Als unsere Herzen fliegen lernten - Iona Grey - E-Book
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Als unsere Herzen fliegen lernten E-Book

Iona Grey

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Beschreibung

Er versprach, sie ewig zu lieben. Doch selbst die Ewigkeit kennt manchmal ein Ende ...

1943, London: In der Ruine einer zerbombten Kirche trifft der amerikanische Pilot Dan Rosinski die junge Engländerin Stella Thorne. Es ist der Beginn einer unaufhaltbaren, aber unmöglichen Liebe, denn Stella ist verheiratet, und Dans Chancen, den Krieg zu überleben, sind mehr als gering. In einer Zeit, in der alles ungewiss ist, schreiben sie sich Briefe, um an dem festzuhalten, woran sie glauben: ihre Liebe. Viele Jahrzehnte später rettet sich eine junge Frau in ein leerstehendes Haus in einem Londoner Vorort. Da erreicht sie ein Brief, der sie in die Geschichte einer Liebe hineinzieht, die ein halbes Jahrhundert überlebt hat …

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Seitenzahl: 682

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Iona Grey

Als

unsere Herzen

fliegen

lernten

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Anja Hackländer

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Letters to the Lost« bei Simon & Schuster, London.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text

enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt

der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten.

Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss.

Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2016 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Iona Grey

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Getty Images; Tetra Images; www.buerosued.de

Redaktion: Sabine Thiele

ES · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-16205-4V001

www.blanvalet.de

Für meine Töchter

Prolog

Maine, Februar 2011

Am Morgen erstrahlt das Haus in voller Pracht.

Er hat es eigens so entworfen, mit großen, breiten Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichen, um den Sand und das Meer und den endlos weiten Himmel hereinzulassen. Morgens ist der Strand leer und rein, ein weißes Blatt, auf das die Ereignisse des Tages erst noch geschrieben werden. Der Sonnenaufgang über dem Atlantik ist ein tägliches Wunder, das er voller Dankbarkeit betrachtet.

Es hätte ganz anders kommen können.

In seinem Haus gibt es keine Vorhänge oder Gardinen – nichts, was den atemberaubenden Blick beeinträchtigen könnte. Die Wände sind weiß gestrichen und reflektieren die Farbe des jeweiligen Lichts: blass perlmuttfarben oder rosa wie das Innere einer Muschel oder wohlig warm und golden wie flüssiger Honig. Er schläft nicht mehr viel und ist meist schon wach, wenn die einsetzende Morgendämmerung sich über den Horizont breitet. Manchmal schreckt er unvermittelt hoch, als hätte ihm jemand auf die Schulter geklopft, so wie damals.

Lieutenant, es ist 4.30 Uhr. Sie fliegen heute …

Ein Kreis schließt sich. Der Finger, der ihn an die beschlagene Scheibe zeichnet, nähert sich dem Ausgangspunkt. Jenem Punkt, an dem alles begann. Die Erinnerungen sind seine ständigen Begleiter, erfüllt von leuchtenden Farben und lebhaften Stimmen. Die frühen Morgenstunden einer vergangenen Ära. Der Geruch von Öl und heißem Metall. Der schwermütige, urtümliche Donner der Maschinen auf dem Rollfeld. Ein rotes Band auf einer Landkarte.

Gentlemen, Ihr heutiges Ziel lautet …

All das liegt weit zurück. Ein ganzes Leben. Es ist Teil der Vergangenheit. Doch diese ist noch nicht vorbei. Das rote Band erstreckt sich quer über den Ozean vor seinem Fenster bis ins ferne England jenseits des Horizonts.

Der Brief liegt neben ihm auf dem Nachttisch, zwischen mehreren Tablettenschachteln und sterilen Nadeln. Die vertraute Anschrift erscheint ihm so bedeutungsschwer wie ein Gedicht. Ein Liebeslied. Er hat den Brief zu lange hinausgezögert. Jahrelang hat er versucht, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, und zu vergessen, wie sie hätten sein sollen. Doch nun, da seine Tage und Kräfte schwinden, spürt er, wie aussichtslos dieser Versuch war und ist.

Was er damals zurücklassen musste, ist das Einzige, was wirklich zählt. Die entblößten Felsen unter der zurückweichenden Flut. Und darum hat er diesen Brief geschrieben. Er kann es kaum erwarten, ihn endlich auf die Reise zu schicken. Eine Reise in die Vergangenheit.

1

London, Februar 2011

Es war ein attraktiver Londoner Stadtteil. Respektabel. Vermögend. Die Boutiquen längs der kleinstädtischen Hauptstraße waren allesamt geschlossen, doch ihr eleganter Charakter war nicht zu übersehen. Es gab unwahrscheinlich viele Restaurants, deren hell erleuchtete Scheiben an riesige Breitbildfernseher erinnerten. Die Gäste hinter den Fenstern waren zu höflich, um von ihren Tellern aufzublicken und der jungen Frau hinterherzustarren, die da über den Bürgersteig rannte.

Und das keineswegs aus Gründen der Fitness – mit bunter Funktionskleidung, Kopfhörern und entschlossenem Blick –, sondern panisch und verzweifelt, mit rutschendem Minirock, der ihre Unterwäsche entblößte, während ihre halb nackten Füße auf ölige Pfützen trafen. Ihre Schuhe hatte sie im Pub liegen lassen. Damit wäre sie garantiert nicht weit gekommen. Plateauschuhe mit Stilettoabsatz – die Ketten und Stahlkugeln des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

An einer Straßenecke blieb sie keuchend stehen. Ihr gegenüber lag eine kleine Ladenzeile und daneben eine dunkle Seitengasse. Hinter sich hörte sie das donnernde Echo von Schritten. Sie stürzte hastig weiter, hinein in die schützende Dunkelheit. Am Ende der Gasse lag ein kleiner Innenhof mit mehreren Mülltonnen. Ein Flutlicht explodierte hoch über ihrem Kopf und enthüllte einen Haufen glitzernder Glasscherben und ein hohes Holztor, hinter dem sich eine Wildnis aus Büschen und Sträuchern erstreckte. Sie schlüpfte durch den Spalt und zuckte unwillkürlich zusammen, als ihre Füße statt auf Asphalt auf matschigen Erdboden trafen, der ihre nassen Nylonstrümpfe durchdrang. In einiger Entfernung erblickte sie den Schein einer Straßenlaterne. Das Licht bot ihr ein neues Ziel. Sie schob ein paar Äste beiseite und betrat eine schmale Sackgasse. Auf der einen Seite lagen mehrere Garagen und die Gärten großer Villen, auf der anderen vier bescheidene Reihenhäuser. Mit pochendem Herzen wirbelte sie herum. Wenn er ihr hierher folgte, gäbe es kein Versteck. Keine Zeugen. Hinter zugezogenen Vorhängen schimmerten die Fenster der umstehenden Häuser wie schlummernde Augen. Sie dachte flüchtig darüber nach, bei einem der Reihenhäuser anzuklopfen und auf das Mitleid der Bewohner zu hoffen, doch im selben Moment machte sie sich bewusst, wie sie mit ihrem durchnässten Minikleid und dem übertriebenen Bühnen-Make-up aussah, weshalb sie die Idee hastig verwarf und ziellos weiterstolperte.

Das letzte Haus in der Reihe lag vollständig im Dunkeln, der Vorgarten wirkte wild und verwahrlost. Wucherndes Unkraut kletterte an der abblätternden Haustür empor, und dichtes Gestrüpp drang von der Seite her auf das Haus ein. Die Fenster waren schwarz und leer; die trüben Scheiben verschluckten ihr Spiegelbild fast vollständig.

Wieder hörte sie das Geräusch trommelnder Schritte, die sich beharrlich näherten. Was, wenn die anderen ebenfalls nach ihr suchten? Was, wenn sie sich aus der entgegengesetzten Richtung näherten und sie in die Enge trieben? Der Gedanke ließ sie für einen Moment erstarren, doch ein heißer, stechender Adrenalinstoß trieb sie erneut an. In ihrer Verzweiflung schlüpfte sie zwischen der Hauswand und dem Gestrüpp hindurch in den finsteren Garten. Die Panik trieb sie voran, während ihre Füße über unsichtbare Äste stolperten. Ein ungewohnt moderiger Gestank schnürte ihr die Kehle zu. Irgendetwas schoss unvermittelt aus dem Gebüsch und streifte mit seinem struppigen Fell ihr Bein. Sie wich erschrocken zurück und knickte um. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Knöchel.

Sie ließ sich auf den feuchten Erdboden sinken und umklammerte ihr Fußgelenk, als könnte sie den Schmerz dorthin zurückpressen, wo er hergekommen war. Tränen schossen ihr in die Augen, doch im selben Moment hörte sie vor dem Haus Schritte und einen wütenden Ruf. Sie biss die Zähne zusammen und stellte sich vor, wie Dodge ihr unter der Straßenlaterne auflauerte, die Hände in die Hüften gestemmt, das Gesicht angriffslustig verzerrt, mit zusammengebissenen Zähnen und verengten Augen – wie immer, wenn er sich verarscht fühlte.

Mit angehaltenem Atem lauschte sie den Geräuschen. Die Sekunden bebten und dehnten sich vor Anspannung. Endlich hörte sie, wie sich die Schritte langsam entfernten. Alle Luft wich aus ihrer Lunge, und sie sank über ihren Knien zusammen, erschöpft vor Erleichterung.

Das Geld raschelte beruhigend in ihrer Tasche. Fünfzig Pfund. Sie hatte sich nur ihren eigenen Anteil genommen, nicht das gesamte Geld der Band, aber Dodge würde es trotzdem nicht gefallen. Er organisierte die Gigs, er kassierte das Geld. Sie schob eine Hand in die Tasche, um nach den wächsern abgegriffenen Scheinen zu tasten, und ein zaghaftes Gefühl von Triumph erwärmte ihr Herz.

* * *

Sie war noch nie in ein Haus eingebrochen. Es war überraschend einfach.

Das größte Hindernis war der völlig überwucherte Garten, bestehend aus einer dichten Hecke, stacheligem Brombeergestrüpp und hochgewachsenen Brennnesseln, den sie mit ihrem pochenden Fußgelenk durchqueren musste. Dagegen war die Glasscheibe in der Hintertür genauso dünn und zerbrechlich wie die Eisschicht auf einer Pfütze. Von innen steckte immer noch der Schlüssel in der Tür.

Die Küche war klein mit einer niedrigen Decke. Es roch klamm und muffig, als wäre das Haus lange Zeit verschlossen gewesen. Sie drehte sich langsam im Kreis und suchte nach irgendwelchen Spuren von menschlichem Leben. Auf der Fensterbank stand eine vertrocknete Grünpflanze, deren schrumpelige Blätter sich über der kargen Erde zusammenkrümmten. Aber an einem Regalbrett hingen mehrere saubere Tassen, und auf dem uralten Gasherd wartete ein Teekessel auf seine Benutzung, als könnte der Hausbewohner jeden Moment zurückkehren, um sich eine Tasse Tee zu kochen. Mit einem Mal überlief sie ein eiskalter Schauer, und ihre Nackenhaare sträubten sich.

»Hallo?«

Sie sprach laut und deutlich, mit einem vorgetäuschten Selbstvertrauen. Ihre Stimme klang fremd und ausdruckslos mit einem geradezu lächerlich nordenglischen Akzent. »Hallo, ist da jemand?«

Die Stille schien sie vollständig zu verschlingen. Getrieben von einem plötzlichen Geistesblitz, griff sie in ihre Jackentasche und zog ein billiges Feuerzeug hervor. Der zarte goldene Schein der Flamme konnte nicht allzu viel bewirken, aber er enthüllte ihr eine hell geflieste Wand, einen Kalender mit irgendeiner Burg und der Aufschrift »Juli 2009« und einen nostalgisch anmutenden Küchenschrank mit Vitrinenaufsatz. Sie humpelte vorsichtig einen Schritt weiter und griff hastig nach dem Türrahmen, als der Schmerz seine Klauen tiefer in ihr Bein grub. Im angrenzenden Esszimmer fiel der winzige Schein der Flamme auf einen Tisch unter dem Fenster und ein Sideboard mit zierlichen Porzellanfiguren, die vor einem unsichtbaren Publikum tanzten und knicksten. Ein schmaler Flur führte zu einer Treppe ins Obergeschoss. Sie blieb stehen und rief erneut in die Dunkelheit, diesmal ein wenig sanfter, als würde sie einen alten Freund besuchen.

»Hallo? Ist jemand zu Hause?«

Nichts als tiefes Schweigen und der subtile Duft eines altmodischen Parfüms, der ihr in die Nase stieg, als hätte sie die stille Luft irgendwie aufgeschreckt. Sie wusste, sie hätte sicherheitshalber nachsehen sollen, ob wirklich niemand zu Hause war, doch ihr schmerzendes Fußgelenk und die vollkommene Stille hielten sie zurück.

Im Wohnzimmer ließ sie die Flamme erlöschen, aus Angst, jemand könne das Licht von der Straße aus bemerken. Die fadenscheinigen Vorhänge waren halb vor das Fenster gezogen, aber das hereinfallende Licht der Straßenlaterne reichte aus, um ein durchgesessenes Sofa zu beleuchten, über dessen Rückenlehne eine bunte Häkeldecke in widerstreitenden Farben gebreitet war. Vorsichtig spähte sie aus dem Fenster, um nach Dodge Ausschau zu halten, doch der Schein der Straßenlaterne war ungebrochen und still. Sie ließ sich gegen einen Sessel sinken und atmete erleichtert aus.

Das Haus hatte offensichtlich einem älteren Menschen gehört, so viel stand fest. Der Fernseher war hoffnungslos klobig und altmodisch, vor dem zugenagelten Kamin stand ein elektrischer Heizstrahler, und hinter der Haustür hatte sich ein Stapel Post angesammelt, wie trockenes Herbstlaub, das vom Wind zusammengekehrt worden war.

Sie humpelte zurück in die Küche und drehte den Wasserhahn auf. Nachdem sie die ächzenden Rohre ein paar Sekunden lang durchgespült hatte, hielt sie die Hände unter den Hahn und trank aus ihren gewölbten Handflächen. Sie fragte sich, wem das Haus wohl gehörte und was aus demjenigen geworden war. Vielleicht war der Bewohner in ein Heim gekommen oder gestorben. Aber wenn jemand starb, wurde sein Haus doch entrümpelt, oder nicht? So war es zumindest bei ihrer Gran gewesen. Innerhalb einer Woche waren alle Kleidungsstücke und Bilderrahmen, Teller und Pfannen, eine beachtliche Sammlung von Porzellanschweinchen und sämtliche Überreste von Jess’ zerstörter Kindheit verpackt und entfernt worden, damit die Stadtverwaltung das Haus neu vermieten konnte.

Die Dunkelheit um sie herum war feucht und moosig, und trotz ihrer Kunstlederjacke breitete sich eine Gänsehaut über ihre Arme. Vielleicht war der Bewohner tatsächlich gestorben und nur noch nicht entdeckt worden? Irgendeine masochistische Vision, verstärkt durch die Dunkelheit und die Stille, führte ihr eine moderige Leiche vor Augen, die oben in einem Bett verrottete. Sie verjagte die grauenhafte Vorstellung und besann sich auf ihre Vernunft. Was war von einer Leiche schon zu befürchten? Sie konnte einen nicht bestehlen oder einem die Lippe blutig schlagen oder die Kehle zudrücken, bis man nur noch Sternchen sah.

Mit einem Mal fühlte sie sich hundemüde. Der pulsierende Schmerz in ihrem Fußgelenk strahlte auf den gesamten Körper ab. Erschöpft schleppte sie sich zurück ins Wohnzimmer. Sie ließ sich schwer aufs Sofa sinken und stützte den Kopf in die Hände, überwältigt von den Ereignissen der vergangenen Stunde.

Verdammt. Sie war in ein Haus eingebrochen. Es war alt und verwahrlost, aber trotz allem ein Haus. Sachbeschädigung und Einbruch waren keine Lappalien wie das Stehlen einer Chipstüte aus dem Tante-Emma-Laden, weil man nicht als asozial bezeichnet werden wollte, wenn man tagtäglich das kostenlose Kantinenessen aß. Das hier war eindeutig eine Nummer größer.

Andererseits war sie diesem verdammten Mistkerl endlich entkommen. Diesmal schlich sie nicht reumütig zurück zu ihrer gemeinsamen Wohnung in Elephant and Castle. Sie machte sich nicht erneut zum Opfer seiner notgeilen Lust, die ihn nach einer durchzechten Nacht überkam, wenn er sie in ihrem nuttigen Outfit singen sah, das sie ohnehin nur seinetwegen trug. Heute nicht und auch sonst nie wieder. Sobald es ihrem Fuß besser ging, würde sie sich einen Secondhandladen suchen und einen Teil ihres Geldes in anständige Kleidung investieren. Warme Kleidung. Sachen, die ihren Körper züchtig bedeckten, statt ihn wie eine billige Ware anzupreisen.

Erschöpft ließ sie sich in die verqualmten Sofakissen sinken und legte ihren schmerzenden Fuß auf die Armlehne. Sie fragte sich, wo Dodge wohl gerade steckte – ob er immer noch nach ihr suchte oder bereits in ihrer Wohnung auf sie wartete, überzeugt von ihrer baldigen Rückkehr. Angeblich brauchte sie ihn, wie er ihr dauernd einredete; sie brauchte seine Kontakte, seine Gigs, sein Geld. Was wäre sie schon ohne ihn? Ein Nichts. Ein nordenglischer Niemand mit einer Stimme wie tausend andere Möchtegernstars. Eine Stimme, die nie ein Mensch hören würde, wenn er sich nicht permanent für sie einsetzte.

Sie zog die Häkeldecke von der Rückenlehne des Sofas und deckte sich damit zu. Nach dem Adrenalinrausch fühlte sie sich matt und erschöpft. Im Grunde spielte es keine Rolle, wo der Typ gerade steckte, denn zum ersten Mal seit über einem halben Jahr war es ihr egal, was dieser Mistkerl wollte oder dachte oder fühlte.

Das fremde Haus lullte sie ein und umfing sie mit seiner Stille. Die Geräusche der Großstadt schienen seltsam fern, und der Verkehr auf der regennassen Hauptstraße klang wie ein gedämpfter Seufzer von plätschernden Wellen an einem abgelegenen Strand. Sie starrte in die Dunkelheit und begann leise zu summen, um die Stille einigermaßen in Schach zu halten. Die Melodie, die ihr unvermittelt in den Sinn kam, war nicht einer der Songs, die sie vorhin auf der Bühne gesungen hatte, sondern stammte aus ihrer Kindheit – ein Schlaflied, das Gran immer gesungen hatte, als sie noch klein war. An den Text konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber die Melodie berührte sie mit sanften Fingern, sodass sie sich nicht ganz so allein fühlte.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, strömte mattes Tageslicht durch die fadenscheinigen Vorhänge, und ein bleicher Himmelsstreifen leuchtete in dem schmalen Spalt dazwischen. Sie verlagerte das Gewicht, und ein beißender Schmerz schoss ihr ins Fußgelenk, als hätte jemand nur darauf gewartet, ihr mit einem Vorschlaghammer auf den Knöchel zu schlagen. Sie erstarrte, bis der Schmerz ein wenig nachließ.

Durch die Nachbarwand drangen Geräusche zu ihr herüber: das An- und Abschwellen von Radiostimmen, gefolgt von Musik und hastigen Schritten, die eine Treppe hinunterrannten. Sie setzte sich vorsichtig auf und biss die Zähne zusammen, als ihr verletzter Fuß den Boden berührte. In dem eisigen Badezimmer setzte sie sich auf den Toilettendeckel und schälte ihre zerrissene Nylonstrumpfhose herunter, um ihren Knöchel zu untersuchen. Er war kaum wiederzuerkennen, blau und geschwollen, ganz zu schweigen von ihrem schlammverschmierten Fuß.

Das Badezimmer besaß keinen modernen Luxus wie etwa eine gewöhnliche Dusche, nur eine schwere gusseiserne Wanne mit Rostflecken unter der Armatur und ein einfaches Waschbecken in der Ecke. An der Wand hing ein schmaler Spiegelschrank, den sie zögerlich öffnete in der Hoffnung, irgendetwas Nützliches darin zu finden. Die Ablagen waren voller zierlicher Fläschchen und Dosen, die aussahen wie aus einem Museum. Ihre verblichenen Etiketten zeugten von den Medikamenten einer vergangenen Epoche: Magnesiamilch, Tonerde, Hustensirup. Und inmitten jener Kuriositäten entdeckte sie einen Lippenstift mit goldener Hülle.

Sie griff danach und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her, ehe sie den Deckel abnahm und den Lippenstift vorsichtig herausdrehte. Er war rot. Scharlachrot. Wie Mohnblumen oder englische Briefkästen oder der Glamour vergangener Hollywoodstars. An der Spitze entdeckte sie eine sanfte Vertiefung, die sich den Lippen der Benutzerin angepasst hatte. Sie versuchte sich die alte Dame vorzustellen, die hier in ihrem schwarz-weiß gefliesten Badezimmer mit schimmelfleckigen Wänden gestanden hatte, um einen kühnen Hauch von Farbe aufzulegen, bevor sie zum Einkaufen oder vielleicht zum Bingo ging. Mit einem Mal verspürte sie einen Anflug von Neugier und Bewunderung.

Auf dem obersten Regalboden entdeckte sie einen vergilbten Verband, den sie zusammen mit einer Schachtel wasserlöslichem Aspirin in die Küche brachte. Sie nahm eine Tasse vom Haken und füllte sie mit Wasser, um zwei der Schmerztabletten darin aufzulösen. Währenddessen sah sie sich im Raum um. Im trüben Morgenlicht bot sich ihr ein ziemlich bedrückender Anblick, doch die drei Dosen im Regal mit der Aufschrift TEE, REIS und ZUCKER sowie das vernarbte Küchenbrett vor der Wand und die versengten Ofenhandschuhe an einem Haken neben dem Herd verbreiten einen fast heimeligen Eindruck. Die grüne Tasse in ihren Händen besaß einen schillernden Glanz, wie ein zarter Regenbogen auf einer Ölpfütze. Mit den Fingerspitzen fuhr sie sanft über die glänzende Oberfläche. So etwas in der Art hatte sie noch nie gesehen. Eigentlich echt hübsch. Kein Vergleich zu den fleckigen Billigtassen in ihrer Wohnung in Elephant and Castle.

Angewidert würgte sie die Aspirinlösung in zwei großen Schlucken hinunter, während ihr Hals gegen die süß-salzige Mischung protestierte. Dann brachte sie die Bandage ins Wohnzimmer, um ihren Knöchel zu verbinden. Urplötzlich wurde sie von einem musikalischen Pfeifen aufgeschreckt. Mit donnerndem Herzen unterbrach sie ihre Tätigkeit. Vor dem Haus näherten sich Schritte. Sie ließ den Verband fallen und richtete sich erschrocken auf, während sie ein Klopfen an der Tür erwartete oder, schlimmer noch, das Kratzen eines Schlüssels im Schloss …

Mit einem widerspenstigen Quietschen öffnete sich der rostige Briefschlitz. Ein cremefarbener Umschlag landete auf dem bunten Haufen von Handzetteln und Pizzamenüs.

Mrs. S. Thorne

4 Greenfields Lane

Church End

London

ENGLAND

Die Adresse war in tiefschwarzer Tinte geschrieben. Echte Tinte, nicht die eines Kugelschreibers. Die säuberliche Handschrift wirkte ausladend und elegant, doch zugleich ein wenig zittrig, als wäre der Absender schon alt oder sehr krank oder in Eile. Der cremeweiße Umschlag war leicht strukturiert und erinnerte sie an feines Porzellan oder Elfenbein.

Sie drehte ihn um. Fette schwarze Großbuchstaben forderten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

PERSÖNLICH und DRINGEND. Wenn nötig und möglich BITTE WEITERLEITEN.

Sie ging zum Kamin und lehnte den Umschlag an ein angeschlagenes Milchkännchen mit der Aufschrift »Souvenir aus Margate«. Vor dem Hintergrund der verblichenen Einrichtungsgegenstände wirkte das Kuvert ausgesprochen edel, rein und makellos.

Draußen ging die Welt ihren gewohnten Gang, doch in dem kleinen Haus schien die Zeit stillzustehen und sich endlos zu dehnen. Ihre anfängliche Euphorie, Dodge entkommen zu sein, wurde von Hunger und der beißenden Kälte rasch gedämpft. In einem Küchenschrank entdeckte sie ein paar Lebensmittelvorräte, einschließlich einer Rolle Ingwerkekse. Das Verfallsdatum war seit zwei Jahren überschritten, aber sie verschlang auf der Stelle die halbe Packung und musste sich zwingen, den Rest für später zu verwahren. Derweil fragte sie sich, wie es nun weitergehen, wie sie sich am besten verhalten sollte, doch ihre Gedanken drehten sich endlos im Kreis wie eine träge Schmeißfliege, die unermüdlich gegen dieselbe Scheibe flog.

Sie schlief wieder ein, tief und fest, bis der kurze Februartag sich dem Ende neigte und die Schatten auf den Spinnweben in den Ecken immer dichter wurden. Der Briefumschlag auf dem Kaminsims schien alles verbliebene Licht in sich aufzusaugen. Er leuchtete sanft und blass wie der Mond.

Anscheinend war Mrs. Thorne die ehemalige Bewohnerin des Hauses, doch warum war der Brief »persönlich und dringend«? Mühsam rappelte sie sich auf, um den gigantischen Papierstapel vor der Tür aufzulesen. In die Häkeldecke gehüllt, ging sie die Post der Reihe nach durch, um nach einem versteckten Hinweis zu suchen. Vielleicht ließen sich ja irgendwelche Rückschlüsse ziehen, was aus dieser mysteriösen Mrs. Thorne geworden war.

Die Post bestand zum überwiegenden Teil aus Werbezetteln für neue Fenster und Speisekarten von irgendwelchen Pizzataxis. Entschlossen ignorierte sie die Restaurantflyer mit ihren unnatürlich grellen und glänzenden Pizzen, die so groß waren wie Wagenräder. Inmitten der bunten Werbeflut entdeckte sie einen Gemeindebrief der All Saints Church, auf dessen Rand jemand den Namen »Miss Price« gekritzelt hatte. Darunter lagen mehrere dünne Kataloge für »Klassische Strickmode« und Flanellnachthemden, die ebenfalls an eine Miss N. Price adressiert waren.

Nirgends war die Rede von einer Mrs. Thorne.

Sie warf den Gemeindebrief zurück auf den Stapel und reckte ihren steifen Rücken. Ihre anfängliche Neugier war rasch verpufft, nachdem ihre halbherzigen Nachforschungen keinerlei Resultat zutage förderten. Außerdem machten die Abbildungen von herzhaften Pizzen sie unruhig und gereizt. Eigentlich hatte sie hier überhaupt nichts verloren, da konnte man wohl kaum erwarten, dass sie sich um die Zustellung eines mysteriösen Briefs kümmerte. Außerdem hatte sie schon genug Probleme. Da brauchte sie nicht noch die anderer Leute.

Und trotzdem …

Wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, ging sie zum Kamin und nahm den Brief erneut in die Hand. »Persönlich und dringend« – was hatte das wohl zu bedeuten? Vermutlich gar nichts. Von ihrer Granny wusste sie nur allzu gut, dass alte Leute sich oft über die belanglosesten Dinge ereiferten.

Das Papier war so dick und schwer, dass es sich fast wie Samt anfühlte. In der herabsinkenden Dämmerung konnte sie den verschwommenen Poststempel unmöglich erkennen, aber sie riskierte einen Schritt zum Fenster, um auf die Briefmarke zu spähen. Wow – aus den USA! Sie drehte den Brief herum und warf erneut einen Blick auf die handgeschriebene Nachricht, während ihr Finger sanft über die verschmierte Linie der unterstrichenen Worte glitt. Während sie den Brief in das sterbende Tageslicht hielt, bemerkte sie die scharfen Vertiefungen der Buchstaben, wo der Verfasser all seine Hoffnung in das dicke Papier geritzt hatte.

Persönlich und dringend.

Wenn möglich …

Ehe sie sichs versah, ehe sie sich vollständig bewusst machen konnte, wie falsch es war, einen fremden Brief zu lesen, hatte sie den Umschlag geöffnet und den einzelnen Briefbogen herausgezogen.

The Beach House

Back Creek Road

Kennebunk, ME

22. Januar 2011

Mein Liebling,

es ist bald siebzig Jahre her, doch für mich bist Du das noch immer. Mein Liebling. Mein Schatz. Vieles hat sich in dieser Zeit verändert. Die Welt ist nicht mehr die, die sie war, als wir uns das erste Mal begegneten. Doch wenn ich an Dich denke, kommt es mir vor, als wäre ich wieder zweiundzwanzig Jahre alt.

Ich habe in letzter Zeit viel über die Vergangenheit nachgedacht. Es geht mir nicht sonderlich gut, und die Ärzte verschreiben mir Medikamente, die mich müde und schläfrig machen. Was kann man mit neunzig Jahren auch anderes erwarten? An manchen Tagen habe ich das Gefühl, gar nicht richtig aufzuwachen, sondern einfach nur dazuliegen, in einer Art Halbschlaf, während mir die Erinnerungen so lebhaft vor Augen treten, als wären sie vollkommen real, als wäre ich erneut drüben in England beim 382. Geschwader und bei Dir.

Ich habe Dir damals ewige Liebe geschworen, obwohl ich nicht einmal wusste, ob ich die nächste Woche erleben würde. Doch die Ewigkeit neigt sich dem Ende. Ich habe nie aufgehört, Dich zu lieben. Ich habe es weiß Gott versucht, meinem eigenen Seelenfrieden zuliebe, aber es ist mir nicht gelungen. Und ich habe nie aufgehört zu hoffen. Die Ärzte geben mir nicht mehr viel Zeit, doch ich bin der festen Überzeugung, meine Mission noch nicht erfüllt zu haben. Nicht, solange ich nicht weiß, was mit Dir geschehen ist. Nicht, solange ich Dir nicht erzählt habe, dass alles, was wir damals begonnen haben – in jener wirren Zeit, als die Welt kopfstand –, für mich noch nicht vorbei ist und dass jene Zeit, so schwierig und beängstigend sie auch sein mochte, die beste meines Lebens war.

Ich weiß nicht, wo Du gerade steckst. Ich weiß nicht, ob Dir das Haus in der Greenfields Lane noch gehört und ob Du diesen Brief jemals lesen wirst. Ich weiß nicht mal, ob Du noch lebst, aber ich habe das verrückte Gefühl, ich müsste es ahnen, wenn es nicht so wäre; ich würde es irgendwie spüren und wäre meinerseits bereit zu gehen. Ich habe keine Angst vor dem Tod, meinem vertrauten Widersacher aus der Fliegerzeit. Damals habe ich ihn besiegt, diesmal bin ich bereit, ihn gewinnen zu lassen. Doch ich könnte weitaus würdevoller abtreten, wenn ich die Wahrheit kennen würde. Und mich zumindest dieses eine Mal richtig von Dir verabschieden könnte.

Bald spielt das alles keine Rolle mehr. Dann ist unsere Vergangenheit Geschichte. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ebenso wenig wie den Wunsch, noch einmal ganz von vorn anzufangen und das alles noch mal zu erleben. Und dieses Mal würde ich Dich um nichts in der Welt aufgeben.

Wenn Du diesen Brief erhältst, bitte schreib mir zurück.

In Liebe

Dan

Oh.

Ohhhh …

Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn hastig zurück in den Umschlag. Sie hätte ihn niemals anrühren dürfen, hätte niemals auch nur mit dem Gedanken gespielt, wenn sie geahnt hätte, wie furchtbar … ernst der Inhalt war. Eine Frage von Leben und Tod. Persönlich und dringend.

Aber sie konnte es nicht ungeschehen machen. Der Brief war aufgerissen und ließ sich nicht wieder versiegeln. Der verzweifelte Ruf eines sterbenden Mannes vom anderen Ende der Welt war erhört worden, und zwar von ihr ganz allein, wenn auch eher widerwillig. Ihr blieben nun zwei Möglichkeiten: Entweder sie tat so, als hätte es diesen Brief nie gegeben, oder sie versuchte, Mrs. S. Thorne ausfindig zu machen. Wer auch immer das sein mochte.

2

London, August 1942

In Kriegszeiten rechnete niemand mit einer opulenten Hochzeit, doch die Frauen der Gemeinde hatten ihrem Pastor alle Ehre gemacht.

Die schmucklosen Kirchenmauern von St. Crispin waren mit Dahlien, Chrysanthemen und Flammenblumen dekoriert, die aus den erschöpften Spätsommergärten der Nachbarschaft stammten, und im gegenüberliegenden Gemeindehaus erwartete sie ein bescheidenes Büfett aus belegten Broten mit Heringspastete und Dosenfleisch sowie Marjorie Walshs unvermeidlichen Scones, die liebevoll um die einstöckige Hochzeitstorte herum arrangiert waren. King’s Oak, ein kleiner Vorort im Londoner Norden, bestand vorwiegend aus schlichten viktorianischen Reihenhäusern mit gepflasterten Hinterhöfen und gepflegten Doppelhaushälften, die nach dem letzten Krieg erbaut worden waren. Es handelte sich keineswegs um eine wohlhabende Gemeinde, doch die Menschen waren für ihre Verhältnisse überaus freigebig. Lebensmittelmarken wurden getauscht, Rationen großzügig zusammengelegt. Das Ergebnis war ein bescheidenes Festmahl zugunsten der überaus findigen Gemeinde und ein unwiderlegbarer Beweis für deren außerordentliche Hochachtung gegenüber ihrem Pfarrer.

Dieser stand vorn beim Altar, doch nicht wie sonst der Gemeinde zugewandt, sondern den Kopf andächtig gesenkt, im persönlichen Zwiegespräch mit Gott. Er wirkt fast schon verletzlich, dachte Ada Broughton, die ihn von ihrem gewohnten Platz in der dritten Reihe aus beobachtete. Sein geröteter Nacken über dem weißen Kragen, seine stille Unterredung mit Gott, ein überaus ehrfürchtiger Anblick. Er war zwar nicht mehr ganz jung – der Altersunterschied zwischen ihm und seiner deutlich jüngeren Braut hatte bei der Mothers’ Union, der örtlichen Frauengruppe, und im Hospital Supplies Commitee, dem Ausschuss zur Unterstützung des Krankenhauses, für reichlich Gerede gesorgt –, doch sein hageres, intellektuelles Aussehen verlieh ihm einen überaus jungenhaften Ausdruck und weckte bei den meisten weiblichen Gemeindemitgliedern den Drang, ihm aus den Resten vom Sonntagsessen herzhafte Nierenfettkuchen und Cottage Pies zu backen (zumindest vor Beginn der Rationierung).

Alle Welt hatte ihn längst als eingefleischten Junggesellen abgeschrieben, daher hatte seine Verlobung mit der jungen Stella Holland alle überrascht. Als Marjorie Walsh in diesem Moment beherzt in die Tasten der Orgel griff und mit einem grellen Akkord den Einzug der Braut ankündigte, bemerkte Ada, wie er die Augen aufriss und erschrocken aufblickte, als hätten ihn die Ereignisse ebenso überrumpelt wie jeden anderen auch. Ein flüchtiger Blick zu seinem Trauzeugen, der direkt neben ihm stand, zeugte ein wenig von Panik. Armes Lämmchen.

Ach, aber die Braut war eine wahre Augenweide. Den Blick über die Schulter gewandt, spürte Ada, wie ihre Augen feucht wurden und der Busen unter ihrem besten Vorkriegskleid ein wenig anschwoll. Gertenschlank, die zarten Schultern straff zurückgezogen, ihre blassen Wangen hinter dem hauchfeinen Schleier halb verborgen. Stella sah aus wie Prinzessin Elizabeth höchstpersönlich, nicht wie ein Waisenmädchen aus der Armenschule. Das Brautkleid war eine Gemeinschaftsarbeit der Gemeinde, gespendet von Dot Wilkins (die im Jahre 1919 geheiratet hatte, nachdem ihr Arthur ausreichend vom Giftgas genesen war, um ein heiseres »Ich will« zu krächzen) und von der örtlichen Nähgruppe entsprechend geändert. Die Damen hatten einen Monat lang keinen einzigen Verband genäht und sich ausschließlich auf das Kleid konzentriert, um dessen Schnitt ein wenig zu modernisieren und Stellas zierlicher Figur anzupassen, die in Ermangelung eines Brautvaters neben der tweedgepolsterten Statur von Phyllis Birch noch zerbrechlicher wirkte als sonst. Und dennoch zog Stella mühelos alle Blicke auf sich. Niemand hätte geglaubt, dass sich das muffige alte Spitzenkleid in einen solchen Augenschmaus verwandeln würde. Ada tupfte ihre Tränen ab und gönnte sich einen Moment von mütterlichem Stolz. Das arme Ding hatte nun mal keine leibliche Mutter, insofern sah sie darin keine allzu große Anmaßung.

Adas Ausdruck verfinsterte sich ein wenig, als sie Nancy Price erblickte, die unmittelbar hinter der Braut folgte. Sie trug ein eisblaues Satinkleid, das die Tochter von Ethel Collins im Sommer 1939 als Brautjungfer mit vollendeter Würde getragen hatte. Nicht so Nancy Price. Zwar passte die Farbe ganz ausgezeichnet zu ihrem wasserstoffblonden Haar, doch Nancy trug das sittsame Kleid fast schon mit einem Ausdruck von Belustigung, als fände sie die zarten Puffärmel und den Herzausschnitt irgendwie lächerlich. Selbst etwas so Schlichtes, wie langsam den Mittelgang hinunterzuschreiten, wirkte bei Nancy Price ein klein wenig verrucht. Die beiden Frauen waren so verschieden wie Tag und Nacht – kaum zu glauben, dass sie so eng miteinander befreundet waren. Doch so ganz ohne Familie in einer Einrichtung groß zu werden ließ einen wohl nach jeder Art von Geborgenheit greifen. Ada hoffte, die zukünftige Pfarrersgattin, Mrs. Charles Thorne, würde der unziemlichen Freundschaft rasch entwachsen.

Marjorie spielte den Hochzeitsmarsch im Eiltempo zu Ende, während Stella an die Seite ihres wartenden Bräutigams trat. Strahlendes Sonnenlicht fiel auf ihre geneigten Köpfe, erfüllt von goldenen Staubpartikeln, die wie göttliches Konfetti auf sie herabregneten. Ada schob alle übrigen Gedanken beiseite und lehnte sich entspannt zurück, um die Trauung zu genießen.

Charles’ erster Vorname lautete in Wirklichkeit Maurice. Stella hörte den Namen zum ersten Mal, als der Traupfarrer ihn laut aussprach. Maurice Charles Thorne. Er erschien ihr so seltsam und albern, dass sie während des Gelübdes an nichts anderes denken konnte. Folglich erinnerte sie sich hinterher kaum noch daran, ihm Liebe und Ehre und Gehorsam geschworen zu haben. Doch das hatte sie offenbar, denn an ihrem Finger steckte ein schmaler goldener Ehering – etwas anderes war derzeit nicht zu bekommen –, und die versammelte Gemeinde küsste ihre Wangen und klopfte Charles wohlwollend auf die Schulter, um ihm zu seiner frischgebackenen Ehefrau zu gratulieren.

Ehefrau. Im Schutz des Kirchenportals, den Arm bequem bei Charles eingehakt, während Fred Collins seine Kamera einstellte, zog Stella das Wort im Geiste fest an ihre Brust und genoss die wohltuende Wärme, die wie heiße Kohle in ihr aufglühte. Das Wort »Ehefrau« bedeutete Sicherheit, ein Zuhause mit eigenen Möbeln, kein schmales Einzelbett in einem Schlafsaal mit zwanzig flüsternden und kichernden Mädchen. Sie dachte an all die wundervollen Hochzeitspräsente auf dem Esstisch im Pfarrhaus – ein edles Rosenservice von Charles’ Tante, eine runde Kristallvase von Miss Birch, eine bestickte Frisiertischgarnitur von ihren Mitschülerinnen der Woodhill School –, und ihr Lächeln weitete sich zufällig in demselben Augenblick, als das Blitzlicht explodierte.

Das Gemeindehaus war liebevoll hergerichtet. Die von Feuchtigkeit fleckigen Wände waren mit bunten Wimpelketten in den Farben des Union Jacks dekoriert, die offenbar seit dem Kriegsende aufbewahrt worden waren und dem tristen grünen Saal eine feierliche Atmosphäre verliehen. Über dem Büfett hing sogar ein selbst gemachtes Banner aus zerschlissenen Bettlaken mit dem Schriftzug »Ein Hoch auf das glückliche Paar«.

Und alle waren unglaublich freundlich. Selbst Charles’ Eltern – in makelloser Kleidung und mit geziertem Lächeln – hatten die Luft links und rechts ihrer Wangen geküsst und ihr grenzenloses Entzücken beteuert. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte Charles eine junge Dame aus dem Tennisklub von Dorking geheiratet, die Lillians Bridgerunde perfekt ergänzt und mit ihrem Konversationstalent brilliert hätte, doch Stella war ihnen für die gespielte Höflichkeit überaus dankbar.

»Was für ein bezauberndes Kleid!«, schwärmte Lillian Thorne und trat einen Schritt zurück, um sie eingehend zu mustern. »Hast du das etwa selbst genäht? Man könnte meinen, das stammt von einer Schneiderin.«

»Nein, es gehörte einer Dame aus der Gemeinde. Die örtliche Nähgruppe hat es für mich geändert.«

»Ach, tatsächlich? Meine Güte, du hättest doch nur etwas sagen müssen, dann hätte ich dir meins vererbt! Ein echtes Hartnell. Hat ein Vermögen gekostet, und nun liegt es in einem Koffer auf dem Dachboden. Hätte ich geahnt, dass du keins hast, hätte ich es natürlich hervorgeholt.«

Das Angebot klang freundlich und zuvorkommend, doch es kam leider drei Monate zu spät, daher wusste Stella nicht, wie sie reagieren sollte. Lillian plapperte unbeirrt weiter. »Und dieser entzückende Brautstrauß! Schade, dass er so durstig aussieht.«

Stella blickte auf das welke Gebinde in ihrer Hand. Lillian hatte vollkommen recht. Es waren herkömmliche Gartenrosen, die ihr Alf Broughton voller Stolz überreicht hatte – die spärliche Ausbeute eines einzelnen Rosenstrauchs aus dem winzigen Winkel seines Gartens, der von den Kohlköpfen und Kartoffeln verschont geblieben war. Doch die zarten Blumen ließen bereits die Köpfe hängen. Stella dachte an Lillians prächtige Rosenstauden in Dorking, steif und makellos wie ihre Besitzerin, und ihr wurde bewusst, dass das Kompliment ebenso scharf und verletzend war wie die Dornen jener Rosen.

»Mir geht es nicht anders«, murmelte Roger Thorne mit einem finsteren Blick in Richtung Alf, der wohlgelaunt hinter einer behelfsmäßigen Bar vor der Küchendurchreiche Bierflaschen und Limonade verteilte. Mr. Thorne hatte auf wundersame Weise eine Kiste Sekt aufgetrieben, doch der stand unberührt unter der Anrichte. Die Einwohner von King’s Oak machten sich nicht viel aus derlei Brimborium, und der gute Alf – ein überaus trinkfester Kerl – wäre mit dem Öffnen einer Sektflasche zweifellos überfordert gewesen.

Stella nahm einen ausgiebigen Schluck von ihrer Limonade, um die tödlichen Gefahren zu umschiffen, die wie atlantische Seeminen unter der Oberfläche ihrer Unterhaltung lauerten. »Im Grunde geht es gar nicht um dich, sondern um mich«, hatte Charles ihr damals kurz und knapp versichert, den Blick starr aus dem Zugfenster gerichtet, während sie von ihrem ersten und einzigen Besuch in Dorking zurückkehrten. Die beiden hätten ihn noch nie richtig verstanden, erklärte er finster. Seine geistliche Berufung sei ihnen unbegreiflich, und es ärgere sie maßlos, dass er nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten wolle, um eines Tages dessen erfolgreiches Buchprüfungsunternehmen weiterzuführen. Stella hatte seinen Schmerz gespürt und innerlich mitgelitten. Derartige Familienangelegenheiten waren für sie ein Buch mit sieben Siegeln, doch nun nach der Hochzeit würden sie ihre eigene Familie gründen, in deren Mittelpunkt Charles endlich zu sich selbst finden konnte, unterstützt und geheilt von ihrem grenzenlosen Verständnis und ihrer umfassenden Liebe, die nur darauf wartete, endlich entfesselt zu werden.

»Wo steckt eigentlich Charles?«, fragte Lillian gereizt, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Ich habe noch kein Wort mit ihm gewechselt.«

Da sind wir schon zu zweit, dachte Stella, während sie ihrem Blick quer durch den Saal folgte. Die Gäste standen überall dicht gedrängt, einschließlich einiger Gemeindemitglieder, die sich die Trauung gespart hatten und nur für die kostenlosen Leckerbissen gekommen waren. Die meisten kannte Stella nur vom Sehen, daher verspürte sie einen Anflug von Erleichterung und Zuneigung, als sie Nancy entdeckte, die in ihrem absurden Satinkleid wie eine Hollywooddiva auf den Seiten eines Klatschmagazins hinter den Kulissen eine Zigarette rauchte. Hier im Saal konnte sie Charles nirgends entdecken, doch eine Bewegung vor der Tür weckte ihre Aufmerksamkeit.

»Er steht draußen und unterhält sich mit Peter.«

Peter Underwood war Charles’ Trauzeuge. Ein guter Freund aus Studienzeiten am theologischen Seminar und seinerseits Pastor einer kleinen Gemeinde in Dorset. Stella hatte ihn heute erst kennengelernt, doch Charles hatte schon oft von ihm gesprochen. Seinen Erzählungen zufolge hatte sie sich einen deutlich charismatischeren Menschen vorgestellt als jenen schmächtigen, bleichgesichtigen Mann, dessen zynische Augen eulenartig hinter den runden Brillengläsern hervorspähten.

»So was gehört sich doch nicht«, keifte Lillian. »Er sollte endlich hereinkommen und sich an der Seite seiner Gattin mit den Gästen unterhalten.«

Da waren sie sich ausnahmsweise einig.

»Ich gehe mal rüber und spreche mit ihm.« Roger nutzte die Gelegenheit, um sich erleichtert zurückzuziehen. »Das Büfett ist ohnehin fast leer. Wird es nicht langsam Zeit für die Reden?«

Miss Birch betrat als Erste die wackeligen Stufen des Podiums. Als sie mit einem autoritären Räuspern für Ruhe sorgte, fühlte sich Stella in ihre Schulzeit zurückversetzt; sie blickte nach unten und erwartete fast, statt der feinen weißen Spitze von Mrs. Wilkins den dunkelgrünen Stoff ihrer Schuluniform zu sehen.

»Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, anlässlich dieses wundervollen Ereignisses heute vor Sie treten zu dürfen und ein paar Worte über die frischgebackene Mrs. Thorne zu verlieren«, verkündete Miss Birch mit ihrer bewährten Schulversammlungsstimme, gefolgt von allseitigem Applaus. »Stella war stets eine Musterschülerin der Woodhill School. Daher hatte ich keinerlei Bedenken, sie für die Stelle der Haushälterin vorzuschlagen, als unser werter Reverend Thorne nach einem Ersatz suchte. Wie hätte ich ahnen können, dass ich nicht nur eine Haushaltslücke stopfte«, an dieser Stelle riskierte die sonst so ernste Miss Birch ein erstaunlich durchtriebenes Lächeln, »sondern zugleich als Kupplerin auftrat. Denn während die Monate ins Land zogen, wärmte unsere Stella nicht nur den Herd der Pfarrei, sondern zugleich das Herz des Amtsinhabers!«

Alle Blicke richteten sich auf die Braut, und ein kollektives Raunen ging durch die Menge, als gäbe es ein Feuerwerk zu bestaunen. Stellas Wangen glühten. »Mit den Tugenden, die sie zu einer so vorbildlichen Schülerin machten, ihrer Güte und Gewissenhaftigkeit, ihrer positiven Lebenseinstellung und nicht zuletzt ihrer Treue und Loyalität wird sie dem Herrn Pastor zweifellos eine wundervolle Gattin sein«, fuhr Miss Birch fort. Stella wünschte sich, sie hätte immer noch den Schleier vorm Gesicht. Oder wenigstens Charles an ihrer Seite, doch der stand vorn beim Podium neben Peter Underwood. Im nächsten Moment erblickte sie Nancy, die abfällig die Augen verdrehte, und schon fühlte sie sich ein wenig besser.

»Ich wünsche dem Reverend und seiner Frau alles erdenklich Gute für ihren gemeinsamen Lebensweg. Möge er lang und sorglos verlaufen, ungetrübt von diesem bestialischen Krieg und gesegnet mit dem Glück eigener Kinder.« Miss Birch beendete ihre Rede in jenem klangvollen Tonfall, mit dem sie für gewöhnlich den morgendlichen Lobgesang ankündigte. »Und nun lasst uns anstoßen. Ein Hoch auf die Braut und den Bräutigam!«

Die Sektflaschen schlummerten noch immer in ihrer Kiste, daher erhoben die Hochzeitsgäste feierlich ihr Bier oder ihre Limonade oder – im Fall von Charles’ Eltern und Dr. Walsh – gar nichts. Charles betrat als Nächster das Podium, um Miss Birch feierlich abzulösen.

Stella liebte es, ihm beim Reden zuzuhören. In den Monaten seit ihrer Verlobung hatte sie sonntagmorgens an ihrem angestammten Platz in einer der Seitenbänke gesessen, um seiner Predigt aufmerksam zu lauschen, und ihr Blut hatte leise angefangen zu kribbeln. Er wirkte seltsam entrückt, fast schon romantisch verklärt, wenn er vor dem finsteren Altar stand oder oben auf der Kanzel aus einer riesigen Bibel vorlas. Doch dieser Eindruck ließ sich offenbar schwerlich auf den Gemeindesaal übertragen. Sein feierlicher Ernst und seine Leidenschaft, mit der er die Predigten vortrug, schienen ihn auf dem schmalen Podium zu verlassen. Vor den schlaffen Samtvorhängen stammelte er einen Dank an Miss Birch, um ihr im nächsten Moment das Verdienst abzusprechen, sie beide zusammengeführt zu haben, denn dafür sei allein Gott verantwortlich.

»Lange habe ich seinen Entschluss infrage gestellt; eine entzückende junge Braut hatte ich in der Pfarrei von St. Crispin ganz gewiss nicht erwartet. Doch es war nicht das erste Mal, dass mir Gott etwas direkt unter die Nase halten musste, damit ich es endlich bemerkte.« Er lächelte schüchtern in die Menge, und die Frauen der Gemeinde seufzten. »Dann musste ich nur noch Stella überzeugen!«

Die Anwesenden lachten wohlwollend, doch Stellas Wangen waren vom ständigen Lächeln wie eingefroren. Der stockende Prozess ihrer romantischen Annäherung war so ziemlich das Letzte, woran sie an diesem Tag erinnert werden wollte, nun da sie endlich wie Mann und Frau zusammenleben würden.

Im Grunde war sie nicht einmal sicher, ob sie wirklich an Gott glaubte, doch sie hatte seine Anwesenheit wie die einer prüden Anstandsdame gespürt, wann immer sie seit ihrer Verlobung mit Charles allein gewesen war. Am Abend seines Antrags hatte er sie das erste Mal geküsst, flüchtig und trocken, eher ein Ausdruck von Erleichterung als von Leidenschaft, kein Vergleich zu den ausgiebigen Küssen, die sie am Samstagnachmittag mit Nancy im Lichtspielhaus zu sehen bekam (sowohl auf der Leinwand als auch in der hintersten Reihe). Meist verließ sie das Kino mit einem vagen Gefühl von Sehnsucht, einem unerfüllten Potenzial an Liebe, die sie zu geben bereit war. Nun da von außerehelicher Sünde keine Rede mehr sein konnte, hoffte sie, Gott würde sich endlich aus ihrer Beziehung zurückziehen.

Oben auf dem Podium bedankte sich Charles mit steifen Worten bei der Brautjungfer, und Nancy machte einen scherzhaften Knicks, den er geflissentlich übersah. Peter Underwood betrat die ächzenden Stufen.

Unter dem Gebälk staute sich die Hitze. Die meisten Männer hatten ihre Jacken abgelegt und die Hemdsärmel hochgekrempelt, und draußen auf dem Hof kreischte und brüllte eine Schar Kinder. Die Gäste wurden langsam unruhig. Die Frauen, die in der Küche den Abwasch erledigten, hatten längst vergessen, sich leise zu unterhalten, und während sich die Rede des Trauzeugen endlos in die Länge zog, blendeten immer mehr Gäste die dünne zynische Stimme aus, um stattdessen der deutlich interessanteren Unterhaltung in der Küche zu lauschen, die sich um Ethel Collins’ Schwester drehte, deren Haus in Enfield ausgebombt worden war und die nun bei ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter in Bromley wohnte.

»Es war im Sommer 1931, als Charles und ich zu jenem denkwürdigen Angelausflug in Nordwales aufbrachen. Wie der Herr Jesus Christus, der an den Ufern des Jordans nicht mehr besaß als fünf Laib Brot und ein paar winzige Fische, hatten wir in der Einöde des Lake Bala nicht mehr als ein mageres Käsesandwich für zwei Personen …«

Stellas Gedanken wanderten von den endlosen Weiten Nordwales’ hinüber zur Küche, wo Ethel Collins über das Zischen und Ächzen des Teeautomaten hinweg schimpfte: »Die haben sogar ein Wasserklosett im Haus, aber Joan darf es nicht benutzen. Natürlich hat sie denen ihr Rationsbuch zur Verfügung gestellt, aber es gibt kaum was zu essen, weil dieses Weibsstück alle Coupons zusammenrafft, um sich ein neues Kleid zu kaufen …«

Schuldbewusst lenkte Stella ihre Aufmerksamkeit zurück zu Peter Underwood. Seine Erzählung beschrieb einen wackeren Naturburschen, der wenig mit dem Charles gemein hatte, den sie aus ihrem alltäglichen Leben kannte. Oder auch nicht kannte. Vielleicht konnte sie von dieser Rede noch etwas lernen.

Als Peter die letzte Seite seiner umfangreichen Notizen sinken ließ, ging ein erleichterter Applaus durch die Menge. Miss Birch trat einen Schritt vor und klatschte in die Hände, um der unruhigen Menge zu verkünden, die Braut und der Bräutigam würden nun die Hochzeitstorte anschneiden. Fred Collins musste sich von seinem Bier trennen und stattdessen zum Fotoapparat greifen. Unter dem Hochzeitsbanner stand Stella direkt neben Charles und lächelte einmal mehr in die Kamera. Auf den Bildern würde es so aussehen, als wäre Charles ihr den ganzen Tag nicht von der Seite gewichen, auch wenn es in Wirklichkeit ganz anders war. Er legte seine Hand auf dem Kuchenmesser über ihre. Dabei machte ihr Herz einen aufgeregten Satz. Er hatte wundervolle Hände, schlank und elegant. Sie dachte an das Hotelzimmer in Brighton, wo diese Hände am Abend die Knöpfe ihres Nachthemds öffnen und zärtlich über ihre Haut gleiten würden …

»Ich fürchte, das müssen wir noch mal machen«, meinte Fred Collins vergnügt lachend. »Sie hatten die Augen zu, Mrs. Thorne!«

Das Pfarrhaus war ein plumpes viktorianisches Gebäude mit einem ureigenen Geruch von gekochtem Gemüse, feuchtem Tweed und herber Männlichkeit, was sich hoffentlich bald ändern würde, sobald Stella richtig hier einzog, und zwar als Ehefrau statt als Haushälterin. Sie trug ihren bescheidenen Pappkoffer die Treppe hinauf, dicht gefolgt von Nancy, die neugierig in alle Zimmer spähte.

»Großer alter Kasten, was? Stell dir vor, das alles gehört jetzt dir!«

»Nicht so ganz. Das Haus gehört eigentlich der Kirche, nicht Charles. Aber du hast schon recht, ich habe wahnsinniges Glück.«

»Na ja, Glück wäre zu viel gesagt«, murmelte Nancy, während sie ihr in das Schlafzimmer folgte. Auf dem hohen, wuchtigen Holzbett lag eine senfgelbe Tagesdecke, und an der erbsengrünen Wand über dem Kopfende hing ein hölzernes Kreuz mit einer gequälten Christusfigur. In der Pfarrei war so ziemlich alles grün gestrichen, nicht nur das Pfarrhaus und der Gemeindesaal, sondern, wenn sie es sich recht überlegte, auch der kleine Pavillon neben dem Sportplatz. »Glück ist ohnehin der falsche Ausdruck«, fuhr Nancy fort. »Du hast dir das alles redlich verdient. Er kann sich glücklich schätzen, eine bezaubernde Frau wie dich bekommen zu haben!«

»Das sieht seine Familie leider anders. In deren Augen bin und bleibe ich das Mädchen von der Armenschule.«

»Das beweist doch nur, dass sie keine Ahnung haben.« Nancys brüsker Tonfall war ein Ausdruck von Aufrichtigkeit. Das Bett gab ächzend nach, als sie sich rückwärts auf die Matratze fallen ließ und Betty Collins’ himmelblauen Rock lupfte, um eine Schachtel Zigaretten unter dem Strumpfband hervorzuziehen. »In Wirklichkeit bist du denen haushoch überlegen. Die leibliche Tochter eines Herzogs, das bist du!«

Von ihrem Platz auf dem Hocker vor der schlichten Holzkommode, die ihr in Zukunft als Frisiertisch dienen sollte, lächelte Stella ihre Freundin dankbar an. Sie wusste nichts von ihrer leiblichen Mutter, außer dass sie als Hausmädchen in einer eleganten Villa in Belgravia gearbeitet hatte. Die Identität ihres Vaters kannte niemand, doch Nancy war der festen Überzeugung, dass es der Hausherr persönlich gewesen sein musste, was zugleich Stellas »damenhafte Art« erklärte.

»Aber das spielt nun eigentlich keine Rolle mehr, oder?«, fragte Stella leise, während sie sich die Haarnadeln aus dem Schleier zog. »Ich bin jetzt Charles’ Ehefrau. Das ist alles, was zählt.«

»Na, wenn du meinst.«

»Ja, meine ich. Ich weiß, du hältst mich für verrückt, aber genau das habe ich mir immer gewünscht: ein eigenes Haus, einen Mann zum Lieben. Ein Teeservice mit zierlichen Rosen. Das weißt du.«

Nancy blickte aus dem Fenster und stieß einen rauchgeschwängerten Seufzer aus. Es entstand eine lange Pause, die nur vom sanften Geräusch der Haarbürste und dem fernen Kreischen der Kinder unterbrochen wurde. »Du fehlst mir jetzt schon«, sagte Nancy plötzlich voller Ernst.

»Ach, ich bleibe doch nur vier Tage in Brighton.«

»Du weißt ganz genau, was ich meine. Ab heute wird alles anders. Als Pfarrersfrau kannst du wohl schlecht samstagabends zum Tanzen gehen oder auf der Rückfahrt eine Portion Pommes essen, richtig? Schließlich musst du deinem Göttergatten das Essen kochen oder bei irgendwelchen Gebetskreisen Kekse reichen.«

»Ganz so schlimm wird es nun auch wieder nicht. Wir können uns immer noch treffen.« Stella ging davon aus, dass Nancy mit dem Tanzen recht hatte, aber das würde ihr nicht sonderlich fehlen. Das Opfer erschien ihr vergleichsweise gering, verglichen mit den Dingen, die sie stattdessen hinzugewann. »Hilf mir mal aus dem Kleid, ja? Wir können uns doch samstagnachmittags treffen, um ins Kino zu gehen oder zu bummeln. Außerdem bist du hier jederzeit willkommen.«

Nancy rappelte sich auf und lachte trocken. »Das sieht Charles bestimmt anders.«

»Dann muss er sich eben damit abfinden. Wir sind so gut wie Schwestern, du und ich, das weiß er ganz genau. Immerhin bist du meine einzige Familie.«

»Mal abgesehen von Miss Birch. Die zählt dich anscheinend auch zur Familie – hast du gehört, was sie vorhin gesagt hat?« Mit einem durchtriebenen Grinsen und Zigarette im Mund tönte Nancy in ihrer besten Miss-Birch-Stimme: »Stella war stets eine Musterschülerin der Woodhill School …«

Es folgte ein munterer Schlagabtausch von Miss-Birch-Zitaten, untermalt von ausgelassenem Kichern, während Stella ein taubenblaues Kostüm überzog, das Ada Broughton in den Kleiderspenden für Kriegsflüchtlinge entdeckt hatte. Dann ließ sie sich von Nancy die Haare hochstecken, so wie diese es im Friseursalon gelernt hatte, angeblich in einem hochmodernen Stil, den sie als »Dernier Cri« bezeichnete. Als Nancy endlich fertig war, setzte sie ihr zum krönenden Abschluss noch einen taubengrauen Hut auf, der sich kess zur Seite neigte.

Stella drehte ihren Kopf von links nach rechts und betrachtete das Resultat mit einer gewissen Skepsis. »Ich sehe so … erwachsen aus.«

»Du siehst absolut umwerfend aus. Du wirst ihn garantiert von den Socken hauen. Und wo wir gerade dabei sind …« Nancy drehte sich um und nahm ihre Handtasche vom Bett, aus der sie ein flaches braunes Päckchen hervorzauberte. »Mein Hochzeitsgeschenk. Oder sollte ich lieber sagen, mein Hochzeitsnachtgeschenk?«

Sie beobachtete Stella, wie diese das Packpapier auseinanderbreitete und ein zartes rosafarbenes Etwas aus schimmerndem Satin in die Höhe hielt.

»Oh, Nancy, das ist bezaubernd! Was soll das sein?«, fragte sie lachend.

»Ein Nachthemd, Dummerchen. Für eure Hochzeitsnacht.«

Stellas Wangen begannen zu glühen, und sie verspürte ein ungewohntes Kribbeln im Unterleib. »Ist nicht dein Ernst, oder? Da ist doch gar nichts dran – ich würde mir den Tod holen!«

»Red keinen Unsinn, die Leidenschaft heizt dir schon ein. Und Charles ist garantiert völlig aus dem Häuschen. Er hat so viel Grund, den lieben Gott zu preisen, dass er gar nicht weiß, wo er anfangen soll.«

Die gesamte Festgemeinde trat aus dem Saal, um ihnen zum Abschied zu winken. Fred Collins forderte sie auf, sich neben die geöffnete Tür des Taxis zu stellen, um einen letzten Schnappschuss von ihnen zu machen. Charles hielt seine Braut mit angespannter Miene im Arm, ganz offensichtlich in dem Bewusstsein, dass das Taxameter tickte. Sie drückte Nancy einen letzten Kuss auf die Wange, dann Ada und Ethel und schließlich, wenn auch etwas steif, Roger und Lillian. Von Charles zur Eile gemahnt, wollte sie gerade ins Taxi steigen, als Nancy ihr im letzten Moment hinterherrief: »Dein Strauß!«

»Oh!«

Sie prägte sich genau ein, wo ihre Freundin stand, und kehrte der Menge den Rücken. Doch als sie die Rosen über ihren Kopf schleuderte, blieben die feinen Dornen an ihren Handschuhen hängen, und die Flugbahn veränderte sich, sodass der Strauß in einem Schauer samtweicher Blüten in Peter Underwoods erschrockenen Händen landete.

Auf der Rückbank des Taxis reckte sie den Hals, um einen letzten Blick auf die Menge der Gratulanten zu werfen. Alle standen auf der Straße und winkten ihnen begeistert hinterher, abgesehen von Peter Underwood, der wie erstarrt mit dem Strauß stehen geblieben war.

»Eigentlich sollte Nancy den Strauß bekommen«, murmelte Stella betrübt.

»Peter war immer schon für eine Überraschung gut«, sagte Charles voller Bewunderung.

Am Ende der Hauptstraße bog das Taxi um eine Kurve, und die Gäste verschwanden aus ihrem Blickfeld. Als sie sich auf der Sitzbank zurücklehnte, traten ihr unvermittelt Tränen in die Augen. Ihr Blick glitt nach unten, und sie stellte fest, dass ihr weißer Handschuh von einem Loch und einem Blutfleck entstellt wurde.

3

2011

Die Tage gingen nahtlos ineinander über, trotz der endlos langen Nächte.

Die beste und einzige Möglichkeit, um Dunkelheit, Kälte und Hunger auszuhalten, war, möglichst viel zu schlafen. Ganz ohne Strom, Fernsehen und regelmäßige Mahlzeiten war ihr Körper – wie der eines überwinternden Tiers – in einen urtümlichen Rhythmus verfallen, sodass sie ganze Tage in einem seltsamen Dämmerzustand verbrachte.

Wenn sie wach war, dröhnte und hallte die allgegenwärtige Stille durch ihren Kopf, und ihre Stimme vertrocknete wie die der kleinen Meerjungfrau. Zugleich wurde ihr bewusst, wie sehr sie das Singen brauchte und vermisste. Trotz ihrer zerstörten Träume gehörte die Musik ganz einfach zu ihrem Leben dazu. Während sie lautlos durch die finsteren Räume schweifte, fühlte sie sich wie ein Geist. Ein Schatten ihrer selbst.

Ihre Welt schrumpfte in sich zusammen, um zwischen den schimmelfeuchten Wänden und dem schmalen Spalt der Außenwelt hinter den fadenscheinigen Vorhängen Platz zu finden. Da das Haus in einer Sackgasse lag, waren ihr die wenigen Fahrzeuge und Anwohner bald vertraut. Nebenan wohnte eine junge Frau von etwa Mitte zwanzig, die aufgrund ihres Berufs oder ihres Partners manchmal über Nacht wegblieb. An anderen Tagen sah sie die Frau frühmorgens, wenn sie mit klappernden Absätzen über den Bürgersteig eilte, während ihr seidiger Pferdeschwanz elegant hin und her schwang. Jess bewunderte ihre Zielstrebigkeit, ihre Disziplin, ihr gepflegtes Äußeres.

Am anderen Ende der Häuserreihe wohnten zwei Männer im mittleren Alter, die morgens in fröhlich bunte Schals gehüllt aus dem Haus gingen, um abends getrennt nach Hause zu kommen, einer von ihnen mit voll beladenen Tüten aus dem Feinkostladen. Den Bewohner des vierten Hauses hatte sie noch nicht zu sehen bekommen, aber es musste sich um einen älteren Menschen handeln, denn dreimal am Tag fuhr nebenan ein Auto vor, aus dem jeweils eine Frau im blauen Kittel stieg. Offenbar ein Pflegedienst. Die Besuche fanden stets zu den Mahlzeiten statt, was sie schmerzlich an ihren eigenen Hunger erinnerte.

Leider waren die mageren Lebensmittelvorräte aus den Küchenschränken nahezu aufgebraucht. Die Kekse hatte sie schon vor Tagen gegessen, gefolgt von einer Dose Milchreis, ein paar eingelegten Pfirsichen und einer Schachtel abgelaufener Cracker. Ihr blieben nur noch eine weitere Dose Pfirsiche und ein Glas Leberwurst, bei dessen Anblick sich ihr der Magen umdrehte – nur im äußersten Notfall würde sie darauf zurückgreifen.

Der Hunger war weitaus schlimmer als die Kälte oder die Dunkelheit, denn er nagte nicht nur an ihrem Körper, sondern auch an ihrem Verstand. Wenn sie nicht gerade schlief, musste sie sich zwingen, ab und zu vom Sofa aufzustehen, wo sie stundenlang in die Häkeldecke gehüllt aus dem Fenster starrte, während ihre Gedanken sinnlos vor sich hin drifteten. In den vergangenen Monaten, seit Dodge sie eines Abends das erste Mal verprügelt hatte, war ihr nichts anderes durch den Kopf gegangen, als endlich von ihm loszukommen. Meist waren ihre Pläne reines Wunschdenken gewesen, doch nun, da sie es endlich geschafft hatte, kam es ihr vor, als wäre sie aus einem dunklen Tunnel in ein grelles Licht getreten. Sie war Dodge zwar entkommen, doch sie konnte nicht sehen, wo der Weg hinführte.

Letztendlich war es allein die Notwendigkeit, etwas Vernünftiges zu essen, die ihren erschöpften Körper in Aktion versetzte. In den vergangenen drei Tagen (waren es wirklich nur drei? Sie hatte den Überblick verloren) war der Schmerz in ihrem Knöchel ein wenig zurückgegangen, sodass sie behutsam auftreten konnte. Das Geld ruhte immer noch in ihrer Jackentasche. Aber sie hatte widerlich fettige Haare, keine Schuhe und ein Kleid, in dem sie sich den Tod holen oder ein unmoralisches Angebot kassieren würde. Sie nahm all ihre verbliebenen Kräfte zusammen, um die Situation in Angriff zu nehmen.

ENDE DER LESEPROBE