Allee der Kosmonauten - Anne Krüger - E-Book

Allee der Kosmonauten E-Book

Anne Krüger

4,5

Beschreibung

In ihrer Kindheit träumte Mathilda unter anderem von einer Karriere als Osterhase, aber am liebsten wollte sie Kosmonautin werden. Als sie ihrer besten Freundin während einer Riesenradfahrt auf die Bluse kotzte, zerbrach ihr Herzenswunsch jedoch an der schnöden Realität - sie war nicht schwindelfrei. Zurück blieb eine unbändige Begeisterung für Juri Gagarin und den Weltraum. Heute Ende zwanzig, ist Mathilda immer noch auf der Suche nach einem erfüllten Leben. Kosmonautin steht als Beruf nicht mehr zur Diskussion, aber was dann? Und was das erfüllte Privatleben angeht: Welcher Mann kann schon neben Juri Gagarin bestehen? "Allee der Kosmonauten" ist ein Roman über die erste schwierige Phase im Leben junger Erwachsener (Quarterlife Crisis), in der neue Entscheidungen getroffen werden müssen und sich alte Bindungen verändern. Anne Krüger setzt sich mit dieser Thematik authentisch auseinander und verleiht ihren Figuren wie im Vorbeigehen Tiefe. Ein literarisches, unterhaltendes Debüt voller Situationskomik und feinem Humor.

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Yeah I wish I was Yuri G

Der von Oma geliehene Trabant zuckelt voll beladen die Straßen entlang, die vom Prenzlauer Berg wegführen. Mein Vater sitzt hinter dem Lenkrad, meine Mutter auf dem Beifahrersitz. Hinten quetschen meine Schwester Teresa, mein Bruder Benjamin und ich unsere Beine aneinander und albern herum. Das heißt, meine Geschwister ärgern mich, weil ich die Kleinste bin und mich nicht so gut wehren kann.

»Ruhe, Kinder«, sagt meine Mutter und dreht den Kopf, um uns einen halb strengen, halb gütigen Blick zuzuwerfen.

»Mathilda hat mich gehauen«, behauptet Teresa.

Mein Vater tritt auf die Bremse.

Wir schweigen erschrocken, weil wir denken, er wird uns eine Standpauke halten. Von wegen Ruhe im Auto und so. Aber er hat aus einem anderen Grund gehalten.

»Wir sind da«, sagt er.

»Wo denn?«, fragt Benjamin.

Mein Vater streckt den Arm aus und weist mit dem Zeigefinger auf frisch hochgezogene Häuser.

»Das ist sie«, sagt er und holt Luft, »die Allee der Kosmonauten.«

Wir recken die Hälse, um besser sehen zu können. Es bietet sich uns nicht gerade ein erhabener Anblick. Die Häuser sehen zwar nicht schlecht aus, aber lässt man den Blick umherschweifen, dann sehen wir Felder, Schlamm, Baustellen. Kein Grün, nirgends.

Doch im Gegensatz zur heruntergekommenen Wohnung im Prenzlauer Berg, die nur über ein eiskaltes Außenklo verfügt hat, werden wir jetzt ein ordentliches Badezimmer haben.

Außerdem gefällt mir der Name der Straße. Er klingt wie ein wunderschönes Versprechen. Obwohl ich erst vier Jahre alt bin, kann ich doch schon flüssig den Namen des Mannes aussprechen, der einige Jahre zuvor als erster Mensch ins All geflogen ist. Juri Gagarin.

»Ich wäre lieber in meiner Klasse geblieben«, sagt Teresa.

»Teresa, das haben wir dir doch schon erklärt«, erwidert meine Mutter sanft.

»Sind wir jetzt auch Kosmonauten?«, frage ich.

Die Kuppeln der Abhöranlage ragten wie Riesenpilze oder Raumschiffe in den strahlend blauen Himmel hinein. Relikte einer vergangenen Zeit.

Magnus biss in einen Schokoriegel und reichte ihn dann mir.

»Danke.« Ich streichelte über sein sommersprossiges, schmales Gesicht und lehnte mich an ihn.

Direkt neben uns versuchten Leute bei fast völliger Windstille einen Drachen steigen zu lassen. Wir sahen ihnen dabei zu, wie sie es unermüdlich immer wieder probierten.

Ich nahm die Wasserflasche aus dem Rucksack.

»Ganz schön heiß heute«, bemerkte ich.

Magnus nickte. Er gähnte und ließ sich nach hinten ins platt getretene Gras fallen.

»Früher bin ich oft hier gewesen«, sagte er.

»Ich weiß.«

»Bei gutem Wetter sieht man die ganze Stadt.«

Ich ließ meinen Blick über das beeindruckende Panorama schweifen und erkannte mit zusammengekniffenen Augen den Fernsehturm.

Das Wasser aus der Flasche schmeckte brackig. Ich spuckte es aus und ließ mich neben Magnus fallen.

»Wir können jetzt öfter hierherkommen«, schlug ich vor.

Magnus schloss die Augen, ohne zu antworten. Ich kitzelte ihn mit einem Grashalm an der Lippe und er zuckte ärgerlich zusammen.

In den letzten drei Jahren hatten wir uns nur selten gesehen, denn Magnus lebte im Ausland. Letztes Jahr war er von London nach Barcelona umgezogen. Ich hatte ihn besucht, in London, in Barcelona, und auch er war ein paarmal bei mir gewesen. Magnus war ständig in irgendwelche Kunstprojekte verstrickt, die schlecht bezahlt wurden, aber viel Spaß machten. Seine Eltern überwiesen ihm jeden Monat ein ordentliches Sümmchen und ich beneidete ihn darum.

»Was hältst du davon?«, griff ich meinen Vorschlag wieder auf. »Wir kommen jeden Sonntag hierher. So als Tradition.«

Magnus murmelte etwas, das ich nicht verstand.

Ich biss in den warmen Schokoriegel und starrte in den Himmel. So lange hatte ich auf diesen Tag gewartet. Auf den Tag, an dem Magnus endlich wieder in die Stadt ziehen würde, aus der er kam, und wir zusammen sein konnten, ohne in ein Flugzeug steigen zu müssen.

Ich drehte den Kopf zur Seite und schaute ihn an. Hinter seinen geschlossenen Lidern zuckte es. Woran dachte er?

An seiner Schläfe hing ein Schweißtropfen. Es war wirklich verdammt heiß heute.

Gestern hatte ich Magnus am Flughafen abgeholt und mir das Auto von Nina, meiner besten Freundin, geliehen. Ich wollte mit Magnus eine Ehrenrunde durch die Stadt drehen, ihn gebührend willkommen heißen. Aber dann war Magnus müde gewesen und hatte nichts von zusätzlichen Schlenkern wissen wollen. Beinahe schweigend hatte ich Ninas burgunderfarbene Kiste zu mir nach Hause gelenkt.

Heute Mittag, Magnus schlief wie üblich bis spät in den Tag hinein, hatte ich den Vorschlag gemacht, auf dem Teufelsberg zu picknicken. Ich wusste, dass Magnus den Teufelsberg liebte. Zwar hatten wir dann bloß Schokoriegel und Wasser eingepackt, aber die Sonne schien und wir hatten ja uns.

»Schade, dass du Nina das Auto zurückgebracht hast«, murmelte Magnus schläfrig.

»Wieso?«

»Ich will meine Sachen zu meiner Cousine schaffen.«

Ruckartig setzte ich mich auf. »Was meinst du damit? Du wohnst doch bei mir.«

Magnus schlug die Augen auf. »Mathilda, so war es doch besprochen. Ich bleibe erst mal bei meiner Cousine und dann schauen wir weiter. Wir können uns ja trotzdem sehen.«

»Das haben wir überhaupt nicht besprochen«, protestierte ich.

Angst griff nach meinem Herzen.

»Und überhaupt, was sagt denn die Häsin dazu?«, fragte ich. »Die haben doch ein Baby und gar keinen Platz für dich. Ich aber. Ich habe Platz für dich.«

Magnus fasste sanft nach meiner Schulter. »Mathilda. Lass es uns doch langsam angehen, okay?«

»Langsam?«, fauchte ich. »Wir sind seit drei Jahren zusammen!«

Magnus’ Hand fiel von meiner Schulter herab. »Jetzt sei nicht gleich sauer. Ich habe nie gesagt, dass ich zu dir ziehe.«

Ich wollte ihm widersprechen, unbedingt. Doch sosehr ich auch meine Erinnerungen durchforstete, Magnus hatte recht. Er hatte mir tatsächlich nie ein solches Versprechen gegeben.

Eisiges Entsetzen durchfuhr mich.

Hatte ich mir diese Liebe nur eingebildet?

Hatte ich Jahre damit vertan, etwas aufzubauen, was nun, wie die Abhöranlagen in meinem Blickfeld, einfach zerfiel?

Ich war immer davon ausgegangen, dass Magnus dasselbe wollte wie ich. Eine gemeinsame Zukunft. Immer hatte ich geglaubt, nur noch ein bisschen durchhalten zu müssen. Irgendwann würde er genug haben vom Ausland und heimkehren. Und dann wäre alles gut.

»Außerdem habe ich ein Angebot bekommen. Für Buenos Aires. Ein multimediales Theaterprojekt.«

Ich traute meinen Ohren nicht. »Du hast was?«

Magnus sah mich an. Ich wurde nicht schlau aus seinem Blick. Trauer erkannte ich, aber auch etwas Fremdes, das gefährlich glitzerte.

»Aber erst in ein paar Wochen. Das ist noch lange hin. Außerdem ist es nicht sicher. Wahrscheinlich klappt es gar nicht.«

Ich rang nach Atem.

Wie viele böse Überraschungen konnte eine einzige Stunde bereithalten?

»Du hast doch aber gesagt, du suchst dir hier etwas«, piepste ich kläglich.

»Ich habe gesagt, vielleicht suche ich mir hier etwas«, verbesserte mich Magnus.

Ich war am Ende.

Vielleicht?

Ja, das hatte er wohl gesagt.

Magnus war der König des Reiches Vielleicht. Er war Staatsratsvorsitzender und Topmanager von mal sehen und eventuell.

Unruhig steckte ich die Hand in die Rocktasche. Natürlich waren keine Zigaretten darin. Ich hatte das Rauchen vor Jahren aufgegeben.

»Nun guck nicht so biestig«, verlangte Magnus.

Als ich ihn anstarrte, entdeckte ich einen Schokoladenrest an seinem Mund. Ich sagte nichts.

»Wir haben uns sonst auch nur alle paar Monate gesehen, Mathilda.«

Ich dachte daran, dass ich gestern den ganzen Tag lang geputzt und aufgeräumt hatte. Dass ich mir die Haare frisch gefärbt und mich besonders hübsch gekleidet hatte.

Wozu?

Die Leute mit dem Drachen fingen an zusammenzupacken. Sie hatten aufgegeben. Sie waren realistisch. Von ihnen konnte ich etwas lernen.

»Man muss das genießen, was ist«, sagte Magnus.

Er klang nicht überzeugt.

»Es war doch irgendwie klar, dass das mit uns nicht für immer so weitergeht, Mathilda.«

»Aber wir lieben uns«, flüsterte ich.

Ich musste daran denken, wie ich Magnus zum ersten Mal gesehen hatte, auf einer Party seiner Cousine, der Häsin. Sie war die Frau meines ältesten Freundes aus der Schulzeit, den wir schon als Kind immer nur Hase genannt hatten.

Magnus war mir sofort aufgefallen, obwohl er eigentlich kein schöner Mann war. Aber er hatte das gewisse Etwas. Einen Hauch von Unberechenbarkeit, von Unantastbarkeit. Er war einer dieser Typen, die nicht blendend aussehen, aber sehr aufregend sind. Ein Mann, bei dem der Bauch zu kribbeln beginnt.

»Liebe wird überbewertet«, konstatierte Magnus säuerlich. Er zog die Sonnenbrille aus seiner Hemdtasche und schob sie auf die Nase.

Mein Handy brummte.

Ich fischte es aus der Handtasche und starrte mit verschleiertem Blick auf die SMS, die mir Tatjana geschickt hatte.

Lust auf Party im SO36?

Ich steckte das Handy zurück in die Tasche. Der morgige Tag wartete hinter einem Dunstschleier verborgen, den ich nicht einmal mit einer Spezialbrille hätte durchdringen können. Ich versuchte immer noch, den Schock zu bewältigen, unter dem ich stand.

Es war doch die Ferne, die Leute auseinanderbrachte. Nicht die Nähe. Nicht die Tatsache, sich endlich ungehindert in den Armen liegen zu können.

Mir fiel der Urlaub ein, den ich mit meinen Freunden geplant hatte. Dieses Mal hätte Magnus mitkommen sollen.

Die Enttäuschung hielt mein Herz im Klammergriff.

Wieso bereitete einen niemand auf solche Schläge vor?

In der Schule hatte ich Schreiben, Rechnen und Bockspringen gelernt, aber nicht das, worauf es ankam. Wie man sein Leben meisterte. Wie man glücklich war.

Magnus sprang auf die Füße. »Komm«, sagte er, »gehen wir zurück. Ich habe Hunger.«

Von hier oben bis zum nächsten anständigen Restaurant war es ein ordentlicher Fußmarsch. Er würde sich ein Weilchen gedulden müssen, aber das wusste er natürlich. Magnus kannte den Grunewald in- und auswendig.

»Los, komm.« Er beugte sich zu mir.

Ich dachte, er würde mich streicheln, aber stattdessen griff er bloß nach dem halb aufgegessenen, klebrigen Schokoriegel im Gras. Weil Magnus die Sonnenbrille trug, konnte ich seinen Blick nicht entschlüsseln.

Wie stellte er sich den weiteren Tag denn vor?

Wollte er jetzt tatsächlich einfach, als sei nichts gewesen, etwas essen gehen?

Ich blieb sitzen.

»Mathilda.« Magnus schnippte mit den Fingern. »Hast du keinen Hunger?«

Ich zuckte mit den Schultern, aber schließlich trottete ich ihm hinterher.

Als wir den Berg herunterkletterten, knickte ich um.

»Scheiße!«

»Was ist?« Magnus drehte sich zu mir um und hielt sich an einem Grasbüschel fest.

Ich zeigte auf meinen Fuß. »Umgeknickt«, erklärte ich.

»Mist. Kannst du allein laufen?«

Ich versuchte es. »Nein.«

»Also gut. Stütz dich auf mich.« Er fasste mich unter.

»Es tut weh«, sagte ich.

Irgendwie schafften wir es bis in die Ebene.

Magnus hockte sich hin und tastete meinen Fuß ab.

»Na prima«, erklärte er schließlich, »entweder gebrochen oder verstaucht.«

»Bestimmt nur verstaucht«, erwiderte ich.

»Verstaucht ist schlimmer«, meinte Magnus.

Er ließ mein Bein los und richtete sich auf. Dann machte er ein paar Schritte.

Ich hatte Angst, er würde mich einfach sitzen lassen.

Magnus drehte sein Gesicht wieder zu mir. »Denkst du, du schaffst es bis zur S-Bahn?«

Ich nickte zögernd. »Aber du musst mir helfen.« Die Tränen versperrten mir die Sicht.

Magnus schnaubte wie ein Pferd. »Natürlich helfe ich dir. Spinnst du?«

In der Rettungsstelle mussten wir mehrere Stunden warten. Magnus holte sich ein Hotdog in der Cafeteria. Ich hatte noch immer keinen Hunger, ließ mich aber zu einem Kakao überreden, den Magnus an einem Automaten zog. Als sich endlich ein Arzt mit meinem Fuß beschäftigte, versagten meine Nerven den Dienst. Ich fing an zu weinen und konnte mich nicht beruhigen. Es war alles zu viel. Sie beschlossen, mich übers Wochenende dazubehalten.

»Aber du hast morgen Geburtstag«, wandte Magnus ein.

Für mich spielte das allerdings keine Rolle. Meine Welt lag zerbrochen wie eine heruntergefallene Weihnachtskugel zu meinen Füßen. Die Panik war so groß, dass sie einfach über mich hinwegspülte.

Das war es also, das war alles, was von meinem Leben übrig blieb? Ein paar gescheiterte Beziehungen, ein ungeliebter Job, während alle um mich herum den Mann fürs Leben fanden oder nach Buenos Aires flogen?

Von einem gestressten Pfleger ins Zimmer gerollt, bekam ich noch mit, wie Tropfen gegen das Fenster schlugen und ein Grollen hörbar wurde. Anscheinend war ein Gewitter losgebrochen. Dann wirkte das Beruhigungsmittel und ich schlief ein.

Die Mondoberfläche glich löchrigem Käse, roch aber nach Plastik. Als ich versuchte, die Fahnenstange in den Boden zu stoßen, zersplitterte das Holz. Ich warf die Fahne auf den Boden.

»Hier ist alles aus Plastik«, sagte ich. »Over.«

Ich blickte zum Raumschiff hinüber, das nur wenige Meter von mir entfernt stand.

»Habt ihr verstanden?«, fragte ich und schlug vorsichtig auf den Sender am Anzug, der meine Worte übertragen sollte. »Ich kriege die Fahne nicht in den Boden.«

Es kam keine Antwort.

Spielten die da drinnen Karten, oder was?

Ich versuchte es erneut.

»Hallo! Die Fahnenstange ist zersplittert. Hört ihr? Der Scheißmond ist aus Plastik. Alles Beschiss.«

In dem Augenblick fiel das Raumschiff um und ich sah, dass es aus Pappe war.

Dahinter lauerte dunkel und drohend und vollkommen lautlos das Weltall.

Unsere Regenschirme lagen zusammengeklappt auf einem Stuhl, ab und an fiel ein Wassertropfen auf den Boden. Plopp, plopp, ein sehr meditatives Geräusch.

Abgesehen von uns waren keine Gäste da. Die Bedienung, dünn, flachbrüstig, kurzhaarig, wischte hinter dem Tresen Gläser sauber und langweilte sich.

Ich liebte es, im Himmelblau herumzulungern. Hier war es gemütlich. Die Einrichtung war kitschig und ein bisschen heruntergekommen. Oft wurde langsame elektronische Musik gespielt, die zum Träumen einlud, manchmal auch alte Schlager. An den goldenen Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotografien und schafften ein familiäres Flair. Ich saß am liebsten so wie heute auf der leicht zerschlissenen roten Samtcouch, die besten Ausblick auf die Vorgänge im Café bot.

»Gehst du denn nun hin morgen?«, fragte Nina.

Wir hatten über den unmittelbar bevorstehenden Geburtstag meiner Mutter gesprochen.

»Ich weiß nicht.« Abwehrend hob ich die Hände.

»Ich fand deine Mutter immer ganz nett«, behauptete Nina.

»Ja, klar«, antwortete ich, »du kennst sie bloß aus der Ferne, da liebt es sich leicht.«

Natürlich war meine Mutter nett. Das war nicht das Problem. Ich schob meine Kaffeetasse hin und her.

Ende der Siebzigerjahre sind unsere Eltern unter den ersten Bewohnern der Neubauten, die in der Allee der Kosmonauten in den Himmel wachsen. Nina, Franzi, der Hase und ich landen im selben Kindergarten, später in derselben Schule: Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski.

»Der Vater der Raumfahrt«, behaupten die Lehrer.

Wir sind Sternenkinder.

Unsere Eltern freuen sich über die modernen Wohnungen. Groß, fließend warmes Wasser, Zentralheizung, die Wände weiß. Es gilt als ein Glück und ein Privileg, in der Allee der Kosmonauten zu leben.

Ich lehnte mich zurück, schloss für einen Moment die Augen und öffnete sie wieder.

»Ich weiß nicht, Nina. Bestimmt geht es ihr wieder schlecht. Und nachher fragt sie mich noch nach Magnus.«

»Hast du was von ihm gehört?«, wollte Nina wissen.

»Er hat mich besucht. Für mich eingekauft und so. Ich konnte ja nicht laufen.«

»Und jetzt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich vorbei.«

Magnus musste jetzt schon über den Wolken schweben, auf dem Weg nach Argentinien.

»Ich wäre auch vorbeigekommen«, erklärte Nina.

Ich schluckte die Tränen herunter.

»Ich weiß. Danke. Ich wollte einfach allein sein. Und ich hatte alles, was ich brauchte. Wozu gibt es den Lieferservice? Außerdem hat mir Tatjana schon ihre Hilfe angeboten.«

Ich stützte meinen Kopf in die Hände.

»Warum ist es immer so?«, fragte ich. »Mit der Liebe, meine ich?«

Nina rührte in meinem Kaffee herum. Er musste längst kalt sein. Schließlich machte sie den Mund auf.

»Du suchst dir die Falschen aus«, erklärte sie und schwenkte ihren sorgfältig manikürten Zeigefinger vor meinem Gesicht.

Ich drückte meine Füße fest auf den Boden und entdeckte ein heruntergefallenes Zellstofftaschentuch. Ich schob es unter das Sofa.

»Bei dir läuft es ja auch nicht besser«, grummelte ich.

Nina seufzte. Sie hatte allein im letzten Jahr fünf Männer verschlissen, und das war nur die Handvoll, von denen ich wusste.

Die Bedienung warf uns einen neugierigen Blick zu und ließ das Glas sinken, das sie in der Hand hielt.

»Ich bin eigentlich ganz zufrieden«, erklärte Nina. Sie legte den Löffel neben die Tasse und schaute mich ernst an.

»Aber abgesehen davon«, sagte sie, »musst du auch mal das Positive sehen. Du hast eine Wohnung, Arbeit, Freunde, du könntest glücklich sein. Beziehungen sind doch nicht alles.«

Ich mochte es nicht, wenn mir jemand sagte: Du könntest, du solltest, du müsstest, und hörte Nina, die munter weiterredete, einfach nicht mehr zu.

Nina kam klar im Leben, es verlief geradlinig und schien keine Schlenker zu machen, sah man einmal von gelegentlichen Saufgelagen ab. Wir kannten uns seit dem Kindergarten und waren sogar im selben Krankenhaus zur Welt gekommen, sie ein halbes Jahr nach mir. Auch ihre Eltern hatten sich einst aus dem Prenzlauer Berg aufgemacht in die Allee der Kosmonauten. Ich bewunderte Nina, so lange ich denken konnte. Wo ich schwach war, war Nina stark, wo ich mich verlor, da fand Nina ihren Platz. Machte Nina den Führerschein, fiel ich erst einmal durch die Prüfung. Färbte ich mein Haar schwarz, färbte Nina das ihre blond. Wir waren unzertrennlich. Beste Freundinnen. In unserem Leben hatte es nur eine geringe Anzahl von Jahren gegeben, in denen wir uns selten gesehen hatten, und das hatte daran gelegen, dass ich mit meinen Eltern in die kleinere Wohnung gezogen war, in der meine Mutter jetzt allein lebte.

Ich trank einen Schluck lauwarmen Kaffee, stellte die Tasse ab und drückte meinen Rücken gegen die Sofalehne. Nina sprach noch immer.

»Mathilda?«, fragte sie.

Meine Augen fielen zu.

Freunde sind die Familie, die wir uns selbst aussuchen, lautete der Spruch auf meinem Kühlschrankmagneten.

Plopp, machten unsere Regenschirme, plopp. Ein Wasserkonzert.

Schlafen, dachte ich, vielleicht auch träumen.

Ich hatte die Angewohnheit, mich manchmal, wenn es unangenehm wurde, einfach wegzuträumen.

»Mathilda«, wiederholte Nina streng.

Ich riss die Augen auf. Neben uns stand die Kellnerin, in einem engen T-Shirt, einen Schriftzug quer über der Brust, und sah lächelnd auf mich herab.

»Ach, das Wetter«, sagte sie.

Das Wetter, die Wirtschaft, oje, es war alles ein großes Weh.

»Es regnet«, verkündete Nina.

Ich richtete mich auf, rieb mir die Stirn und blickte nach draußen. Ich sah erst Nina und dann die Kellnerin an.

»Ja«, sagte ich.

Jajaja und wer hätte das gedacht. Ich erinnerte mich auch genau, wann der Startschuss zu diesem Regenmarathon gefallen war. An einem Tag im Juni, der mir auf ewig in Erinnerung bleiben würde.

Das Mädchen stellte eine frische Cola light mit Eiswürfelchen und Zitronenscheibe vor Nina ab. Dann räumte sie mit einer energischen Handbewegung unser Geschirr ab. Sie musterte mich wie eine Salami an der Wursttheke. Nicht unfreundlich, aber irgendwie doch aufdringlich.

»Haste noch einen Wunsch?«, fragte sie.

»Nö, danke«, entgegnete ich und dachte an mein leeres Portemonnaie.

Das Mädchen drehte sich schwungvoll um und lief zurück zum Tresen. Unsere Blicke folgten ihr. Sie war neu hier und bestimmt zehn Jahre jünger als wir. Sie hatte einen hübschen Po.

»Ich werde nächstes Jahr dreißig«, sagte ich.

Nina drehte sich zu mir herum.

»Ich weiß. Und?«

»Ich habe früher immer geglaubt, dass ich mit dreißig längst verheiratet bin.«

Nina wartete.

»Na, und jetzt so was. Hörst du denn keine Uhr ticken?«

Nina zuckte mit den Schultern. »Ich höre meine beste Freundin, die wegen eines Kerls das Ende der Welt heraufbeschwört, Mathilda.«

Ich nahm einen Schluck von Ninas Cola. Sie hatte leicht reden. Sie ließ sich ja nie so lange auf jemanden ein, dass er ihr wichtig werden konnte. Für Nina war Liebe nur ein Spiel.

»Tut mit leid«, sagte Nina. »Ich kann nur kaum mitansehen, wie du leidest. Erinnerst du dich an diesen, wie hieß der noch gleich? Dieser Typ, den du beim Tanzen kennengelernt hast. Danach hast du zwei Jahre keinen Mann mehr angeguckt und das hässliche Entlein gespielt.«

Ich stellte Ninas Glas wieder zurück. »Ich weiß. Das war schrecklich damals.«

»Mathilda, du musst mir was versprechen. Du nimmst dir nachher deinen Lippenstift und schreibst zu Hause auf den Spiegel: Ich bin wunderwunderschön. Hörst du? Und dann machst du alles kaputt, was du noch von Magnus hast.«

»Er hat nichts dagelassen.«

Außer einem gebrochenen Herzen.

»Egal«, ereiferte sich Nina. »Dann machst du was anderes kaputt. Schmeiß seine Lieblingstasse an die Wand!«

»Hm.«

»Und ich wette mit dir, in einem Jahr bist du längst mit einem anderen glücklich«, sagte Nina.

»Ich habe aber mal gehört, die Trauerphase dauert immer halb so lang wie die Beziehung.«

»Ach Quatsch«, wiegelte Nina meinen Einspruch ab. »Wetten, dass du deine Hochzeit noch kriegst?«

»Bis ich dreißig bin?« Ich starrte sie an.

»Klar.«

»Niemals«, sagte ich mit felsenfester Überzeugung.

»Na gut«, meinte Nina, »vielleicht nicht gleich eine Hochzeit.«

»Ich heirate doch nicht einfach so. Da muss man erst mal ein paar Jahre zusammen sein«, sagte ich empört.

»Ist ja gut«, besänftigte mich Nina, »ich hab’s verstanden. Wollte dich ja nur aufbauen.«

Ich griff erneut nach ihrem Glas.

»Im Moment ist mir nach Verkriechen«, sagte ich deprimiert.

»Das tust du seit Wochen. Irgendwann ist auch gut.«

Sie hatte recht. Die letzten vierzehn Tage hatte ich krankgeschrieben im Bett verbracht. Mein Fuß funktionierte zwar endlich wieder, aber leider spielte meine Seele noch nicht mit. Mit Mühe und Not hatte ich mich ins Himmelblau geschleppt.

»Weißt du, ich glaube, ich packe dieses Gefühlskarussell nicht noch mal, Nina. Sich wieder auf jemanden einlassen, nur um dann erneut enttäuscht zu werden.«

In Ninas Augen trat ein trauriger Ausdruck.

»Das denkt man zuerst immer«, sagte sie, »und dann kommt dennoch die nächste Liebe.«

Das klang fast, als hätte sie selbst doch schon einmal richtigen Liebeskummer erlebt.

»Ich will das aber nicht mehr«, wehrte ich mich.

Nina ergriff meine Finger und drückte sie kräftig. »Musst du ja auch nicht. Nur versprich mir, dass du langsam wieder unter Leute gehst, ja?«

»Okay, okay.«

Sie ließ mich los.

»Und der Supermarkt? Wie läuft es da?«

Ich verdrehte die Augen. »Die werden angepisst sein, weil ich so lange krank war.«

»Warum machst du nicht endlich was anderes?«

Ich zuckte mit den Schultern.

Nina pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Mann, du musst auch mal kämpfen. Lass dich nicht so gehen, Mathilda! Wetten, du sitzt in einem Jahr immer noch an der Kasse?«

Diese Aussicht war in der Tat erschreckend.

»Mir fällt schon was ein«, murmelte ich. »Übrigens warst du es, die mich damals überredet hat, Kassiererin zu werden.«

Nina stampfte mit dem Fuß auf. »Ist doch nicht zu glauben«, knurrte sie. »Wälz ruhig alles auf mich ab. Aber eins sage ich dir: Ich helfe dir nicht mehr. Das ist jetzt vorbei.«

»Wie meinst du das?« Ich bekam es mit der Angst zu tun.

»Deine Stellenanzeigen kannst du in Zukunft schön allein durchkämmen.«

Ich wusste natürlich, worauf sie anspielte. Nicht selten hatte Nina mich angerufen und mir diverse Jobangebote empfohlen, die sie irgendwo entdeckt hatte. Die richtigen waren nicht dabei gewesen.

»Das werde ich auch machen«, gab ich zurück. »Ihr werdet euch noch alle wundern.«

Allerdings zitterte ich beim bloßen Gedanken daran, etwas in meinem Leben ändern zu müssen.

Nina schwieg und wich meinem Blick aus.

Gereizt schnappte ich mir ihr Getränk und stürzte den Rest der Cola hinunter. Die Zitronenscheibe spuckte ich zurück ins Glas. Es ärgerte mich, wie wenig Nina mir zutraute. Oder ärgerte ich mich eher darüber, wie wenig ich mir zutraute?

Eine Weile lauschten wir stumm der leisen Musik, die uns wie Nebelschwaden in die Ohren drang.

»Und wie läuft es überhaupt in der Werbeagentur?«, fragte ich und bemühte mich um einen versöhnlichen Ton.

»Gut«, antwortete Nina knapp. »Ich kriege jetzt noch mehr Gehalt. Bin einfach zum Chef hin und habe eine Erhöhung gefordert.«

»Und das hat geklappt?«

Ich empfand brennenden Neid. Ich konnte mir nicht mal ansatzweise vorstellen, die Stolzmann im Supermarkt um eine Gehaltserhöhung anzuhauen.

»Klar«, sagte Nina.

Natürlich. Sie bekam wieder alles hin, nur ich stand im Regen wie der letzte Volltrottel.

Sehnsüchtig dachte ich an den Zigarettenautomaten bei den Toiletten. Nina wusste noch nichts davon, dass ich wieder mit dem Rauchen angefangen hatte. Und heute wollte ich ihr diese Tatsache auch nicht auf die Nase binden. Sie selbst rauchte nur gelegentlich.

Nina schaute mich jetzt an. Ihre Pupillen blitzten dunkel. Sie räusperte sich.

»Mein Vater nimmt seit Monaten Tabletten«, sagte sie sehr leise, »Antidepressiva. Was weiß ich, wie die heißen.«

Ich erschrak. »Was?«

»Ja. Seit er pensioniert wurde, hängt er zu Hause herum und bläst Trübsal.« Nina blickte an mir vorbei zur Decke.

Ninas Vater war ein hochgewachsener, sympathischer Mann, der immer freundlich zu mir gewesen war. Ebenso wie Ninas Mutter, eine lebensfrohe, runde Person, stets mit einem Scherz auf den Lippen, wenn ich ihr begegnete. Eine Bilderbuchfamilie – so waren mir die drei erschienen. Als Kind hatte ich mir manchmal vorgestellt, wie es wäre, in ihrer Familie aufzuwachsen statt in meiner eigenen.

»Hast du mir gar nicht erzählt. Ist ja schrecklich.«

War sie deswegen so streng mit mir?

Weil es ihr selbst nicht gut ging?

Nina griff nach ihrem leeren Glas und rollte es zwischen den Handflächen hin und her, sodass die Zitronenscheibe verrutschte. »Ich will eigentlich nicht drüber reden«, nuschelte sie.

Dabei hätte ich sowieso nicht gewusst, was ich weiter sagen wollte. Ich spürte, wie verzweifelt sie war, und dieses Gefühl sprang auf mich über. Und Verzweiflung machte mich immer stumm.

»Tut mir leid«, flüsterte ich.

Nina stellte das Glas ab und ließ ihren Blick ruhelos durch den Raum schweifen. Wir schwiegen. Plötzlich war ich wahnsinnig müde.

Ohne dass ich es wollte, fielen mir wieder die Augen zu. Der Regen oder mein Blut rauschte in meinen Ohren.

Vielleicht wurde ja alles gut und es ging für immer so weiter mit uns und unserer Freundschaft und dem Café und all dem. Und Ninas Vater würde gesund werden und ich einen neuen Mann kennenlernen und eine bessere Arbeit finden und es würde immer schöner und schöner werden.

Ninas Handy klingelte und ich schlug die Augen auf. Sie sah mich mit einem merkwürdigen Ausdruck an, den ich von ihr nicht kannte, schob ihr Glas beiseite, kramte das Telefon hervor, warf einen flüchtigen Blick auf das Display und sprang auf.

»Mittagspause ist vorbei, Mathilda, sorry, ick muss, wa. Zahlste für mich mit, bist ’n Schatz«, spulte sie hastig herunter.

Sie wühlte in ihrem Portemonnaie, drückte mir einen Schein in die Hand, dann schnappte sie sich ihren Regenschirm und gab mir rechts und links einen Schmatz auf die Wange. Weg war sie. Ein schwacher Duft von sehr teurem Damenparfüm blieb an mir kleben.

Verloren saß ich noch eine Weile herum, holte mir dann am Automaten ein Päckchen Zigaretten, beglich die Rechnung und schlenderte langsam durch die Pfützen nach Hause. Ab und an warf ich einen Blick in die Schaufensterscheiben, an denen ich vorbeilief, doch alles Ausgestellte kam mir vor wie seelenloser Plunder. Wertlos.

Ein neues Geschäft hatte aufgemacht, dessen schräger Name mir ins Auge stach.

Laden für verlorene Dinge.

Die Auslage hob sich wohltuend von der der anderen Läden ab. Man sah nämlich nichts, absolut nichts. Nada. Wahrscheinlich waren die Eigentümer einfach noch nicht dazu gekommen, das Schaufenster zu gestalten.

Vor dem Laden stand ein älterer Mann mit einem sorgsam gepflegten Bart. Er trug eine Batikhose und ein leicht zerknittertes Jackett. Als ich an ihm vorbeikam, schenkte er mir ein freundliches Lächeln, das ich irritiert erwiderte. Normalerweise wurde man in dieser Stadt nicht einfach so angelächelt. Wahrscheinlich lebte er auf der Straße und erhoffte sich ein Almosen. Oder er stand auf junge Frauen.

Ich trottete weiter und vergaß ihn.

Ninas Vater kam mir wieder in den Sinn. Dann dachte ich an Magnus.

Als ich meine Straße erreicht hatte, klappte ich den Schirm trotz des heftigen Regens zusammen und ließ mich durchnässen, damit niemand meine plötzlich hervorbrechenden Tränen sah.

Meine Wohnung war sauber und aufgeräumt. Das Putzen hatte ich bereits gestern Abend erledigt. Meine Wäsche war gewaschen, meine Blusen waren gebügelt. Es gab nichts mehr zu tun und arbeiten musste ich heute noch nicht. Seltsamerweise war es gerade die Ordnung, die mich jetzt in Panik versetzte, und ich brauchte eine Weile, um mich wieder zu beruhigen.

Ich bückte mich, streichelte die Katze, warf einen Blick in den fast leeren Kühlschrank, zuckte mit den Schultern und machte mir einen Kaffee. Mit dem dampfenden Getränk in der Hand und mit an der Haut klebender, feuchter Kleidung hockte ich mich auf den Balkon, um auf die Straße zu schauen. Menschen strömten vorbei.

Ich durchwühlte meine hübsche, aber unechte Krokodillederhandtasche nach den Grand Malheur. Ich wusste schon, warum ich diese Marke rauchte. Hätte es sie nicht gegeben, ich hätte sie erfunden.

Ich betrachtete die Fußgänger, die wie große Käfer aussahen, dann den grauen Balkonboden. Mein Blick glitt weiter, durch das Fensterglas sah ich ins Wohnzimmer wie durch ein Bullauge. Alles schien so vertraut. Ich wohnte seit einer Ewigkeit hier, seit tausend Jahren schon, so fühlte es sich an.

In Wahrheit waren es nur fünf.

Die Katze kam zu mir auf den Balkon, drückte ihren Kopf gegen mein klatschnasses Hosenbein und zuckte erschrocken zurück. Ich würde trockene Kleidung anziehen müssen.

Ich dachte an das neue Geschäft, das ich vorhin entdeckt hatte.

Laden für verlorene Dinge.

Ich war manchmal selbst so ein verlorenes Ding.

Was es wohl in dem Geschäft zu kaufen gab?

Auf meinen Armen hatte sich wegen der Kälte eine Gänsehaut gebildet. Ich trank einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse ab, drückte die Zigarette aus, zündete eine frische an und schob mit den Füßen die Kaffeetasse hin und her, um die Katze zu beschäftigen. Das Geräusch lullte mich ein und ich vergaß, dass ich fror. Von Zeit zu Zeit scheuchte ich Zigarettenwölkchen fort. Die Katze sprang auf meinen Schoß. Ich vergrub meine Finger im Fell des Tieres. Schnurren.

Wie sollte es nur weitergehen mit meinem Leben?

Ich war ratlos.

Ob Nina ihre Drohung ernst gemeint hatte und mich tatsächlich bei meiner Jobsuche nicht mehr unterstützen würde? Ich musste den Supermarkt endlich hinter mir lassen.

Aber wie sollte ich das nur allein schaffen?

Ich wusste ja gar nicht, was ich eigentlich wollte.

Ich stand auf.

Die Katze sprang notgedrungen auf den Boden, fauchte und lief mit erhobenem Schwanz beleidigt weg. Ich drückte die halb erloschene Zigarette aus und folgte der auf einen Spaziergang im Hof erpichten Katze in die Wohnung, um mir trockenes Schuhwerk anzuziehen.

Der sintflutartige Regen hatte die Stadt in den letzten Tagen in ein Schwimmbecken verwandelt. Wer keinen Fuß vor die Tür setzen musste, unterließ es lieber. Dabei war es nicht kalt, denn die Sonne blitzte ab und an hinter der Wolkendecke hervor. Die Nässe jedoch kroch überallhin, in Schuhe, Kleidung und Herzen.

Prüfend sah ich nach oben. Graue Schleier verbargen den blauen Himmel, den es irgendwo geben musste. Ich hatte Glück. Gerade nieselte es nur leicht. Die Tropfen fielen auch auf meine Brille. Ich nahm sie rasch ab. Ohne die Gläser sah ich nur verschwommen. Das passte wunderbar zu meinem Lebensgefühl. Außerdem fühlte ich mich ohne Brille hübscher und trug sie nur, wenn es nicht anders ging. Ich verstaute die Brille im Etui und ließ den Schirm aufspringen.

Nach langem Überlegen hatte ich meine schwarze Lederjacke, einen schwarzen Rock, eine schicke schwarze Bluse, zwei Lippenstiftschichten und mein unechtes Krokodillederhandtäschchen ausgewählt, das an der Schulter baumelte. So gewappnet konnte ich dem Tag begegnen.

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