ALLTAG WAR GESTERN - Kurt Bauer - E-Book

ALLTAG WAR GESTERN E-Book

Kurt Bauer

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Der Buchautor und Filmemacher Kurt Bauer beschreibt in diesem Tagebuch die Corona-Krise und was das Corona-Virus mit seinem Leben macht. Der Stillstand ist alles andere als ein Stillstand. Erinnerungen, Erlebnisse von früher kommen hoch und mischen sich in das Jetzt. Impressionen vom Filmemachen, Corona-Kommunikation, Alltag, Neues, Altes wird gelebt, parallel dazu schreitet die Corona-Zeit fort. Ein Interview mit einem Fachmann, familiäre Turbulenzen, Informationen aus den Medien, Träume, Internetkriminalität. Ein buntes Corona-Leben macht den Lesenden neugierig darauf, was eigentlich mit dem eigenen Leben in dieser Zeit passiert ist. Am Ende des Filmtagebuches sind in einer Filmliste 13 DOKU Filme, in denen die Leserinnen und Leser im KURT BAUER YOUTUBE KANAL schmökern können. Ein Buch, das unterhält, das nachdenklich macht, das Positives aufzeigt, das Lust auf Zukunft macht.

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Seitenzahl: 234

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Kurt Bauer

ALLTAG WAR GESTERN

WIE DAS CORONA-VIRUSUNSER LEBEN AUF DENKOPF STELLT

Paperback ISBN

978-3-347-10983-4

Hardcover ISBN

978-3-347-10984-1

e-book    ISBN

978-3-347-10985-8

© 2020 Kurt Bauer

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Vei tung und öffentliche Zugänglichmachung.

Liebe Leserin! Lieber Leser!

Mein Name ist Bauer Kurt. Für mich ist die Corona-Krise etwas ganz Großes. Die Welt steht still. Das kleine Corona-Virus macht es möglich. Ich bin 73 Jahre alt und gehöre zur Risikogruppe. Vieles habe ich schon erlebt, aber das nicht. Ich sage ganz ehrlich, ich bin fasziniert von dem Virus. Klein, unsichtbar, und doch steht jetzt die Welt still.

Ich mache das, was die Politik vorgegeben hat. Ich bin zu Hause geblieben und habe mir einen neuen Alltag geschaffen. Ich habe mich entschleunigt und begonnen, Tagebuch zu schreiben. Manchmal hielt ich dabei Zwiesprache mit der Natur. Dieses kleine Ding aus der Natur erzählt uns ganz große Sachen. Es will gehört werden.

Ich bin Filmemacher. Die Corona-Krise hat mich immer wieder mit Erinnerungen in Berührung gebracht, mit Erlebnissen, die ich gefilmt und in meinem Archiv wiederentdeckt habe. Die Filme werden im Buch vorgestellt, Sie können sie auf meinem YouTube Kanal „Kurt Bauer Film“ kostenfrei ansehen. Ich stelle Ihnen die Filme am Ende des Buches vor.

In diesem Buch erzähle ich, von meinen Erlebnissen und Erfahrungen während der Corona-Krise.

Herzliche Grüße,

Kurt Bauer

Tagebucheintragung 13.03.2020

DER STILLSTAND DER WELT

Wenn mir jemand vor drei Wochen gesagt hätte, dass sich am 13. März 2020 mein Leben auf den Kopf stellen werde, hätte mir das nur ein Lachen gekostet. Aber so geht es derzeit sicher vielen Menschen. Bis hierher hatte ich eine gesunde Distanz zum Geschehen. Diese Distanz begann nun zu bröckeln.

In den Schlagzeilen der Krone und der Salzburger Nachrichten war Folgendes zu finden: Corona-Virus in Italien als „dunkelste Stunde“: Revolten in Gefängnissen; - Corona-Virus: Konzerte, Reisen oder Schule: Was wird abgesagt?; - Universitäten und Schulen werden in Österreich ab Montag geschlossen; - Merkel zu Corona-Virus: „Wir sind gewillt, alles zu tun, was notwendig ist“; - Kanzler Kurz schließt die Grenzen zu den Nachbarländern; - 504 bestätigte Fälle in Österreich, 6 genesen, 1 Todesfall, 6.582 getestet. Stand: 13. März 2020, 14.00 Uhr; - Risikogruppen: Es sind vor allem ältere Menschen ab 60 und Personen mit schwachem Immunsystem und schweren Vorerkrankungen gefährdet, schwerer an Covid-19 zu erkranken als junge und gesunde Menschen.

Als weitere Beiträge finde ich: Fußballmatches werden (noch) vor menschenleeren Hallen ausgetragen. - Flüge werden eingestellt. - Menschen können nicht mehr in ihre Heimat zurück, weil es keine Reisemöglichkeit mehr gibt. - Regale in den Supermärkten zunehmend leer. - Quarantäne in Österreich. - Das alles stürzt auf mich ein, als ich die Zeitungen lese. Nüchtern und emotionslos stelle ich fest, dass sich hier etwas ereignet, das ich zuvor noch nie erlebt habe.

Ein lebendiger gesellschaftlicher Organismus wird Schritt für Schritt abgeschaltet. Die Folge ist Stillstand und Leere. Die gesamte Gesellschaft geht in einen Ruhemodus. Einen Nicht-Begegnungszustand. Abstand verhindert die weitere Ausbreitung des Corona-Virus. Weil das, so sagt man, die einzige Möglichkeit ist, das Corona-Virus an seiner Verbreitung zu hindern. Einige lebenswichtige Funktionen in dem gesellschaftlichen Organismus bleiben aufrecht. Supermärkte sind geöffnet und immer wieder wird betont, dass es genug Nahrungsmittel gebe und keine Hamsterkäufe notwendig seien. Hier zeigt sich, dass es eine Gegenkraft gibt. Angst und Panik machen sich breit. Hamsterkäufe werden wider alle Vernunft getätigt, und enormer Unsinn wird in den sozialen Medien verbreitet.

Auch für die Einreise nach Österreich gibt es neue Bestimmungen: Alle Menschen, die nach Österreich hereinkommen, müssen ihre Bereitschaft bekunden, sich 14 Tage lang in häusliche Quarantäne zu begeben. Es heißt: „Wenn Sie Fieber oder andere Symptome haben, gehen Sie nicht zum Arzt und auch in keine Ambulanz, sondern rufen Sie bitte die Nummer 1450 (telefonische Gesundheitsberatung) an. Hier bekommen Sie Hilfe und Auskunft. Ein Ärzteteam kommt dann zu Ihnen, um festzustellen, ob Sie mit Corona-Virus infiziert sind.“

Die wichtigste aller Hygienemaßnahmen ist Händewaschen. Immer und immer wieder wird wiederholt: Gründlich Händewaschen! Das alles spielt sich vor meinen Augen im Fernsehen ab und hat etwas von einer Fiktion an sich. Es ist nicht meine Realität.

Erst als ich dann in den Supermarkt einkaufen gehe, keinen Parkplatz finde und vor leeren Regalen stehe, wird mir bewusst, dass das, was ich aus den Medien kenne, real ist. Es ist keine Fiktion mehr, es ereignet sich jetzt und hier. Und das fährt mir in den Magen. Habe ich bisher so etwas wie eine neutrale Zone um mich gehabt, merke ich nun, dass meine Distanz bröckelt und ich mehr und mehr in dem Geschehen mittendrin bin. Unangenehm, ziemlich unangenehm fühlt sich das an.

Um 14.30h treten Bundeskanzler Kurz, Gesundheitsminister Anschober und Innenminister Nehammer vor die Presse, um die nächsten Maßnahmen im Kampf gegen das Corona-Virus bekanntzugeben. Der Kanzler sagt: „Um die Verbreitungskurve des Corona-Virus zu verflachen, Zeit zu gewinnen und unsere betagten Mitbürger*innen zu schützen, treten ab Montag folgende Maßnahmen in Kraft: Ab Montag schließen Bars, Restaurants und Geschäfte jeweils um 15 Uhr. Supermärkte, Apotheken, Spitäler, Banken und Drogerien bleiben offen. Schulfrei ist ab Montag. Bitte bleiben Sie vernünftig. Um unsere betagten und älteren Mitbürger*innen zu schützen, ist es notwendig, auf die Begegnung von Omas und Opas mit ihren Enkelkindern zu verzichten. Bitte keine Kinderbetreuung durch die Großeltern, denn sie sind die größte Risikogruppe. Schützen wir sie. Auch Sie selbst werden aufgefordert, Ihre Sozialkontakte zu reduzieren, als Selbstschutz. Denn das Virus hat die Eigenschaft, bei schweren Vorerkrankungen in allen Altersgruppen möglicherweise ein Multiorganversagen hervorzurufen. Ältere brauchen besonderen Schutz! Jetzt ist der Zusammenhalt der Generationen gefragt!“

Der Rest verschwimmt vor meinen Augen. Ich bin immens erschüttert. Mir rinnen die Tränen über die Wangen. Ich bin 72 Jahre alt. Ich bin Filmemacher, Autor und habe eine Redaktion im FS1 TV-Sender Salzburg. Rundherum bin ich gut ausgelastet und habe viele gute Kontakte und schöne Aufgaben.

Das alles ändert sich heute. Ich gehöre zur Risikogruppe. Was mich unmittelbar trifft, ist: Der Staat schützt mich. Ich werde mich auch schützen, für meine Frau, meine Kinder und meine Enkelkinder. Ich erlebe mich heruntergebremst. Stillstand. Alles steht.

Der Rest des Nachmittags gehört der Gestaltung und Organisation der nächsten Zeit. Soweit man sie überblicken kann. Mit meiner Frau und meinem Sohn, der mit uns lebt, machen wir Pläne, und wir organisieren unser Leben. Was muss noch alles gekauft werden? Apotheke, Arztbesuch und Gespräche mit Nachbarn und Projektpartnern. Ich schreibe E-Mails und beende laufende Projekte, telefoniere mit Kolleg*innen, sage Vereinbarungen ab. Freunde, Freundinnen und unsere Kinder sind uns dankbar, dass wir unseren Selbstschutz ernst nehmen. Der Rest des Abends ist voll mit Sondersendungen über die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus.

Eines ist mir klar, wir sind in einer Situation, die wir noch nie gehabt haben. Ein kleiner Virus, der die Welt anhält und mir das Fürchten lehrt. Denn ich wusste nicht, wie verletzlich ich bin.

Tagebucheintragung 15.03.2020

DAS HERZSTÜCK

Am nachfolgenden Morgen. Die Nacht war, … naja, ich habe ziemlich geschwitzt und meinen Pyjama zweimal umgezogen, weil er durchnässt war. Vieles ist mir durch den Kopf gegangen. Was wird sein, wenn …. Aber ich fühle mich erstaunlich gut ausgeschlafen.

Ich habe einmal von einem Experten gelesen, dass alt sein keine Frage der Jahre sei, sondern der Einstellung zum Leben. Wesentlich sei nicht so sehr die Frage „Wie lange lebe ich?“, sondern „Was hält mich lebendig, und wofür brenne ich?“. Leidenschaft ist mein Markenzeichen. Ich bin leidenschaftlich gerne Filmemacher. Die Fülle meiner Erlebnisse und Erfahrungen, bedingt durch meine Filmarbeit in Indien, Nepal, Ungarn und Rumänien sowie durch meine Reisetätigkeit in die Türkei, nach Amerika, und Ägypten, macht mich satt und zufrieden. Es ist für mich eine ungeheure Einschränkung, dass ich nicht weiß, ob einige Reisen, die ich im Juli und Oktober machen wollte, möglich sein werden. Dass ich nicht einfach meinen Sohnes Johannes, seine Frau und ihre Tochter Lilli in Linz besuchen kann. Obwohl wir das momentan ganz gut mit dem Handy und seiner Videofunktion kompensieren. Lilli liebt es leidenschaftlich, mit der Kamera zu telefonieren. Diese Art der Kommunikation klappt auch mit meiner Tochter Sarah in der Stadt Salzburg sehr gut. Schwerer wiegt, dass einige Filmaufnahmen, die schon von langer Hand vorbereitet waren, vom Corona-Virus „abgemurkst“ wurden. Das tut mir weh.

Aufgaben wie Ordnung zu schaffen und manches durchzumustern, werden ihren Platz finden. Naja, aber das ist irgendwie öde, es entfacht meine Leidenschaft nicht. Der Idee der Verlangsamung des Lebens kann ich nicht viel abgewinnen. Dass die Sicherung meines Lebens und das meiner Frau und meines Sohnes an erster Stelle steht, ist mir klar. Aber dann? Dann stehe ich da und schaue beim Fenster hinaus?

Zum alten Eisen zähle ich mich noch lange nicht, und ich habe mich entschieden, meiner „häuslichen Quarantäne“ aktiv zu begegnen.

Nach einem morgendlichen Frühstück mit weichem Ei, Schwarzbrot, Frischkäse und dem ausgiebigen Studium der Tageszeitung ist mir klar, dass das Zu-Hause-Bleiben ein national angesagtes Programm für die nächsten drei Wochen sein wird. SCHÜTZ DICH, BLEIB ZUHAUSE! Zunehmend wird mir bewusst, dass ich in nächster Zeit eine Menge Zeit zur Verfügung haben werde. Meine Frau hat schon verkündet, dass sie einen gründlichen Wohnungsputz machen wird, und dann stehen ja einige Dinge im Garten an. Bei mir sieht das anders aus.

Was mir auffällt, ist, dass im gegenwärtigen Moment klare Handlungsstrukturen im staatlichen Ablauf umgesetzt werden. Damit bin ich einverstanden. Wir sind das „Team Österreich“, wie der Innenminister Karl Nehammer zu sagen neigt. Eines habe ich verstanden, dass mir auf Grund meines Alters eine Rolle zugewiesen wurde, nämlich die des Stubenhockers! Meine erste Idee war, mich beim Zivildienst zu engagieren. Als ich das meinem erwachsenen Sohn Bernhard erzählte, meinte er knapp: „Du bleibst daheim, Papa!“ - „Zu alt?“ fragte ich. „Nein“, sagt er, „Risikogruppe!“ Fazit: Stubenhocker und Risikogruppe.

Normalerweise neige ich dazu, beim Filmen mitten im Geschehen zu sein. Letztes Jahr im Oktober war ich Nagpur, Indien2, wo ich unter anderem in den Slums filmte und mittendrin war. Es war eine heftige Erfahrung. Der Schmutz, das Elend und die Menschen, die diesen Bedingungen ausgesetzt sind, setzten mir heftig zu. Aber in keinem Fall hatte ich Angst davor, mich mit irgendetwas anzustecken.

Dieses Mal gehöre ich zur Risikogruppe, und zum Selbstschutz bin ich in häuslicher Quarantäne. Gut, ich bin natürlich Realist und weiß, dass ich mir nichts Gutes tue, wenn ich mich nicht daran halte. Dazu kommt, dass in den letzten Jahren bei mir ein Diabetes Typ 2 festgestellt wurde, wodurch ich zusätzlich zu den besonderen Risikogruppen zähle. Dann fällt mir noch ein, dass ich früher immer wieder eine Lungenentzündung hatte, was meine Beunruhigung noch erhöht. Risiko für Risiko türmt sich aufeinander und ich sehe mich im Geiste schon an einem Multiorganversagen sterben. Es ist so etwas wie eine vorgezeichnete innere Realität, der ich mich nicht entziehen kann. Ziemlich deprimierend. Gut, dass ich rechtzeitig eine Patientenverfügung gemacht habe.

Ich entschließe mich, eine langjährige Freundin anzurufen und ihr von meinem Dilemma zu erzählen. Dass ich zum nutzlosen Daheimbleiben verurteilt bin und ohnehin ganz sicher eine Covid-19-Infektion nicht überleben werde, und zwar wegen eines Multiorganversagens. Ich gehe davon aus, ein wenig Mitgefühl und Anteilnahme zu erhalten. Aber es kommt anders. Nach der Schilderung meiner Lage habe ich noch keinen Atemzug gemacht, als Christine schon durch das Telefon faucht: „Spinnst du jetzt völlig? Du weißt NICHTS! Sorry, aber warum wirfst du dein Leben schon im Kopf weg? Das nennt man self-fulfilling-prophecy. Du warst in den Slums ohne Gummihandschuhe und Desinfektionsmittel. Ohne Schutz. Jetzt ist das anders. Ersten schützt du dich, und zweitens weißt weder du noch ich, wie sich die Infektion bei dir auswirken würde. Stell dir vor, man kann sie auch überleben! Und übertreibe ja nicht mit deinen Vorerkrankungen. Du hast 17 Kilo abgenommen und deinen Blutzucker schon über lange Zeit hinweg im Normbereich gehalten. Die letzten fünf Jahre hattest du gar nichts an der Lunge, bis auf ein bisschen Reizhusten ab und zu. Du bist fit und aktiv, und nichts weist darauf hin, dass du demnächst das Zeitliche segnest. Ja, natürlich kannst du theoretisch am Corona-Virus auch sterben. Aber es ist nicht die einzige und nicht die wahrscheinlichste Option. Was in dir gerade grassiert, ist ein anderes `Virus`, nämlich das des irrationalen Denkens!“ - Ich bin platt! Warum faucht sie mich so an? Es ist eben, wie es ist! Oder doch nicht? Zaghaft mache ich noch einen Versuch und will mich durch die Statistiken absichern, die ich aus den Medien parat habe. „Ab 70 Jahren sollen zirka 30 Prozent der Erkrankten …“ – Ich werde unterbrochen: „Seit wann unterwirfst du dich einer Statistik? Und dann noch dazu, um die Aussage gegen dich zu richten? Und was ist mit den anderen 70 Prozent, die wieder genesen?“ - Endlich löst sich bei mir der Panzer der negativen Vorstellungen, ich fühle mich wachgerüttelt. Christine hat recht, das ist ein völlig verrücktes Denken. Das passt im Grunde nicht zu mir, kritisches Denken ist eigentlich meine Stärke. Ich distanziere mich entschieden von der Fiktion der self-full-filling-prophecy und atme erleichtert auf.

Nach dem Telefonat lese ich die Zeitung weiter und muss schmunzeln, als ich auf einen Bericht des Robert-Koch-Instituts stoße, das herausgefunden hat, dass stabile Zuckerwerte bei Diabetes mellitus Typ 2, wie sie bei mir vorliegen, kein Risiko für einen schweren Verlauf einer Corona-Infektion bedeuten. Das entspannt mich.

Zudem habe ich eine neue Idee. Da ich derzeit keinen DOKU-Film machen kann, könnte ich doch ein DOKU-Buch schreiben. Meine Begeisterung ist entfacht. Noch dazu ist mir ja das Handwerkzeug der Schriftstellerei nicht fremd. Ich spiele in Gedanken: Ich könnte ein DOKU-Tagebuch schreiben, wie das Corona-Virus mein Leben, mein Umfeld, meine Beziehungen in der Familie und mit Freunden verändert. Ich würde das Virus in den Blick nehmen und erzählen, was es alles bewirkt, statt gebannt wie eine Maus vor der Schlange zu stehen.

Ich setze mich also mit meiner Buch-Idee näher auseinander. Wird der Stoff für eine Geschichte reichen? Ich will keine Aufzählungen machen, die niemanden interessieren. Drifte ich ab in das Ereignislose? Was ist, wenn es nichts zu erzählen gibt? Mein Anspruch ist, von dem zu berichten, wo niemand hinschaut. Ich merke, dass ich derzeit noch keine Orientierung habe. Was bewegt mich selbst dabei, und wie stehe ich diese Zeit durch, oder auch nicht?

Das Buchprojekt macht für mich plötzlich Sinn und hat etwas Kribbliges. Die Idee elektrisiert mich. Wenn es nicht klappt, kann ich ja einfach aufhören. Solange ich es nicht veröffentliche, weiß niemand davon, so lasse ich mir eine Hintertüre offen. Ich entscheide mich, das DOKU-Tagebuch zu schreiben.

Tagebucheintragung 21.03.2020

Heute hatte ich keinen guten Morgen. Um 6: 00 Uhr kam unsere schwarze Katze ins Bett und stakste auf mir herum. Ich reagierte nicht. Die Katze stolzierte quer über das Bett zu meiner Frau, um dort das Gleiche zu tun. Normalerweise ist unsere Katze weich, sanft und anschmiegsam, aber in Ausnahmefällen, wie heute, ging sie mir auf die Nerven, und ich erlebte ihre Annäherungsversuche als Herumtrampeln. Ich reagierte nicht, zog mir die Decke über den Kopf und hoffte, dass sie aufgibt. Also wandte sie sich mit aller Konsequenz meiner Frau zu und machte deutlich, was sie wollte. „Steh auf, gib mir etwas zu fressen, mach dann die Türe auf und lass mich hinaus!“ Irgendwann, nachdem ich mich ausreichend lange totgestellt hatte, stand meine Frau Ingrid verärgert auf. Sie schimpfte, fragte mich ungehalten, warum ich tat, als ob mich das nichts anginge, und kümmerte sich dann um Sunny, so heißt unsere schwarze Katze. Im Nachhinein muss ich sagen, dass sie recht hatte.

Wie gesagt, ich hatte keinen guten Morgen, und Sunny hatte meine Laune auch nicht verbessert. Ich entschied mich, endlich aufzustehen.

Ich habe mir ein Morgenritual zurechtgelegt. Aufstehen, duschen gehen, rasieren mit Steppen. Das muss man sich so vorstellen: Ich habe einen Stepper, den ich benütze, während ich mich etwa fünf Minuten lang rasiere. Es ist wie Stiegen steigen. Das klappt hervorragend. Danach mache ich noch einige gymnastische Übungen, um den Körper in Schwung zu bringen, Kniebeugen und Anderes. Anschließend kommen Frühstück und Zeitunglesen an die Reihe. Und danach entscheide ich meist erst, was ich an diesem Tag machen möchte.

Ich genieße mein Frühstück und bekomme Erstaunliches zu lesen. Die Kanäle in Venedig sind wieder sauber, unzählige Fische tummeln sich darin. Delphine sollen in Sardinien wieder zu sehen sein. In China hat die Smogbelastung abgenommen, und die Menschen brauchen keine Staubmaske mehr. Corona lässt Mutter Natur aufatmen!

Daneben gibt es erschütternde Nachrichten über die Verbreitungszahlen des Virus COVID-19 in Italien, Spanien und jetzt auch bei den Briten.

Eine Krone-Meldung schlägt bei mir ein: Todernst ist die Lage nicht nur in Italien, sondern auch bei uns. Christian W. (50), ein bislang kerngesunder Manager in der Nähe von Wien, erzählt von seinem zweiwöchigen Kampf mit seiner Corona-Virus-Infektion. „Man kämpft, bekommt keine Luft, es fühlt sich an, als ob der Brustkorb brennt. Husten, husten und wieder husten. Im Spital keine Gesichter, nur Masken. Man stirbt alleine, weil dich niemand besuchen darf. Ich Zimmer daneben musste ich den Todeskampf eines Patienten mitanhören: Zwei Tage Stöhnen, dann hat er aufgegeben …“. Am Sonntag wird der Mann aus dem Spital entlassen. Er ist auf dem Weg der Besserung, aber noch sehr geschwächt.

Ich bin geschockt.

Dennoch, es gibt auch Zeichen der Hoffnung. Die Kurve der Neuinfizierten in Österreich flacht ab. Mit heutigem Datum von 40 auf 21 Prozent. Bei 3.611 Covid-19-Infizierten gibt es 16 Todesfälle. Erstaunlich wenig. Nahezu niemand aus der Risikogruppe. Anders in Italien und Spanien.

Ich beende meine Presseschau und entscheide mich für mein heutiges Tagesprogramm. Ich will in meinem Büro abstauben und darüber hinaus, was ich schon lange vor mir hergeschoben habe, auch „ausmisten“! Die Corona-Krise hat mich eine gute Selbst- und Gedankendiszplin gelehrt, daher grüble ich nicht länger herum und begebe mich ins Büro. Eigentlich ist das Aussortieren mein Job, das Abstauben übernimmt meine Frau. Sie sieht, dass mir das Ganze schwerfällt und unterstützt mich. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, alles ist so überladen mit Erinnerungen, es gibt kaum Platz und ich fühle mich eingeengt. Wie soll ich das schaffen, und wohin mit allem? Ich habe keine Ahnung mehr, was sich da alles im Kasten verbirgt. Irgendwie gibt mir der vertraute Kram Sicherheit, es ist ja auch jede Menge emotionale Verbundenheit mit den Dingen mit dabei. Andererseits hat sich Vieles überlebt. Ich beginne bei den leichten Sachen, nehme sie in die Hand, tauche noch einmal ein in die Erinnerung und gebe sie in eine Schachtel. Manches zeige ich auch meiner Frau, und wir tauschen gemeinsam Erinnerungen aus. Aber es kommt einiges zusammen, das ich wirklich gut loslassen und abschließen kann. Mein Zimmer wird luftiger, die aussortierten Sachen lagern im Nebenraum. Für heute mache ich Schluss. Ich fühle mich, als ob ich schwere körperliche Arbeit geleistet hätte. Und weinerlich, leer, depressiv. Ich habe vertraute Dinge weggegeben und spüre mich wie in einem Entzug. Doch ich stehe dazu, es ist gut so.

Ich nehme die Quarantäne zu Hause als Chance und werde heute an meinem Buchprojekt „Als die Welt stillstand“ weiterarbeiten. Mittlerweile ist mir klar, dass das Buchschreiben einem „Marathonlauf“ ähnelt. Wie bei den Filmen beginne ich auch hier mit dem Materialsammeln, Sichten und Auswählen. Ich erzähle alles aus meiner Perspektive. Wie eben auch beim Filmen. Das ist mein Markenzeichen. Allerdings wiegt das Buchprojekt die Verluste der Filmarbeit nicht auf. Ich sitze am Trockenen. Das Corona-Virus stellt mein Leben auf den Kopf. Einsam fühle ich mich derzeit nicht, aber leer.

17.0 Uhr. Wir, das sind meine Frau, mein Sohn Bernhard und ich, machen etwas Uraltes. Etwas, das lange in Vergessenheit geraten ist und das wir vor vielen Jahren, als die Kinder noch klein waren, leidenschaftlich gemacht haben. Spielen! Wir wählen „Das Neue Alpen DKT“, eine Variante des DKT mit Finten und Überraschungen. Diese Spielart mildert den kapitalistischen Gedanken deutlich. Das Ende ist nicht dann, wenn man pleite ist, sondern wenn man die Schuldscheine, die man zu Spielbeginn bekommt, so schnell wie möglich an die Bank zurückverkaufen kann.

Ich bin richtig gespannt, wie es uns geht und stelle fest, dass es uns gefällt. Morgen spielen wir wieder. Ein schöner Zeitvertreib, und das ist das Gebot der Stunde. Das ist ausbaufähig.

 

2 Den Film „ARMUT IST BESIEGBAR – Wege aus Diskriminierung und Sklaverei in Indien“ können Sie auf Kurt Bauer Youtube Kanal sehen. (Siehe Filmliste am Ende des Buches.)

Tagebucheintragung 22.04.2020

DAS CORONA-VIRUS MACHT SICHTBAR

Wie schon erwähnt, hat es wirklich eine Weile gedauert, bis ich zum Betroffenen in der Corona-Krise wurde. Zu Hause habe ich mich inzwischen organisiert. Aber ich musste realisieren, dass eine halbes Jahr Vorarbeit für geplante Filmtätigkeiten verloren ist.

Für September hatte ich meine Zweiten Salzburger Armutsfilmtage geplant mit meinem neuen DOKU-Film „Der Kampf gegen die Armut“ (Untertitel: Der Weg aus der Armut und dem Kastensystem in Indien.). Ich habe keine Ahnung, wie das gelingen soll. Außerdem wollte ich Gäste aus Indien einladen, die meine Hauptdarsteller*innen im Film waren. Die Erstaufführung in Indien wird im Oktober sein. Das könnte sich ausgehen. Einnahmen bleiben aus, und von der finanziellen Situation brauche ich nicht zu reden. Nach der Krise werden meine Partner sicher nicht als Erstes daran Interesse haben, mit mir einen Film zu machen. Ich weiß momentan nicht weiter. Ich muss meine finanzielle Basis ausbalancieren.

Das tut mir richtig weh. Ich habe einen Entzug, vermutlich wie viele andere Menschen derzeit auch. Bewegungsbeschränkung, Kontaktentzug, Arbeitsentzug, Wirkungsentzug, Gewohnheitsentzug. Ich stecke in einer emotionalen Ohnmacht. Corona macht mir das sichtbar. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Ich fühle mich kaltgestellt.

Tagebucheintragung 24.03.2020

Wie schon gewohnt, steht heute Aufräumen weiter am Programm. Zuerst kommt der Fußboden an die Reihe. Den will ich gründlich saugen. Hat geklappt. Jetzt beginne ich mit dem Aussortieren. Dazu muss ich jedes Ding, jedes Buch, jedes Kabel, uralte Manuskripte und lieb gewordene Erinnerungen aus einer Schachtel herausnehmen, begutachten, meist abstauben und dann entsorgen oder einem neuen Platz zuordnen. Hier spießt es sich, wenn ich mich davon trennen soll.