann.

»Wir sehen uns morgen früh, Babe.« Katia winkt mir lässig zu.

Dann geht sie und lässt mich in einer Wolke aus Haarspray und Verzweiflung zurück. Ich blicke an die Decke, nehme meine Umgebung durch den Schleier meiner Tränen nur unscharf wahr. Der Schmerz in meinen Beinen und in meiner Wirbelsäule ist so mörderisch, dass ich mir auf die Innenseite meiner Wange beiße, bis ich Blut schmecke. Ich weiß, was ich tun muss, tue es schon seit Wochen. Okay, Monaten. Es ist nur eine Übergangslösung, aber sie wirkt Wunder und bereitet den Qualen ein Ende.

Ich atme tief ein, kämpfe mich aus dem Bett und tappe zu meinem mit einem Schloss versehenen Tagebuch, das meine Mutter mir zum Einzug ins Wohnheim geschenkt hat.

»Dokumentiere alles, Bailey. Jede Träne. Jedes Lächeln. Jeden Sieg und jede Niederlage. Und denke immer daran, dass Diamanten nur unter großem Druck entstehen. Du wirst immer funkeln, Mäuschen.«

Ich hole den Schlüssel aus seinem Versteck unter einer Topfpflanze – ja, ich habe unser Zimmer mit Pflanzen bestückt, um für eine gute Luftqualität zu sorgen – und schließe das Tagebuch auf. Es befinden sich keine Seiten darin, keine Wörter, keine Tinte. Was vermutlich eine gute Metapher für mein Leben ist. Tatsächlich habe ich das in glänzendes pinkfarbenes Leder gebundene Buch in meiner dritten Woche an der Juilliard »entkernt« und die Seiten durch eine fünfzehn mal zwanzig Zentimeter große Box ersetzt, in der ich meine Tabletten verwahre. Ich bin nicht abhängig von verschreibungspflichtigen Medikamenten – hauptsächlich, weil mein Arzt sich seit Monaten weigert, mir ein neues Rezept auszustellen. Darum habe ich andere Wege gefunden, sie mir zu beschaffen.

Dr. Haddock hatte mir dringend empfohlen, meinen rechten Knöchel eingipsen zu lassen, eine vierwöchige Bettruhe einzuhalten und anschließend eine Physiotherapie zu machen. »Ich kann Ihnen nicht noch mehr Vicodin verordnen, Bailey. Muss ich Sie daran erinnern, dass wir mitten in einer Opioidkrise stecken?«

Ich argumentierte und feilschte, dann haute ich ein paar anekdotenhafte Fakten heraus, die meine Forderung nach Schmerzmitteln stützen sollten. Am Ende verschrieb er mir ein paar Motrin 800, damit ich mein heutiges Vortanzen bewältigen konnte, in der Hoffnung, meine nachlassenden Leistungen im Ballett und in Tanzkomposition zu verbessern. Ich gab alles, powerte mich bis zum Letzten aus, dehnte jedes Band und jeden Muskel bis an die Belastungsgrenze. Trotzdem war es nicht gut genug.

War ich nicht gut genug.

»Ich sehe Ihnen an, wie sehr Sie es wollen, Miss Followhill«, kommentierte eine der leitenden Choreografinnen mit missbilligend herabgezogenen Mundwinkeln, während sie rhythmisch mit einem Stift auf ihr Klemmbrett klopfte. »Aber Leidenschaft ohne Können ist wie ein Auto ohne Sprit. Sie müssen an Ihrer Alexander-Technik feilen und sich die grundlegenden Bewegungen neu erarbeiten. Im Übrigen sind Ihr Tendu und Ihr Plié verbesserungswürdig. Zurück auf Anfang ist die Devise.«

Ich schließe die Augen und schüttle den Kopf, um die Worte aus meiner Erinnerung zu verdrängen. Die Hälfte der Zeit weiß ich noch nicht mal, ob ich überhaupt eine Ballerina sein will oder ob es wirklich das ist, wozu ich bestimmt bin. Mein Weg war vom Tag meiner Geburt an vorgezeichnet, und ich habe ihn anstandslos beschritten. Meine Mutter erkannte Potenzial in mir, verschiedene Talentsucher stimmten ihr zu, und als ich elf war, trudelten die ersten Einladungen von Ballettakademien ein. Damit war mein Schicksal besiegelt und ich auf der Überholspur zu einer Karriere als Tänzerin.

Ich nehme die Box heraus und betaste ihren Inhalt. Es ist nur noch eine Motrin übrig. Nicht eine einzige Benzo, um meine Stimmung aufzuhellen, oder eine Vicodin, um dem Schmerz die scharfen Kanten zu nehmen.

»So ein Mist«, zische ich. Katia musste irgendwie an meinen Schlüssel gelangt sein und sich an meinen Vorräten vergriffen haben. Ich weiß, dass ich noch mehrere Xannies hatte. Ausgeschlossen, dass ich sie alle in weniger als einer Woche verbraucht habe.

Ich schlucke die letzte Tablette trocken hinunter, dann schnappe ich mir mein vermeintliches Tagebuch und schleudere es mit einem Wutschrei gegen das Fenster. Es prallt vom Glas ab und landet umgedreht aufgeschlagen auf dem alten Teppich, wo es durch den nun verzogenen Einband an eine Primaballerina in der Pose des sterbenden Schwans erinnert. Wieder höre ich die Stimmen der Juroren in meinem Kopf, als sie in der Annahme, ich hätte den Saal schon vor Minuten verlassen, über mich sprachen – in Wirklichkeit kauerte ich immer noch hinter dem Vorhang, umklammerte meinen verletzten Knöchel und hielt mit aller Kraft meine Schluchzer zurück.

»Sie ist nicht elastisch genug.«

»Es mangelt ihr an Energie.«

»Ist sie nicht Melody Followhills Tochter? Ja, das passt. Ich erinnere mich an ihre Mutter. Sie war nicht gerade ein Ausnahmetalent. Wenn ihr mich fragt, kann sie von Glück reden, dass sie sich damals das Bein gebrochen hat. Brachte ihr nebenbei eine komfortable Ehe ein. Ihre Tochter hat mehr drauf, ist aber immer noch keine Anna Pavlova.«

Das war, nachdem ich meine Ausbilder überzeugt hatte, mich den Test wiederholen und noch einmal auf der Bühne vortanzen zu lassen, damit ich das Semester bestehen würde. Auf gar keinen Fall würde ich, die Überfliegerin Bailey Followhill, in meinem ersten Studienjahr durchrasseln.

Ich grabsche nach meinem Handy und scrolle durch die Kontakte, bis mein Daumen bei dem Namen Payden Rhys innehält. Der aus Indiana stammende Balletttänzer mit dem gemeißelten Kinn, der, ohne sich groß anzustrengen, eine Hauptrolle in La Sylphide ergattert hat, bessert sein Taschengeld mit dem Verkauf von Vicodin, Xanax und anderen Partydrogen auf. Er ist ein zwielichtiger Typ, den ich aus tiefstem Herzen verabscheue, obwohl ich aus irgendeinem Grund immer mehr Zeit mit ihm verbringe.

Es sind nur noch ein paar Wochen bis zum Ende des Semesters, und an meinen Zensuren außerhalb des Tanzstudios gibt es nicht das Geringste zu beanstanden. Ich kann nicht vorzeitig die Heimreise antreten, weil sonst alle wüssten, dass mein Bestes dieses Mal nicht gut genug ist. Abgesehen davon muss ich nur noch diese Prüfung beim nächsten Anlauf bestehen und eine gute Note einheimsen, danach habe ich die ganze Winterpause, um von meinen Verletzungen zu genesen und meine erst seit sehr kurzer Zeit bestehende und absolut kontrollierbare Medikamentenabhängigkeit zu besiegen. Ich schreiben Payden.

Bailey: Lust, einen draufzumachen?

Er weiß genau, was damit gemeint ist.

Payden: Wie heftig?

Übersetzung: Wie viel brauchst du?

Bailey: So heftig wie bei einem Spring Break.

Alles, was du hast.

Payden: Gib mir fünf Minuten.

Ich lehne mich mit dem Rücken an die Tür und lasse mich zu Boden gleiten, dann vergrabe ich den Kopf zwischen den Knien und fange lautlos an zu weinen. Ich hasse meinen Körper dafür, dass er sich meinen akademischen Ambitionen, meinem Ehrgeiz widersetzt und jemandem wie Payden Macht über mich gibt.

Manchmal wünschte ich, ich könnte mich auf meinen Spitzenschuhen im Kreis drehen, bis alle meine Ängste und Unsicherheiten von mir abgefallen wären. Insgeheim grolle ich meiner älteren Schwester Daria. Sie zu sein ist leicht, weil an sie so gut wie keine Erwartungen gestellt werden. Sie akzeptiert ihre Unzulänglichkeiten nicht nur, sondern trägt sie stolz zur Schau, als wären es Kampfnarben. Daria hat ihrem Mann, ihren Freunden, unseren Eltern ihre schlechtesten Seiten gezeigt und dadurch unglaublicherweise und gegen jede Vernunft erreicht, dass man sie nur noch mehr liebt.

Für mich ist das keine Option. Ich bin Bailey Followhill, die perfekte kleine Ballerina. Keine Hürde ist zu hoch für mich, kein Test zu schwierig.

Du hast ein Problem? Wende dich an Bailey. Sie weiß für alles eine Lösung.

Tja, Spoileralarm: Ich habe keine Ahnung, was ich gerade tue.

Drei Minuten später klopft es an der Tür, kurz darauf steht Payden mit einem durchtriebenen Funkeln in seinen braunen Augen im Zimmer. Zur Begrüßung hilft er mir auf die Füße und gibt mir einen schmerzhaft festen Klaps auf den Hintern. Er strahlt eine nonchalante Bösartigkeit aus, die mich immer nervös macht.

»Verdammt, Bails, ich stehe ja auf Oberschenkellücken, aber deine ist sogar mir zu krass.« Außerdem ist er ein mieser Wichser, der es liebt, sich abwertend über das Aussehen anderer zu äußern, damit sie sich schlecht fühlen. Es heißt, er habe sich letztes Jahr bei seinen Lehrern unbeliebt gemacht, als er seiner Tanzpartnerin vorwarf, zu schwer für eine Hebefigur zu sein. Sie wog keine fünfzig Kilo, und er hat obendrein das F-Wort benutzt.

»Du siehst furchtbar aus.« Payden hebt sein Hosenbein und zieht einen Druckverschlussbeutel aus seiner löchrigen Socke, in dem sich mehrere Tütchen mit unterschiedlichen Tabletten befinden. »Hast du geflennt?«

»Nein«, lüge ich. »Aber diese blöden Verletzungen nerven.« Ich stülpe meine Ärmel über meine Fäuste und reibe mir die Nase. Ich hasse ihn und will, dass er verschwindet. Aber er ist der einzige Mensch, der mir je Benzos verkauft hat, die meine chemische Überprüfung bestanden haben und echtes Vicodin enthalten.

»Machen dir deine hübschen Beine wieder Probleme, Followhill?« Er klemmt sich eine Zigarette in den Mundwinkel und schnippt mit Daumen und Zeigefinger gegen ein Tütchen voll Vicodin. »Nun, mein Angebot, sie um meinen Hals zu schlingen, steht immer noch. Ein besseres Schmerzmittel als mich gibt es nicht.«

»Das haben wir schon hinter uns«, murmle ich und versuche, die unerquickliche Erinnerung daran aus meinem Gedächtnis zu verbannen. »Du bist keine Vicodin, Pay. Noch nicht mal eine halbe Advil.«

»Autsch.« Er lacht. »Würde es mich auch nur einen Dreck interessieren, was irgendeine verwöhnte Prinzessin aus Todos Santos denkt, wäre ich jetzt beleidigt.«

»Du warst ganz versessen darauf, mit mir zu schlafen.«

»Wer könnte mir das verübeln? Eine Jungfrau zu vögeln stand schon immer auf meiner Wunschliste.«

Ich werfe einen leidenschaftslosen Blick auf das Vicodin und frage mich, ob es seinen Zweck erfüllen wird. Vor meinem heutigen Vortanzen habe ich zwei Motrin genommen und die Choreografie trotzdem vermasselt. Meine Schienbeine fühlen sich an, als würden sie jeden Moment brechen.

»Hast du auch was Stärkeres?« Ehrlich gesagt erkenne ich mich selbst nicht wieder. Ich habe bis zu meinem Highschool-Abschluss noch nicht mal Marihuana ausprobiert. Lev musste mich einmal von einer Party abholen, weil ich völlig high war von den Joints, die andere Gäste rauchten.

»Stärker als V?« Ein verwirrter Ausdruck malt sich auf Paydens Züge. »Sicher. Ich hätte Oxy, falls du –«

»Okay, her damit.«

Seine Miene verdüstert sich. »Ich wollte sagen, ›falls du es darauf anlegst, dich umzubringen‹. Ich verkaufe kein Oxy an Studierende, und an dich Fliegengewicht schon dreimal nicht.«

»Du übertreibst.« Ich ziehe meine Haare zu einem derart straffen Knoten nach hinten, dass meine Kopfhaut vor Schmerz ziept.

»Von wegen. Du bist auf dem besten Weg, in die Sucht abzurutschen, und leider neigen Junkies dazu, draufzugehen und ihre Dealer in alle möglichen Schwierigkeiten zu bringen.« Er fährt sich mit der Hand durch das sandfarbene Haar. »Hör zu, ich weiß, dass du mich bezahlen würdest, aber du bist mir das Risiko nicht wert.« Er mustert mich anerkennend von oben bis unten. »Bist du sicher, dass du unsere leidenschaftliche Nacht nicht wiederholen willst?«

Ich bin zu höflich, um ihm zu sagen, dass seine Fähigkeiten als Liebhaber denen eines toten Igels entsprechen. »Absolut. Gib mir zehn Vicodin, dann kannst du deiner Wege ziehen.«

»Zehn? Bailey …«

»Payden.« Ich hebe vielsagend die Brauen und strecke ihm die Handfläche hin. Da er weiter stocksteif stehen bleibt, hole ich mein Portemonnaie aus der Schublade, ziehe ein Bündel Geldscheine heraus und fächere sie auseinander wie ein Zauberkünstler, der einen Kartentrick vorführt.

Er schluckt sichtlich. »Bails, bei der Menge geht’s nicht mehr um den Entspannungsfaktor. Du wirst abhängig werden.«

»Abhängig? Mach dich nicht lächerlich. WebMD ist mein medizinischer Leitfaden Nummer eins. Ich habe alles im Griff. Ich muss nur dieses Semester zu Ende bringen.«

Schweigen.

»Seit wann kümmert dich mein Wohlergehen?«

»Tut es nicht«, antwortet er gleichmütig. »Aber meins kümmert mich. Ich bin zu jung, zu talentiert und zu heiß, um im Gefängnis zu landen. Weißt du, was Männern wie mir dort widerfährt?« Er formt mit den Fingern einen Rahmen um sein Gesicht.

Man meidet euch, weil ihr einem den letzten Nerv raubt?

»Mir wird nichts passieren, Pay.«

Letztendlich triumphiert seine Gier über seine Gewissensbisse. Er nimmt das Geld seufzend an und drückt mir das Tütchen mit den Tabletten in die Hand, bevor er warnend den Zeigefinger in die Luft hebt. »Scheiße, Bails. Du bist meine disziplinierteste Kundin auf diesem Campus. Das habe ich nicht kommen sehen.«

Mich hast du auch nicht kommen sehen. Im Ernst, wieso habe ich es jemals für eine gute Idee gehalten, mit dem Kerl ins Bett zu steigen?

»Danke vielmals. Genieß deinen Abend.« Ich weise mit dem Kinn zur Tür, die gerade mal einen Schritt von ihm entfernt ist. »Bis demnächst.«

Er schüttelt mit dem Kopf. »Du bist echt nicht ganz sauber, Mädel. Ich bin heilfroh, dass das mit uns nichts Ernstes geworden ist.«

Womit wir schon zwei wären.

Ich schiebe Payden aus der Tür, während er sich aufmerksam umsieht, Zeit schindet in der Hoffnung, dass ich ihn vielleicht doch ranlasse. »Hast du das Zimmer umgestaltet? Es sieht irgendwie verändert …«

»Payden!«, fauche ich. »Raus mit dir, bevor ich meinen Taser hole.«

Sowie die Tür hinter ihm zugefallen ist, verziehe ich mich mit dem Tütchen Vicodin auf mein Bett und atme tief durch, um meine Nerven zu beruhigen. Ich könnte mich auf eine einzige beschränken und warten, bis die Wirkung einsetzt, während ich weiter Schmerzen und Ängste ausstehe. Oder ich erhöhe die Dosis auf zwei, dann würde ich sofort einschlafen und wäre morgen beim Aufwachen bereit, die Welt zu erobern. Ich würde die Bühne rocken und mit guten Noten belohnt werden. Payden irrt sich. Ich bin nicht abhängig. Ich versuche lediglich, genau wie alle anderen hier, meine tänzerische Laufbahn voranzutreiben. Und nebenbei vielleicht auch zu vergessen, wie kalt, abweisend und unfreundlich New York ist.

Ich schüttle zwei Tabletten in meine hohle Hand und spüle sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Die nächsten zwanzig Minuten tigere ich im Zimmer auf und ab und krümme mich vor Schmerzen, bevor ich eine dritte nehme. Als das Medikament dann endlich zu wirken anfängt, lasse ich mich erleichtert in die Kissen sinken. Seltsamerweise habe ich das Gefühl, als würde mein Kopf darin ertrinken und die Matratze meinen Körper in sich hineinsaugen.

Ich falle …

Trudle in die Tiefe …

Nähere mich im Sturzflug einem dunklen Ort, an den kein Licht dringen kann.

Einem Ort, wo Träume ihr Leben aushauchen.

Ich wache zitternd und benommen auf.

Es sollte nicht so kalt im Zimmer sein. Die Heizung ist voll aufgedreht, und ich bin in Darias übergroßen Valentino-Pulli eingekuschelt. Das letzte Mal habe ich so gefroren, als ich im November überfallen wurde und der Wichser mich gezwungen hat, mich bis auf die Unterwäsche auszuziehen, damit er sich Darias elfenbeinfarbenes Seidenkleid von Vivienne Westwood unter den Nagel reißen konnte. Ich habe geflissentlich vergessen, meinen Eltern von der Sache zu erzählen, weil sie sonst ausgetickt wären. Ich werfe einen Blick auf meine Apple Watch und stelle fest, dass ich erst vor zwanzig Minuten eingeschlafen bin. Es fällt mir schwer, die Augen offen zu halten, mein Atem geht stoßweise, und meine Arme fühlen sich an, als wären sie am Bett festgenagelt. Die gute Nachricht ist, dass ich keinen Schmerz in meinen Beinen spüre. Die schlechte ist, dass ich auch meine Beine nicht spüre.

Ich habe an genügend Aufklärungskursen über Drogenmissbrauch teilgenommen, um die Anzeichen einer Überdosis zu erkennen. Ein heftiger Schauder läuft durch meinen Körper. Ich taste mit einer bleischweren Hand auf dem Teppich nach meinem Handy, das gerade lädt. Mein Gleichgewichtssinn ist dermaßen gestört, dass ich aus dem Bett purzle und auf dem Boden lande. Ich kann mich nicht bewegen, kann nicht aufstehen. Heilige Scheiße, was soll ich jetzt machen?

Irgendwie schaffe ich es, die Finger um mein Handy zu schließen. Ich reiße es mit einem Ruck vom Ladekabel, dann halte ich es mir zitternd, schwitzend und in heller Panik vors Gesicht. Es dauert eine Ewigkeit, ehe sich der Bildschirm entsperrt. Kurz überlege ich, Katia zu verständigen, aber ich darf den vermutlich einzigen Anruf, den ich habe, nicht an einen unzuverlässigen Menschen verschwenden. Darum wähle ich stattdessen die Nummer der Person, die mir als Erstes in den Sinn kommt, wenn ich in Schwierigkeiten stecke. Beziehungsweise die Person, die ich in so einem Fall anrufen würde. Es spielt keine Rolle, dass unser Verhältnis nicht mehr das beste ist und Lev mich geradezu hasst, seit ich ihm das Herz aus der Brust gerissen, in einen Mixer gesteckt und auf höchster Stufe in Stücke gehackt habe.

Und es tut auch nichts zur Sache, dass von unserer Freundschaft nichts mehr übrig ist außer bittersüßen Erinnerungen und zwei abgewetzten Armbändern. Oder dass seine Abwesenheit omnipräsent ist in meinem Leben und eine innere Stimme mir sagt, dass ich niemals von Xanax und Vicodin abhängig geworden wäre, wenn die Dinge zwischen uns noch so wären wie früher.

Während ich warte, dass er rangeht, schrumpft meine Umgebung in sich zusammen wie ein Foto, das von den Rändern nach innen in einem Feuer verschmort.

»Bailey?«

Er klingt desinteressiert und ein bisschen genervt. Kein Wunder. Bailev existiert nicht mehr. Ich habe die Verbindung eigenhändig gekappt. Im Hintergrund sind fetzige Musik, Gelächter und das Klirren von Bierflaschen, die gegeneinandergestoßen werden, zu hören. Er ist auf einer Party.

»Lev …« Meine Zunge fühlt sich wie ein Fremdkörper in meinem Mund an. »Ich habe eine Überdosis.« Nicht zu fassen, dass ich das tatsächlich sage.

»Was zur …?« Das Geräusch einer Tür, die geschlossen wird, der Radau schwächt sich ab. Er hat sich an irgendeinen ruhigen Ort verzogen, damit er mich verstehen kann. Ich habe einen Kloß im Hals. Scheißescheißescheiße. »Wiederhol das!«, befiehlt er. »Na los, mach schon!«

»Ich habe eine Überdosis. Tabletten. Ich … ich glaube, ich werde sterben.«

Obwohl Lev nicht die geringste Ahnung hat, dass ich in meinem Leben jemals etwas Stärkeres als Tylenol für Kinder eingenommen habe, zieht er sofort die richtigen Schlüsse.

»Was für Tabletten?« Seine Stimme klingt jetzt sanft und rau.

Es schwingt kein Vorwurf in der Frage mit, kein Ärger. Ich kann nicht glauben, dass wir uns entfremdet haben, ich einen Keil zwischen uns getrieben habe … und dass dies womöglich unser allerletztes Gespräch sein wird.

»Angeblich Vicodin. Aber die Wirkung ist dieses Mal … anders. Falsch.« Meine Atemzüge werden immer flacher, mein Körper fängt an, den Dienst zu versagen. »Du musst einen Krankenwagen rufen.« Ich versuche zu schlucken. Vergeblich. »Und schick jemanden mit Narcan zu meinem Zimmer im Studierendenwohnheim. Für den Fall, dass … du weißt schon.«

Wer behauptet, dass es sich nicht auszahlt, eine Streberin zu sein? Ich habe bei besagten Aufklärungskursen gut aufgepasst.

»Das weiß ich verdammt noch mal nicht, aber diese Unterhaltung verschieben wir auf später.« Ich höre, wie er fieberhaft irgendwas durchwühlt, und in meinem Herzen keimt eine törichte, unberechtigte Hoffnung auf. »Bleib dran … Verfluchte Scheiße, wo ist das Ding?«, knurrt er. »Ich werde Tha–, äh, das Handy von jemand anderem benutzen, um dir Hilfe zu besorgen. Und jetzt zähl bis zehn.«

Die normale Bailey würde rückwärts zählen, und das, nur um anzugeben, auf Lateinisch. Aber die aktuelle Bailey versucht es noch nicht mal und ist außerdem so dämlich, sich zu fragen, wer Tha– ist. Ein Mädchen? Seine Freundin? Hat er etwa angefangen zu daten? Aber jetzt ist kein guter Zeitpunkt für Eifersucht. Mein Blutsauerstoffgehalt ist viel zu niedrig. Meine Sicht trübt sich mit jeder Sekunde stärker ein.

»Lev, ich habe Angst.«

»Dazu besteht kein Grund«, sagt er und klingt dabei noch ängstlicher als ich.

Ich schlucke schwer, und anscheinend merkt er mir meine Panik an, denn er fragt: »Wann hätten wir je zugelassen, dass einem von uns etwas Schlimmes passiert?«

»Manche Dinge sind stärker als wir.«

»Nichts ist stärker als Bailev.« Sein Ton lässt keinen Raum für Widerspruch. »Wiederhol das.«

»Nichts ist stärker als Bailev«, murmle ich.

»Absolut richtig. Braves Mädchen.«

Meine Lider flattern. Ich bin furchtbar müde, fühle mich schwer und betäubt. Mit halbem Ohr höre ich, wie Lev zuerst mit der Notrufleitstelle und anschließend mit dem Büro des Wohnheims telefoniert. Er klingt ruhig, kontrolliert und ungewohnt autoritär.

Lev ist der Inbegriff eines Mädchenschwarms. Er hat breite Schultern, volle Lippen, einen sexy Schlafzimmerblick und einen Körper, der Adonis vor Neid erblassen ließe. Aber das ist nicht der Grund, warum ich in ihn verliebt bin. Sondern, weil er mich jeden Winter beim ersten Wolkenbruch nach draußen zerrt, um barfuß mit mir im Regen zu tanzen, seit er mich einmal dabei beobachtet hat, als ich sechs war. Weil er mich auf die Stirn küsst, wenn ich traurig bin, und schmalzige Liebeskomödien mit mir guckt, wenn ich PMS habe, und es trotzdem diese andere Seite von ihm gibt, die an Sportwagenrennen teilnimmt und sich an einem Bungee-Seil von Klippen stürzt.

Er ist hart und weich zugleich. Luft und Wasser. Lev ist mein Ein und Alles, trotzdem nimmt er keinen Platz mehr in meinem Leben ein. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich nur daran denke.

»Ich … Lev, ich werde …«, krächze ich.

»Du wirst das durchstehen. Hilfe ist schon unterwegs. Erzähl mir noch mal, seit welchem Jahr es Frauen erlaubt ist, Ballett zu tanzen.«

1681. Er will mich ablenken, und dafür bin ich ihm dankbar, aber mein Mund ist zu trocken, ich kann nicht antworten.

»Täubchen?« Seine Stimme ist wie ein Schlaflied, sie hüllt mich gleich einer weichen Wolldecke ein. »Bist du noch dran?«

Meine Augen fallen zu, ich gleite in die Dunkelheit. Der Tod ist kalt und still und wunderschön und so nah, dass ich seinen Atem auf der Haut fühle. Unwillkürlich geht mir durch den Kopf, wie selbstsüchtig es von mir ist, Lev nach allem, was er durchgemacht hat, jetzt auch noch zuzumuten, mir beim Sterben zuzuhören.

»Antworte mir, Bailey!« Das Geräusch von splitterndem Glas, dann eine Salve von Verwünschungen, bevor eine überrascht klingende männliche Stimme wissen will, was zum Teufel los ist. Ich ringe mit dem Tod, trotzdem durchströmt mich große Erleichterung bei dem Gedanken, dass Lev wenigstens einen Freund hat, der sich um ihn kümmern wird.

Ich bekomme mit, wie Lev die Bitten der anderen Gäste, bei einem Spiel mitzumachen, abschmettert und die Party verlässt. »Hab nur noch ein bisschen Geduld«, beschwört er mich immer wieder. »Sie sollten jede Sekunde da sein, Täubchen. Bleib wach für mich, okay?«

»Lev …« Ich ringe erstickt um Atem. »Kommst du? Hierher? Nach Nuyoook?«, stammle ich undeutlich.

»Ja«, bestätigt er, ohne zu zögern. »Bin schon auf dem Weg. Warte einfach auf mich, in Ordnung?«

Schaum steigt in meiner Kehle hoch, und ich kann vor lauter Tränen nichts sehen. Ich klammere mich an meinem Armband fest. Es ist eine ausgefranste schwarze Lederschnur mit einem silbernen Anhänger in Form einer Turteltaube. Lev hat das Pendant dazu und nimmt es nie ab.

Wie passend, dass dein Name auf Hebräisch Herz bedeutet, möchte ich zu ihm sagen. Du hast deine Zähne in meins gegraben und es in einem Stück verschlungen.

»Wie sieht der Himmel aus, Täubchen?« Eine Autotür schlägt zu.

»Wolkig … mit Aussicht auf Regen«, sind die letzten Worte, die ich herausbringe, bevor ich das Bewusstsein verliere.

2. Kapitel

Bailey

Drei Tage später

Ich presse die Wange an das kühle Fenster von Dads Range Rover und beobachte, wie die frühlingshafte kalifornische Landschaft in lebhaften Grün-, Gelb- und Blautönen an mir vorbeiwischt. Der Flug von New York nach Lindbergh Field verlief derart schweigsam, dass man hätte denken können, wir drei würden uns überhaupt nicht kennen. Und die wenigen Worte, die gesprochen wurden, waren leerer als mein Magen.

Mom: Möchtest du etwas essen, Mäuschen?

Ich: Nein, danke.

Mom: Du hast seit Tagen kaum etwas zu dir genommen.

Ich: Hab keinen Hunger.

Dad: Ganz sicher, Bails? Deine Mom hat dir am JFK Sushi besorgt. Wir wissen ja, wie sehr du Bordverpflegung hasst.

Ich: Es liegt nicht am Essen an sich, sondern an der Umgebung. Die Luftfeuchtigkeit und der Druck in der Kabine auf zehntausend Metern Höhe verändern unseren Geschmacks- und Geruchssinn.

Dad: Alles klar, Einstein.

Ich: Pasterski.

Dad: Was?

Ich: »Alles klar, Pasterski.« Ich spreche von Sabrina Gonzalez Pasterski, einer genialen Physikerin. Wie sollen wir jemals die Mauern des Patriarchats einreißen, wenn wir für jede kulturelle Referenz eine bedeutende männliche Persönlichkeit heranziehen?

Dad: Okay, okay. Wenigstens klingst du wieder wie die alte Bailey.

Mom: Was machen die Schmerzen?

Ich: Es geht mir schon besser, danke.

In Wirklichkeit glaube ich nicht, dass meine Schienbein- und Rückenfrakturen weniger schmerzhaft sind als zuvor. Ich spüre sie nur weniger, weil ich immer noch wie paralysiert bin von dem, was in den letzten drei Tagen passiert ist. Kurz nach meinem Telefonat mit Lev ist jemand in mein Zimmer gestürmt und hat mir Naloxon in die Nase gesprüht. Ich kam zu mir und habe alles vollgekotzt, den Boden, die Wände, den Teppich. Man hat mich auf einer Tragbahre, vorbei an Dutzenden neugierigen Gaffern, aus dem Wohnheim und zum Mount Sinai Hospital gebracht, wo mir der Magen ausgepumpt wurde. Anschließend hat man mich an medizinische Geräte angeschlossen, mit Nadeln traktiert und unzähligen Tests unterzogen. Meine Eltern trafen mitten in der Nacht ein, beide bleich wie Gespenster. Die ersten paar Stunden stellte ich mich schlafend, um ihnen nicht in die Augen sehen zu müssen. Ich schämte mich zu Tode wegen meiner Überdosis. Nicht einmal Daria hätte sich so etwas jemals geleistet. Mit Drogenproblemen haben die Sprösslinge anderer Leute zu kämpfen, die kein riesiges Anwesen im spanischen Kolonialstil mit zwei Swimmingpools sowie ein Teilnutzungsrecht an einem Feriendomizil in den Hamptons besitzen und sich regelmäßige Shoppingausflüge nach Genf gönnen.

Bei Tagesanbruch öffnete ich schließlich widerstrebend die Lider.

Als meine Eltern mich mit Fragen bombardierten, tischte ich ihnen Lügen auf. Ich könnte an einer Hand abzählen, wie oft ich in meinem Leben die Unwahrheit gesagt habe – ehrlich zu sein, ist keine große Kunst, wenn man nie gegen die Regeln verstößt. Aber das Blatt hat sich gewendet. Jetzt habe ich ein Geheimnis, nämlich, dass ich ständig nach Beruhigungs- und Schmerzmitteln lechze. Sie brauche, um meine von Verletzungen und Ängsten dominierten Tage zu überstehen. So fing meine Romanze mit der Unaufrichtigkeit an. Wobei Romanze weit untertrieben ist.

Bailey Followhill und Unaufrichtigkeit führen inzwischen eine feste, leidenschaftliche Beziehung.

Ich habe meinen Eltern weisgemacht, dass es ein einmaliger Ausrutscher gewesen sei und ich nie zuvor von einem Dealer Schmerztabletten gekauft hätte.

»Ich dachte, es wäre hochdosiertes Motrin, und nicht mit Fentanyl versetztes Vicodin!«, deklamierte ich und versuchte, so erschüttert auszusehen, wie meine Eltern es waren. »Du weißt, dass ich niemals eine solche Dummheit begehen würde, Mom.«

Ja, dafür bist du zu schlau, besagte ihr Blick, aber offen gestanden, bin ich mir da nicht so sicher.

Und nun sind wir drei Tage später zurück in meiner Heimatstadt Todos Santos. Ich habe das zweite Semester vorzeitig beendet und von meiner Mutter erfahren, dass das Hochschulgremium meine Immatrikulation noch einmal überdenken und mir bis zum Ende des Studienjahres Bescheid geben wird, ob ich meine praktische Prüfung noch einmal wiederholen kann.

Eine Million hysterischer Gedanken gehen in meinem Gehirn auf Kollisionskurs. Werden sie mich überhaupt zurückkommen lassen? Welche Möglichkeiten habe ich, um meine schlechten Noten auszubügeln und den vielen Unterricht aufzuholen, den ich verpassen werde? Wie soll ich je wieder all den Menschen entgegentreten, die mich gesehen haben, als ich mit erbrochener Ramen-Suppe und Magensäure am Kinn auf einer Trage abtransportiert wurde? Weiß Daria Bescheid? Oder Onkel Dean? Was ist mit Knight, Vicious, Millie und Vaughn?

Eins steht jedenfalls fest: Katia ist im Bilde und entpuppt sich, den Nachrichten nach zu urteilen, die sie auf meinem Handy hinterlassen hat, als treulose Tomate.

Katia: Nicht zu fassen, dass du UNSER Zimmer dafür missbraucht hast.

Katia: Nur zu deiner Information – du hast meine ganzen Klamotten vollgekotzt. Ich musste mir von Petra Leggings ausleihen, um zum Waschsalon zu gehen.

Katia: Du hättest uns beide richtig in die Scheiße reiten können.

Katia: Ehrlich, ich bin schwer enttäuscht von dir.

Katia: Wird jemand kommen, um deine Pflanzen zu gießen? Ich hab gerade zu viel um die Ohren.

In meinem Kopf dreht sich alles. Ich möchte mich übergeben, aber in meinem Bauch ist außer Wasser nur Furcht. Sie fühlt sich an wie eine mythische Kreatur, die gierig meine inneren Organe verzehrt, sich in jeder Zelle von mir einnistet, wächst und gedeiht und immer mehr Platz einnimmt.

Wir fahren durch das Stadtzentrum, passieren den in die Hügel eingebetteten Golfplatz und Palmen, die sich im Wind wiegen. Die Surfshops, die Cafés und die pastellfarbenen Ladenfronten verströmen etwas tröstlich Vertrautes, und der schmale Streifen, wo das Meer den Himmel küsst, glitzert verheißungsvoll.

Doch dann meldet sich mein gnadenloser Ehrgeiz zurück. Nein, das kann es nicht gewesen sein. Diese Auszeit wird mir dabei helfen, den großen Durchbruch zu schaffen. Ich werde härter trainieren und bei meiner Rückkehr an die Juilliard besser denn je sein. Es ist noch längst nicht vorbei. Tatsächlich ist es erst der Anfang. Ich werde meine Mutter nicht enttäuschen. Und mich auch nicht. Schon seit ich laufen kann, wollte ich eine Ballerina sein, und dieser kleine Rückschlag wird meine Karriere nicht beenden.

»Bails, Mäuschen, möchtest du eine Orange?« Mein Dad sieht mich im Rückspiegel an. Jaime Followhill ist der beste Vater auf der Welt, der immer für eine Überraschung gut ist. Normalerweise liebe ich das an ihm. Es ist lustig, wenn er plötzlich eine Frucht aus dem Hut zaubert oder ich davon geweckt werde, dass er morgens auf mein Bett springt und verkündet: »Wir fahren heute ins Legoland! Der Letzte, der seine Schuhe anhat, wird sich für die anderen an den Fahrgeschäften anstellen!«

»Nein, danke.« Ich wickle eine meiner blonden Locken um meinen Finger und untersuche sie auf Spliss, den es zu entfernen gilt. Unvollkommenheit ist mir zuwider.

»Ich habe eine tolle Entdeckung gemacht«, hebt meine Mutter munter an, aber ihre Stimme klingt nervös und ein bisschen schrill. »Eine Wellnessoase samt Sterne-Restaurant direkt vor den Toren von Carlsbad. Die Umgebung ist traumhaft! Das Hotel sieht aus wie das Amangiri und bietet ausschließlich Luxussuiten. Neben Massagen und Yoga hat es auch Energieheilung im Programm. Ich würde selbst dort Urlaub machen, wenn ich die Zeit dafür hätte!«

Sie will mich in eine Entzugsklinik schicken? Ist sie etwa stoned?

»Das kann nicht dein Ernst sein, Mom.« Ich presse die Lippen aufeinander und zügle mein Temperament. Die Kontrolle zu verlieren passt nicht zu mir. Ich schreie nie, gebe keine Widerworte, rebelliere nicht. Meine Eltern und ich streiten generell nicht, wir haben höchstens kleine Meinungsverschiedenheiten. »Diese vermeintliche ›Überdosis‹ …« Ich zeichne mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. »War eine einmalige Sache.«

Süchtige machen einen Entzug, nicht Menschen, die während extrem stressiger Phasen kurzfristig zu Schmerz- und Beruhigungsmitteln greifen. Abgesehen davon wird die Juilliard nicht geduldig auf meine Rückkehr warten, während ich mit reichen Hausfrauen meditiere, die ihre Trinkgewohnheiten nicht im Griff haben.

»Du bist in der Notaufnahme gelandet, wo man dir den Magen ausgepumpt hat«, erinnert Mom mich.

»Er war komplett leer.« Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Ich habe eine einzige Tablette genommen.« Eigentlich waren es drei, aber das ist Erbsenzählerei. »Ich bin kein Junkie.«

»Ich dulde nicht, dass du dich über Suchtkranke lustig machst, Bails. In unserer Familie benutzen wir den Ausdruck Junkie nicht.« Dads Stimme hat einen scharfen Beiklang. »Willst du ganz sicher keine Orange? Sie sind süßer als die Sünde.«

»Deine Tochter hat vor drei Tagen genug für die nächsten zehn Jahre gesündigt«, grummelt Mom und dreht sich auf ihrem Sitz zu mir um. »Hör zu, ich weiß nicht, wie das Fentanyl in deinen Organismus gelangt ist, aber –«

»Also glaubst du mir nicht, dass ich dachte, es handle sich um Motrin?« Keine Ahnung, warum ich ehrlich gekränkt bin, obwohl ich Tabletten eingeworfen habe, als wäre ich ein fleischgewordener Post-Malone-Song. »Der Kerl, von dem ich sie bekommen habe, hat behauptet, sie seien von einem europäischen Hersteller.« Das ist meine dritte Lüge in Folge. Ich sollte sie mir irgendwo notieren, um nicht den Überblick zu verlieren.

»Du hast uns seine Identität noch immer nicht verraten.« Meine Mutter mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. »Was, wenn er irgendwann jemanden umbringt?«

»Ich kenne seinen Namen nicht!« Lüge Nummer vier. Ich habe einen echten Lauf.

In einer von Katias Nachrichten stand, dass Payden nach dem Fiasko mit mir die Stadt verlassen und als Tänzer auf einem Kreuzfahrtschiff angeheuert hat. Wahrscheinlich hat er realisiert, dass ihm seine illegalen Geschäfte schon bald auf die Füße fallen könnten, und deshalb die Flucht ergriffen. Aber solange er keinen weiteren Schaden anrichtet, halte ich mich da raus.

»Ich sage ja nur –«

»Ich habe euch nie zuvor enttäuscht, Mom. Es war mein allererster Fehler –«

»Das reicht.« Sie schlägt mit der Hand auf ihren Schenkel, ist kurz davor zu explodieren. »Lass uns nicht so tun, als wäre ich nach New York geflogen, um meine neunzehnjährige Tochter abzuholen, weil sie wegen eines Fehlers im Krankenhaus gelandet ist. Das wäre blanker Hohn. Wir werden diese Geschichte nicht kleinreden, Fräulein.«

»Hast du diesen Vortrag vorher einstudiert? Es war ein Missverständnis! Ich dachte, es wäre Motrin!« Ich fuchtele mit den Händen in der Luft. »Keine Sorge, ich werde mich nicht aus dem Haus schleichen, um mir bei einem Straßendealer Heroin zu beschaffen.«

»Warum nicht?«, schießt sie zurück. Das sieht ihr nicht ähnlich. Normalerweise lobt und hätschelt sie mich und lacht vor Freude, wenn ich auch nur in ihre Richtung atme. Sie überschüttet mich mit Liebe und Wertschätzung, was mein Streben nach Perfektion zusätzlich befeuert. »In New York hast du dich mit einem Dealer eingelassen. Und bitte erspar mir diese lächerliche Motrin-Ausrede. Ich erkenne mein eigenes Kind nicht wieder. Du und Drogen. Ich bin wirklich fassungslos.«

»Ich hatte nicht vor, eine Gewohnheit daraus zu machen.« Was quatsche ich da? Ich lasse meine Deckung gerade höchstpersönlich auffliegen. »Ich brauchte nur etwas gegen die Schmerzen nach meiner praktischen Prüfung.«

»Geht es um deine Ermüdungsfrakturen?« In Moms Stimme klingt leise Panik mit. »Hast du Schwierigkeiten beim Tanzen?«

»Nein!« Ich befeuchte meine Lippen mit der Zunge. Die Lügen türmen sich inzwischen auf wie Erde über einem Sarg, aber ich kann ihr unmöglich gestehen, dass ich körperlich am Ende bin. Dass es ein Kampf zwischen mir und dem Ballett war und ich verloren habe. »Meine Leistung ist gut.« Ich schlucke schwer. »Sogar hervorragend.«