Alle Schuld will Sühne - Carolin Römer - E-Book

Alle Schuld will Sühne E-Book

Carolin Römer

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Beschreibung

Fin O'Malley hat seine Berufung gefunden und in Foley ein Restaurant eröffnet. Seine sternewürdigen Kochkünste machen Fins Küche weit über die Grenzen Donegals hinaus bekannt. Doch Nora Nichols und ihren Kobolden scheint er gerade deswegen ein Dorn im Auge zu sein. Als Rose Butler, seine Lieferantin für Rindfleisch, brutal zu Tode kommt, sieht alles nach einem tragischen Unglücksfall aus. Aber Fin wäre nicht Fin, wenn er nicht zweimal hinschauen würde. Mit Hilfe von Detective Caitlin da Silva setzt er alles daran, den Tod von Rose genauer unter die Lupe zu nehmen. Spannend und kurzweilig erzählt Carolin Römer Fin O'Malleys sechsten Fall in authentischer irischer Atmosphäre. Dabei dürfen eine Portion Aberglaube, verärgerte Kobolde und diverse Verstrickungen nicht fehlen.

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Seitenzahl: 291

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Inhalt

Cover

Prolog

1. Butler’s Farm

2. The Fisherman

3. Connor

4. Raic mhara

5. Sorcha

6. Rose

7. Caitlin

8. An Dara Seans

9. Bambi

10. Long tall Sally

11. Cooey Castle Hotel

12. Hadim’s Bazaar

13. Power Station

14. Ór Na Muir

15. McIntyre

16. Eoin

17. Crá Croí

18. Phencyclidin

19. Nora

20. Ada

21. Emma

22. Shay

23. Ryan

24. Colm

25. Horse’s Neck

26. Benjamin

27. Diarmuid

28. Rodrigo

29. Five Oaks

Fin

Impressum

Seitenliste

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Buchnavigation

Cover

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Textanfang

Impressum

Prolog

Connor war wütend.

Connor war maßlos wütend.

Er war so wütend, wäre seine Wut ein Meer, der Atlantik hätte sich spielend darin verstecken können.

Und er wusste nicht, wohin mit seiner Wut.

Im Grunde genommen war er ein friedfertiger Kerl, der jedem Streit aus dem Weg ging, stets fröhlich mit einem leichten Herzen gesegnet und bemüht, seinen Kindern ein Vorbild zu sein. Schlechte Laune war ihm fremd und es gab kein Problem, für das sich in seinen Augen nicht eine Lösung finden ließ.

Aber dieses Mal … dieses Mal war alles anders.

Dieses Mal waren sie zu weit gegangen.

Er saß auf der Mauer, die den Friedhof auf dem Hügel mitsamt der kleinen Kapelle umgab, diesem uralten, halb verfallenen Bollwerk, das die Lebenden vor den Toten schützte, die grauen Steine nur von Hoffnung und feuchtem Moos zusammengehalten. Sein Hintern war nass, aber er merkte es nicht. Er ließ seine kurzen Beine baumeln und blickte hinunter auf das Dorf, auf die bunt zusammengewürfelte Ansammlung von Häusern, Schuppen und Scheunen. Ein unordentlicher Haufen Bauklötze, die den Hügel hinabgerollt und am Ufer des Atlantiks liegengeblieben waren. Vergessen von dem Kind, das mit ihnen spielen wollte. Vergessen von einer Welt, die wichtigeres zu tun hatte. Vergessen von Gott, der sich nie dafür interessiert hatte.

Unablässig traktierten seine Hacken die Mauer, knallten gegen die rauen Steine, als ob er überschüssige Energie loswerden müsste. Hätten seine Schuhe Funken gesprüht, hätte ihn das nicht verwundert. Seine Füße schmerzten, aber er spürte es nicht wirklich.

Er spürte nur die Aura der Toten in seinem Rücken. Er sollte nicht hier sein, er war hier nicht willkommen.

Aber auch das ignorierte er.

Unerbittlich fixierten seine Augen das Dorf, als könnte er es mit Blicken auslöschen. Ein sommerlicher Nieselregen ließ die Dächer glänzen und legte ein feines Gespinst aus Wassertropfen auf die Grashalme der Wiesen und die Blätter der Bäume. Irgendwo blökte ein Schaf, ein Hund antwortete lustlos, während zwei Krähenpärchen einander lautstark zankend durch den Dunst jagten. Dünne Rauchschwaden schlängelten sich aus den Kaminen, es roch nach Torffeuer und Kartoffeln. Ein paar bunte Laken hingen teilnahmslos auf einer Wäscheleine, während das grüne Auto des Postboten im Schritttempo über die Dorfstraße zockelte, die jetzt um die Mittagszeit verlassen und friedlich dalag.

Nein, er tat diesem Dorf Unrecht. Eigentlich war es ein gutes Stück Erde.

Seine Mutter hatte immer von Donegal geschwärmt, von der Zeit, bevor sie mit seinem Vater fortgegangen war. Damals nach diesem unseligen Zwischenfall mit dem Pferd. Als kleiner Junge hatte Connor geglaubt, seine Mutter hätte ihm ein Märchen erzählt. Sie kannte so viele Geschichten, wahre und erfundene, und sie konnte so wunderbar erzählen. Von seinem Vater Tully und dessen beiden Cousins Bo und Duffy, die in ihrem Übermut den Leuten im Dorf zu nahegekommen waren und dafür hatten büßen müssen. Aber man nahm sich nun mal nicht einfach ein Pferd, das irgendwo herumstand, setzte sich drauf und ritt davon. Jagte es bei Nacht und Nebel über Wiesen und Felder, ließ es über Zäune und Mauern springen. Bis es sich die Beine brach. Nein, das tat man nicht.

Die Strafe war auf dem Fuß gefolgt. Der Familienrat war zusammengetreten und hatte die drei jungen Männer mit ihren Familien fortgeschickt. Zu ihrer eigenen Sicherheit, wie man betonte. Eine harte Strafe, die vielen ungerecht erschienen war. Aber das Urteil des Familienoberhauptes stellte man nicht in Frage.

Und so war er, Connor, wie seine beiden Brüder in der Fremde geboren und aufgewachsen. Später hatte er eine Frau gefunden und mit Samhradh eine Familie gegründet. Drei Kinder waren ihnen geschenkt worden, Alana, die Älteste, ein zauberhaftes Abbild ihrer Mutter, Eibhlin, deren Herz für die Geschöpfe der Natur schlug, und schließlich Tóibi, das Nesthäkchen, für den kein Baum zu hoch war, um ihn zu erklimmen.

Sie hatten da unten im Süden ein gutes Leben geführt. Die Sommer waren wärmer und länger als im Norden der Insel, und auch wenn die Umgebung bisweilen zu laut und betriebsam war für jemanden, der die Einsamkeit zu schätzen wusste, so hatten sie sich doch wohlgefühlt.

Aber im Grunde seines Herzens hatte Connor immer gespürt, dass dies nicht seine wahre Heimat war. Und als seine Brüder Cathal und Dáivi nach Donegal zurückkehrten, folgte er ihnen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, zu den Wurzeln seiner Familie zurückzukehren. Das Unrecht von einst war vergessen, wenn auch nicht vergeben.

Connor und seine Familie hatten es gut getroffen. Sie hatten ein schönes Haus gefunden mit einem großen Garten, der damals im Winter noch grau und kahl dagelegen hatte. Nun mit dem Frühling war das üppige Grün gekommen, die Knospen überboten sich gegenseitig mit den schönsten Blüten und das dichte Blätterdach der Bäume würde im Sommer willkommenen Schatten spenden. Demnächst konnten sie die ersten Beeren ernten, im Herbst Pilze, und das Unterholz war voller wilder Kräuter, mit denen sich Samhradh bestens auskannte.

Alles war so wunderbar gewesen und hatte sich so sehr nach Heimat angefühlt, dass er die schleichenden Veränderungen um sich herum gar nicht bemerkt hatte. Vielleicht hatte er sie nicht wahrhaben wollen und deshalb einfach die Augen davor verschlossen. Aber nun konnte er sie nicht länger ignorieren.

Unruhe war ins Dorf gekommen. Fremde, die kamen und gingen.

Kein Tag glich mehr dem anderen. Und das bereitete ihm Sorgen.

Gestern wäre es beinahe passiert.

Tóibi, sein Sohn, war stets zu Streichen aufgelegt, aber welcher kleine Junge in seinem Alter war das nicht?

Mussten sie deswegen gleich …?

Wieder knallten seine Hacken gegen die Mauersteine, Splitter regneten über den Klee.

Seine Familie war in Gefahr. Sie erwartete, dass er etwas unternahm, so konnte es nicht weitergehen. Er musste handeln und zwar schnell.

Es schien einfach, ein Problem aus der Welt zu schaffen, wenn man die Ursache dafür kannte. Und die Ursache für dieses Übel hatte sogar einen Namen.

O’Malley.

Fin O’Malley.

Er war an allem schuld. Er war in Connors Augen der Inbegriff von Rücksichtslosigkeit, Habsucht und, schlimmer noch, Gleichgültigkeit.

Wie so viele andere Menschen.

Hatten sie denn alle ihren Glauben verloren?

Und damit meinte er nicht den Glauben an Gott. Gott war ihm egal. Nein, viel wichtiger war der Glaube an das Schicksal. Vielleicht sollte er Fin O’Malley daran erinnern, was alles passieren konnte, wenn man nicht achtgab.

Samhradh hatte vorgeschlagen, er solle zuerst mit der Alten reden. Nora würde wissen, was zu tun ist. Sie vertraute ihr.

Gut. Einverstanden. Er hatte es ihr schließlich versprechen müssen. Er würde mit Nora reden, auch wenn das nicht ungefährlich war, aber er würde es tun. Wenn das allerdings nicht half, würde er handeln.

Dann musste er handeln. Und Fin O’Malley eine Lektion erteilen, die dieser so schnell nicht vergessen würde.

1. Butler’s Farm

Nein, so hatte er sich das nicht vorgestellt.

Dauernd sollte er Höchstleistungen abliefern, dauernd wollte jemand was von ihm. Hektik von morgens bis abends und keine ruhige Minute. Was als willkommener Zeitvertreib begonnen hatte, war mittlerweile in puren Stress ausgeartet.

Wenn jemand Fin O’Malley vor einem Jahr prophezeit hätte, er würde jeden Abend in der Küche eines Dorfpubs einen gefühlten Marathon absolvieren, dann hätte er den Kochlöffel sofort aus der Hand gelegt. Ja, Erfolg war schön, hatte aber auch seine Schattenseiten. An manchen Tagen hätte er am liebsten alles hingeschmissen. Aber dann packte ihn doch wieder der Ehrgeiz und er machte weiter.

Seit Wochen fragte er sich allerdings, wo das noch hinführen sollte. Es musste sich dringend etwas ändern. Vielleicht sollte er sich besser organisieren. Musste er sich denn wirklich um alles selber kümmern? Delegieren war das Zauberwort, aber an wen?

Er seufzte.

Den kleinen Ausflug heute hatte er sich wirklich verdient, auch wenn er entfernt mit seiner Arbeit zu tun hatte. Der Besuch auf Butler’s Farm gehörte zu den angenehmen Seiten seines Alltags.

Er stand am Weidezaun, die Arme auf das oberste Brett und den Kopf auf seine Hände gelegt und beobachtete die Rinder, die in einiger Entfernung grasten. Eine kleine Herde, vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Tiere. Welsh Black, ein eher seltener Anblick auf irischen Weiden. Schwere robuste Fleischrinder, die meisten einfarbig schwarz, ein paar wenige rotbraun. Trotz ihrer Schulterhöhe von gerade mal anderthalb Metern wirkten sie imposant und ein wenig urig, erinnerten sie ihn doch mit ihren geraden, hellen Hörnern und dem zotteligen Winterfell an schottische Hochlandrinder.

Die Tiere grasten in friedlicher Eintracht, er hörte das Rupfen der Halme, unterbrochen von leisem Grummeln und Schnaufen.

Eine Lerche hatte sich laut tirilierend in den blauen Himmel geschwungen, so hoch hinauf, dass sie nur noch ein winziger Punkt am Firmament war.

Sonst hörte er nichts.

Stille.

Wohltuende Stille.

Selbst die Midgets ließen ihn in Ruhe, eine sanfte Brise hielt die winzigen geflügelten Plagegeister auf Abstand.

Er atmete tief ein. Sog den Duft des Ginsters ein, der jetzt im Mai in voller Blüte stand. Die Wiese war übersät mit weißen und gelben Tupfen, über die Schmetterlinge taumelten und Bienen summten.

»Schlachten tu ich erst Freitag wieder. Montag bin ich in deiner Nähe, da fahr ich nach Letterkenny und kann dir was vorbeibringen.«

Eine dünne Nikotinwolke zog an seiner Nase vorbei. Mrs B stand neben ihm und folgte seinem Blick, vielleicht wählte sie in Gedanken bereits den armen Burschen aus, dem es am Ende der Woche an den Kragen gehen würde.

Mrs B war die Besitzerin von Butler’s Farm. Eigentlich hieß sie Rose, aber jeder nannte sie nur Mrs B. Fin schätzte sie auf Mitte fünfzig, aber das Leben auf dem Land, die harte Arbeit tagaus, tagein bei Wind und Wetter ließen sie älter aussehen. Stets trug sie Jeans, Gummistiefel und zu große karierte Männerhemden und auf den dünnen graugesträhnten Locken eine Baseballkappe in verblasstem Tomatenrot, vorne drauf die drei weißen Lettern der New York Giants. Fin hatte sich schon oft gefragt, wo sie die Kappe herhatte, ob sie und Mr Butler einmal den Sprung über den großen Teich gewagt hatten, aber irgendwie erschien sie ihm nicht der Typ, der in der Weltgeschichte herumgondelte. Jedenfalls hatte Fin sie noch nie ohne diese Kappe gesehen, vielleicht trug sie sie auch im Bett.

Auch die Zigarette gehörte zu Mrs B, krumm und selbstgedreht klebte sie zwischen ihren spröden Lippen und machte bereitwillig den Worten Platz.

»Schreib einfach auf, was du brauchst.«

Fin hatte Mrs B vor einigen Wochen kennengelernt, als sie mit ihrem Lieferwagen über die Märkte gezogen war, um die entlegenen Dörfer in Donegal mit Gemüse, Eiern und Fleisch zu versorgen. So hatte Fin die regionalen Produkte für seine Küche entdeckt und war besonders beim Fleisch auf den Geschmack gekommen. Die Rinder von Butler’s Farm standen mindestens drei Jahre auf der Weide und hatten ein zartes, schön marmoriertes Fleisch, das Fin im Lauf der Zeit schätzen gelernt hatte.

»Du könntest mir ein paar Steaks mitbringen.«

»Mach ich.«

»Roastbeef wäre auch nicht schlecht.«

Er befreite seine Schnürsenkel aus einer feuchten Hundeschnauze, während ein anderer Hund neugierig an seiner Hose schnupperte. Die zwei schwarzweißen Border Collies folgten Mrs B wie ein einziger Schatten. Arbeitshunde, die ständig beschäftigt werden wollten, die immer auf der Suche waren, wo es etwas zu hüten gab. Die alte Witch ließ es mittlerweile eher ruhig angehen, während Rocket, der temperamentvolle Jungspund, immer unter Strom stand, vermutlich der einzige Hund weit und breit, der in der Lage war, den sprichwörtlichen Sack Flöhe zu hüten, wenn man ihn nur lassen würde.

»Wie seid ihr eigentlich auf die Idee gekommen, ausgerechnet Welsh Black zu züchten?«

Mrs B stieß zwei Rauchwolken aus, ehe sie antwortete. »Das war Richards Idee. Er wollte es mal mit einer anderen Rasse probieren. Mal was Besonderes anbieten, hochwertigeres Fleisch statt der Massenware, wie sie die anderen Farmer auf den Markt werfen. Man muss sich heutzutage was einfallen lassen, wenn man überleben will«, erzählte sie. »Am Anfang haben uns die Nachbarn noch ausgelacht, aber mittlerweile liefern wir unser Fleisch bis runter nach Sligo und sogar an Restaurants drüben im Norden.« Die Zigarette glühte ein letztes Mal auf, bevor Mrs B sie am Zaunpfahl ausdrückte. »Nach Dicks Tod hab’ ich die Zucht aufgegeben und auf Masttierhaltung umgestellt. Alles andere hätte ich alleine nicht geschafft.«

Rose Butler hatte in ihrem Leben nichts geschenkt bekommen. Eine Farm bedeutete harte Arbeit von früh bis spät, ohne die Aussicht auf einen freien Tag oder gar Urlaub. Wo andere Frauen sich nach einem Tag im Büro noch mit Freundinnen auf einen Latte Macchiato trafen, kümmerte sich Rose um Kälber, Hühner und das Gemüse im Garten. Machte die Abrechnungen und füllte Formulare aus, während ihr Mann unterwegs war und die Vermarktung der Rinder vorantrieb. Und am Ende reichte das Geld gerade zum Überleben. Richard war um einiges älter gewesen als sie und im vergangenen Sommer überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Von einem auf den anderen Tag musste sie die ganze Arbeit alleine schultern. Es gab wohl ein paar Hilfskräfte, die ihr bei Bedarf zur Hand gingen, aber am Ende blieb das Meiste an ihr hängen. Fin wusste, dass es da eine Tochter gab, aber die hatte der elterlichen Farm schon früh den Rücken gekehrt. Die wenigsten jungen Leute sahen ihre Zukunft heutzutage in der Landwirtschaft.

Aber Rose hatte sich nie beklagt. Insgeheim beneidete Fin sie um ihr einfaches Leben. Um ihre Gelassenheit, von der er selber eine ordentliche Portion gebrauchen könnte. Ihr Leben im Einklang mit der Natur, fernab der Hektik. Auch wenn er das jetzt vielleicht ein klein wenig glorifizierte.

Nein, auch er durfte sich eigentlich nicht beklagen. Im Grunde genommen hatte es das Leben gut mit ihm gemeint, wenigstens in den letzten Monaten. Seine Arbeit im Fisherman machte ihm Spaß, brachte ihm Anerkennung, und zum ersten Mal seit langem hatte er ein wenig Geld in der Tasche. Mit seiner Ex-Frau hatte er sich arrangiert, soweit dies mit einer Frau wie Susan überhaupt möglich war, und seine Tochter Lily betete ihn an. Zumindest bildete er sich das ein, wenn sie ihn anrief, weil gerade ein Scheck von ihrem Dad in der Post gewesen war, den sie wahrscheinlich umgehend in Klamotten umgesetzt hatte.

Auch eine andere Last war von seinen Schultern genommen worden. Der mit viel Medienrummel begleitete Prozess gegen Tiny Tim Anderson war geplatzt noch ehe er richtig begonnen hatte. Der alte Gangsterboss, zu dessen Verhaftung Fin in nicht unerheblichem Maße beigetragen hatte, war nach kurzer Krankheit im Gefängnis von Belfast gestorben. Auch wenn Anderson somit seiner gerechten Strafe entgangen war, war Fin erleichtert. Für ihn zählte nur, dass er nicht mehr vor Gericht erscheinen und aussagen musste. Ebenso wenig sein Bruder Sean, der in Andersons Diensten gestanden hatte und als Kronzeuge eine Schlüsselfigur im Prozess gewesen war. Sean lebte seit Anfang des Jahres in Schottland, zu seiner eigenen Sicherheit mit einer neuen Identität, von der nur die irische Polizei und die engsten Familienmitglieder wussten. Fin würde ihn besuchen, wenn die Sommersaison zu Ende war und im Pub nicht mehr so viel los war.

Nur Kerry Dawn Anderson, die Tochter von Tiny Tim, wollte keine Ruhe geben. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie nichts Besseres zu tun gehabt, als mit Hilfe eines windigen Reporters die Ungerechtigkeit der Justiz anzuprangern, die einen ehrbaren Geschäftsmann und liebevollen Familienvater aufgrund falscher Anschuldigungen ins Gefängnis gebracht hatte, wo er elend zu Grunde gegangen war. Auch Fin hatte sie indirekt eine Mitschuld am Tod des Vaters gegeben und ihn mit wütenden Anrufen bombardiert, aber er hatte sich nicht provozieren lassen. Er hatte nun schon länger nichts mehr von ihr gehört, vielleicht hatte sie endlich aufgegeben.

Einer der Bullen löste sich von der Herde. Gemächlich kam er auf sie zugestapft, seine breiten Klauen hinterließen tiefe Löcher in der feuchten Wiese. Er war nicht groß, aber schwer, und seine beeindruckenden Hörner waren respekteinflößend. Fin wich sicherheitshalber einen Schritt zurück und war froh, den Zaun zwischen sich und dem Tier zu haben. Sogar die beiden Hunde duckten sich lieber weg.

Mrs B lächelte. »Vor Rodrigo brauchst du keine Angst zu haben.«

Fin war nicht so leicht zu überzeugen. »Du gibst deinen Bullen Namen?«

»Nein. Nur Rodrigo.«

Der Schwarze war am Zaun stehengeblieben und beäugte die beiden Menschen neugierig.

»Und warum Rodrigo?«

»Weil er glaubt, er sei ein Kampfstier«, antwortete sie amüsiert. »Er hat schon als Kälbchen alles und jeden über den Haufen gerannt. Ich musste ihn mit der Flasche aufpäppeln, weil seine Mutter bei der Geburt gestorben ist.«

Mrs B langte durch den Zaun und kraulte die breite Stirn des Bullen. Zutraulich kam er einen Schritt näher, rieb seinen großen Kopf an ihrer Hand und grummelte zufrieden.

»Er ist eine Seele von Rindvieh. Ich hab’ mich nie von ihm trennen können. Und ich hab’ schon einige Angebote für ihn ausgeschlagen, das kannst du mir glauben.«

Irgendwoher aus der Tiefe ihrer verbeulten Jeans zauberte sie einen schrumpeligen Apfel hervor, brach ihn in zwei Teile und hielt sie Rodrigo hin. Der Bulle ließ sich nicht lange bitten. Genüsslich zermalmte er den Leckerbissen, bis der Saft aus seinem dunklen Maul tropfte.

Dann wandte er sich ab und steuerte einen Zaunpfahl an, um sich das verfilzte Fell zu schubbern. Der Zaun bebte, hielt aber stand, wofür Fin mehr als dankbar war.

»Sein Winterfell juckt ihn«, kommentierte Mrs B und zündete sich eine neue Zigarette an, »vielleicht sollte ich ihn scheren wie ein Schaf. Ich glaub, das würde ihm gefallen.«

Das Klingeln eines Handys störte die Idylle. Fin griff im Reflex in die Innentasche seiner Jacke, ehe ihm klar wurde, dass es gar nicht seines war, weil es im Auto lag. Die Menschen wurden allmählich zu Pawlowschen Hunden, die alle auf dasselbe Signal reagierten.

Mrs B nahm das Gespräch an. Lauschte einen Augenblick.

»Nein …«

Sie blies eine Wolke blauen Dunst in den Himmel.

»Nein …«

Sie rollte genervt mit den Augen.

»Nein.«

Das letzte Nein kam mit Nachdruck. Sie beendete das Telefonat.

»Ärger?«, wollte Fin wissen.

Sie lächelte. »Nein.«

2. The Fisherman

»Weißt du, was mise en place ist?«

»Ich weiß, was es heißt, wenn ich mies drauf bin, aber mies und blass …?«

Mit Französisch würde er hier nicht weit kommen.

»Mise en place nennt man im weitesten Sinne das Vorbereiten des Arbeitsplatzes für einen reibungslosen Ablauf bei der Speisenzubereitung«, erklärte Fin, »hinlegen von Handwerkszeug, bereitstellen von Gewürzen, schnippeln von Zutaten–«

»Ja, sag das doch gleich, Mann! Kartoffeln schälen, Zwiebeln hacken … Kann ich! Kinderspiel!«

Oder so.

Auch wenn es vielleicht etwas mehr war als das, im Grunde hatte Shanice recht.

Shanice war die Nichte von Isobel und Ronan O’Shea, denen der Fisherman gehörte. Gerade mal siebzehn Jahre alt und offenbar ganz wild darauf, sich neben der Schule ein wenig Taschengeld zu verdienen, indem sie in der Küche des Pubs aushalf. Fin war nicht wirklich überzeugt von der Idee, aber das Ganze war Isobels Vorschlag gewesen, und schon um ihr einen Gefallen zu tun, wollte er es mit ihr versuchen. Und so war Shanice am Nachmittag in Begleitung ihrer Tante hereingestiefelt, in knallengen Jeans und knappem Glitzershirt, die dunkle Mähne in einem Pferdeschwanz gebändigt und aufgebrezelt, als ginge es in die Disco. Für Isobel schien der Auftritt ihrer Nichte normal, stand sie doch selber stets in Minirock und auf zehn Zentimeter hohen Absätzen in der Küche, nie ohne Makeup, nie ohne Haarspray in den üppigen dunklen Locken. Gewohnt, in all den Jahren am Herd den Ton anzugeben, hatte sie sich mittlerweile mit Fin arrangiert und hielt sich auch schon mal im Hintergrund. So wie jetzt. Fin dagegen hatte seine Zweifel, was Shanice betraf, aber er brauchte dringend eine helfende Hand in der Küche.

»Und was ist das hier?« Ein manikürter Fingernagel piekste in die salatähnliche Masse, die in einer Schüssel auf der Arbeitsplatte stand und auf Weiterverarbeitung wartete.

»Das ist Meeressalat. Oder Algen, wenn du’s genau wissen willst.«

»Echt jetzt? Und was macht man damit?«

»Man kann daraus ein Pesto machen. Oder andere Zutaten darin einwickeln wie in ein Kohlblatt. Oder, wie der Name schon sagt, daraus einen Salat zubereiten.«

»Bei meinem Grandpa landet das Zeug auf’m Gemüsebeet. Als Dünger.«

Er hatte geahnt, dass es nicht einfach werden würde. Vielleicht sollte er nicht zu viel erwarten.

Im vergangenen Herbst war Fin nach Dublin gegangen. Er war einer Einladung von Mitch Faraday gefolgt, Irlands bekanntem Fernseh-Koch. Sie hatten sich zufällig kennengelernt, und Faraday war von Fins Kochkünsten so angetan gewesen, dass er ihm spontan angeboten hatte, seine Fähigkeiten in der Küche seines Sternelokals zu verfeinern. So hatte er Foley verlassen und war in seine Heimatstadt Dublin zurückgekehrt. Es war natürlich nicht in Frage gekommen, dass er wieder bei seiner Mutter unterkroch oder gar bei Susan, und so hatte er zähneknirschend mehr als die Hälfte seines Verdienstes in eine kleine Wohnung in Drumcondra gesteckt und war jeden Morgen mit dem Bus zu seiner neuen Wirkungsstätte in die City gependelt.

Er hatte viel gelernt in dieser Zeit, seine Techniken verbessert, seinen kulinarischen Horizont erweitert und den Mut gefunden, eigene Speisen zu kreieren und Neues auszuprobieren. Neue Zutaten, neue Gewürze oder neue Zubereitungsarten. Und er musste wohl wirklich Talent zum Kochen haben, denn nach einem halben Jahr hatte Mitch Faraday ihm das Angebot gemacht, die Küche eines neuen Restaurants zu übernehmen, das er im Frühjahr eröffnen wollte. Es war verlockend gewesen, aber Fin hatte gezögert. Anfangs hatte er gedacht, er würde froh sein, endlich aus Foley, diesem Nest am Rande Irlands, ja, am Rande Europas, wegzukommen, aber wider Erwarten hatte er Heimweh gehabt. Heimweh nach dem Fisherman, diesem alten verranzten Dorfpub, Heimweh nach den Menschen, deren Gesichter er jeden Abend vor der Theke gesehen hatte. Heimweh nach ihren Marotten und kleinen Gaunereien.

Und auch wenn er es sich erst nicht eingestehen wollte, er hatte die Natur vermisst. Etwas, das er sich früher, als er noch in Dublin gelebt hatte, nie hatte vorstellen können. Er hatte immer geglaubt, dass er eine Großstadtpflanze sei, jemand, der nicht ohne den Anblick von Beton leben konnte, ohne den allmorgendlichen Stau auf den Straßen, ohne die Verlockungen der Stadt, das Angebot an Zeitvertreib, sei es Kino, Sport oder die Treffen mit Freunden im Pub.

In Foley hatte er ziemlich schnell gemerkt, dass er eigentlich gar keine Freunde hatte. Er vermisste nichts und niemanden, abgesehen von seiner Tochter. Er brauchte keine Ablenkung oder Zerstreuung. Er genoss es, abends vor dem Kamin zu sitzen und zu lesen. Auch ohne eine flimmernde Glotze vor der Nase. Er brauchte keine Nachrichten. Seine Zeitung war das Pub. Hier an der Theke erfuhr er alles, was er wissen musste, und was er nicht erfuhr, das war auch nicht wichtig. Wenn es seine Zeit erlaubte, saß er mit einem Glas Wein auf der Bank vor seinem Cottage, erfreute sich am Sonnenuntergang, der die letzten Blüten der Apfelbäume im Obstgarten aufleuchten ließ, und sah darüber hinweg, dass ihm seine Katze mal wieder eine tote Maus vor die Füße legte.

Auch Dublin hatte Natur zu bieten. Die Wicklow Mountains boten sich für einen Sonntagsausflug an, aber man war nie alleine. Überall traf man auf andere Großstadtflüchtlinge. Er war auf die Halbinsel Howth hinausgefahren, wann immer es ihm möglich gewesen war, der Hektik der Küche den Rücken zu kehren, um ein paar Stunden am Meer zu verbringen. Aber die Irische See war nicht der Atlantik. Hinter der Irischen See lag England, hinter dem Atlantik erstmal lange Zeit nichts. Der Atlantik war rau und unberechenbar, die Küste dort im Westen weiter und der Himmel über Donegal heller als hier im Osten.

Wollte er das alles wirklich eintauschen gegen den Trubel von Dublin?

Da hatte ihn ein SOS-Anruf aus Foley erreicht. Isobel, die Frau des Wirts, hatte sich ein Bein gebrochen, was Fin bei den Schuhen, die sie bei der Arbeit trug, nicht weiter verwunderte, und nun war sie auf absehbare Zeit außer Gefecht gesetzt. Jemand musste die Küche übernehmen. Ob Fin wohl aushelfen könnte? Wenigstens vorübergehend? Für ein oder zwei Wochen?

Am Ende war aus einem kleinen Schritt von Isobel ein großer Schritt für Fin O’Malley geworden. Und irgendwie war er froh gewesen, wieder hier zu sein. Hier am Arsch der Welt.

In Isobels Abwesenheit hatte er die Küche ein klein wenig umgekrempelt. Als erstes die Kochstelle, die im Wesentlichen nur aus einem alten Aga-Herd bestand, um ein Induktionsfeld erweitert, um mehr Platz zu haben. Dann eine größere Spülmaschine gekauft, eine zweite Dunstabzugshaube und etliche Küchengeräte, um sich das Arbeiten zu erleichtern, angefangen vom banalen Standmixer bis zu einer soliden italienischen Schneidemaschine, die hauchdünnes Carpaccio zaubern konnte. Isobel hatte erst gemeckert, aber nach wenigen Tagen die Segnungen der Moderne nicht mehr missen wollen.

Vor allem anderen aber hatte er sich das Speisenangebot vorgeknöpft. Die abgegriffenen Menükarten aus Plastik waren edleren aus cremefarbenem Karton mit schnörkeliger Schrift und festem Einband gewichen. Er hatte Tage daran gearbeitet. Eigentlich vergebene Liebesmühe, denn die Dorfbewohner kannten die Empfehlungen aus der Küche, die sich seit Jahren nicht geändert hatten, auswendig. Die Standardgerichte hatte Fin belassen, jeder seiner Gäste konnte Irish Stew oder Fish&Chips bekommen, wenn er wollte. Sie konnten aber auch torfgeräucherten Lachs probieren oder Meeresspaghetti in Kokosmilch. Fin wollte zeigen, was er in Dublin gelernt hatte. Auch wenn es für die Dorfbewohner ungewohnt war, sie hatten sich irgendwann damit abgefunden.

Mit den Nebenwirkungen hatte allerdings niemand gerechnet.

Mitch Faraday war nicht nachtragend gewesen, als Fin sein Angebot ausgeschlagen hatte. Im Gegenteil, zwar bedauerte er die Entscheidung, aber am Ende leistete er sogar ungefragt so etwas wie Starthilfe, als er seinen Kumpel Eamon Fitzgerald auf den Plan rief. Fitzgerald war Restaurantkritiker und hatte eine vielbeachtete Kolumne in der Sonntagsausgabe des Independent. Seine Besprechung des Fisherman, sein überschwängliches Lob für die »innovative Küche in der Provinz« hatte ein Übriges getan.

Die ersten auswärtigen Gäste hatten anfangs nur vereinzelt den Weg gefunden, hatten zögernd einen Fuß über die Schwelle des Fisherman gesetzt und sich schüchtern in dem verrauchten Pub umgeschaut, hatten die alte Nora Nichols auf ihrem Barhocker entdeckt und neugierig die versammelten Dorfbewohner gemustert, die ihrerseits verwundert zurückgestarrt hatten.

Hier sollte es sternewürdige Küche geben …?

Und plötzlich war der Fisherman über das Dorf und die Grenzen des County bekannt geworden, und Fin konnte sich vor Tischreservierungen kaum noch retten. Aus vier oder fünf zusätzlichen Gästen pro Abend waren mit der Zeit fünfzehn bis zwanzig geworden, für eine Person in der Küche allein eigentlich nicht zu bewältigen. Erst als Isobel wieder an Bord war, entspannte sich die Situation etwas. Sie hatten schließlich einen Kompromiss gefunden: Von Montag bis Donnerstag übernahm Isobel das Kommando in der Küche und versorgte die Dorfbewohner mit ihren gewohnten Mahlzeiten, während Fin ihr zuarbeitete, und am Freitag und am Wochenende, wenn die Gäste von außerhalb das Pub übernahmen, gehörte der Herd Fin, und Isobel entlastete ihn im Service. Auf diese Weise hatte Fin vier Tage in der Woche, in denen er sich neue Kreationen ausdenken und ausprobieren konnte und vor allem Zeit zum Einkaufen. Der Dorfladen mochte eine Fundgrube sein, aber er suchte vergeblich nach griechischem Olivenöl, Limonenseitlingen oder frischen Kurkumawurzeln, auch wenn Ciarán sich wirklich redlich bemühte, das Gewünschte herbeizuschaffen. So war Fin in ganz Donegal unterwegs, und manchmal bis hinunter nach Sligo oder Galway oder hinüber nach Derry oder gar Belfast.

Konnte das auf Dauer gutgehen?

Denn da gab es ja noch Caitlin.

Den wahren Grund, weshalb er nach Foley zurückgekehrt war.

Sie sahen einander kaum noch. Merkwürdigerweise war es bis vor einem Jahr eher umgekehrt gewesen. Er, Fin, hatte in den Tag hineingelebt und sich immer beschwert, dass Caitlin durch ihren Job so wenig Zeit hatte. Als Ex-Polizist hätte er eigentlich wissen müssen, dass man bei der Garda keine geregelten Arbeitszeiten kannte, auch wenn man das Revier von Letterkenny nicht mit Dublin vergleichen konnte. Er musste gestehen, dass er keinen Schimmer hatte, womit sie sich gerade beschäftigte. Hatte sie vielleicht einen interessanten Fall, der ihren vollen Einsatz verlangte? Oder waren es nur ein paar Autodiebstähle oder Einbrüche in Ferienhäuser, Papierkram, der ihren Schreibtisch füllte? Er wusste nur, dass der überraschende Tod von Tiny Tim Anderson ein Machtvakuum in Derrys Unterwelt hinterlassen hatte. Solange die Nachfolge nicht geklärt war, hatte die Polizei diesseits und jenseits der Grenze ein Auge auf sämtliche Aktivitäten. Auch wenn ihr erstmal nichts anderes übrig blieb als abzuwarten und zu beobachten.

Er hatte schon lange keinen gemütlichen Abend mehr mit Caitlin verbracht, eine gute Flasche Wein getrunken, die ein speziell für diese Gelegenheit von ihm zubereitetes Essen begleiten durfte, kein anregendes Gespräch geführt. Oder mehr.

Caitlin hatte schon scherzhaft gefragt, ob sie einen Tisch reservieren müsste, um ihn zu sehen.

Ja, er musste sich dringend etwas Luft verschaffen. Und dazu brauchte er zuallererst eine Hilfe für die Küche.

Wenn die Kleine schon Kartoffeln schälen konnte, wie wäre es dann mit etwas Anspruchsvollerem?

»Hast du schon mal eine Orange filetiert?«

Shanice sah ihn mit großen, von schwarzem Kajal gerahmten Augen an. Was so viel hieß wie »nein«.

Fin schnappte sich eine Orange und ein Messer und zeigte es ihr. »Als erstes schneidest du oben und unten die Kappen ab, dann rollt dir die Orange auch nicht weg, wenn du sie aufs Brett stellst. Dann schneidest du die Schale runter, komplett, auch die weiße Haut. Und jetzt fährst du mit dem Messer an den dünnen Trennwänden entlang und holst ein Filet nach dem anderen raus. Siehst du?«

Ein Orangensegment nach dem anderen glitt unfallfrei auf die Arbeitsplatte. Er hatte es lange genug geübt und beherrschte es bis zur Vollendung. Dabei wunderte es ihn stets aufs Neue, dass er, der sich früher eher für einen Grobmotoriker gehalten hatte, so etwas Perfektes hinbekam.

Shanice schien angemessen beeindruckt. Dachte er jedenfalls.

»Ist dir langweilig oder wozu machst du das?«

Fin seufzte. »Es hat was mit Geschmack zu tun. Die Haut kann schon mal bitter schmecken. Außerdem sieht es schöner aus.«

»Ich hätt’ da ’nen Supertipp für dich. Bei Ciarán im Laden, da gibt’s Dosen, da sind Orangen drin, die sind schon fertig geschält.«

»Erstens sind das keine Orangen, sondern Grapefruit, und zweitens ist das nicht dasselbe. In einer Restaurantküche musst du den Leuten schon was bieten, da ist nix mit Dosen oder Tiefkühlware.«

»Ich versteh’ sowieso nicht, weshalb Leute aus Dublin bis hierher fahren und ein Heidengeld fürs Essen ausgeben.«

Sie verstand so einiges nicht. Sollte er es ihr erklären?

Sie nahm eine Orange und bewaffnete sich mit einem Messer.

»Nimm für den Anfang besser ein kleineres Messer.«

»Nein, geht schon.«

»Pass auf, die Klinge ist scharf.«

Zwei Heftpflaster später.

»Diese vermaledeite Haut kann man doch wirklich mitessen …« Verbissen säbelte sie an der Frucht herum, der Saft rann über Hände und Unterarme. »Am Ende soll ich auch noch die Tomaten da schälen …«

Sie bemerkte Fins Blick.

»Echt jetzt? Eh, Mann, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

»Das ist ganz einfach. Du musst nur die Haut der Tomaten einritzen und sie dann mit kochend heißem Wasser–«

»Träum weiter«, schnaubte sie und schnitt dabei eine Grimasse, als hätte man ihr soeben einen unsittlichen Antrag gemacht. Sie warf das Messer hin. »Das ist ja Sklavenarbeit. Verrat mir lieber mal, was du mir dafür zahlen willst.«

Darüber hatte Fin noch gar nicht nachgedacht. Ein bisschen Gemüse schälen und schnippeln, mal beim Abwasch helfen, vielleicht auch mal servieren, wenn sie sich anständig dranstellte. »Fünf Euro die Stunde?«, bot er ihr an.

Shanice zog eine schwarz getuschte Augenbraue hoch. »In Irland gilt Mindestlohn. Also zehn Euro die Stunde.« Immerhin damit kannte sie sich aus. Was in diesem Dorf nicht weiter verwunderlich war, in Foley konnte man keinem in Bezug auf Geld irgendetwas vormachen.

»Bei unter Achtzehnjährigen beträgt der Mindestlohn nur sieben Euro«, korrigierte Isobel aus dem Hintergrund.

Okay, den Versuch war es wert gewesen.

»Na, schön«, lenkte Fin ein, »ich zahl dir die sieben Euro.«

Shanice überlegte noch.