Alles Liebe oder was? - Wolfgang v. Alt-Stutterheim - E-Book

Alles Liebe oder was? E-Book

Wolfgang V.Alt-Stutterheim

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Beschreibung

Die Abiturienten Melissa, Lara und Alex möchten aus der "Dreigroschenoper" von Bertold Brecht einige Musikstücke vortragen. Die beiden Mädchen buhlen um die Gunst ihres attraktiven Schulfreundes: Lara lädt Alex zu ihrem achtzehnten Geburtstag ein, Melissa verabredet sich mit ihm zu einem Ausritt im Gestüt in Illertissen. Alex fühlt sich zwischen den beiden Verehrerinnen hin- und hergerissen. Nach dem Abitur trennen sich ihre Wege. Alex beginnt eine Fußballkariere in Freiburg, während Melissas Bewerbung an der Schauspielschule dort scheitert. Stattdessen bekommt sie einen Platz in Hannover. Sie verliebt sich unglücklich in einen älteren verheirateten Kollegen, der nicht die Kraft aufbringt, sich von seiner Ehefrau zu trennen. Lara arbeitet in Freiburg als Barkeeperin in einem Hotel. Am Silvesterabend besucht Alex sie an der Hotelbar. Er bereut seinen Entschluss, da sie ihm kaum Beachtung schenkt, dafür aber mit einem Schauspieler ins Gespräch kommt, der nebenberuflich einen Escort-Service aufgebaut hat. Lara begeistert sich für die Branche. Nachdem Alex Melissa in Hannover besucht hat, teilt sie ihm wenige Wochen später mit, dass sie schwanger ist. Doch Alex bezweifelt, der Vater des Kindes zu sein. Mit seinem Debütroman "Alles Liebe, oder was" schickt Wolfgang v. Alt-Stutterheim seine Leser durch ein Dickicht voller Liebesbeziehungen. Nicht alle Träume der Beteiligten erfüllen sich. Glückliche und verhängnisvolle Zufälle bestimmen indes die Partnerwahl. Aus Sehnsüchten werden Enttäuschungen. Werden ihre Beziehungen wenigstens in Zukunft von Liebe erfüllt sein?

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Inhalt

Die Theateraufführung

Verabredungen

Getrennte Wege

Ein Angebot

Halloween

Escort-Service

Wiederkehr

In der Bongo-Bar

Begegnungen

Treffen im Reiterhof

Silvester

Am Neujahrstag

Rapunzel

Hilfe

Die Uraufführung

Fasching

Amor est …

Die Verlobung

Ein Festtag

1. Die Theateraufführung

»Franz Sütterlin wurde 1865 hier in Lahr geboren«, erläuterte Hannah Heidenreich ihren Schülern. »Er hat mit seiner Handschrift eine ganze Epoche geprägt. Im 22. Lebensjahr verließ Sütterlin unsere Heimatstadt und ging nach Berlin. Dort hat der Grafiker die Handschrift entworfen. Schon mit zweiundfünfzig Jahren verstarb er 1917 in Berlin. Man sagt, er sei verhungert. Es war eine schreckliche Zeit. Seine Handschrift wurde erst 1941 durch das lateinische Alphabet ersetzt. Auch Bertolt Brecht hat seine ersten Gedichte in Sütterlin geschrieben. Vor dem Abitur werden wir uns noch einmal mit Brecht befassen.«

Ausgerechnet an Melissas siebzehntem Geburtstag wurde die Dreigroschenoper im Deutschunterricht behandelt. Die Abiturienten sollten Brechts Dreiakter in den nächsten Stunden lesen und diskutieren. Der Musiklehrer würde sogar einige Stücke aus der Dreigroschenoper auf dem Klavier spielen. Musikalisch begabte Schüler könnten einige Songs aus der Dreigroschenoper vortragen. Die Lehrerin, Frau Heidenreich, hatte vorsorglich den Direktor von ihrer Absicht informiert. Zunächst hatte der Direktor gegen das Projekt Einwände.

»Frau Heidenreich, wissen Sie, was Sie Ihren Schülern damit antun? Sie werden in den Morast von Dieben und Huren gezogen. Sie sollten sich lieber mit Goethes Faust beschäftigen.«

Sie erwiderte: »Goethe ist auch nicht viel besser. Faust verlässt das arme Gretchen. Schließlich wird sie als Kindsmörderin hingerichtet. Überall lauert Verrat. Das Treiben Fausts steht der Rache der verschmähten Geliebten Jenny in nichts nach. Auch er hat, wie Mackie Messer, ein Bündnis mit dem Bösen geschlossen.« Widerstrebend kam der Direktor dem Wunsch der Deutschlehrerin schließlich nach.

Melissa las das Theaterstück mit zunehmender Begeisterung. Die Rolle von Polly, der Tochter des Bettlerkönigs Peachum, gefiel ihr besonders gut.

So möchte ich auch einmal eine Ehe eingehen, überlegte sie. Heiraten im Pferdestall und dazu noch einen richtigen Kerl, einen wie Mackie Messer! Der ist furchtlos und hat das Glück auf seiner Seite. Mithilfe der Tochter des Polizeipräsidenten flieht er aus dem Gefängnis. Nicht einmal der Galgen kann ihm etwas anhaben. Zu guter Letzt wird er vom König begnadigt und sogar in den Adelsstand erhoben. Und singen dürfen wir auch noch dazu. Ich hoffe, dass Alex den Mackie-Messer-Song übernimmt. Das kann ja eine schöne Geschichte werden. Der Dummkopf hat noch gar nicht bemerkt, dass ich mich in ihn verliebt habe. Wenn ich ihm als Polly meine Herzenswünsche vorsinge, wird er mir nicht mehr widerstehen können. Er wird weinen und meine Sehnsucht verstehen. Die Jana aus unserer Klasse, diese blöde Kuh, die ihm immer schöne Augen macht, wird ihn als Seeräuber-Jenny an den Galgen liefern. Das nennt man »zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«.

Am nächsten Tag fragte Frau Heidenreich ihre Schüler, ob sie einen Song aus der Dreigroschenoper vortragen wollten. Jana konnte nicht widerstehen. Als verschmähte Geliebte würde sie Mackie der Polizei ausliefern. Alex, der schon immer der Beste im Musikunterricht war, sollte die Moritat von Mackie Messer singen. Schon trällerte er in der Pause: »Und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht« Er fand sich damit ab, dass ihn Jana als Jenny an die Polizei verpfeifen würde. Es ist ja nur ein Spiel, beruhigte er sich.

Jana las den Text mit großem Vergnügen: »Und wenn der Kopf fällt, dann sage ich »hoppla«. Und das Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen wird entschwinden mit mir.« Ein schöner Text mit einer starken Musik von Kurt Weill, dachte sie. Das Gegenteil ist der Fall, ich möchte tausendmal lieber Alex den Kopf verdrehen.

Sie schrieb ihm eine WhatsApp: »Lieber Alex, ich freue mich auf unseren Auftritt. Wir können die Songs heute Nachmittag mit Herrn Dreifuß üben.«

Jana staunte nicht schlecht, als beim Singspiel plötzlich Melissa auftauchte.

Diese eingebildete Zicke muss sich doch überall einmischen. Was soll’s. Die dämliche Melissa wird den Mackie Messer nur im Pferdestall anhimmeln. Wunderbar, eine Hochzeit im Stall. Die Pferde werden dabei wiehern, und ich werde ihr meine Glückwünsche überbringen.

»Liebe Moritatensänger«, begrüßte Herr Dreifuß die sangesfreudigen Bewerber. »Habt ihr die Texte dabei?« »Natürlich«, riefen sie im Chor. »Alex, fängst du mal an: Mack the Knife, bitte.«

Alex begann zu singen, doch Herr Dreifuß korrigierte ihn. »Es heißt nicht: An nem schönen blauen Sonntag liegt ein toter Mann am Strand. Der englische Akzent muss rauskommen, die Szene spielt in London, in Soho. Der tote Mann liegt am Strend.«

»Ja«, sagt Alex: »Der Tote liegt am Strend, das reimt sich auf die nächste Zeile, den man Mackie Messer nennt.«

»Und beim letzten Satz machst du eine verschwörerische Handbewegung. Die Hand muss mit einem Ruck nach unten fallen: Die im Dunkeln sieht man nicht.«

Alex fing noch mal an: »Und der Haifisch, der hat Zähne«

»Wunderbar«, lobte ihn der Musiklehrer »Der Gesang, die Betonung, die Mimik und Gestik. Alles passt gut zusammen.«

»Melissa, du willst auch singen?« Ich weiß nicht recht. Deine Stimme ist für die Rolle der Polly eigentlich nicht geeignet.«

»Doch, Herr Dreifuß, die Polly singt so, wie sie es eben kann. Das Stück hat Kurt Weill bestimmt nicht als Opernarie geschrieben.«

»Na gut«, antwortete der Musiklehrer. »Dann probiere es mal. Denk daran, dass sich Polly in die Arme von Mackie flüchtet. Die Rache ihres Vaters hat sie nicht bedacht. Liebe macht blind. Du bist Polly, die Tochter des Bettlerkönigs. Du flüchtest vor deinem geldgierigen Vater und heiratest aus Protest einen dahergelaufenen Strolch im Pferdestall.« Mitten im Gesang unterbrach sie der Lehrer. »Melissa, wiederhole das noch mal. Achte auf die Betonung: Und als er nicht wusste, was sich bei einer Dame schickt – zu ihm sagte ich nicht nein. Das Wörtchen »nicht« müsstest du stärker betonen.«

»Das geht durch«, nickte der Musiklehrer anerkennend nach ihrem Vortrag. Melissa hüpfte vor Freude in die Luft.

»Und jetzt Jana, bitte: Vergiss nicht, dass du die Seeräuber-Jenny bist. Du wirst Mackie ans Messer liefern. In letzter Minute hat er sich vor den Verfolgern zu dir ins Bordell geflüchtet. Er hatte deine Liebe verschmäht. So war es schon immer in deinem Leben. Du wurdest nur herumgestoßen. Niemand hat dich wirklich geliebt. Und wenn der Kopf fällt, dann sage ich »Hoppla« … Das »Hoppla« singst du so, als wäre dir gerade ein kleiner Hund vor die Füße gelaufen. Mit einem Fußtritt verjagst du ihn.«

Auch Jana erntete mit der Moritat die Zustimmung des Musiklehrers.

Melissa war enttäuscht, dass sie in dem ganzen Drama eigentlich nur eine Nebenrolle einnehmen durfte. Die Ehe mit Mackie war nur eine Eintagsfliege. Polly landete wieder bei ihrem rachsüchtigen Vater. Sie schickte Alex eine E-Mail: »Lieber Alex, wäre es nicht schön, wenn wir Brechts Lehrstück Leben einhauchen und eines schönen Tages im Pferdestall heiraten? Davon habe ich schon immer geträumt. Im Gestüt Illertissen bin ich am Sonntagnachmittag mit meinem Pferd unterwegs. Wir könnten uns im Pferdestall treffen. Wenn du mich dort nicht finden solltest, dann frag’ nach mir und meinem Pferd Jolanda. Die anderen wissen schon, wo ich gerade stecke.«

Alex schmunzelte, als er die E-Mail las.

Melissa, dieser unausgegorene Backfisch, schwärmt vom Heiraten im Pferdestall. Ich habe am Sonntagnachmittag nichts Besonderes vor. Warum nicht, ich werde mir den Reiterhof anschauen. Mal sehen, was Melissa da so treibt. Im Unterricht kriegt sie kaum den Mund auf. Die ist ziemlich schüchtern und dazu dürr wie eine Zaunlatte. Ich wundere mich eh, dass die schon 17 ist. Bei ihrer schrillen Kinderstimme könnte man meinen, dass sie gerade mal 14 Jahre alt ist. Sie erfüllt sich ihren Mädchentraum und reitet ein Pferd. Dass ich nicht lache, ein Schulmädchen macht mir einen Heiratsantrag. Sie träumt von Polly und will mich im Pferdestall heiraten. Mal sehen, was sie sonst noch anzubieten hat. Ich habe gehört, dass es im Gestüt von Illertissen schöne Grauschimmel gibt. Mit meinem Mofa bin ich schnell bei ihr drüben. Hoffentlich kann sie schon reiten. Beim Ausmisten des Stalles werde ich ihr bestimmt nicht helfen.

Am Sonntagnachmittag suchte Alex vergeblich nach seiner Verehrerin. Sie war mit ihrem Pferd unterwegs. »Die müsste gleich wieder da sein«, sagte Melissas Freundin. »Schau mal rüber zur Koppel.«

Im Galopp jagte Melissa mit ihrem Pferd heran. Sie erkannte Alex schon von Weitem. Die rote Kappe mit dem Emblem seiner Fußballmannschaft war unübersehbar. Atemlos stieg sie von ihrem Pferd. Fast wäre sie ihm vor lauter Freude um den Hals gefallen.

»Hallo Alex, schön, dass du gekommen bist. Ich habe nicht mit dir gerechnet. Entschuldige bitte, die E-Mail war nicht so ernst gemeint. Ich hatte mich zu sehr in Polly hineingesteigert.«

»Warum?«, fragte er. »Hast du an mir einen Narren gefressen? Polly ist von ihrer Familie abgehauen und hat sich Hals über Kopf in Mackie Messer verknallt. Sehe ich aus wie ein Bandit? Schlimmer noch, wie einer, der ahnungslose Menschen ausraubt und umbringt?«

Melissa schaute Alex verwundert an: »Auf diesen Gedanken bin ich noch nie gekommen. Jetzt muss ich erst mal das Pferd in den Stall bringen, es bürsten und trocken reiben. Hilfst du mir dabei?«

»Wenn’s sein muss«, knurrte Alex.

»Hier, nimm mal den Gummistriegel und reib den gröbsten Dreck ab. Immer schön langsam mit der Bürste kreisen. Bitte das Fell nicht gegen den Strich bürsten, immer von vorne nach hinten und von oben nach unten. Du machst das gut, Alex. Man könnte meinen, dass du das von der Pike auf gelernt hast. Ich kümmere mich erst mal um die Mähne. Sieh mal, die ist ganz verknotet.«

Im Handumdrehen wurde Alex in die Pferdepflege einbezogen. Er wunderte sich.

Die ist ganz schön raffiniert. Ich habe Jahre gebraucht, um mich den Befehlen meiner großen Schwester zu widersetzen. Und jetzt kommt die piepsige Melissa daher und spannt mich für die Pferdepflege ein. Ich bin eben ein gutmütiger Trottel. Wahrscheinlich hat mir das meine Schwester schon früh eingetrichtert. Welcher Teufel hat mich bloß geritten, dass ich Melissas Einladung gefolgt bin? Na ja, es kann nicht schaden, wenn ich meinen Horizont erweitere. Der kräftige Grauschimmel wartet geduldig auf seine Fellpflege. Später steht er im Stall und wartet auf sein Futter. Der nächste Ausritt steht bevor. So ist das Leben, dachte sich Alex. ›Immer warten auf das nächste Highlight. Essen, trinken, schlafen, und morgen geht es weiter. Wir träumen gut, wir träumen schlecht, der nächste Tag wartet schon auf uns.

»Prima, Alex, jetzt kommt der Kopf dran. Nimm dafür bitte die weiche Bürste. Vorsichtig, Jolanda ist am Kopf sehr empfindlich. Den Schweif übernehme ich, da hast du nichts zu suchen. Oder möchtest du dich mit Pferdeäpfeln beschäftigen?«

Alex stöhnte. »Sind wir bald fertig?«

»Nur noch eine Kleinigkeit«, beruhigte sie ihn. »Wir müssen die Hufe noch mit dem Hufkratzer säubern.«

»Mir reicht’s jetzt!«, sagte Alex. »Ich habe keine Lust, mit einem kräftigen Tritt durch den Stall zu fliegen.«

»Keine Sorge«, tröstete sie ihn, »das ist für mich reine Routinesache.« – »War es schlimm?«, fragte Melissa ihren Schulfreund.

»Ich bin begeistert!«, rief Alex. »Alles ging reibungslos. Was soll ich sagen – Jolanda liebt dich. Wie oft bist du eigentlich hier?«

»Am liebsten jeden Tag, aber ich habe nur an drei Nachmittagen Zeit. »Strahlend schaute sie Alex an. Sie reichte ihm die Hand. »Können wir Freunde werden?«

»Freunde?«, fragte er. »Gestern wolltest du mich am liebsten im Pferdestall heiraten.«

»Immerhin hat Jolanda freudig gewiehert, als du mit langsam kreisenden Bewegungen über ihr Fell gegangen bist.«

»Melissa, das Ganze ist ein Missverständnis. Lies doch bitte noch mal deine Rolle in der Dreigroschenoper nach. Ich bin nicht Mackie Messer, und du bist nicht Polly Peachum, die im Pferdestall ihren Angebeteten heiratet. Ich freue mich, dass dich wenigstens dein Pferd liebt.«

»Alex, die Liebe beruht auf Gegenseitigkeit! Möchtest du nicht auch einmal auf einem Grauschimmel reiten? Ich habe für Pferdefreunde immer ein offenes Herz.«

Alex zögerte: »O.K, ich könnte es mal versuchen. Ich habe nichts dagegen, mich mal auf deinen Gaul zu setzen. Aber Reiten wird nie und nimmer ein Hobby für mich. Schließlich habe ich meinen Fußballverein.«

Melissa lächelte: »Willkommen im Gestüt Illertissen. Genauso wenig werde ich mich auf dem Fußballplatz herumtreiben. Aber eins haben wir doch gemeinsam. Ich reite bei jedem Wetter, und ihr spielt Fußball, egal, ob es regnet oder schneit. Ihr wascht nach jedem Spiel eure dreckigen Klamotten und ich meine Reiterhose.«

»Oh«, höhnte Alex, »so viele Gemeinsamkeiten, das hätte ich gar nicht erwartet.«

Melissa: »Im Gegensatz zu dir liebe ich mein Pferd. Während ihr wie losgelassene Hunde dem Ball hinterherrennt und ihn nach dem Spiel nur mal schnell unter die Dusche haltet, behandle ich mein Pferd mit Liebe und Sorgfalt.«

»Lass es gut sein«, lenkte er ein. »Wenn Blicke töten könnten! Wir müssen uns deswegen nicht streiten. Jeder macht sein Ding. Jeder macht das, was ihm Spaß macht. Auf meinem Moped ist noch Platz für dich. Soll ich dich nach Hause bringen?«

»Meinetwegen, aber eines musst du mir noch versprechen: Sag’ nie wieder »Gaul« zu meinem Pferd!« »Versprochen«, antwortete Alex schmunzelnd.

Ein paar Tage später war es so weit. Die Proben der Dreigroschenoper fanden im Musikzimmer statt. Herr Dreifuß saß am Klavier. Frau Heidenreich betrat fröhlich das Zimmer.

»Ich hoffe, ihr habt euch gut vorbereitet, die Rollen sind verteilt. Wir haben für das Lesen der Dialoge und den Gesang genug Zeit: Alex hat den Mackie-Messer-Song eingeübt, Melissa trägt die Liebeswünsche von Polly vor, und Jana wird den Vortrag mit ihrem Lied abrunden.«

Die Zeit verging wie im Flug. Frau Heidenreich lobte die Akteure. »Wunderbar!«, rief sie. »Der Gesang hat mich beeindruckt. Ihr könnt stolz auf euch sein. Melissa hat die Herzenswünsche von Polly gut rübergebracht.« Auch Herr Dreifuß nickte zufrieden.

Melissa ging frohen Herzens nach Hause.

Ich habe sicherlich 100 Punkte bei Alex gewonnen. Na ja, da ist noch Jana. Aber die werde ich ausstechen. Es hat mir einen kalten Schauer über den Rücken gejagt, als sie triumphierend sang: Und wenn der Kopf fällt, dann sage ich »hoppla«. So etwas kann nur eine herzlose Schlange von sich geben. Ich werde am Mittwoch zum Fußballplatz gehen und Alex beim Training anfeuern. Dann werde ich ihn zum Reiten einladen. Mal sehen, ob er sich auf dem Pferd halten kann. Aber das wird schon klappen, Jolanda hat ja schon seine Bekanntschaft gemacht.

2. Verabredungen

Auf dem Nachhauseweg zitierte Melissa noch einmal die Verse von Polly: »Und als er nicht wusste, was sich bei einer Dame schickt, zu ihm sagte ich nicht »nein«.

Das ist es, schoss es ihr durch den Kopf.

Mit einem Lackaffen will ich nichts zu tun haben. Alex, der auf dem Fußballfeld keinen Rempler scheut, dem Dreck und Schlamm egal sind, zu dem sage ich nicht nein. Hurra! Das ist heute bestens gelaufen. Das hässliche Entlein hat sich in einen Schwan verwandelt. Endlich wurde ich von den Lehrern gelobt. Und ich glaube sogar, dass mich Alex bewundert hat. Vielleicht werde ich eines schönen Tages als Schauspielerin verehrt und berühmt. Früher hatte ich geglaubt, dass ich, wie meine Mutter, nur zur Hausfrau taugen würde. Sie hatte keine Chance, über den Tellerrand hinauszublicken. Als sie zusammen mit den Großeltern aus Kasachstan nach Deutschland übergesiedelt sind, waren sie froh, ein Dach über dem Kopf und genug zum Essen zu haben.

Melissa begrüßte ihre Mutter gut gelaunt. Ihr jüngerer Bruder saß wie immer an der Playstation und spielte irgendein Ego-Shooterspiel. Er hatte sich die Kopfhörer übergestülpt und gab laut schreiend Befehle an seine Kampfgefährten durch. Gleichzeitig rasten seine Finger über die Tastatur. Melissa würdigte er keines Blickes. »Mama, das war heute ein gelungener Tag. Ich habe das »Lied der Polly« gesungen. Möchtest du den Text lesen?«

Die Mutter überflog das Pamphlet. »Meine Güte, da wundert mich nichts mehr! So was lernt man heutzutage in der Schule? Habt ihr nichts Besseres zu tun?«

»Aber Mama, das ist die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht.«

»Wer soll das sein? Den Namen habe ich noch nie gehört. Wir hatten damals keine Zeit, uns mit Dichtern und Denkern zu befassen. Ich habe in Kasachstan die Dorfschule besucht und war froh, dass wir lesen und schreiben gelernt haben. Zu Hause durften wir Deutsch sprechen. Meine Eltern wurden 1941 von Stalin als Wolgadeutsche nach Kasachstan vertrieben. Sie wurden verdächtigt, mit den Nazis gemeinsame Sache zu machen. Abertausende sind damals auf dem Weg nach Sibirien oder Kasachstan vor Hunger gestorben oder in Viehtransportern erfroren. Überall vermuteten Stalin und der KGB Spione und Volksverräter. Viele Männer sind bei der Vertreibung einfach erschossen worden. Wir waren froh, dass wir als Russlanddeutsche nach Deutschland auswandern durften. Davon weißt du nichts, mein Kind, du bist hier im Schwarzwald geboren. Viele Russlanddeutsche leben hier. Ich bin froh, dass du die schweren Zeiten nicht mitbekommen hast. Du gehst sogar aufs Gymnasium. Nur dein Bruder macht mir Sorgen. Womöglich bleibt er in diesem Jahr sitzen, dieser Tunichtgut. Sieh ihn dir doch nur an: Den ganzen Tag spielt er am Computer. Auf mich hört er nicht. Erst wenn der Vater abends nach Hause kommt, pariert er, wenn er von ihm ein paar hinter die Löffel kriegt. Dein Vater hatte es hier auch nicht einfach. Er war froh, dass er trotz seines steifen Beines im Schlachthof eine Stelle gefunden hat. Wir hatten wirklich andere Sorgen. Gerold, jetzt ist Schluss, hör endlich auf!«

»Ich bin gleich fertig«, gab er zurück.

»He!«, rief Melissa. »Hast du nicht gehört, was deine Mutter gerade gesagt hat? Du bist nicht mehr ganz klar in der Birne. Warte nur, gleich kommt der Vater heim.«

Gerold antwortete nicht. Er hämmerte weiter auf die Tasten ein und starrte auf den Bildschirm.

Melissa gab auf: »Es hat keinen Zweck, der lebt in einer anderen Welt. Eins ist mir heute klar geworden«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Ich werde Schauspielerin.«

»Wie kommst du nur darauf?«, fragte die Mutter. »Es gibt wirklich wichtigere Dinge im Leben.«

»Doch, ich möchte Schauspielerin werden. Frau Heidenreich und der Musiklehrer haben mich auf die richtige Spur gebracht.«

»Und was wird aus unserem Garten?«, fragte die Mutter.

»Garten hin, Garten her«, widersetzte sich Melissa. »Nach dem Abitur werde ich auf eine Schauspielschule gehen. Ich habe es endgültig satt, hier das Hausmädchen zu spielen.«

Melissas Mutter kämpfte mit den Tränen. »Ist das dein Ernst?«

»Bis zum Abitur werde ich bei euch bleiben. Mir geht hier allmählich alles auf die Nerven. Gerold sitzt immer nur am Computer, du werkelst im Garten herum, und der Vater kippt sich abends nach der Arbeit Wodka hinter die Binde. Mit dem kann ich nicht reden. Der hat sowieso immer recht.«

»Melissa, überleg doch mal. Als Schauspielerin schwebst du in der Luft. Die Regisseure und Produzenten sind Luftikusse. Schauspielerin, das ist kein solider Beruf. Na gut, Papa schuftet im Schlachthof und sortiert die Schweinehälften. Aber du solltest etwas Anständiges lernen. Du könntest bei der Stadt anfangen oder eine Beamtenlaufbahn einschlagen. Vielleicht möchtest du Architektin werden? Aber bitte keine Schauspielerin! Möchtest du wirklich von der Hand in den Mund leben?«

»Mama, wir leben nicht in Kasachstan. Ich brauche keinen Garten, kein Häuschen auf dem Land und kein Bügelbrett. Es tut mir leid, aber in diesem Kuhdorf habe ich wirklich keine Zukunft.«

»Kuhdorf?«, entrüstete sich die Mutter.« »Lahr ist die bedeutendste Stadt in Südwest-Baden. Und überhaupt, was wird aus deinem Pferd? Wirst du es nicht vermissen?«

»Ich werde Jolanda besuchen, so oft ich kann.«

Die Mutter legte schließlich ihren Arm auf Melissas Schulter. »Liebes Kind, ich bin immer für dich da.« Auch Melissa musste weinen. Die schweren Schritte des Vaters waren auf der Treppe zu hören. Gerold räumte eiligst die Spielekonsole weg.

Am Mittwoch ging Melissa zum Fußballplatz. Alex war gerade mitten im Gefecht. Als Mittelstürmer rackerte er sich richtig ab. Am rechten Spielfeldrand schoss ein Mitspieler eine steile Flanke zu Alex. Der nahm den Ball an und verwandelte die Steilvorlage in einen Schuss aufs Tor. Der Ball prallte an einem seiner Gegenspieler ab und landete außerhalb des Spielfeldes in der Nähe von Melissa. Plötzlich sah Alex Melissa. Ah, die Tussi verfolgt mich. Doch ihr unverhofftes Auftauchen schmeichelte ihm.

Der Trainer lief auf Melissa zu. »Guten Tag, was für eine Ehre. Wem hältst du denn die Daumen?«

»Es ist doch schön, zu sehen, dass sich auch mal die Jungs abrackern müssen«, wand sie sich heraus. »Da kann man mal sehen, dass nicht nur die dümmsten Bauern die größten Kartoffeln ernten. Alex und Franz sind doch wirklich gut drauf, oder?«

»Am Sonntag spielen wir gegen die Mannschaft von Holzhausen. Es ist ein Freundschaftsspiel. Du kannst gerne vorbeikommen und unsere Jungs anfeuern«, erwiderte der Trainer.

»Oh, das klappt leider nicht. Am Sonntag haben wir ein Turnier. Aber ich halte euch natürlich die Daumen. Kannst du Alex bitte Bescheid geben? Ich möchte ihm die Abschrift von der letzten Stunde zukommen lassen. Er musste heute früher nach Hause, weil seine Mutter einen Unfall in der Küche hatte.«

»Ich sag ihm Bescheid«, versprach Gerd.

Als Alex die Dusche verließ, wartete Melissa schon im Gang auf ihn. »Was für eine Abschrift?«, fragte er.

»Vergiss es«, antworte sie. »Ich wollte dich nur mal beim Fußballtraining sehen. Unser Gespräch vom letzten Sonntag geht mir nicht aus dem Kopf. Ihr macht ja wirklich ein schweißtreibendes Training. Außerdem wollte ich mich für die losgelassenen Hunde, die einem Ball hinterherrennen, entschuldigen.«

»Schon gut, das habe ich dir nicht übel genommen. Die Mädels sitzen manchmal gerne auf dem hohen Ross.«

»Bitte Alex, wir sollten uns nicht schon wieder streiten. Am nächsten Sonntag veranstalten wir im Reiterhof ein Turnier. Und ich weiß, dass ihr am Sonntag darauf brennt, es den Jungs aus Holzhausen heimzuzahlen. Aber morgen Abend hätte ich Zeit. Wir könnten uns drüben am Storchenturm treffen und ein bisschen miteinander quatschen. Außerdem habe ich ein paar Liebesgedichte von Brecht gelesen. Er erzählt so traurige Geschichten von Liebe und Einsamkeit. Die könnten wir gemeinsam lesen.«

Alex fragte: »Am Storchenturm?«

»Ja, du kennst doch den Turm an der Stadtmauer.«

»Hm, ein romantischer Vorschlag, Liebesgedichte von Brecht am Storchenturm lesen. Aber versprich mir bitte, dass wir nicht über Pferde reden.«

»O.K. Und du verlierst keine Silbe über Fußball.«

Am nächsten Abend wartete Melissa vor dem Turm auf ihren Mackie Messer. Der Frühling war bereits mit aller Macht ins Breisgauer Land eingezogen.

»Hallo Melissa!«, rief Alex, »beinahe hätte ich es nicht rechtzeitig geschafft. Ich sollte meinem Vater beim Reparieren unseres Gartenhäuschens helfen. Die Bretter sind im letzten Winter morsch geworden. Ich habe mich mit der Ausrede abgesetzt, ich müsste mich dringend auf eine Schulaufgabe vorbereiten.«

»Das fängt ja gut an«, meinte Melissa. »Lügen haben kurze Beine.«

»Lügst du denn nie?«

»Jetzt hast du mich erwischt,« gestand sie. »Ich habe meinen Eltern erzählt, dass ich meine Freundin Veronika treffe. Ich würde mit ihr »Französische Konversation« für die Abi-Prüfung vorbereiten. Um Ausreden sind wir nicht verlegen«, lachte sie. »Wie ist es dir beim Singen von Mackie Messer gegangen?«

Alex: »Das ist eine schöne Passage, die sich Brecht da ausgedacht hat: Man sieht nur die Zähne des Haifischs, doch das Messer sieht man nicht. Der Haifisch ist wenigstens ehrlich.«

»Wieso?«, fragte Melissa. »Der Haifisch will mit seinen scharfen Zähnen einen guten Fang machen, und Mackie will es auch. Beide schlagen gerne aus dem Hinterhalt zu.«

»So kann man das nicht sagen, Melissa. Es macht doch einen Unterschied, ob jemand seine Waffen offen im Gesicht trägt oder ein Bandit einen ahnungslosen Menschen in der Nacht umbringt. Mackie Messer schlägt aus dem Hinterhalt zu. Die Gier nach Geld treibt ihn an. Der Haifisch muss überleben. Mackie könnte sich auch durch ehrliche Arbeit über Wasser halten. Der Hai ist ein Fisch, wie ihn Gott geschaffen hat, aber Mackie Messer ist hinterhältig. Niemand zwingt ihn dazu, ein Verbrechen zu begehen. Der Hai jagt die Beute, um zu überleben, aber Mackie will sich bereichern.«

»Stimmt«, gab Melissa zu. Insgeheim bewunderte sie Alex wegen seiner klugen Worte.

»Und wie ging es dir bei dem Gesang von Polly?«

»Ich konnte mich in Polly gut einfühlen. Erst beschreibt sie, was sie alles nicht möchte, und dann wünscht sie sich einen Kerl, der sich um die Etikette einen Dreck schert. Genauso einen will sie. Vor ihm schmilzt sie dahin.«

»Glaubst du wirklich, Melissa, dass ich so einer bin? Bei dir sind wohl einige Sicherungen durchgebrannt, als es um die Hochzeit im Pferdestall ging. Bist du womöglich mit deinem Pferd verheiratet?«

»Alex, was soll das? Ich habe mich schon bei dir entschuldigt. Die Rolle von Polly hat mich begeistert, dann ist es eben passiert. Für ein paar Stunden hatte ich den Kopf verloren. Hast du so was beim Fußball noch nie erlebt? Ein Gegner foult dich, und du möchtest ihm am liebsten eine reinhauen. Rein logisch gesehen wäre das falsch, aber dein Gefühl sagt dir, dass du es tun solltest.«

»Das kenne ich«, sagte Alex. »Gefühl und Kopf, das sind eben zwei Paar Stiefel. Wenigstens bin ich beruhigt, dass du mich nicht im Pferdestall heiraten möchtest.«

Melissa fragte: »Warum hast du mich im Reiterhof besucht, und warum treffen wir uns hier am Storchenturm? Eigentlich wollte ich mit dir Liebesgedichte von Brecht lesen. Vor lauter Aufregung habe ich sie zu Hause liegen gelassen.«

»Also Melissa, wie konntest du nur das Wichtigste vergessen? Oder war es bloß ein Vorwand, um mich zum Storchenturm zu locken?« Alex grinste und näherte sich ihren Lippen. Melissa wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Alex strich ihr über das Haar und gab ihr einen zärtlichen Kuss.

»Alex«, flüsterte sie, »warum küsst du mich? Der Schiedsrichter hat dir das doch verboten. Du solltest dich an die Regeln halten.«

»Liebe Polly«, gab er zurück, »ich wusste, dass du nicht nein sagen würdest.« Eng umschlungen verweilten sie an einem Baum. Die Zeit verflog.

Melissa schaute auf die Uhr. »Meine Güte, ich sollte schon längst zu Hause sein. Meine Mutter hat womöglich bei meiner Freundin angerufen, weil sie sich Sorgen macht. Aber Veronika ist eingeweiht. Ihr wird schon eine passende Ausrede einfallen.«

Auch Alex schaute erschrocken auf seine Uhr. »Wahrscheinlich werkelt mein Vater noch am Gartenhäuschen herum. So, wie ich den kenne, findet der kein Ende, bis er tot umfällt.«

»Hoffentlich bist du nicht so wie dein Vater«, entgegnete Melissa.

»Also dann bis morgen, Polly, äh, Melissa.«

»Pass bloß auf, Mackie Messer, dass du nicht am Galgen landest«, rief sie ihm nach.

Melissa wurde von ihrer Mutter eindringlich gemustert. »Du warst aber heute sehr lange bei Veronika. Was ist mit deinem Kleid los? Sei bloß froh, dass der Vater schon schläft.« Dann strich sie ihrer Tochter über das Haar und schaute sie besorgt an.

»Jaja, die »französische Konversation« hat heute bei Veronika etwas länger gedauert. Zu dumm, dass ihr das Licht an der Gartentür ausgemacht habt. Ich bin mit dem Kleid an einem Baum hängen geblieben.«

»Jetzt aber schnell ins Bett, Melissa. Hoffentlich bist du morgen in der Schule wieder fit.«

»Kein Problem, Mama, ich habe heute meine Lektion gut gelernt.«

Frau Heidenreich lobte ihre Schüler. »Ich war sehr beeindruckt, wie gut ihr die Dreigroschenoper gespielt habt.«

»Was meinen Sie, Frau Heidenreich, warum hat die Seeräuber-Jenny den Mackie Messer an die Polizei verraten?«, fragte Jana.

»Das ergibt sich doch aus der Logik des Stückes«, erwiderte die Lehrerin. »Der skrupellose Mackie benutzt die Frauen, die ihm gerade nützlich sind. Die Jenny durchschaut ihn und rächt sich für die verschmähte Liebe.«

»Das leuchtet mir ein«, erwiderte Jana.

Melissa hatte das Gefühl, dass die Botschaft eigentlich an Alex ging.

Jana fragte ihn in der Pause: »Wann spielt ihr gegen die Holzhausener Mannschaft?«

»Am Sonntagnachmittag.«

»Prima!«, erwiderte Jana. »Dann bin ich am Sonntag auf dem Fußballpatz und drücke euch die Daumen.«

Melissa bedauerte, dass sie am Sonntag am Turnierreiten teilnehmen musste. Sie hätte Alex und seine Mannschaft gerne angefeuert. Sie tröstete sich: »Auf mehreren Hochzeiten kann ich nicht gleichzeitig tanzen.«

Jana trug am Sonntagnachmittag eine rote Fußballkappe mit dem Emblem der Mannschaft. Sie feuerte die Burschen aus Lahr an. Alex erntete beim ersten und zweiten Tor großen Jubel. Der Sieg war perfekt. Jana eilte nach dem Abpfiff auf das Spielfeld und beglückwünschte ihn zu den Toren. »Alex, du hast eine große Karriere als Fußballer vor dir. Ich wusste gar nicht, dass du mit dem linken und dem rechten Fuß gleich gut draufhalten kannst.«

»Nicht umsonst hat mich der Trainer als Stürmer aufgestellt«, sagte Alex.

Jana umarmte ihn. »Alex, kommst du am nächsten Samstag zu meiner Geburtstagsfeier? Ich habe ein paar Leute eingeladen. Das wird bestimmt eine coole Party.«

»Warum nicht?«, sagte Alex. »Es wäre schön, wenn ich auch noch ein paar Jungs aus unserer Mannschaft mitbringen dürfte.«

»Na klar, bring alle mit, euren Trainer Gerd werde ich höchstpersönlich einladen.«

Am Samstagabend erwartete sie ungeduldig ihre Gäste. Janas Mutter hatte sich ins Zeug gelegt und ein reichhaltiges Büfett vorbereitet. »Jetzt lernst du auch noch die Jungs aus dem Fußballverein kennen. Alex, Franz und der Trainer sind auch dabei«, sagte sie zu ihrer Mutter.

»Wenn sie sich gut benehmen«, antwortete die Mutter, »habe ich nichts dagegen. Ich wusste gar nicht, dass du dich für Fußball begeisterst.« Jana lachte. »Oder interessierst du dich vor allem für die Jungs vom Fußballverein? Aber denk daran, die Abiturprüfung steht vor der Tür. Wenn du dich verliebst, kriegst du nichts mehr in deinen Kopf rein.«

»Mutter, mit achtzehn bin ich erwachsen. Du willst mir doch keine Vorschriften machen, oder?«

»Ja, mein Kind, du bist jetzt erwachsen. Vorschriften habe ich dir noch nie gemacht. Du hast alles im Griff und bist bestimmt nicht auf den Kopf gefallen. Lebenserfahrung musst du selber sammeln. Im Sexualkundeunterricht hast du hoffentlich gut aufgepasst.«

»Mutter, bitte, was soll das?«

»Nichts für ungut, Jana. Als damals deine Großeltern aus dem Sudetenland geflüchtet sind, haben wir vor allem ums Überleben gekämpft. Sie waren froh, dass sie wenigstens mich durchgebracht haben. Mein älterer Bruder hat die Flucht nicht überlebt. Jahre später haben mich meine Eltern mit deinem Vater verkuppelt. Sie hatten für mich den passenden Mann ausgesucht. Aber ich war damals nicht unglücklich. Schwamm drüber. Heutzutage redet man von Liebe, wir mussten seinerzeit ans Überleben denken.«

»Willst du für mich auch einen Mann aussuchen?«, empörte sich Jana.

»Gott bewahre. Lass es gut sein. Wir wollen an deinem achtzehnten Geburtstag keine Probleme wälzen, sondern ihn mit deinen Freunden feiern.«

Allmählich trudelten die Gäste ein. Alex gratulierte Jana. Sie trug an ihrem Festtag ein weißes Faltenröckchen mit einem eng anliegenden roten Shirt. Passend dazu trug sie ihre roten Turnschuhe. Ihr blondes Haar hatte sie mit einer Strohblume geschmückt.

»Meine Herren«, sagte die Mutter, »langen Sie bitte kräftig zu. Ich hoffe, dass Sie ordentlich Appetit mitgebracht haben. Für die Fußballer habe ich extra gesunde Beilagen vorbereitet.«

Alex lächelte Janas Mutter zu: »Danke für die überraschende Einladung. Es sind eine Menge Leute hier, die ich noch nicht kenne. Jana hat heute sogar die ganze Fußballmannschaft eingeladen.«

»Alex, wir kennen uns doch. Ich habe dich schon mal im Schulchor gesehen. Jana hat mir von dir erzählt. Anscheinend bist du nicht nur ein begnadeter Sänger, sondern auch noch ein ausgezeichneter Fußballer. Nur keine Umstände, Alex.« Sie reichte ihm die Hand: »Du kannst mich ruhig »Gerlinde« nennen. Ich hasse es, wenn alles so förmlich zugeht.« Sie lächelte Alex an.

Alex und sein Fußballteam sangen ein »Happy Birthday« für das Geburtstagskind. Jana war überglücklich. Alex überreichte ihr einen bunten Blumenstrauß. Artig bedankte sich Jana und tauschte mit ihren Gästen unzählige Küsschen aus. Sie beglückwünschte Alex noch einmal zu dem glorreichen Sieg am letzten Sonntag.

»Du hast doch die Sache mit der Seeräuber-Jenny nicht persönlich genommen?«

Alex schüttelte lachend den Kopf: »Warum sollte ich, es ist doch nur ein Theaterstück. Und außerdem, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, bin ich nicht auf der Flucht vor der Polizei und suche bei dir keinen Unterschlupf.«

»Ich würde dich niemals verraten, Alex.« Dabei schaute sie ihm tief in die Augen und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Habe ich dir schon erzählt, dass ich im Tischtennisverein spiele?« Alex schaute sie verwundert an. »Wir trainieren immer donnerstags. Du könntest doch mal bei uns vorbeischauen. Das Training ist bestimmt auch für Fußballer gut. Wir sind flink auf den Beinen und müssen blitzschnell reagieren. Merkst du was? Das Tischtennisspiel ist eine wunderbare Ergänzung zum Fußball.«

»Das klingt gut«, meinte Alex.

»Wir beide sind sogar im gleichen Sportverein, im TSV Lahr«, fügte Jana hinzu. »Wir haben im Tischtennisverein zu wenige Männer. Aber versteh das bitte nicht falsch. Kannst du Tischtennis spielen? Wenn du mit mir üben möchtest, könnten wir das auch auf unserer Terrasse machen. Wir haben eine Tischtennisplatte mit viel Platz.«

»Tischtennis habe ich früher mal gespielt, im Park auf einer Steinplatte. Der Franz hat mich meistens geschlagen. Der hat so trickreich gespielt, dass ich zum großen Teil mit dem Ballaufheben beschäftigt war. Das Schöne war, dass ich beidhändig spielen konnte. Wenn es mir langweilig wurde, habe ich den Schläger einfach in die linke Hand genommen. Dann hat sich Franz nur noch die Augen gerieben. Er wusste nicht mehr, auf welcher Seite der Ball landen wird.«

»Alex, du bist ein Genie. Ich freue mich auf unser erstes Match. Kannst du auch einen Schmetterball hinüberziehen?«

»Und ob«, erwiderte Alex. »Aber das ist nicht meine Stärke.«

»Und die wäre?« »Das Schneiden liegt mir besser. Der Ball taumelt, wenn er auf deiner Seite landet.«

»Er taumelt?«

»Ja, im Bruchteil einer Sekunde musst du den Schläger unter den Ball schieben und ihn schnell zurückpfeffern.«

»Kannst du mir das mal zeigen?«

»Wie soll ich dir das zeigen? Wir stehen hier nicht an der Tischtennisplatte!«

»Also stell dir vor, ich bin der Ball, ich lande auf deiner Seite, ich taumle, und du schiebst blitzschnell den Schläger unter mich.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Alex.

Wie vom Blitz getroffen schwankte Jana, gleich darauf taumelte sie. Was blieb Alex übrig? Er fing sie mit seinen Armen auf.

»Danke, Alex, du hast mich gerettet.«

»Du bist ganz schön raffiniert!«, stöhnte Alex.

»Alex, du bist wirklich gut, deine Reflexe funktionieren bestens. Gratulation, ich wäre ohne dich ins Bodenlose gefallen.« Sie gab ihm ein Küsschen. »Oh, Alex, ich bin sehr gespannt auf unser Spiel. Meine Mutter hätte bestimmt nichts dagegen, wenn wir bei uns auf der Terrasse üben.«

Alex zögerte: »Na ja, ich komme erst mal am Donnerstag bei euch im Sportverein vorbei.«

»Alex!«, rief seine Mutter am Sonntagvormittag. »Was ist los? Wir warten auf dich. Bitte steh endlich auf.« Seine Schwester Amely warf ihm am Frühstückstisch verächtliche Blicke zu.

»Hast du gestern bei der Superparty von Jana zu viel gebechert?«

»Lass mich in Ruhe«, zischte er zurück. »Du solltest dich lieber um deine Angelegenheiten kümmern. Schau dich mal im Spiegel an. Du siehst einfach scheiße aus.«

Fast wäre ihm Amely an die Gurgel gesprungen.

»Ruhe!«, schrie der Vater. »Müsst ihr euch immer angiften? Wenigstens am Sonntag möchte ich meine Ruhe von euch beiden haben.«

Stumm schaufelten Alex und Amely ihr Müsli in sich hinein.

Wenig später verzog sich Alex in sein Zimmer. Gedankenverloren ließ er die letzten Tage an sich vorüberziehen.