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Ein Pageturner mit vielschichtigen Charakteren und spannenden Wendungen. Als in Harrislee an der Grenze zu Dänemark die Leiche einer Medizinstudentin gefunden wird, übernimmt Kommissar Sånbergen zusammen mit der örtlichen Kommissarin Wiedmann die Ermittlungen. Wenig später sind zwei weitere junge Frauen tot, und alles deutet auf einen Serientäter hin – bis Sånbergen ein altes Tagebuch entdeckt. Es führt ihn dreißig Jahre zurück zu einem geheimnisumwobenen Haus und einem verstörenden Familiengeheimnis ...
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Seitenzahl: 662
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Per Sjørndahl, Jahrgang 1965, verbrachte seine frühe Kindheit an der deutsch-dänischen Ostsee und wuchs anschließend in seiner Geburtsstadt Berlin auf. Als Jugendlicher entdeckte er seine Leidenschaft für Musik und gründete eine Rockband. Heute betreibt er eine osteopathische Praxis und nimmt europaweit Engagements als Dozent und als Therapeut im Leistungssportbereich an.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Aus dramaturgischen Gründen sowie rechtlichen Erwägungen wurden manche der im Buch auftauchenden realen Schauplätze, Örtlichkeiten und Institutionen in ihren Beschreibungen beziehungsweise Funktionen abgeändert und zudem einige fiktive Elemente hinzugefügt.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/uslatar
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lorenz Knieriem
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-126-3
Küsten Krimi
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die agentur literatur Gudrun Hebel, Berlin.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Für meine geliebte Carmen – und all die anderen guten Engel, die unbemerkt im Hintergrund agieren, verzichten und viel zu wenig wertgeschätzt werden
PROLOG
23.April 1995, irgendwo in Dänemark
1
Tag 1, Donnerstag, 22.Juni 2023
Harrislee an der deutsch-dänischen Grenze, im Morgengrauen
»Bei Fuß, Portos!« Mit einem kräftigen Ruck zog Marlene an der Leine. Sie gab sich alle Mühe, ihrer Stimme die nötige Strenge zu verleihen, aber der Hund wollte einfach nicht hören. Was war nur los mit ihm? Er verhielt sich, als ob noch ein anderer Hund in der Nähe wäre, aber weit und breit war keiner zu sehen.
Portos wand sich wie ein Aal, versuchte, den Kopf aus dem Halsband zu ziehen – und mit einem Mal kam er frei. Laut kläffend rannte der kleine Beagle querfeldein durch die Marsch in Richtung eines Erlenbruchs und verschwand im hohen Gras.
»Portos!« Marlene eilte ihm hinterher, blieb vor dem Erlenbruch stehen und spähte durch die Baumreihen. Eine Schneise führte zu einer Lichtung.
Marlene zögerte. Diese Gegend kannte sie nicht.
Mit einem Mal kam es ihr merkwürdig ruhig vor, ihr Hund gab keinen Laut mehr. »Portos?«, rief sie in den Bruchwald hinein, nun etwas leiser als zuvor, als fürchtete sie, gehört zu werden. Aus einem Holunderstrauch stiegen zwei Meisen auf.
Unsicher betrat sie die Lichtung, Schritt für Schritt, und dann sah sie Portos. Die Schnauze dicht über dem Boden, tapste er über das Gras. Erleichtert atmete Marlene auf und lief auf ihn zu – doch erstarrte im nächsten Moment. Nur wenige Meter von ihrem Hund entfernt saß eine Frau in einem weißen Kleid gegen einen dichten Weidenstrauch gelehnt und rührte sich nicht.
Marlene erschrak. Sie betrachtete die Frau, ihre blasse Haut, das aufgedunsene Gesicht. Ihr Blick wirkte starr, aber irgendetwas gab Marlene das Gefühl, dass sie noch lebte. Die entspannte Art, wie sie dort saß, so als würde sie ganz in Gedanken die Umgebung betrachten. Marlene machte einen Schritt auf die Frau zu. »Hallo?«
Sie reagierte nicht. Sie blinzelte nicht. Sie atmete nicht.
Sie ist tot, dachte Marlene, und mit der Gewissheit überkam sie der Gedanke, jemand könnte dieser Frau etwas angetan haben. Womöglich lauerte er sogar noch hier zwischen den Bäumen und beobachtete nun sie selbst, unschlüssig, ob er sie gehen lassen oder ihr den Rückweg versperren sollte.
Die Vorstellung machte Marlene Angst. Sie wagte es kaum, sich umzublicken. Ich muss hier weg, dachte sie nur, packte den kleinen Beagle am Nacken und nahm ihn auf. Auf der Stelle machte sie kehrt, begann zu rennen und hielt erst wieder an, als sie ihr Elternhaus erreichte.
Aufgeregt berichtete sie ihrer Mutter von dem grauenvollen Fund, kurz darauf auch dem diensthabenden Beamten der Polizeistation Harrislee. Wieder zu Hause, zog sie sich mit ihrem Hund in ihr Zimmer zurück, ermahnte ihn, das nächste Mal besser zu folgen, und fragte sich erneut, warum er so aufgeregt angeschlagen hatte. Aber dann wollte sie nicht mehr länger an dieses entsetzliche Ereignis denken und ließ den Gedanken fallen. Sie schloss das Fenster, kauerte sich auf ihrem Bett zusammen und schwor sich, nie wieder einen Fuß in die Marsch zu setzen.
2
Zur selben Zeit in Nordjütland, Dänemark
Kommissar Marven Sånbergen trat hinaus auf die Veranda seines Hauses in Smalby und sah in Richtung Osten, wo die Sonne den Horizont heraufgekrochen kam. Wenn sie einen bestimmten Stand erreichte, so wie um diese Zeit, legte sie einen samtroten Schleier über die Felder, und ihr wärmender Atem weckte das Land.
Sånbergen schloss die Augen, genoss die warme Brise und verweilte zufrieden noch einen Moment in dem Bewusstsein, Urlaub zu haben und die nächsten Tage allein mit seiner Tochter Smilla verbringen zu können. In letzter Zeit hatte er das Gefühl, sie sei glücklich, hier mit ihm zu leben, und er war dankbar dafür, wohl wissend, dass es eine andere Zeit gegeben hatte. Eine Zeit, in der sich Smilla von ihm abgewandt hatte, in der sie ihm die Schuld dafür gegeben hatte, dass Lisa, ihre Mutter, so plötzlich aus ihrem Leben verschwunden war, ohne dass er Smilla eine Erklärung dafür hatte geben können.
Als er die Augen wieder öffnete, war die Brise abgeflaut, nichts regte sich weit und breit, die Felder lagen wie ausgestorben da. Nur ein leises Sirren war zu hören – erste Lebenszeichen dicht über dem Boden, aus dem Ringelblumen und Sommerastern ihre Köpfe reckten und einen süßen Duft verbreiteten.
Sånbergen liebte diese frühen Stunden im Sommer – nicht die Hitze, aber die Zeit, wenn der Morgen anbrach, so als würde das Leben jedes Mal aufs Neue entstehen. Ein wunderschöner Tag, dem nichts etwas würde anhaben können. Er setzte sich in den Schaukelstuhl, nahm den Mark Twain vom Beistelltisch, und alles, was nun noch die willkommene Stille durchbrach, war das Quietschen des wippenden Stuhls – bis mit einem lauten Scheppern die Verandatür aufschlug.
Smilla, dachte Sånbergen und drehte sich um.
»Warum bist du schon wach?«, nuschelte sie verschlafen und schaffte es irgendwie, ihrer müden Stimme einen trotzigen Unterton zu verleihen.
»Ich bin immer wach um diese Zeit.«
Sie strich sich die rotbraunen Haare aus dem Gesicht und gähnte. »Du hast mich geweckt«, sagte sie mit einem Murren.
»Ich war leise wie eine Kirchenmaus.«
»Du hast gesungen, im Bad – es war ›Umbrella‹ von Rihanna.«
Er kannte Rihanna so gut wie gar nicht, nur einen einzigen Song, und an die Melodie konnte er sich kaum erinnern.
Smilla machte einen Schritt auf ihn zu. »Was liest du da?«
»›Tom Sawyer‹ von Mark Twain.«
»Das is ’n Buch für Kinder, Pa.«
»Findest du? Ich gebe es dir, wenn du willst.«
»Ich bin fast zwölf«, raunzte sie ihn an, drehte sich missmutig um und schlurfte zurück ins Haus.
»Wenn du schon wach bist – wollen wir den Pick-up reparieren?«, rief er ihr hinterher. »Es ist wieder der Schlauch. Ich glaube, dieser verdammte Marder hat sich daran zu schaffen gemacht.« Sånbergen wusste, wie sie reagieren würde.
Augenblicklich drehte Smilla sich um, und ihre Augen blitzten voller Vorfreude. »Klar! Werkzeugkiste?«
»Werkzeugkiste.« Sånbergen zwinkerte ihr zu, und Smilla verschwand im Haus, ein paar Töne von »Umbrella« auf den Lippen.
Sånbergen fuhr den alten Pick-up unter die knorrige Birke und stemmte gerade die Haube hoch, als Smilla aus dem Haus kam. Den Rücken nach hinten durchgebogen, schleppte sie den gelben Werkzeugkoffer in beiden Händen vor sich her.
»Ich glaube, es war doch nicht Rihanna, was du gesungen hast«, ächzte sie. »Es war irgendwas Altes, was kein Mensch kennt.«
Vielleicht hat sie recht, dachte Sånbergen. Manchmal schwirrte ihm etwas von Bruce Springsteen durch den Kopf.
Mit einem »Pfff« ließ Smilla die Werkzeugkiste auf den trockenen Sandboden fallen. »Kann losgehen!« Sie blinzelte gegen die tief stehende Sonne. »Welchen soll ich nehmen?«
»Zuerst den Drei-Achter.«
Eifrig hievte sie den schweren Schraubenschlüssel aus dem Koffer und stellte sich auf die Stoßstange, um den Motorraum zu inspizieren, als Sånbergens Handy klingelte.
Wieso so früh am Morgen? Er zog es aus der Hosentasche und sah aufs Display. »Direktor«. Das Büro des Polizeichefs, Hans Østergaard. Sånbergen zögerte, den Anruf anzunehmen. Die Gespräche mit Hans verliefen im Allgemeinen eher unerfreulich. Das letzte Mal, wenige Wochen zuvor, hatte er Sånbergen mitgeteilt, dass der an die Ostküste versetzt werden sollte. Eine Disziplinarmaßnahme aufgrund eines Fehlverhaltens, und allein um Smillas willen hatte Sånbergen sie klaglos hingenommen. Im Gegensatz zu ihm liebte sie die See, und noch mehr liebte sie das Segeln. Wann immer sich die Gelegenheit ergab, fuhr sie zusammen mit Sånbergens Schwester Clara zur nächstgelegenen Bucht, wo sie ihren Einmaster zu Wasser ließen und erst wieder an Land kamen, wenn die Dämmerung eingesetzt hatte.
Sånbergen nahm den Anruf an. »Hej.«
»Hej, Marven, gut, dass ich dich erreiche. Ich störe doch nicht?«
»Es ist früh am Morgen, ich habe Urlaub, und meine Tochter hat Ferien«, setzte Sånbergen dagegen.
Hans räusperte sich, und eine kurze Pause entstand. Was auch immer ihm auf der Seele lag, er hatte offenbar Mühe, es über die Lippen zu bringen. Ein unangenehmes Gefühl beschlich Sånbergen.
»Ich habe keine guten Nachrichten, Marven. Eine Leiche wurde an der deutsch-dänischen Grenze aufgefunden, bei Harrislee. Es ist eine junge Frau, Mitte zwanzig.«
Sånbergen nahm Smilla den Drei-Achter ab, mit dem sie schon an einer Schraube herumzudrehen begonnen hatte, und entfernte sich ein paar Schritte, um ungestört sprechen zu können. »Harrislee? Das ist die deutsche Seite.«
»Das Opfer ist nach allem, was wir wissen, dänische Staatsbürgerin und hat auch in Dänemark gewohnt. Ich muss den deutschen Kollegen also jemanden von uns zur Seite stellen, und da dachte ich an dich, wegen deiner deutschen Wurzeln.«
Sånbergen war zwar in Heide geboren worden, der Heimatstadt seiner Mutter, hatte aber lediglich die ersten Lebensjahre dort verbracht. Land und Sitten waren ihm inzwischen etwas fremd geworden. »Du weißt, meine Tochter hat gerade Ferien. Und von Deutschland war nie die Rede gewesen.«
»Ich weiß, Marven, und das Ganze bringt uns beide in eine missliche Lage. Aber der Fall liegt etwas ungewöhnlich. Wir brauchen einen erfahrenen Ermittler da unten – und zwar noch heute.« Er betonte den letzten Satz, nahm einen tiefen Atemzug und ließ die Luft mit einem lauten Geräusch wieder aus, als versuchte er, ein Seufzen anzudeuten. »Ich sag dir was: Wenn du den Fall zu einem erfolgreichen Abschluss bringst, dann nimmst du dir deinen Urlaub, und ich werde mir die Sache mit der Versetzung noch einmal überlegen, okay?«
Sånbergen hob zu einem Widerspruch an. Was hatte das eine mit dem anderen zu tun? Und konnte Hans ihn tatsächlich für diesen Fall einfach nach Deutschland versetzen? Aber dann hielt er inne – er fürchtete, Unbedachtes herauszubringen.
»Vielleicht könnte ja deine Schwester auf deine Tochter aufpassen? Ist sie nicht mit dir nach Nordjütland gezogen, damals, als deine Frau dich …?« Hans brach ab.
Was Clara anging, hatte Hans recht. Tatsächlich hatte sie Sånbergen seinerzeit zurück nach Dänemark begleitet und sich wie er in Smalby niedergelassen. Fast jedes Wochenende war sie zu ihnen herübergekommen, um für Smilla da zu sein, und Sånbergen wusste, dass sie es auch dieses Mal tun würde, wenn er es so wollte.
»Ich habe schon mit dem zuständigen deutschen Staatsanwalt Kontakt aufgenommen. Er heißt Jan Philips«, fuhr Hans fort. »Ich habe in den höchsten Tönen von dir gesprochen, es ist alles vorbereitet. Sicher werden sie dich mit offenen Armen empfangen.«
Es war also schon beschlossene Sache. Hans hatte die Angelegenheit einfach über seinen Kopf hinweg entschieden, und Sånbergen konnte nichts dagegen tun. Er brauchte einen Moment, um sich mit dem Gedanken zu arrangieren. Und mit dem, was der nach sich zog. Er würde mit Smilla reden müssen. Und er würde sich auf einen Ort einstellen müssen, an dem er nicht zu Hause war, auf neue Mitarbeiter, zwischen denen er sich wie ein Fremdkörper fühlen würde.
Sånbergen antwortete mürrisch: »Sorg dafür, dass der Gerichtsmediziner vor Ort ist, wenn ich komme. Und ich will nicht, dass irgendwas an der Leiche oder am Fundort verändert wird, bevor ich eingetroffen bin.«
»Hervorragend! Ich wusste doch, dass ich mit dir rechnen kann. Ich habe für alle Fälle einen Platz für dich reserviert, in der Zehn-Uhr-Maschine nach Sønderborg.«
Sånbergen beendete das Gespräch ohne einen freundlichen Gruß und sah aus den Augenwinkeln zu seiner Tochter hinüber. Sie steckte mit den Armen irgendwo zwischen Motor und Kühlsystem, obwohl er ihr den Drei-Achter schon abgenommen hatte, und summte dabei vergnügt vor sich hin.
Ich hätte das Handy einfach ignorieren sollen, und niemand hätte mir etwas vorwerfen können, dachte er. Eine Schweißperle trat ihm auf die Stirn. Ein weiteres Mal würde er Smilla enttäuschen müssen, und er befürchtete, sie könnte in alte Reflexe verfallen – ihn für Wochen mit Missachtung strafen und sich innerlich wieder von ihm entfernen.
Er setzte sich auf die Stoßstange des Pick-ups, holte Smilla zu sich und versuchte, ihr zu erklären, warum sie die Ferien nun doch nicht zusammen würden verbringen können. Dass es Regeln gebe, über die er sich nicht hinwegsetzen könne.
Smilla hockte wortlos neben ihm und wich seinem Blick aus. Lustlos spielte sie mit dem Schraubenschlüssel herum, und als Sånbergen einen Arm um sie legte, wich sie ihm aus, als wäre er tonnenschwer.
»Hey, Smilla, Tante Clara wird sich doch um dich kümmern. Ihr könnt ein paar Tage auf der ›Miss Jealous‹ verbringen und im Limfjord tauchen. Und zu deinem zwölften Geburtstag bin ich wieder hier. Dann haben wir genug Zeit, um in den Höhlen des Moler Kliffs zu schwimmen und den Seeadlerhorst zu beobachten. Wir könnten auch einen Sikahirsch im Rold Skov jagen gehen.« Erwartungsvoll sah er sie an. Aber er war noch nie gut mit Worten gewesen.
»Natürlich«, sagte Smilla nur, wischte sich die widerspenstigen Haare aus dem Gesicht und seufzte.
3
Sånbergen betrat die ATR 72 und setzte sich auf einen Fensterplatz, wo er den Abstand zum Boden im Auge behalten konnte. Er flog nicht gern. Im Grunde vermied er jede Art von Fortbewegung, bei der er keinen festen Boden unter den Füßen hatte, weil er sie schlichtweg für zu unsicher hielt. Er nahm lieber seinen Pick-up, auch für längere Strecken, solange der ihn nicht im Stich ließ, so wie er es ausgerechnet heute getan hatte.
Mit Unbehagen, aber auch mit einem Hauch von Wehmut betrachtete er, wie die Maschine an Höhe gewann und schließlich über das flache Nordland hinwegglitt. Vereinzelt schnitten schmale Straßen und scheinbar richtungslose Feldwege hindurch. Baumkronen bogen sich im aufbrausenden Wind. Im Westen gruben sich Fjorde tief in das Land, der Küstenstreifen wie ausgefranst. Genau so mochte Sånbergen die Landschaft – stürmisch, schlicht und rau.
Er öffnete eine Datei auf seinem Laptop, die Hans ihm hatte zukommen lassen. Sie enthielt ein von dänischer wie deutscher Seite abgesegnetes Bewilligungsschreiben, das ihm umfassende Befugnisse in der grenzüberschreitenden Polizeiarbeit einräumte. Des Weiteren Informationen zu seinen künftigen Mitarbeitern. Geleitet wurde die Station in Harrislee von Hanna Wiedmann, fünfunddreißig Jahre, alleinerziehend, zwei kleine Kinder. In einer persönlichen Einschätzung lobte Staatsanwalt Philips ihre Einsatzbereitschaft und Loyalität.
Sånbergen klickte durch weitere angehängte Dokumente, immer wieder den Abstand der Maschine zum Boden prüfend, und von Zeit zu Zeit hatte er den Eindruck, sie verliere unfreiwillig an Höhe.
Endlich setzten sie zur Landung an, und Sånbergen beobachtete, wie sich auch die letzten Wolken verzogen. Der Wetterbericht hatte eine Hitzewelle für diese Gegend vorausgesagt, und er hoffte inständig, sie würde nicht lange andauern.
Erleichtert, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, verließ er das Flugzeug, und als er die Ankunftshalle des Sønderborger Flughafens betrat, sah er einen auffällig kräftigen Mann mit weißblondem Haar an der Absperrung stehen, der ein Pappschild vor dem Bauch hielt: »SÅNBERGEN«.
Er wusste nichts davon, dass er abgeholt werden würde, aber da war auch kein anderer Passagier, der sich dem Blonden näherte. Als der ihn fragend ansah, ging Sånbergen auf ihn zu. Der Mann hatte ein freundliches Gesicht, und unter der knöchellangen Arbeitshose trug er grüne Plastiksandalen um schneeweiße Füße.
»Kommissar Sånbergen, nehme ich an?« Ein schwedischer Akzent dehnte die Silben und gab ihnen einen holprigen Rhythmus.
»Der bin ich.«
»Alles klar. Ich bin Ansgar, Ansgar Sigursson, freiberuflicher Rechtsmediziner aus Harrislee. Aber ›Ansgar‹ reicht vollkommen.« Mit einem breiten Grinsen reichte er Sånbergen die Hand.
»Freut mich, Ansgar. Sigursson – das ist ein nordischer Name.«
»Ja, ich bin Schwede. Wir können also gern beim Du bleiben. Ich kann mich nur schwer an die deutschen Sitten gewöhnen.«
»Geht mir genauso. Also dann – ich bin Marven.«
Ansgar ging voraus, und sie verließen die Ankunftshalle. »Ich bin schon zwanzig Jahre in Deutschland und fühle mich nicht unwohl hier, aber manchmal komme ich mir trotzdem etwas fremd vor.«
»Das kann ich verstehen. Was hat dich hergeführt?«
»Meine Frau. Sie ist Deutsche und wollte gern in ihrer Heimat bleiben. Na ja, ich konnte ihr noch nie viel abschlagen.«
Auch das konnte Sånbergen nachvollziehen. Ansgar war ihm sympathisch, auf eine Art zugewandt, die Sånbergen für sich mit dem Begriff »hyggelig« beschrieb, ein Wort, für das er nie eine wirklich treffende deutsche Übersetzung gefunden hatte.
»Wir sollten uns beeilen, mein Wagen steht ungünstig. Ich habe ihn gleich vor dem Haupteingang geparkt.« Ansgar wartete Sånbergens Antwort nicht ab und lief eilig voraus.
Sånbergen verstaute den Trolley im Kofferraum des Rovers, und Ansgar setzte sich hinter das Steuer. »Es sind fünfzig Kilometer. Aber eine schöne Strecke, geht viel an der Küste entlang.«
Ansgar fuhr zügig, etwas zu zügig für Sånbergens Geschmack. Sonnenstrahlen fielen auf die Dünenlandschaft, schneeweiße Hügel mit einer Mähne aus Schilfgras, die Spitzen vom Wind abgetragen. Vereinzelt verschanzten sich Häuser hinter niedrigen Hecken, als würden sie ihre eckigen Köpfe einziehen. Zwei hellblonde Kinder hetzten über das sandüberwehte Gras und zerrten an den Leinen eines Papierdrachens, um ihn in die Luft zu kriegen. Ein malerischer Anblick, dem sich Sånbergen nicht entziehen konnte, auch wenn nichts, so dachte er bei sich, an die schlichte Schönheit des Nordens heranreichte.
Ansgar war in einer Kurve kurz vom Gas gegangen, doch beschleunigte gleich wieder, was ihn nicht davon abhielt, eine Hand vom Lenkrad zu nehmen und mit ihr zu gestikulieren, während er zu berichten begann. »Das Opfer ist wahrscheinlich Ellen Berg, vierundzwanzig Jahre alt. Sie –«
»Wahrscheinlich? Ihr wisst es noch nicht genau?« Sånbergen war gleich dazwischengegangen. Er mochte solche Unklarheiten nicht.
»Wir haben keine Papiere bei ihr gefunden. Aber Ellen Bergs Mutter hat ihre Tochter gestern als vermisst gemeldet und uns ein Foto von ihr gegeben. Na ja, und das sieht dem Opfer schon sehr ähnlich. Außerdem sagte die Mutter, Ellen habe eine Narbe am Handteller, eine alte Verbrennung, die sie sich als Kind zugezogen habe. Auch das deckt sich mit den ersten Befunden.«
»Das hat sie gleich auf der Wache so angegeben?«
»Ja, hat sie. Wieso fragst du?«
»Sie nennt uns ein äußeres Merkmal, mit dem wir ihre Tochter identifizieren könnten, falls wir ihre Leiche finden. Dass sie als Mutter diesem Gedanken gleich so rational nachgeht, hatte ich nicht unbedingt erwartet.«
»Hm, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Aber macht sie das verdächtig?«
»Die Mutter? Nein, das nicht. Es fällt mir nur auf. Ist der Familie schon einmal Ähnliches passiert?«
»Um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung.«
»Okay, wahrscheinlich spielt das auch keine Rolle. Was habt ihr noch?«
»Also, falls das Opfer tatsächlich Ellen Berg ist, dann wissen wir, dass sie Medizinstudentin an der St. Albert war. Das ist eine private Hochschule in Harrislee.«
»Die St. Albert ist in Harrislee? Es heißt doch, Ellen Berg habe auf der dänischen Seite gewohnt.«
»Ja, das stimmt. Sie ist jeden Tag gependelt.«
»Und sie wurde auch auf der deutschen Seite gefunden?«
»So ist es. Heute Morgen ist ein Mädchen, das mit seinem Hund unterwegs war, auf die Leiche gestoßen. Der Hund hatte sich wohl losgerissen und ist direkt zum Fundort gerannt.«
»Haben die beiden dort etwas kontaminiert?«
Ansgar wiegte unschlüssig den Kopf. »Das Mädchen hat versichert, die Leiche nicht berührt zu haben. Die Beamten haben auch alles so belassen, wie es war, damit du es unverändert vorfindest. Um ehrlich zu sein, ich hätte die Leiche gern schon früher in eine kühlere Umgebung gebracht, aber Philips wollte es so.« Ansgar drehte den Kopf zu Sånbergen und redete weiter, ohne auf die Straße zu achten. »Du wirst Philips kennenlernen, er ist der Staatsanwalt hier. Im Grunde läuft das meiste über ihn – Beschlüsse, Fahndungen, Presse. Du weißt, dass er deine Ansprechperson vor Ort ist?«
»Ja, mir wurde der Name gesagt.«
Endlich sah Ansgar wieder auf die Straße.
Kurz vor Padborg überquerten sie die Grenze und folgten für zweihundert Meter dem Verlauf einer schmalen Landstraße, bis Ansgar auf einen schmalen Sandweg einbog. Zwischen hellgrünem Sumpfgras hatten sich freie Wasserflächen gebildet, kümmerliche Bäume ragten empor, ihre Stämme krumm und verdreht. Um die dunkle Rinde rankte sich schmalblättriges Weidengebüsch.
»Das ist eine ziemlich abgelegene Gegend hier. Es führt nur dieser Weg direkt zum Fundort, und fünfzig Meter weiter«, er deutete mit einem Kopfnicken in Richtung Süden, »gibt es noch eine asphaltierte Straße, die an die Marsch heranreicht. Wäre das Mädchen mit seinem Hund nicht gewesen, hätte man die Leiche vielleicht erst Tage später gefunden.«
Schließlich stoppte Ansgar direkt vor einem Erlenbruch. Zwischen spärlichen Baumreihen schimmerte eine grasbewachsene Lichtung hindurch, die mit einem rot-weißen Plastikband abgesperrt war. Beamte in weißen Overalls bewegten sich dort um ein weißes Zelt, unter dem sich die Leiche befinden musste.
Sånbergen stieg aus. Kein Windhauch ging hier. Es war schwülwarm, die hohen Temperaturen zogen die Feuchtigkeit aus dem sumpfigen Boden. Dieses Wetter machte ihm jetzt schon zu schaffen. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er zog die Jacke aus und schob die Hemdsärmel hoch.
»Die letzten Tage sind trocken gewesen«, sagte Ansgar. »Wahrscheinlich hat die Marsch weniger Wasser als sonst. Wir brauchen dringend Regen, aber der Wetterbericht sagt nur Trockenheit und Hitze voraus.«
Sånbergen sah sich um. Niemand außer den Beamten war zu sehen, keine Spaziergänger, keine Schaulustigen. Er suchte nach einer Orientierung und nahm seine Navigationsapp zu Hilfe.
Die Zufahrtsstraße kam von Westen. Nördlich war ein schmaler Fluss zu erkennen. Und östlich lag der Erlenbruch. Die Sonne stand hoch über den Bäumen am Himmel und verbreitete eine drückende Wärme. Schlierige Wolken waren inzwischen aufgezogen und hingen wie ermattet in der Luft. Das Einzige, was sich da oben bewegte, war ein Vogelschwarm, der von Norden kam. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit, dachte Sånbergen, vielleicht Vorboten dafür, dass es kühler wird? Die Vorstellung hob seine Laune augenblicklich.
»Was siehst du da?«, fragte Ansgar, stellte sich neben ihn und reckte ebenso den Kopf empor.
»Stare.« Sånbergen starrte weiter zum Himmel, fasziniert von dem Schwarm, der sich nun fast über ihnen befand. Wellenförmig veränderte er seine Formation, so als würde jeder einzelne Vogel aus diesem Verbund einer einstudierten Choreografie folgen. »Wahrscheinlich Jungvögel, die ihre erste Etappe in Richtung Süden fliegen.«
»Dahinten liegt eine Leiche im Gras, und du studierst das Verhalten von Zugvögeln?« Ansgar klang verwundert. Vielleicht sogar zu Recht.
Tatsächlich spürte Sånbergen einen inneren Widerstand, sich zum Fundort zu begeben und einen ersten Blick auf die Tote zu werfen. Und das nicht nur bei diesem Fall. Bei jedem Fall aufs Neue. Er gab sich einen Ruck. »Also gut, dann gehen wir mal.«
Ansgar stapfte mit weit ausholenden Schritten voraus und führte Sånbergen zum abgesperrten Bereich. Das Plastikband war rund um die Lichtung gezogen, Nummerntafeln steckten im Gras. Unter dem Pavillon, vielleicht zehn Meter entfernt, erblickte Sånbergen eine Frau in einem weißen Kleid in einer sitzenden Haltung. Die Tote, kein Zweifel.
»So saß sie schon da, als sie gefunden wurde?«
»Genau so.«
Sånbergen rieb sich das Kinn. »Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber die Art, wie sie da sitzt …« Er wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte.
»Sie ist in dieser Position fixiert worden, wenn du das meinst«, erklärte Ansgar. »Du wirst es gleich sehen.«
Sie streiften sich weiße Plastikoveralls über, und Ansgar begrüßte noch einen abseitsstehenden Kollegen, während Sånbergen schon die Lichtung betrat. Er steuerte aber nicht gleich auf die Leiche zu, sondern ging zunächst die nähere Umgebung ab, spürte das Gras unter den Füßen, den unebenen Untergrund, mal weicher, mal härter, zum Teil von Moos durchsetzt.
Zwei Beamte, ebenfalls in Overalls, drehten den Kopf in seine Richtung, als würden sie darauf warten, dass er sich endlich die Leiche ansah. Ein weiterer Mann näherte sich und strich die Kapuze vom Kopf. Die Sonne glänzte auf dem kahl rasierten Schädel. Bartstoppeln wuchsen um das massige Kinn. Er hatte fast exakt Sånbergens Statur, aber sein Rumpf wirkte ungewöhnlich starr.
Der Mann begrüßte Sånbergen mit einem zu kräftigen Handschlag. »Ich bin Jan Philips von der Staatsanwaltschaft.«
»Freut mich, Marven Sånbergen. Ich wurde Ihnen zugeteilt.«
»Gut, dass Sie so schnell hier sein konnten. Die meisten Kollegen wissen schon von Ihnen. Sie werden mit Kommissarin Hanna Wiedmann zusammenarbeiten.« Er deutete auf eine der weißen Gestalten auf der Lichtung. Sie bewegte sich geradlinig, schnörkellos. »Hanna leitet die kriminalpolizeiliche Abteilung seit zwei Jahren. Für diesen Fall ist sie jetzt Ihnen unterstellt. Weil sie weniger Dienstjahre hat als Sie. Hanna wird Sie nachher zu Ihrer Unterkunft bringen. Sie sind doch allein angereist?« Wie sein ganzer Körper blieb auch Philips’ Gesichtsausdruck die ganze Zeit unbewegt, er schien nicht einmal zu blinzeln.
»Ich bin allein hier. Meine Tochter ist bei meiner Schwester geblieben.«
»Sie kommen aus Nordjütland?«
Sånbergen nickte. »Wir wohnen auf dem Land, auf einer ehemaligen Farm.«
»Auf einer Farm?« Nun blinzelte Philips doch, zum ersten Mal.
»Wir haben etwas Ackerland, nicht viel, nur für ein paar Kartoffeln, Kohl und Zuckerrüben, wenn der Winter mitspielt.«
»Ein Polizeibeamter, der nebenbei eine Farm betreibt? Das höre ich zum ersten Mal.« Die Vorstellung schien Philips zu verstören, so als fände er etwas Unvereinbares zwischen grober Feldarbeit und feinem kriminalistischem Spürsinn.
Eine Sichtweise, der Sånbergen nicht zum ersten Mal begegnete, die er nicht missbilligte, aber auch nicht teilte. Für ihn lag eine ursprüngliche Art von Gerechtigkeit in dem, was der Boden den einen Monat nahm und den anderen gab – gänzlich unbestechlich, unvoreingenommen und unbestimmt.
Er zwängte seine Hände in Vinylhandschuhe. »Ist die Leiche schon freigegeben?«
Philips nickte. »Ich erwarte Ihren Bericht so schnell wie möglich.«
»Natürlich«, sagte Sånbergen, ging auf die Lichtung und trat in den Pavillon, um die Tote zu begutachten.
4
Sie trug ein weißes Kleid mit weiten Ärmeln. Mit dem Rücken lehnte sie gegen einen dichten Weidenstrauch, dessen kräftige Äste aus dem Boden ragten. Der Kopf war leicht zur Seite geneigt und ruhte auf dem Strauchwerk, die Beine waren übereinandergeschlagen. Eine Hand schien das Kinn zu stützen, die andere lag flach auf dem Bauch. Es wirkte, als hätte die Frau sich dort niedergelassen, um ein wenig auszuruhen und die Landschaft zu betrachten. Eine Pose wie für ein Gemälde, dachte Sånbergen. Als ob der Täter sie geformt hätte, nachdem die Leichenstarre sich wieder gelöst hatte.
Jemand trat ins Zelt und räusperte sich. Eine Frau in den Dreißigern. Ein distanziertes Lächeln. Aus dem hellen Gesicht, fast ebenso weiß wie der Overall, stachen dunkle Augen heraus. Wie aus Porzellan, dachte Sånbergen. Ihre Haut glänzte matt und wirkte beinahe durchscheinend.
»Ich bin Hanna Wiedmann, Sie müssen Marven Sånbergen sein.« Ihre Stimme hatte eine hohe Tonlage, ohne spitz zu klingen, der Blick huschte von seinen Augen über seine Mund- und Kieferpartie, dann wieder zurück. Ein Wimpernschlag.
»Verzeihen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Freut mich, Sie kennenzulernen«, antwortete Sånbergen. »Haben Sie die Leiche schon begutachtet?«
Hanna nickte. »Wir haben aber nichts verändert.«
Vielleicht auch helles Elfenbein, dachte Sånbergen, als sein Blick noch einmal an ihren Wangen hängen blieb. »Gibt es schon eine Vermutung über die Todesursache?«
»Nein. Aber wir gehen von einem Tötungsdelikt aus. Jemand hat sie in dieser Position fixiert. Ihre Hand wurde am Kleid festgeklebt, wir nehmen an, mit einem handelsüblichen Sekundenkleber, den auch Bestattungsunternehmen benutzen. Es scheint außerdem feste Verbindungen zwischen dem Rumpf und dem Gehölz der Weide zu geben. Und wenn Sie ihr Kleid heben, sehen Sie, dass die Beine im Bereich der Knöchel mit einer Achtertour zusammengebunden sind.«
Sånbergen trat an die Tote heran und prüfte es. Tatsächlich gab es allein rund ein Dutzend dieser Fixierungen an Rumpf und Kopf und dazu noch weitere an Fingern, Unterarmen und im Gesicht. Es erforderte Präzision, die richtigen Punkte zu finden und miteinander zu verbinden, das konnte unmöglich auf Anhieb funktionieren. Der Täter musste es vorher an dem Opfer oder an jemand anderem getestet haben.
Als Sånbergen sich neben die Leiche kniete, nahm er einen süßlichen Verwesungsgeruch wahr. Kleine Fliegenlarven waren im Bereich von Nase und Mund zu erkennen. Normalerweise brauchten sie vierundzwanzig Stunden, um zu schlüpfen, aber bei diesen sommerlichen Bedingungen entwickelten sie sich womöglich deutlich schneller.
Er begann, nach Hinweisen darauf zu suchen, wie die Frau ums Leben gekommen war. In den Bindehäuten der offenen Augen hatten sich Stauungsblutungen gebildet, das Gesicht war aufgedunsen. Indizien dafür, dass sie erstickt war. Doch es gab keine Male im Halsbereich, keine Strangfurchen oder Druckstellen. Überhaupt keine Hinweise auf ein gewaltsames Vorgehen, keine sichtbaren Wunden, auch keine Einstiche am Ellenbogen oder am Hals – nur eine kleine, alte, flächige Narbe am rechten Handteller.
»Was ist mit der Spurensicherung? Hat sie irgendwas gefunden, das als Tatwaffe in Betracht kommen könnte?«
»Nein, nichts.«
Sånbergen legte eine Hand auf den Boden. Der Untergrund war feucht, das Gras unregelmäßig gewachsen, an manchen Stellen fünfzehn Zentimeter hoch. Die Grashalme zu Füßen der Leiche waren in seine Richtung gebogen, und er glaubte, noch weitere zu erkennen – eine Spur von umgeknickten Halmen, die über die Lichtung direkt bis zur Leiche führte.
»Was denken Sie?«, fragte Hanna.
Sånbergen drehte die Tote etwas auf die Seite und nahm sie von hinten in Augenschein. Da waren ausgeprägte Leichenflecke an Oberschenkeln und Waden. Sonst nichts. Er ließ sie wieder zurücksinken, blickte in Richtung der Zufahrtsstraße und richtete sich auf. »Den Spuren nach hat er sie über das Gras hierhergeschleift. Aber weder an ihrem Kleid noch an den Beinen oder Schuhen sind Erdspuren oder Grasflecke. Ich frage mich, wie er vorgegangen ist.«
»Er könnte ihre Kleidung gewechselt und ihr das Kleid erst hier angezogen haben.«
Sånbergen nickte zunächst, stellte sich die Täterbewegungen vor, aber etwas passte nicht. »Dazu müsste er die Leiche auf dem Boden hin- und hergedreht und seine Füße dabei ins Gras gestemmt haben. Ich glaube nicht, dass die Spuren hier um die Leiche das hergeben. Wir haben nur die Schleifspur des Opfers und gleichmäßig tiefe Schuhabdrücke des Täters, soweit ich das erkennen kann.«
Der Täter hatte einen ungewöhnlich hohen Aufwand betrieben, und er war gut vorbereitet gewesen. Er hatte Utensilien gebraucht – Binden, Kleber, Messer, je nach Tageszeit vielleicht eine Taschenlampe, womöglich auch eine Vorlage, nach der er die Position des Opfers erstellte. Aber die Spurensicherung hatte bislang nichts von alldem gefunden und auch sonst nichts, was auf den Täter hindeutete. »Er könnte sie auf einer Kunststoffplane hergezogen haben, vielleicht sogar in einem Plastikoverall.« Ein Vorgehen, das Sånbergen fast professionell genannt hätte.
Ansgar kam hinzu. »Habt ihr euch ein Bild gemacht?«
»Schon, aber noch wissen wir nicht, wie sie zu Tode gekommen ist«, sagte Hanna. »Es gibt hypoxische Zeichen – könnte der Täter sie erstickt haben?«
»Möglich, aber was das angeht, müsst ihr euch gedulden, bis ich sie mir genauer angesehen habe.«
Sånbergen war nicht zufrieden mit der Antwort, er brauchte zumindest eine Arbeitshypothese. »Wir haben keine Verletzungen im Halsbereich gesehen, nicht mal Einschnürungen. Wenn sie nicht gewaltsam ums Leben gekommen ist …«
»Dann gibt es noch ein halbes Dutzend andere Möglichkeiten«, wehrte Ansgar entschieden ab. »Ich weiß, dass ihr das wissen müsst, aber ich kann hier ja nicht mal den Rachenraum untersuchen. Der Täter hat die Lippen zusammengeklebt, um zu verhindern, dass der Unterkiefer runterfällt.«
Sånbergen hatte sich mehr erhofft. Er war ungeduldig, wenn es um solche Dinge ging, vielleicht zu ungeduldig. Außerdem setzten ihm die hohen Temperaturen zu. Die Hitze staute sich in dem Overall.
»Wozu ich schon etwas sagen kann, sind die Fliegenlarven.« Ansgar kniete sich neben die Tote. »Sie geben uns am ehesten einen ersten Hinweis darauf, wie lange sie hier schon liegt.« Er deutete auf die Partien um Nase und Mund. »Seht ihr? Die meisten sind frisch geschlüpft, einige sind sogar schon fünf Millimeter groß. Die Temperaturen machen die Schätzungen leider etwas ungenau, aber ich denke, das Opfer wurde hier vor ungefähr sechsunddreißig Stunden abgelegt.«
»Am späten Dienstagabend also«, sagte Hanna. »Wahrscheinlich hat der Täter gewartet, bis es dunkel wird, gegen zweiundzwanzig Uhr. So hätte ich es jedenfalls gemacht.«
»Sie sagen, der Täter – Sie gehen also von einem Mann aus?«, fragte Sånbergen.
»Vorerst schon. Statistisch gesehen ist es wahrscheinlicher. Außerdem musste die Leiche aus dem Auto gehoben und hierhergebracht werden, und das, ohne ihr auch nur die kleinste Schürfwunde zuzufügen.«
Sånbergen nickte, hatte aber zunehmend Probleme, die Konzentration zu wahren. Ihm war heiß, er musste endlich diesen Overall loswerden. Für den Moment öffnete er den Reißverschluss ein wenig, atmete tief durch und lief ein paar Schritte zum Rand der Lichtung. Aus der Entfernung, wo er etwas Schatten im Schutz der Bäume fand, betrachtete er das vor ihm liegende Szenario noch einmal. Alles wirkte bis ins Detail geplant. Eine Tat ohne Hektik. Das Ganze hier hatte nichts mit einem Raubmord oder einem Totschlag im Affekt zu tun.
»Ich will, dass nichts von alldem an die Presse rausgeht. Nichts über das weiße Kleid und nichts über die Fixierungen.«
Hanna nickte.
Desgleichen Ansgar, der nun ebenfalls seinen Anzug öffnete. »Wenn ihr mich nicht mehr braucht, dann sprechen wir uns morgen nach der Obduktion – falls du nicht dabei sein willst?«
»Verzichte.«
»Vielleicht gehen wir danach noch ein Bier trinken?« Ansgar hob die Hand zum Gruß und entfernte sich, ohne eine Antwort abzuwarten.
Beschäftigt mit den Eindrücken des Anblicks der toten jungen Frau, hing Sånbergen für eine Weile seinen Gedanken nach, und auch Hanna verlor kein Wort, während sie sich aus den Overalls schälten. Bei ihr kamen glatte blonde Haare zum Vorschein, die auf die Schultern fielen. Die Haut an Hals und Armen war ebenso blass wie ihr Gesicht. Eine vornehme Blässe, die wie unberührt wirkte. Wieder musste Sånbergen an Porzellan denken. Eine ansprechende Erscheinung, das musste er zugeben, aber er verspürte kein Interesse an einer Liaison mit ihr. Weder mit ihr noch mit irgendeiner anderen Frau, die Unruhe in den Fall und in sein Privatleben brächte.
Ansgar kam noch einmal zurück, kramte einen Autoschlüssel heraus und reichte ihn Sånbergen. »Für zwei, drei Tage kannst du meinen Rover haben, bis du einen Dienstwagen oder einen Leihwagen hast.«
»Bist du sicher? Wie kommst du hier weg?«
»Ein Kollege nimmt mich mit, und zu Hause habe ich noch einen Zweitwagen stehen.«
»Okay. Vielen Dank.«
Ansgar entfernte sich, und Sånbergen betrachtete den Schlüssel in seiner Hand. Er überlegte, was als Nächstes zu tun wäre. »Wissen Ellen Bergs Eltern schon Bescheid?«
Hanna schüttelte den Kopf. »Sie wohnen dahinten, am Ortsrand von Padborg, gleich hinter dem Grenzstreifen. Das ist Luftlinie nur fünfhundert Meter von hier.«
Sånbergen startete Ansgars Rover und folgte Hannas Wagen den Feldweg entlang, der auf die Landstraße führte. Bald darauf passierten sie das Kontrollhäuschen und überquerten die Grenze. Dänischer Boden. Schmale, mit Schiefer bedeckte Häuser. Keine Menschenseele auf der Straße, die wie ausgestorben vor ihnen lag. Niemand, der in den winzigen Vorgärten den Rasen mähte, keine Kinder, die mit Kreide auf den Gehsteig malten. Dieser Ort wirkte, als hätte man ihn fluchtartig verlassen.
Hanna drosselte das Tempo, als zur Rechten eine gepflasterte Einfahrt auftauchte, die zum Hof eines größeren Anwesens führte – ein zweistöckiges, weiß getünchtes Steingebäude mit rotem Satteldach. Ein altes Haus, das nachträglich große Fensterfronten und neue Ziegel bekommen hatte. In einer umgebauten Scheune zwei hochpreisige Autos, zwei neue Mercedes-Modelle. Die Zufahrt stand offen.
Sånbergen rollte hinter Hanna auf den Hof und bis vor das Haus. In einem Gehege neben dem Gebäude pickten braune Hühner Körner vom Boden und stoben schreckhaft auseinander.
Hinter einem Erdgeschossfenster wurde die Gardine zur Seite geschoben. Eine Frau sah zu ihnen heraus, und Sånbergen überkam eine melancholische Schwere angesichts dessen, was ihnen bevorstand.
Er stieg aus und ging zusammen mit Hanna auf das Haus zu, so langsam und verhalten, dass für einen Beobachter wohl schon zu erahnen war, dass sie Schlimmes zu berichten hatten. »Muss ich etwas wissen? Gibt es irgendetwas Aktenkundiges über die Familie?«
»Nein, gar nichts. Wieso fragen Sie?«
»Ich will nur sichergehen, dass wir keine Überraschungen erleben.« Er klingelte.
Die Frau öffnete die Tür, erst einen Spaltbreit, dann noch ein weiteres Stück, bis sie ihren schmalen Kopf, auf dem ein hoher Dutt aus graublonden Haaren steckte, dazwischenschieben konnte. Aus dem Flur roch es nach Bienenwachs und Leder.
Sånbergen zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Kommissar Marven Sånbergen und Kommissarin Hanna Wiedmann von der Polizeistation Harrislee. Sind Sie Brigitta Berg?«
Die Frau schluckte. »Ja, ich bin Ellens Mutter.« Ihr Gesicht spiegelte Hoffnung und Angst zugleich. »Haben Sie sie gefunden?«
Sånbergen musste sich räuspern. »Wir denken, ja. Es tut mir sehr leid …« Mehr brachte er nicht heraus.
Brigitta Berg stieß einen erstickten Laut aus, wankte und suchte Halt an Tür. »W… Wie …?«, stotterte sie. »Und Sie sind ganz sicher, dass es Ellen ist?«
»Noch nicht endgültig. Sie müssten sie in der Gerichtsmedizin identifizieren. Aber nach dem Foto, das wir haben, ist es sehr wahrscheinlich. Und sie hat eine alte, flächige Narbe am rechten Handteller …« Die letzten Worte waren ihm nur schwer über die Lippen gekommen.
Die Spannung wich aus Brigitta Bergs Schultern, und ihre Augen schienen mit einem Mal tief in den Höhlen zu versinken.
Hanna ergriff das Wort. »Ich weiß, das ist eine furchtbare Nachricht. Aber können wir trotzdem kurz sprechen?«
Brigitta senkte den Blick. Die Arme hingen schlaff zu den Seiten herunter. Für ein paar Sekunden stand sie nur da, dann nickte sie, ließ die beiden eintreten und führte sie in einen schwach beleuchteten Raum, in dem eine moosgrüne Sitzgruppe und ein Couchtisch standen.
Sie nahmen Platz, und Sånbergen bemerkte, dass auf einem Stuhl in der Ecke ein grauhaariger Mann saß, der keinen Laut von sich gab. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, hielt er Schuh und Bürste in den Händen, aber betrachtete sie bloß, als wäre er mitten in der Bewegung eingefroren. Brigitta stellte ihn als ihren Mann Hans vor, und er nickte nur.
Keine Musik, keine Geräusche, keine Stimmen waren zu hören. Eine erdrückende Stille, in die hinein Sånbergen nun zu berichten begann, was geschehen war. Brigitta und ihr Mann lauschten wortlos, bis er eine Pause machte.
»Es tut mir leid, ich weiß, das muss gerade ganz schrecklich für Sie sein«, ergriff nun Hanna das Wort und beugte sich vor. »Ich würde Sie trotzdem gern ein paar Sachen fragen. Ellen hat an der St.-Albert-Hochschule studiert, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt. Sie wollte unbedingt Medizin studieren, so wie ihr Vater.« Brigitta sah zu ihrem Mann in der Ecke, der noch immer kein Wort gesagt hatte.
»Sie haben Ellen gestern früh als vermisst gemeldet. Wann hatten Sie sie denn zurückerwartet?«
»Dienstag. Dienstagnachmittag. Meist kommt sie gegen sechzehn Uhr nach Hause. Manchmal, wenn sie noch etwas besorgen geht, auch mal später.«
»Hatte sie das vorgehabt? Wollte sie noch etwas besorgen gehen oder jemanden treffen?«
»Sie wusste es noch nicht genau. Sie sagte, vielleicht würde es etwas später werden, aber zum Abendessen wäre sie in jedem Fall wieder zu Hause. Das ist bei uns um neunzehn Uhr.«
»Wo könnte sie hingegangen sein?«
Brigitta schien zu überlegen. Sie atmete schwer, es kostete sie sichtlich Mühe, über ihre Tochter zu reden. »Manchmal geht sie nach Padborg, etwas einkaufen, oder auch in Karls Buchladen in Harrislee. Und alle sechs Wochen organisiert sie Veranstaltungen für die FMR, wo sie dann auch vor Ort ist.«
»FMR? Was ist das?«
»Eine Stiftung. Sie sammelt Gelder, die medizinischen Forschungen zugutekommen. Eine dänische Einrichtung, mein Mann arbeitet ebenfalls für sie.«
Wieder richteten sich die Blicke auf Hans Berg, der sich nun mit gebrochener Stimme zu Wort meldete.
»Die FMR sitzt in Odense, zudem hat sie ein Büro in Sønderborg. Es ist eine gute Sache, Ellen engagiert sich dort schon seit ihrer Schulzeit.«
»Verstehe.« Hanna wandte sich wieder Brigitta zu. »Und zuletzt gesehen haben Sie Ellen wann?«
»Dienstag, frühmorgens um sieben Uhr, dann ist sie los zur Uni. Sie sagte, sie würde den ganzen Tag dortbleiben, denn nachmittags um halb drei hatte sie einen Termin mit Sophie Winter.«
»Wer ist das?«
»Ellens Betreuerin an der St. Albert, ihre Doktormutter. Mein Mann hatte sie empfohlen.«
Hans Berg sah auf und erklärte: »Ich bin auch Mediziner. Ich kenne Sophie Winter zwar nicht persönlich, aber ihre Arbeiten. Und Ellens Interessen lagen auf demselben Gebiet, der Pharmakologie.« Er sprach langsam und ruhig, mit leiser Stimme.
»Sicher haben Sie mit Frau Winter schon wegen Ihrer Tochter gesprochen?«, fragte Hanna.
»Ja, gestern Mittag«, sagte Brigitta. »Sie meinte, Ellen sei am Vortag bei ihr gewesen und um fünfzehn Uhr dreißig wieder aufgebrochen. Wie gesagt: Normalerweise ist sie spätestens um neunzehn Uhr zu Hause …« Sie nahm einen dampfenden Becher vom Couchtisch, hielt ihn vorsichtig zwischen beiden Händen und schaute mit leerem Blick hinein.
»War Ellen regelmäßig bei ihrer Doktormutter?«
Brigitta antwortete erst nach einer kurzen Pause. »Jeden Dienstag. Sophie wohnt etwas nördlich von Harrislee, am Dammweg in Wassersleben, das ist direkt an der Förde. Ellen ist die Strecke immer zu Fuß gegangen.« Sie führte die Tasse zum Mund, zuckte, als der heiße Dampf ihre Lippen berührte, und stellte das Gefäß wieder zurück auf den Tisch. »Happy Birthday«, stand darauf. Sie schien zu bemerken, wie Hanna die Tasse betrachtete, und drehte sie mit der Aufschrift zu sich. »Die gehört Ellen. Ein Geschenk von Tommy, ihrem Freund«, erklärte sie.
»Tommy? Ellen hatte einen Freund?«
»Ja, Tommy Holsmark. Er geht auch auf die St. Albert. Sie waren seit zwei Jahren zusammen.«
»Sie haben ihn sicher angerufen, als Sie sich Sorgen um Ellen gemacht haben?«
»Natürlich. Er sagte, er habe Ellen zuletzt am Dienstag in der Uni gesehen. Er ist ein guter Junge. Er mochte Ellen sehr.« Brigitta versank erneut in Schweigen, und ihr Blick verlor sich irgendwo im Raum.
Im Obergeschoss war ein leises Tapsen zu hören. Sånbergen blickte zur Treppe, die im hinteren Teil des Wohnzimmers nach oben führte. Ein kleiner Retriever kam herunter, blickte sich um und ließ sich schwerfällig in einen Hundekorb fallen.
»Das ist Ellens Hund, Millie. Sie wartet auf ihr Frauchen.«
»Ellen hat oben gewohnt?«
Brigitta nickte.
»Dürfen wir uns die Räume ansehen?«
»Selbstverständlich.«
Brigitta führte sie nach oben in einen abgeschlossenen Wohnbereich, der mit Pflanzen und Kerzen dekoriert war. Küche, Badezimmer, Schlafzimmer, eine kleine Arbeitskammer. Brigitta öffnete die Türen, ohne selbst über die Schwellen zu treten.
Die Zimmer waren aufgeräumt. Im Schlafzimmer hingen große Poster von Musikern an hellen Wänden. Das Fenster war mit einem fliegenden Vogel aus Buntglas behängt. Überall standen kleine Pflanzen auf den Kommoden und Schränken, kein welkes Blatt, kein Staub in den offenen Regalen. Die Bücher waren der Größe nach geordnet und schlossen vorn bündig ab. Alles hier stand an seinem Platz und machte den Anschein von Struktur und Ordnung.
Auf einer türkisfarbenen Fotopappe klebten Bilder von Ellen und einem etwa gleichaltrigen jungen Mann. Sånbergen betrachtete sie aufmerksam und sah sich dann fragend zu Ellens Mutter um.
Brigitta machte nun doch einen Schritt ins Zimmer. »Das ist Tommy«, sagte sie. »Und das Mädchen auf den anderen Fotos ist ihre beste Freundin, Mia Hagemann. Die drei waren wie Pech und Schwefel. Mia ist auch auf der St. Albert. Wir haben gestern mit ihr gesprochen, sie hat Ellen auch zum letzten Mal am Dienstag in der Hochschule gesehen.«
Drei wie Pech und Schwefel, dachte Sånbergen, zwei junge Frauen und ein junger Mann. Auf den Bildern trug Ellen farbenfrohe, sportliche Kleidung, Jeans und T-Shirts.
»Besitzt Ellen ein weißes Kleid mit weiten Ärmeln?«
Verwundert schüttelte Brigitta den Kopf. »Nein, so etwas würde sie wohl nicht anziehen.«
Sånbergen entdeckte noch eine weitere Person auf den Bildern. Aber diese Frau war deutlich älter, um die vierzig. Unter einer zimtfarbenen Ponyfrisur leuchteten klare grüne Augen. »Wer ist das?«
»Sophie, Ellens Doktormutter.« Brigitta drehte sich zum Regal und nahm ein schmales Buch mit Einband heraus – »Quellen des Lebens«. Das Autorenfoto auf der Rückseite zeigte dieselbe Frau. »Das hat Ellen sich von ihr geliehen. Sie mochten sich, glaube ich.«
»Darf ich das Buch mitnehmen? Und auch ein Foto von Ellen, Tommy und Mia?«
»Ja, natürlich.«
Brigitta geleitete die beiden wieder nach unten, und kurz darauf verabschiedeten sie sich. Sånbergen und Hanna traten hinaus, und noch bevor Brigitta die Tür hinter ihnen schloss, hörte Sånbergen, wie die Frau bitterlich zu weinen begann.
5
Sånbergen folgte Hanna nach Harrislee – zunächst nur eine Ansammlung von Häusern am Horizont, über die sich ein bläulich weißer Dunst gelegt hatte. Eine Mischung aus Feuchtigkeit, Lichtreflexionen und etwas Undefinierbarem, das Häuser und Straßen abzustrahlen schienen. Hinter dem Ortsschild stand ein kleines Wartehäuschen am Rand des Weges, auf das ein mächtiger Buchenast gestürzt war.
Eine Dreißiger-Zone. Keine Gehsteige. Hecken wucherten zu beiden Seiten in die Höhe und verstellten den Blick auf Häuser und Menschen. Im diesigen Nachmittagslicht schimmerten verputzte Fassaden und Satteldächer mit schiefergrauen Schindeln durch das Grün. Eine Schar Meisen flatterte auf. Keine Menschen auf der Straße. Es war, als hielten sie Siesta, um der Hitze zu entgehen. Sånbergen dachte an eine kalte Dusche und an einen ruhigen, schattigen Ort. Er dachte an sein raues Nordjütland.
Kurz darauf erreichten sie das Ortszentrum, das deutlich belebter war. Ein roter Kirchturm ragte zwischen hohen Linden auf. Daneben ein kreisrunder Marktplatz. Ein Café hatte geöffnet. Zwei ältere Männer in hellen Hosen und Bootsschuhen saßen über einem Brettspiel und stopften ihre Pfeifen. Zwei Kinder auf Fahrrädern jagten Tauben über den Platz.
Hanna rollte mit ihrem Wagen in eine der Parkbuchten und stieg aus, während Sånbergen neben ihr hielt und das Fenster herunterließ. »Warten Sie nicht auf mich, ich finde mich schon zurecht. Ich will mich hier noch etwas umsehen.«
»Gut, wie Sie meinen.« Hanna trat an den Wagen heran, reichte Sånbergen einen Zettel mit der Adresse seiner Unterkunft und deutete die Straße hinunter. »Kurz zu Ihrer Orientierung: Da drüben ist Majks Gemischtwarenladen, zweihundert Meter weiter um die Ecke beginnt das Areal der St. Albert. Unser Bürgermeister, Hendrik Walin, hat sie vor zwanzig Jahren bauen lassen. Er ist so was wie ein Großmäzen der Gemeinde, investiert hier viel, allerdings vor allem in seine Rinder. Die eine Hälfte des Ortes liebt ihn dafür, die anderen hätten gern das alte Harrislee zurück, wie es früher einmal war.«
»Was ist so schlimm an den Rindern?«
Hanna stützte sich auf das heruntergelassene Fenster. »Walin würde am liebsten sämtliche Feuchtwiesen zwischen hier und der Grenze trockenlegen, um noch mehr Weideland zu gewinnen.« Ihr Ton wurde ernster. »Seine Pläne sind unverantwortlich für den Naturschutz. Es wird einen Protestzug dagegen geben, in einer Woche, und wir werden ganz vorn mitlaufen.«
»Wer ist ›wir‹? Sie – und wer noch?«
»Meine Töchter, Lena und Liv. Sie sind vier und sechs. Ich finde, man kann gar nicht früh genug damit anfangen, den Kindern politische Verantwortung beizubringen.«
»Ja, vielleicht.«
»Sie können sich uns gern anschließen, wenn Sie dann noch hier sind.«
Sånbergen zögerte. Ihm war unwohl bei dem Gedanken. Er war gerade erst hier angekommen, fühlte sich fremd und mochte Menschenansammlungen ohnehin nicht. Im Grunde mied er jede Art von Veranstaltung, zu der sich mehr als eine Handvoll Personen zusammenfanden. »Sie mögen Walin nicht besonders?«, fragte er ausweichend.
»Da können Sie drauf wetten. Und auch nicht das politische Geklüngel hier, wo man sich gegenseitig Vorteile verschafft, nur weil man sich kennt.«
Diese Bemerkung brachte einen neuen Gedanken in Sånbergen hervor. »Ist es eigentlich schwierig, einen Studienplatz an der St. Albert zu kriegen?«
»Und ob! Da reichen keine guten Noten. Und wenn Sie mich jetzt fragen, ob Walin politischen Einfluss darauf nimmt, wer als Student angenommen wird, obwohl die St. Albert laut Satzung überparteilich sein soll, dann kann ich ruhigen Gewissens mit ›Ja!‹ antworten.«
»Verstehe. Danke für die Führung nach Harrislee. Wir sehen uns dann morgen.«
Hanna nickte, winkte kurz zum Abschied und fuhr davon.
Sånbergen besorgte Tee, Orangen und zwei Tageszeitungen in Majks Gemischtwarenladen und lief anschließend noch einmal über den Marktplatz. Er betrachtete eine Gruppe bronzener Skulpturen von Menschen, die hier verteilt waren – sitzend, stehend, lachend und durch ihre Haltung vielfach einen gewissen Ungehorsam zeigend. Er ergründete die Posituren, die sie einnahmen, hielt Ausschau nach jener speziellen, die er vorhin am Leichenfundort gesehen hatte, stellte aber ein wenig enttäuscht fest, dass keine von diesen ihr ähnlich war.
Als er seinen Einkauf im Kofferraum verstaute, hörte er das leise Klingeln eines Glöckchens ganz in der Nähe, das er mit dem Geräusch einer sich öffnenden Ladentür verband. Er sah sich um und erblickte auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine ältere Frau, die aus einem kleinen Geschäft trat. »Karl Larsen – Bücher«, stand über dem Eingang.
Brigitta Berg hatte von »Karls Buchladen« gesprochen, in dem Ellen ab und an gewesen sei. Das musste er sein. Sånbergen überquerte die Straße. Ein Papier war in Augenhöhe auf das Schaufenster geklebt: »Suche Verkäufer/-in für 20 Stunden pro Woche. Bei Interesse bitte im Laden melden.«
Eine Stelle als Buchverkäuferin. Sånbergen dachte an seine Schwester Clara, die nur allzu gern Zeit in Läden wie diesen verbrachte. Sie liebte Bücher, alle Arten von Büchern, egal ob Kurzgeschichten oder dicke Wälzer, Kindergeschichten oder Liebesromane. Schon als kleines Mädchen war sie fasziniert gewesen von den Welten, die sich hinter diesen seltsamen Anordnungen von Strichen und Bögen versteckten. Und als ihr niemand zeigte, wie sie zu entziffern wären, hatte sie heimlich die Zeitungsknäuel aus ihren nassen Schuhen gezogen und wieder glatt gestrichen, um sich die Bedeutung selbst anzueignen. Noch heute versank sie oft so tief in einer Geschichte, dass sie aufschreckte, wenn Sånbergen sie ansprach oder, falls das nicht reichte, anstupste.
Die letzte Arbeitsstelle, die Clara angenommen hatte, war eine wie diese gewesen, aber sie hatte sie schnell wieder verloren. Zu sehr war sie bei ihren Aufgaben zerstreut oder unachtsam gewesen – wenngleich ohne böse Absicht und auch nicht aus Gleichgültigkeit –, sodass man einen geschäftlichen Schaden befürchtete, wenn man sich nicht von ihr trennte. Es hieß, sie sei zu oft mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und es falle ihr schwer, einer festen Struktur zu folgen, die für eine solche Tätigkeit nun einmal unerlässlich sei.
Sånbergen wusste um Claras Schwächen, aber er konnte ihr nicht dabei helfen, sie aus der Welt zu schaffen. Und die Ärzte konnten es auch nicht. Sie glaubten, es sei Claras Art, Ruhe in ihrem Kopf zu finden, wenn sie sich in Geschichten oder in ihren eigenen Gedanken verlor, und irgendwann war man übereingekommen, dass sie an einer Entwicklungsstörung litt, wohl aufgrund eines Mangels an sozialen Kontakten und Fürsorge im Kindesalter.
Der Geruch von Zimt schlug Sånbergen entgegen, und das Öffnen der Tür sorgte für ein wildes Gezwitscher zweier Zwergpapageien, die in einem gelben Käfig mit randvoll gefüllten Fressnäpfen hockten.
Ein älterer Herr mit freundlichem Gesicht und schlohweißem Haar kam auf Sånbergen zu und stellte sich als der Ladeninhaber Karl Larsen vor. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin Kommissar Marven Sånbergen und ermittle in einem mutmaßlichen Tötungsdelikt, das sich unweit von hier ereignet hat.« Er zeigte seinen Dienstausweis.
»Ich dachte es mir schon, als Sie durch die Tür kamen. Ich meine, dass Sie der neue Kommissar sind.«
Sånbergen sah ihn verwundert an und verstand nicht, wie sich das so schnell hatte herumsprechen können und was an seinem Äußeren auf einen Kommissar hindeuten würde.
»Es kommt sehr selten vor, dass jemand in den Laden kommt, den ich nicht kenne«, erklärte Larsen. »Und ich sehe es den Leuten an, wenn sie nicht wegen eines Buches da sind.«
»Verstehe.« Sånbergen holte ein Foto der Toten hervor und zeigte es dem Mann. »Diese Frau wurde heute früh tot in der Nähe von Harrislee aufgefunden. Kennen Sie sie?«
Larsen nickte bekümmert. »Dann stimmt es also, was die Gerüchte sagen.«
»Sie kennen sie?«
Der Buchhändler nickte erneut und sah weiter auf das Foto. »Ja, das ist Ellen Berg. Sie war regelmäßig hier. Nicht oft, vielleicht einmal im Monat. Aber oft genug, um mal ins Gespräch zu kommen.« Als er wieder aufblickte, hatten sich seine Gesichtszüge verändert, er wirkte müder als zuvor. »Das tut mir sehr leid. Ich habe sie wirklich gemocht. Ich kann das überhaupt nicht begreifen.«
»Wir stehen ganz am Anfang der Ermittlungen und wissen noch nichts über die Beweggründe des Täters. Um die zu verstehen, müssen wir wissen, wie Ellen Berg gelebt hat.«
Larsen nickte abermals. »Ja, natürlich, fragen Sie nur, ich sage Ihnen, was ich kann.«
»Wann ist sie das letzte Mal hier gewesen?«
»Das ist eine Woche her. Sie hat draußen ihren Hund angebunden, einen kleinen Retriever, hat sich zwei Bücher rausgesucht und damit in die Leseecke gesetzt. Meistens hat sie die Bücher wieder zurückgestellt, manchmal auch eins gekauft.« Er seufzte. »Für mich war es in Ordnung, wenn sie nur zum Lesen herkam.«
»Wie war es letzte Woche, hat sie da ein Buch gekauft?«
»Ja, ein Buch über die Aufzucht von jungen Hunden. Sie war sehr tierlieb. Sie hat es kaum übers Herz gebracht, ihren Hund allein vor der Tür zu lassen. Alle fünf Minuten hat sie nachgesehen, ob er noch da ist.« Larsen lächelte. »Sie war immer freundlich und gut gelaunt. Wenn sie hereinkam, hat sie als Erstes die Papageien begrüßt. ›Hallo, Jack und Jude‹, hat sie gesagt und ihnen dann etwas zugepfiffen. Sie hat immer eine positive Energie mit in den Laden gebracht, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ja, das verstehe ich. Vielen Dank, Herr Larsen. Mehr Fragen habe ich im Moment nicht. Darf ich mich noch etwas umsehen?«
»Aber gern.«
Sånbergen stöberte durch die Regale, wählte dann einen Abenteuerroman für Smilla aus und verabschiedete sich von dem Buchhändler. Dessen Stimmung hatte sich in der Zwischenzeit nicht wieder aufgehellt. Sånbergen verließ den Laden, und als er sich noch einmal umdrehte, sah er durch die Scheibe, wie Larsen den Vogelkäfig vom Haken nahm und Hanfsamen in die Fressnäpfe streute, obwohl die noch randvoll gefüllt waren.
***
Sånbergen stieg aus dem Wagen und kramte den Zettel aus der Hosentasche, auf den Hanna die Adresse seiner Unterkunft gekritzelt hatte: »Fördebogen – Tillmann & Tochter«.
Das musste es sein. Das dreistöckige Apartmenthaus stand weit außerhalb des Ortes auf einer Anhöhe, so nahe dem Wasser, dass der Geruch des Meeres bis hierher wehte. Weiß gefiederte Möwen segelten in weiten Bögen, holten mit kurzen Haken aus und stießen im Sturzflug ins Wasser, um kleine Fische oder Krebse zu erbeuten.
Aber Sånbergen kam noch ein ganz anderer Geruch in die Nase, ein lieblich-vertrauter – der von echten dänischen Zimtschnecken. Er musste aus dem verglasten Anbau kommen. Ein Aufsteller pries dort Fischbrötchen und Backwaren an. »Jeden Tag frisch in Jills Café«, hieß es, und eine dampfende Kaffeetasse war mit Kreide daruntergemalt. Durch ein Fenster konnte Sånbergen eine junge blonde Frau hinter einer Glasvitrine erkennen, und er trat ein.
»Moin«, sagte die Bedienung.
Der Geruch in dem Café war noch vielversprechender als erwartet. »Hej«, grüßte Sånbergen auf Dänisch und starrte die rundlichen Köstlichkeiten in der Auslage an.
Die Frau hinter der Theke musste nicht hellsehen können. »Bestimmt wollen Sie eine von denen, die gerade aus dem Backofen kommen.«
»Ich nehme gleich zwei. Eine zum Mitnehmen, bitte.«
Sie legte eine Zimtschnecke auf einen Teller, eine Serviette dazu. »Wenn Sie wollen, können Sie sich gern raussetzen. Ich habe Stühle und Tische rausgestellt, wir haben Glück mit dem Wetter.«
»Für den Moment gefällt es mir ganz gut hier drin, danke.« Er stellte sich an einen der Stehtische. »Ist jemand nebenan im Haus, der für die Apartments zuständig ist?«
»Sie wollen eins mieten? Ich hoffe, Sie haben reserviert.«
»Ich denke, jemand hat das für mich getan.«
»Mein Vater ist dafür zuständig. Seien Sie ihm nicht böse, wenn er unfreundlich ist. Ich sag ihm immer, er soll sich etwas Mühe geben, sonst vergrault er noch unsere Gäste, und dann sagt er, es sei ihm egal, was aber eine Lüge ist.«
»Ich werde es ihm nachsehen.«
Die Zimtschnecke war goldfarben gebräunt, mit glasierten Blaubeeren verziert und mit Kardamom bestreut, noch warm, außen knusprig und innen doch so weich, dass der Teig wie von selbst im Mund zerging. Sie war genau so, wie Sånbergen sie als »Kanelsnegle« aus Nordjütland kannte. Ich würde vieles dafür stehen lassen, vielleicht mich sogar eines kleinen Vergehens schuldig machen, dachte er und war bislang schon mal ganz zufrieden mit seiner Unterkunft.
Wenige Minuten später verließ er das Café durch die Glastür und betrat das Hauptgebäude nur wenige Meter weiter durch eine schwere Eichentür. Die Scharniere waren mit braunem Rost überzogen und quietschten. Ein muffiger Tabakgeruch hing in dem Empfangsraum. Es fiel kaum Licht durch das schmale Fenster. Ein kleiner Portier mit fast kreisrundem Kopf und Glatze stand hinter dem Tresen. Er begrüßte Sånbergen mit einem »Moin«, ohne aufzusehen.
»Hej. Da ist ein Zimmer für mich reserviert, auf den Namen Sånbergen.« Er schob dem Portier seinen Ausweis hin, den der aber mit keinem Blick zu würdigen schien.
»Hm, bleiben Sie länger?«
»Eine Woche, vielleicht auch zwei.«
»Okay. Ich bin Jens, und das sind meine Regeln: keine Tiere, keine Zigaretten oder Drogen, keine laute Musik.« Er sprach in gleichgültigem Ton. »Sie sind nicht von hier?«
Es klang für Sånbergen wie eine polizeiliche Befragung, der er unterzogen wurde. »Ich bin aus Nordjütland.«
»Ich höre es an Ihrem Akzent. Meine Tochter Jill hat es mal nach Dänemark verschlagen, nach Aalborg, wegen eines Jungen. Es hat nur ein paar Monate gehalten, dann ist sie wieder zurückgekommen. Sie führt jetzt das Café nebenan.«
»Ja, ich weiß.«
Endlich sah Jens zu Sånbergen auf. Jill hatte ganz recht, was die Art ihres Vaters anging. »Wie auch immer, Sie kriegen das Zimmer im dritten Stock.« Mit jedem Satz war Jens’ norddeutscher Akzent ein wenig ausladender geworden, als wollte er mit seiner Sprache Sånbergens dänischer Herkunft trotzen, und er verabschiedete ihn mit einem betonten »Moin«.
Sånbergen stieg in den dritten Stock, betrat sein Zimmer und knipste das Licht an. Der Farbton des Teppichbodens erinnerte ihn an die Lichtung, auf der Ellen Bergs Leiche gefunden worden war. Der klapprige Sessel quietschte, als er sich hineinfallen ließ. Schon jetzt vermisste er seinen Schaukelstuhl auf der Veranda, den Clara wohl nun in Beschlag genommen hatte.
Noch bevor er seinen Trolley auspackte, rief er sie an, um sich zu vergewissern, dass mit Smilla alles in Ordnung war. Und Clara konnte ihn beruhigen. Smilla sei mit einem der Nachbarskinder unterwegs gewesen und habe Schnecken gesammelt. Ihr gehe es gut.
»Danke, dass du dich um sie kümmerst, Clara«, sagte er noch, bevor er auflegte, aber eine leichte Skepsis schwang darin mit. Er wusste, dass Clara zuweilen konfus in ihren Handlungen war und dass sie ihre Termine oder auch einfach nur die Zeit vergessen konnte, wenn sie mit sich selbst beschäftigt war. Er würde ab und zu anrufen müssen, um sich bei ihr zu versichern, dass weiterhin alles in Ordnung war.
Sånbergen nahm eine Dusche und ließ den Tag ausklingen, wie er es am liebsten tat: Er goss einen Tee aus gelben Hagebutten und Sanddorn auf und studierte am Laptop die Börsenkurse sowie die Handballergebnisse, auch wenn die für seinen Lieblingsclub, Brønderslev IF, in letzter Zeit meist wenig erfolgreich ausfielen.
Es dauerte bis Mitternacht, ehe es ihm gelang, die Ereignisse des Tages aus seinem Kopf zu verbannen und durch friedliche Bilder seiner Heimat zu ersetzen. Dann zog er sich die Decke über die Schultern, schloss die Augen und ignorierte den muffigen Geruch des Kopfkissens, um in den Schlaf zu kommen.
6
9.April 1996, irgendwo in Dänemark
Nummer sieben. Mein Zimmer. Ich kenne jeden Winkel. Eine Seite ist sechs Schritte lang, die andere acht, ich habe es gemessen. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch und ein Schrank. Und ein Fenster, durch das ich hinaussehen kann.
Manchmal sehe ich die halbe Nacht hinaus, obwohl es dunkel ist. Dann ist es still, und ich kann den Mond am Himmel sehen. Er hat ein Gesicht, rund und pausbäckig, nicht besonders hübsch. Er ist stumm, wahrscheinlich hört er auch nichts, und die Augen sind kaum zu erkennen. Aber irgendwie denke ich, er sieht auf mich herunter. Als ob er mich beobachten würde. Vielleicht wacht er über mich und gibt auf mich acht. Damit ich mich weniger allein fühle.
Heute ist kein Mond zu sehen. Ein Gewitter ist aufgezogen. Blitze am Horizont. Dann kommt der Donner. Ich kann ihn nicht sehen, aber die Fensterscheibe zittert. Das macht mir Angst. Vielleicht auch dem Mond. Wir verkriechen uns beide. Ich unter der Decke und er hinter den Wolken.
7
Tag 2, Freitag, 23.Juni