Als mich meine Einsamkeit wachküsste - Regina Böhringer Kunz - E-Book

Als mich meine Einsamkeit wachküsste E-Book

Regina Böhringer Kunz

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Beschreibung

Wann gilt eine Geschichte als gelungen und abgeschlossen? Im vorliegenden Band finden sich spannende Lebensfragmente, die in ihrer Handlung weitergeschrieben werden könnten. Bei den Protagonisten handelt es sich oft um Menschen, die meistens nicht alltagstauglich sind: Entweder haben sie ein schweres Schicksal erlitten und suchen deshalb ihren Platz in der Gesellschaft, oder sie führen ein skurriles, unorthodoxes Leben in einer einsamen Welt. Solche Figuren und deren Lebensläufe interessieren die Autorin. Sie regen sie dazu an, alltägliche Begebenheiten mit sensiblen Fühlern wahrzunehmen, zu beleuchten und deren Entwicklung schreibend gewähren zu lassen. So entstand in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von Prosawerken, die gelesen werden und zum Nachdenken anregen möchten.

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In tiefer Dankbarkeit E. S. und C. D. gewidmet, deren moralische und praktische Unterstützung es erst ermöglicht haben, dieses zweite Buch entstehen zu lassen.

Regina Böhringer Kunz, geboren 1964, ist schon ihr Leben lang mit dem Schreiben verbunden. Alltägliche Begebenheiten beschäftigen die Autorin oft und veranlassen sie infolgedessen, das Erlebte in Kurzgeschichten modulierend weiterzuspinnen – als eigenen Verstehens- und Verarbeitungsprozess … Nach dem Roman «Familienbande reissen nicht» wartet die Autorin in ihrem zweiten Buch mit einer Sammlung von berührenden Kurzgeschichten auf. Regina Böhringer Kunz arbeitet als Heilpädagogin und wohnt in Aesch / BL (CH).

Inhalt

Als mich meine Einsamkeit wachküsste

Wiedersehen

Was mir lieb ist

Lebenssturz

Die geheimnisvolle Frau

In der sonnigen Schweiz

Ausgerechnet …

Harte Stösse

Luc

Katrin

Ein schöner, gemütlicher Sonntag

Begegnung

Arm wie eine Kirchenmaus

Der Alltag ist grau

Mein Schutzengel

Unter täglicher Routine verborgen

Das Haus gegenüber

Kinderaugen

Ein Versager

Bonzos Sohn

Ein schwerer Schritt

Ellida und der Fremde

Kein Leben für Erika

Fern sein

Junge Schwangerschaft

Gegen mein Kind

Entwachsen

An meinem Bett

Die Ankunft

Vaterverlust

Ein entscheidendes Ereignis

Der innere Monolog

Ich mag keine Äpfel

Aus der Distanz

Mike in einer mutigen Aktion

Alt-Regierungsrat Brodbeck verstorben

Ein letztes Aufbäumen

War doch eigentlich mein Verdienst

Eine schmerzvolle Umarmung

Tote Liebe

Ableben

Als mich meine Einsamkeit wachküsste

Es war nicht immer so. Ich war nicht stets so einsam. Erst seit einigen Wochen. Oder vielleicht Monaten, gar Jahren? Die Einsamkeit kam schleichend, stellte sich langsam ein. Zunächst nahm ich sie kaum wahr. Dann verdrängte ich sie. Dann wurde sie immer fordernder und mühsamer. Irgendwann konnte ich sie nicht mehr ignorieren, nicht mehr mit Gewalt auf die Seite schieben. Sie nahm einfach Besitz von mir und verdammte mich zur Untätigkeit. Ich kann nicht kreativ arbeiten, wenn ich mich einsam fühle. Ich kann meine freien Tage nicht nutzen, wenn sich die Stille bedrohlich über mich legt. Und genau so geschah es. Manchmal ertappte ich mich beim Lesen von Kleinanzeigen in der Zeitung. Für besondere Angebote im Supermarkt begann ich mich plötzlich zu interessieren. Dabei spürte ich stets diese belastende Leere, die sich auf mich zu legen schien.

So nahm alles seinen Anfang. Zunächst verdrängte ich die untrüglichen Zeichen, redete mir ein, dass ich mich in einem kreativen Loch befände, aus dem ich schnell wieder herausfinden könnte; versuchte mir vorzutäuschen, dass ich aus dieser untätigen Zeit Neues und Besseres entwickeln würde, gleichsam einer Fahrt durch einen Tunnel, der beängstigend wirken mochte, auf dessen anderer Seite aber die Sonne mit strahlendem Wetter lockte. So würde es mir ergehen. Ich musste einfach Geduld haben und am Ball bleiben. Den Glauben an mich nicht verlieren. Dann würde es wieder aufwärtsgehen. Doch noch während ich diesen Gedanken nachhing, stellten sich bereits Zweifel ein. Es ist schwierig, sich selbst Mut zuzusprechen und sich selbst zu motivieren, wenn man überhaupt nicht weiss, wohin dieses Leben führen soll, dem immer mehr der Elan fehlt.

Ich war jetzt 36 Jahre alt. Meine Biografie stand vor einem Wendepunkt in diese oder jene Richtung. Alles war noch offen. Vielleicht lähmten mich diese verschiedenen Möglichkeiten. Vielleicht war es der Wunsch, über mich selbst hinauszuwachsen. Vielleicht hatten meine einstigen Ziele durch das Älterwerden ihren Reiz und ihre Anziehungskraft verloren. Vielleicht hatte ich mich aber auch so sehr innerlich gewandelt, dass meine bisherigen Routinen ihre Bedeutung eingebüsst hatten. Was war nur los? Ich wollte mein altes Lebensgefühl zurück. Es war doch gut gewesen. Es hatte doch gepasst.

Früher hatte es mich nicht gestört, meinen Weg allein zu gehen. Ich war unabhängig, stark, selbstbewusst. Entschied sich einmal ein Partner, mich auf meinem Pfad ein wenig zu begleiten, empfand ich diese Gemeinsamkeit als willkommene Abwechslung. Nicht, dass ich sie gebraucht hätte. Ich akzeptierte die Vertrautheit und Zuneigung emotionslos, wenig engagiert, abwartend. Die Nähe zu einem Mann war mir angenehm, aber nicht notwendig. Trennten sich unsere Wege dann wieder, war das für mich kein Drama. Manchmal sogar eine Erleichterung. Denn danach fühlte ich mich befreiter und wie neu geboren; meist entstand eine ungeheuer intensive, kreative Phase daraus.

Aber in den letzten Wochen und Monaten drückte mir etwas aufs Gemüt, auf mein Wohlbefinden, auf meine Gesundheit. Und dieses Unbekannte wurde mit jedem Tag, jeder qualvollen schwarzen Nacht schwerer, lästiger, bedrohlicher. Es war die Einsamkeit, die mich plagte, strangulierte, mir den Atem nahm. Zunächst bemerkte ich diese Bedrohung kaum. Sie schlich sich aufleisen Sohlen in mein Denken, in mein Fühlen und Handeln. Ich versuchte, sie zu verdrängen; aber mit der Zeit stand sie so fest auf ihrem Sockel vor und in mir, dass ich nicht anders konnte als hinzuschauen: Ich fühlte mich einsam, und mein Leben hatte all seinen Glanz, seine Bestimmung verloren. Ich musste etwas unternehmen! Die befreiende Idee kam über Nacht: Eines Morgens stand ich auf und wusste, was ich zu tun hatte. Wie gewohnt, begann ich meinen Tagesablauf mit Duschen, Frühstücken, Ankleiden. Danach verliess ich die Wohnung – nahm aber nicht nur meine Handtasche mit, sondern auch einen Rucksack, in den ich einige ungewöhnliche Utensilien packte. Im Tram fühlte ich mich bereits anders. Der Rucksack erinnerte mich an meine Studentenzeit. An diesem Tag glaubte ich, dass mich die Mitpassagiere im Tram besonders musterten. Mehr als sonst. Oder war ich einfach sensibler und aufnahmefähiger, was die Reaktion der Leute anging? War ich nicht einfach sehr aufgeregt und empfand deshalb die Fahrgäste und ihre Beziehung zu mir anders?

Im Büro angekommen, warf ich den Rucksack unter meinen Schreibtisch, in die hinterste Ecke, so dass ich ihn zwar mit meinem Fuss berühren konnte, er aber für die anderen unsichtbar und versteckt blieb. Je länger der Arbeitstag dauerte, umso mehr spürte ich eine aufkommende Erregung in mir. Wann hatte ich mich das letzte Mal so lebendig gefühlt?

Auf dem Weg ins Theater beschlich mich ein eigenartiges Gefühl. Ich würde mich unter Dutzende von Interessenten mischen, die sich darum beworben hatten, für einen Werbespot im Bikini oder im Badeanzug an einer improvisierten Strandpromenade wie Sardellen in einer Dose zu posieren. Unlängst hatte ich dieses Inserat in der Zeitung überflogen. Normalerweise entsorge ich Gelesenes sofort. Aber eigentümlicherweise schnitt ich die Anzeige aus, legte sie auf den Küchentisch und las sie jeden Morgen und jeden Abend genau durch. In den Nächten träumte ich dann manchmal von meinem nackten Körper – und so führten mich meine Schritte nun Richtung Stadttheater. Ich war aufgeregt.

Am Empfang erklärte mir eine blondgefärbte Mitvierzigerin, dass ich mich in der Garderobe am Ende des langen Korridors umziehen könne. Meine Beine wurden sehr schwer, als ich den Weg beschritt. War es richtig, was ich hier tat? Konnte ich mir in meiner Position erlauben, als bikinitragender Dosenfisch für einen Nahrungsmittelkonzern Werbung zu machen? Klar konnte ich auf meinen schlanken Körper immer noch stolz sein. Aber hier und da gab es Stellen, die sich brutal und ehrlich den Weg Richtung Alter schlugen.

Auf dem Weg zur Bühne fühlte ich mich unsicher. Es gab allerdings auch ältere Semester, die sich auf dieses Experiment einliessen. (Waren auch sie auf der Suche nach etwas Besonderem in ihrem Leben? Nach einem neuen Kick? Einer neuen Richtung?) Neben ihnen fühlte ich mich ausgesprochen wohl. Nicht aber bei den jungen Girls mit ihren makellosen Bodys, die sie gerne zur Schau trugen. In meinem Empfinden gab es jedoch überhaupt keine Frauen, deren Körper nicht ansehnlich waren. Auf ihre Weise waren sie alle schön. Die wenigen anwesenden Männer liessen mein Selbstwertgefühl nicht gerade ansteigen. Ich war für sie unsichtbar. Ihre Augen hingen an den jungen Frauen. Oder bildete ich es mir nur ein? War ich hergekommen, um einen neuen Partner kennenzulernen? Meine Motivation sank auf einen Tiefpunkt. Am liebsten wäre ich verschwunden. Aber das ging nun nicht mehr.

Wir wurden gebeten, uns willkürlich hinzulegen, ineinander verstrickt, über- und untereinander, so dass unsere Körper einem gewebten Netz entsprachen. Anfänglich war es kein Problem. Im Gegenteil: Ich war froh, mich in der Masse verbergen zu können. Aber mit der Zeit begann es unangenehm zu werden. Aufgrund unserer kargen Bekleidung spürte ich den Schweiss und den Atem meiner älteren Nachbarin auf mir. Ich hatte mich schnell zu ihr gesellt, als es darum ging, einen geeigneten Platz in der Vielkörperstruktur zu finden. Nun entpuppte sich dieser Platz als unangenehm. Daneben spürte ich den zarten Duft einer jungen Mitdarstellerin. Ihre Begeisterung faszinierte mich. Ihre jugendliche Ausstrahlung verdeutlichte mir schmerzlich mein bereits fortgeschrittenes Alter. Anstatt mich als wertvollen Teil eines grossen Ganzen zu erfahren, fühlte ich mich plötzlich unzulänglich, wertlos, lächerlich. War ich am Morgen noch in einer radikalen Aufbruchstimmung gewesen, so empfand ich mich jetzt völlig fehl am Platz.

Den Nachhauseweg erlebte ich sehr aufgewühlt. Zwar war es mir gelungen, eine neue, ungewohnte Erfahrung zu machen, aber gleichzeitig verstärkte sich der Eindruck der ausgesonderten Einsamkeit. Überfordert, verloren und auf mich zurückgeworfen, beschloss ich, freundlicher und verständnisvoller mit mir und meinem eigentlich guten Leben umzugehen. Vielleicht könnte ich es ja doch noch einmal mit jemandem liebevoll teilen; vielleicht lohnte es sich doch, auf den für mich vorgesehenen Prinzen zu warten. Meine gemeine innere Stimme, die mir etwas anderes zuflüsterte und mich auszulachen schien, ignorierte ich einfach!

Wiedersehen

Mit gemischten Gefühlen steuerte Michael seinen Wagen durch den dichten Stadtverkehr. Er war ein wenig aufgeregt, aber auch ein wenig verunsichert. Bald würde er Margareta wiedersehen. Margareta, seine grosse Jugendliebe. Bilder tauchten vor ihm auf. Glückliche Bilder – traurige Bilder. Er versuchte, sie zu unterdrücken. Eigentlich hatte er gar nicht kommen wollen. Aber Mark, sein Freund, hatte so lange auf ihn eingeredet, bis er gar nicht anders konnte, als endlich zuzusagen. Nun also fuhr er zum Klassentreffen.

Er kannte das Restaurant noch vage. Mit Margareta war er vor ein paar Jahren dort gewesen, kurz vor der Abiturfeier – was einer halben Ewigkeit entsprach. Danach ass er nie mehr in dem Lokal. Zu stark war der Schmerz. Warum Mark das Treffen ausgerechnet hier abhalten wollte, wusste er nicht. Es fühlte sich gleichzeitig reizvoll und eigenartig an.

Als er das Restaurant betrat, klopfte sein Herz. Er schalt sich dumm und ärgerte sich über sich selbst. Warum konnte er seine Emotionen nicht einfach abstellen? So tun, als stünde er über der ganzen Sache? War sie schon da?

Kaum hatten ihn die ersten ehemaligen Schulkameraden erblickt, gab es fröhliche Begrüssungsrufe. Einige Frauen kamen angerannt und küssten ihn auf die Wange. Er fühlte sich so unsicher! Wo war sie? Er spürte ihre Anwesenheit. Hatte sie ihn beobachtet? Nur mit Mühe konnte er sich auf die oberflächlichen Unterhaltungen einlassen. Obwohl das Abitur erst zehn Jahre hinter ihm lag, musste er bei einigen Personen eine Weile überlegen, bevor er ihre Namen über die Lippen brachte.

Und dann erblickte er sie: Margareta sass am Tisch und nippte gerade an ihrem Apéroglas. Bei ihrem Anblick begann er zu zittern. Eine so heftige Reaktion hatte er nicht erwartet. Als er ihr mit bleichem Gesicht und blutleeren Gliedern die Hand drückte und dabei eine schale Begrüssung murmelte, sah er, dass sein Namensschild neben ihrem stand. Er fühlte sich erleichtert und empfand gleichzeitig Wut in sich. Was hatte sich Mark da nur gedacht?

Der ganze Abend verlief schleppend. Er spürte ihre starke Präsenz neben sich. Wenn er ein paar Worte mit ihr wechselte, befürchtete er, alle sähen ihm sein unnatürliches, gehemmtes Verhalten an. Von den geselligen Unterhaltungen und Spässen der anderen bekam er nicht viel mit. Erst nach ein paar Gläsern Wein – normalerweise trank er nicht so viel – begann er sich lockerer zu fühlen.

Er spürte wieder diese Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte und immer schon ausgeübt hatte. Er sah sie wieder vor sich, mit knapp 20, nach durchzechter Nacht, als sie nackt neben ihm schlief. Sie hatten sich geliebt, und er konnte nicht aufhören, sie anzustarren. Er war überglücklich. Doch am anderen Tag war sie fort. Nur ein Zettel lag dort, wo vor kurzem noch ihr warmer Körper gelegen hatte: «Es war schön, aber es war ein Fehler! Ich ziehe heute weg …» Danach versuchte sie ihm mit ein paar Zeilen zu erklären, dass sie sich auf ihr Studentenleben fern der Heimat freue und deshalb keine Zukunft mit ihm sehe. Das war es dann. Sein Traum – eben erst begonnen – zerbrach! Und mit ihm auch etwas in ihm!

Als sich die heitere Gesellschaft endlich auflöste – viel hatte er von dem Abend gar nicht mitbekommen – , war er dermassen betrunken, dass er sein Auto stehen lassen musste. Margareta hakte sich bei ihm ein, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Er spürte ihre Wärme, ein wohliger Schauer durchfuhr dabei seinen Körper.

Sanft zog sie ihn aus dem Restaurant. Zuvor musste er noch unzählige Hände zum Abschied schütteln und verschwitzte Wangen küssen. Sah er da ein Zwinkern in deren Augen? Er war froh, als er endlich im Taxi sass. Sein Kopflehnte jetzt an ihrer Schulter. Er genoss es, obwohl ihm alles sehr unwirklich erschien.

Als er zum ersten Mal erwachte, spürte er ihren nackten Körper und ihren flachen Atem neben sich. Es dauerte eine Weile, bis er realisierte, was geschehen war. Wie vor zehn Jahren drückte er sie fest an sich und starrte sie einfach an. Eine Glut von Leidenschaft ergriff ihn.

Beim zweiten Erwachen musste er zuerst seine Gedanken ordnen, bis er bemerkte, dass er sich in einem Hotelzimmer befand. Auf seinem Kopflastete eine bedrohliche Schwere. Doch – was viel schlimmer war – die Stelle neben ihm war leer. Wo war Margareta? Lag da nicht ein Zettel? «Nicht schon wieder!», hämmerte es in seinem Kopf. Mit zittrigen Händen las er die Notiz:

«Lieber Michael. Es war ein Fehler, …» Er konnte kaum weiterlesen. Handelte es sich da um ein Déjà-vu? In seiner Brust spürte er einen stechenden Schmerz, dennoch zwang er sich dazu, den Text bis zum Ende zu lesen. «Es war ein Fehler, dass ich vor zehn Jahren einfach aus deinem Leben verschwunden bin. Sofern es möglich ist, möchte ich mit dir nochmals da beginnen, wo wir aufgehört haben! Ich warte unten im Restaurant.»

Schnell zog er sich an und rannte die Treppe hinunter in den strahlend hellen Frühstücksraum. Sein Herz hüpfte dabei aufgeregt, seine bleierne Schwere und Müdigkeit waren verschwunden.

Was mir lieb ist

Wenn ich den Leuten erzähle,

dass du meine stete Begleiterin bist,

eine, auf die ich nicht verzichten kann,

dann schütteln sie oft den Kopf.

Du trägst nicht den Charakter

der ständigen Begleitung in dir,

und doch hast du für mich diese Funktion.

Eine Art Hassliebe ist zwischen uns entstanden.

Ich hasse dich,

weil ich dich brauche,

weil ich ohne dich nicht leben kann.

Ich liebe dich,

weil nur du mir den Genuss verschaffen kannst,

den ich frühmorgens zur Ankurbelung

meines Lebens brauche.

Also pflege ich dich,

weil du mir wertvoll bist.

Ich zerstöre dich,

weil du dich zu sehr in meinem Leben eingenistet hast.

Ich vergöttere dich,

dann demütige ich dich.

Ich lobe dich,

dann kritisiere ich dich mit den gröbsten Worten.

Doch du stehst nur still und lässt

all diese Gefühlsausbrüche über dich ergehen.

Du weisst, dass du Macht über mich hast

und dass ich dich nie verlassen werde,

weil ich dir hörig bin.

Und so soll es auch bleiben …

Lebenssturz

In meinem Alter ziehen viele Menschen eine Zwischenbilanz über ihr Leben. Wie lange habe ich noch? Bin ich zufrieden mit dem Erreichten? Soll es so weitergehen? Will ich etwas verändern? So könnten die Fragen lauten, nach deren Antworten sie suchen. Ganz anders erging es einem ehemals guten Freund. Mit jedem Lebensjahr wuchs eine dicke, fette Schicht gepolsterter Distanziertheit, mit der er seinen Mitmenschen signalisierte: Lasst mich in Ruhe!

Egon, mein Kumpel aus früheren Zeiten, mied vermehrt die Gesellschaft, wurde wortkarg, introvertiert und ungepflegt. Seiner Beschäftigung ging er jeden Tag lethargisch nach. Ich traf ihn manchmal im Tram, das ihn in die Nähe seines Büros führte, wo er Schadensfälle zu bearbeiten hatte. Wenn er mich sah, zuckte er leicht mit den Mundwinkeln. Ich erwiderte den kargen Gruss mit einem leichten Hochziehen der Augenbrauen. Mit ihm eine kleine Konversation zu führen, das hatte ich schon vor Jahren aufgegeben.

Bei solchen Treffen beschlich mich meist ein eigenartiges Gefühl: Stand ich tatsächlich einem früheren Verbündeten gegenüber, mit dem ich nun nicht einmal mehr ein Alltagsgespräch führen konnte? Wie sehr uns doch das Leben verändert und auf den unterschiedlichen Entwicklungswegen entfremdet hatte! Aus guten Freunden waren höfliche, distanzierte Fremde geworden.

Die geheimnisvolle Frau