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Hamburg-Eimsbüttel. Vor dem Hintergrund der wilden 1968er entwickeln sich die beiden Schwestern Anne und Eva Reimers sehr unterschiedlich. Während sich Anne, angeregt durch die Begegnung mit dem Studenten Peter Schäfer, der politischen Protestbewegung anschließt, interessiert Eva sich hauptsächlich für Musik und Mode und träumt von einem Leben als Ehefrau. Doch dann wird beiden das Herz gebrochen. Wird es ihnen dennoch gelingen, ihr Glück zu finden?
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Seitenzahl: 415
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Sofie Berg
Alsterherzen
Roman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – mirrorpix;
powell’sPoint / shutterstock
ISBN 978-3-8392-7042-4
Für Jens & Simon Ich liebe euch
Hamburg 1962
Annes Nase presste sich noch ein Stückchen fester gegen die Scheibe. Ihre zu Schutzschilden geformten Hände schufen eine Verbindung zwischen ihrem Kopf und dem Glas. Doch alle Mühe war vergebens. Durch das gleißende Sonnenlicht, das auf das Schaufenster fiel, blieb das Ladeninnere eine dunkle Höhle, die ihre Schätze vor der Außenwelt verbarg.
Denn Schätze waren es, die dort im Fotogeschäft von Herrn Michelsen lagerten. Jedenfalls Annes Meinung nach. Während ihre Klassenkameradinnen über die neueste Mode oder das Aussehen eines Schauspielers in Verzückung gerieten, waren es bei Anne Fotoapparate. So oft sie die Möglichkeit besaß, lief sie zu dem Fotogeschäft im Eppendorfer Weg, um durch das Schaufenster zu spähen, ob Herr Michelsen, der Ladenbesitzer, neue Modelle ins Sortiment genommen hatte. Einen Fuß über die Ladenschwelle zu setzen, traute sie sich nur, wenn sie im Auftrag der Eltern eine neue Filmrolle kaufen oder einen vollen Film zum Entwickeln bringen sollte. Das geschah jedoch selten. Die Eltern waren sparsam. Fotografiert wurde auf Reisen, bei Ausflügen oder festlichen Anlässen. Fotografieren einzig um des Fotografierens willen lag dem Denken der Eltern fern. Und es war auch nichts, was sie ihrer Tochter zugestehen würden.
Dabei war es nicht so, dass sie ihr keine Freude gönnten, dachte Anne mit einem Anflug von Schuldbewusstsein. Die Reise mit der Leichtathletikabteilung ihres Sportvereins vor zwei Jahren nach Westberlin hatten sie ohne zu zögern bezahlt. Und zur Konfirmation im Frühjahr hatte sie nicht nur ein neues Kleid, sondern auch Geschenke bekommen. Ihre Finger griffen nach der dünnen Silberkette an ihrem Hals und drehten das daran hängende Kreuz. Sie hatte sich über das Schmuckstück sehr gefreut, wenn auch das wertvollste Geschenk für sie das Geld gewesen war, das sie bekommen hatte. Sie hatte die Scheine sorgsam zusammengefaltet und in ihre Spardose gesteckt. Den neugierigen Fragen, wofür sie das Geld denn zurücklegte, war sie ausgewichen. Dabei gab es nur eine Sache, die sie unbedingt haben wollte. Einen von den Fotoapparaten aus Herrn Michelsens Laden.
Nein, nicht irgendeinen, korrigierte sich Anne. Seit sie im vergangenen Jahr die grau-schwarze Leica im Schaufenster gesehen hatte, gab es für sie keine andere Kamera mehr. Zwar wurden auch die anderen Apparate von ihr stets einer genauen Musterung unterzogen. Und es kam durchaus vor, dass sie einem von ihnen den einen oder anderen Vorteil gegenüber der Leica zubilligte. Doch nichts davon konnte den Platz, den die Leica M3 in ihrem Herzen eingenommen hatte, gefährden. Es war wie die Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind. Egal, ob andere Kinder besser, klüger oder schöner waren, die Liebe zum eigenen Kind blieb ungebrochen.
Allerdings gehörte die Leica nicht zu ihr, dachte Anne betrübt. Und würde es wahrscheinlich auch nie tun. Denn alles Sparen der vergangenen Monate hatte nicht geholfen. Sie konnte sich den Apparat nach wie vor nicht leisten.
Wenn sie noch mehr Zeitungen austrug? Sie konnte sich auch einmal in der Nachbarschaft umhören, ob nicht eine Familie möglicherweise jemanden brauchte, der auf ihr Kind aufpasste. Doch selbst wenn, wäre der Verdienst wohl viel zu gering, um sie ihrem Ziel näherzubringen, stolze Besitzerin ihrer Leica, wie sie sie im Stillen nannte, zu werden.
Vielleicht konnte sie in den Ferien Mormor um etwas Geld bitten? Natürlich nicht direkt. So etwas gehörte sich nicht. Wenn sie jedoch Mormor von der Kamera erzählte, ihre Vorteile ausgiebig erläuterte, war ihre Großmutter unter Umständen bereit, ihr etwas Geld dazuzugeben. Bot sie es von sich aus an, konnten die Eltern nichts dagegen sagen. Deren Meinung nach sollte man alles durch eigene Anstrengung, durch Fleiß und Sparen erwerben. Ein neues Möbelstück wurde erst gekauft, wenn das nötige Geld beisammen war. War es das nicht, lebte man weiter mit den alten Möbeln. Einzig für etwas so Kostspieliges wie ein Auto war ihr Vater bereit, einen Kredit aufzunehmen.
Doch selbst wenn sie das Geld für die Leica zusammenbekam, war nicht gesagt, dass sie sie auch kaufen durfte. Die Familie besaß bereits einen Fotoapparat, einen sehr einfachen, nicht mit ihrer Leica zu vergleichen. Der Vater gestand ihr bereitwillig zu, dass sie es war, die fast alle Fotos damit machte. Er hatte sie auch schon mehrere Male für ihre Bilder gelobt. Aber ein eigener Apparat? Undenkbar. Das wäre unnötiger Luxus.
Ein Knuff in die Seite riss Anne aus ihren Gedanken. Erschrocken ließ sie die Hände sinken und drehte sich um.
»Wenn du so weitermachst, wirst du irgendwann noch angezeigt. Wegen Geschäftsschädigung. Oder glaubst du, irgendjemand kauft da noch ein, wenn du immer wie eine platte Flunder an der Scheibe klebst?«
Entrüstet stemmte Anne die Hände in die Hüften. »Das ist überhaupt nicht wahr«, empörte sie sich. »Ich habe nur kurz durchs Schaufenster geschaut. Das machen andere beim Einkaufsbummel auch. Wenn es ein Modegeschäft wäre, hättest du mit Sicherheit nichts gesagt.«
Die perfekt gezupften Augenbrauen ihrer Schwester hoben sich. »Bevor ich mich zum Gespött der Leute mache, indem ich ständig an der Ladenscheibe klebe, hätte ich zumindest mal den Mumm, den Laden zu betreten. Aber das traut sich meine kleine Schwester ja nicht.«
Anne hasste es, wenn Eva einen auf große Schwester machte. Zugegeben, sie trennten dreieinhalb Jahre voneinander. Aber nur, weil sie die Jüngere war, bedeutete das nicht automatisch, dass sie ein dummer Feigling war, wie ihr Eva unterstellt hatte.
Eine innere Stimme rief ihr allerdings zu, dass Eva so unrecht nicht hatte. Zumindest, wenn es um die Feigheit ging. Allein zum Schauen hätte sie sich nie in den Laden getraut. Selbst wenn sie einen Auftrag hatte, blieb sie nur so lange im Geschäft, wie es erforderlich war. Ein einziges Mal hatte sie es gewagt, näher an das Regal mit den geliebten Leicas heranzutreten. Da hatte Herr Michelsen sie kurz allein gelassen, um die entwickelten Bilder, die sie abholen gekommen war, aus dem Hinterzimmer zu holen. Und selbst da hatte sie sich lediglich einen raschen Blick gestattet, obgleich es in ihren Fingern gezuckt hatte, die Leica M3 wenigstens flüchtig zu berühren.
»Na, was ist? Willst du hier Wurzeln schlagen? Oder kommst du mit nach Hause?«, fragte Eva.
Zu gerne wäre Anne dem Genörgel der Schwester mit einer schlagfertigen Erwiderung begegnet. Doch ihr fiel nichts Überzeugendes ein. Daher zog sie es vor, stumm zu bleiben und Eva zur einige Hundert Meter entfernt liegenden Wohnung zu folgen. Kaum waren sie zwei Schritte weit gegangen, hakte sich Eva bei ihr unter, als hätte es die kleine Auseinandersetzung eben nicht gegeben.
»Hast du dir schon mal überlegt, ob du dort nächstes Jahr nicht als Lehrling anfangen willst? Wenn du dich nicht allein traust, fragen zu gehen, komme ich gerne mit.«
Das war Eva, dachte Anne voll liebevoller Zuneigung. In der einen Sekunde machte sie einen mit ihrer beißenden Kritik nieder, in der nächsten war sie wieder die hilfsbereite, große Schwester.
»Meinst du denn, er nimmt jemanden wie mich?« Eine Lehre im Fotogeschäft bei Herrn Michelsen, das wäre wie der Hauptgewinn bei einer Lotterie.
»Na, hör mal.« Eva war stehen geblieben und funkelte Anne an. »Was heißt denn, jemanden wie dich? Der kann sich glücklich schätzen, wenn er dich bekommt. Nimm ein paar von den Bildern mit, die du zuletzt gemacht hast. Das überzeugt ihn garantiert.«
»Aber für eine Lehre als Fotografin reicht doch bestimmt ein einfacher Volksschulabschluss nicht aus.«
»Das weißt du nicht, wenn du nicht fragst.« Eva drückte Annes Arm. »Nur Mut, meine Lütte. Der Mann wird schon nicht beißen. Das Einzige, was passieren kann, ist, dass er Nein sagt. Und dann bist du genauso dran wie jetzt. Musst dich aber nicht mehr fragen, was wäre, wenn.«
Anne staunte über ihre ältere Schwester. In der Regel drehte sich Evas Denken um Mode, Filme, Jungs und Musik. Die Reihenfolge wechselte, die Themen nicht. Doch es gab auch Augenblicke wie diesen, in denen Anne fühlte, wie stark das Band ihrer schwesterlichen Verbundenheit war.
Wer sonst würde auf die Idee kommen, ihr eine Lehre beim Fotografen vorzuschlagen? Ihr raten, einfach hinzugehen und vorzusprechen? Und sogar anbieten mitzukommen. Das zeigte nicht nur, dass sie ihrer Schwester wichtig genug war, um etwas von ihrer Freizeit zu opfern, sondern leider auch, dass sie selbst ein Bangbüx war, der sich vor lauter Sehnen und Starren die Nase platt drückte, ohne auch nur den Gedanken zu wagen, dass in diesem Laden ihre Zukunft liegen könnte.
»Du meinst wirklich, ich kann einfach hingehen und Herrn Michelsen fragen, ob er mich als Lehrling nimmt?«
Eva lachte. »Mensch, Anne. Du sollst keinen Kredit beantragen oder ihm einen Staubsauger andrehen. Du gehst hin und fragst freundlich und höflich, ob er nächstes Jahr einen Lehrling braucht. Wenn ja, empfiehlst du dich selbst.«
»Das kann ich nicht.«
Eva atmete tief durch.
Wieso verstand Anne nicht, dass das Leben nicht zu einem kam, sondern man hingehen musste, um sich das zu holen, was man wollte? Sie begriff zwar nicht, was ihre kleine Schwester an diesem Fotoladen so besonders fand. Allein bei der Vorstellung, sie müsste auch nur einen Tag in diesem dunklen Kabuff verbringen, überkam sie das Grauen. Aber wenn es Anne gefiel, warum dann nicht dort wegen einer Lehre anfragen?
»Ich kann gerne mitkommen«, bot sie Anne erneut an. Als ihre Schwester immer noch zögerte, tippte Eva ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden. »Es ist nur ein Angebot. Wenn du nicht willst, dann nicht.« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie weiter.
An der Kreuzung zur Mansteinstraße hatte Anne ihre Schwester eingeholt. Nun war sie es, die sich bei der Älteren unterhakte. »Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich weiß, du meinst es gut. Wenn dein Angebot noch gilt, nehme ich es gerne an.«
»Natürlich gilt es noch. Manchmal bist du echt schwer zu verstehen.«
Wie ein kleines Kind, das ausgescholten wurde, wandte Anne den Kopf zur Seite.
Eva missverstand die Geste indessen. »Nun sei nicht gleich wieder eingeschnappt. Ich meine es nicht böse. Lass uns lieber überlegen, wann wir zum Fotoladen gehen. Morgen nach der Arbeit bin ich mit Gisi und Monika verabredet.«
»Und übermorgen habe ich Leichtathletik.«
»Dann am Freitag.«
»Aber da sind sicher viele Kunden im Laden.«
»Willst du nun die Lehrstelle oder nicht?«
Anne nickte.
»Dann sollten wir nicht zu lange warten. Sonst nimmt er nachher noch jemand anderen.«
»Gut, dann am Freitag.«
Beim Abendessen war Anne so aufgeregt, dass sie kaum einen Bissen herunterbrachte. Ihre Gedanken kreisten unablässig um den Fotoladen.
Ob ein Volksschulabschluss ausreichte? Weiter zur Schule zu gehen, kam nicht in Frage. An der Volksschule hatte sie nicht einmal am Englischunterricht teilnehmen dürfen. Zu schlechte Deutschkenntnisse, hatte die Begründung gelautet.
»Was bist du für ein Wippsteert heute Abend?« Mit einem belustigten Schmunzeln sah Georg Reimers seine jüngste Tochter an. »Du kannst wohl die großen Ferien nicht mehr erwarten?«
Für einen Moment war Anne versucht, ihrem Vater von dem Fotoladen und einer möglichen Lehre dort zu erzählen. Sie hatte schon den Mund geöffnet, als sie in die Seite gekniffen wurde. Ein schmerzvolles Keuchen entwich ihrer Brust. Sogleich runzelte ihre Mutter besorgt die Stirn.
»Du wirst doch nicht krank?«
Anne schüttelte den Kopf. Sie vermied es, dabei zu ihrer Schwester zu schauen. Denn natürlich war sie es gewesen, die sie gekniffen hatte.
Sie hätte ihre Warnung gerne etwas weniger kraftvoll zum Ausdruck bringen können, dachte Anne ärgerlich. Mit Mühe widerstand sie dem Impuls, die schmerzende Seite zu berühren, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Denn Eva hatte recht. Es war besser, den Eltern zunächst nichts zu erzählen. Schließlich stand überhaupt nicht fest, ob sie die Lehrstelle bekäme. Sollte Herr Michelsen sie tatsächlich nehmen, war immer noch genug Zeit, mit den Eltern zu sprechen. Wenn sie vor vollendete Tatsachen gestellt wurden, würden sie sicher leichter ihre Zustimmung geben.
Bei Evas Berufswahl hatte es keine Einwände gegeben. Die Mutter hatte sie sogar zum Vorstellungsgespräch begleitet. Mit hineingegangen war sie selbstverständlich nicht. Aber sie war mit zum Kaufhaus gekommen und anschließend mit Eva Eis essen gegangen. Irgendetwas sagte Anne, dass es bei ihr nicht so sein würde. Selbst wenn sie die Mutter über ihre Absicht, sich bei Herrn Michelsen zu bewerben, informierte.
»Mormor hat geschrieben«, berichtete Ingrid Reimers, während sie die Schale mit den Kartoffeln an ihren Mann weiterreichte. »Ihre Hüfte ist viel besser. Und sie freut sich auf unseren Besuch.«
Herr Michelsen und der Fotoladen waren vergessen.
»Kann sie denn jetzt wieder richtig laufen?«, fragte Anne. Die Nachricht vom Unfall ihrer Großmutter hatte sie schwer getroffen.
Kristine Bakken war im vergangenen Winter auf eisigem Untergrund ausgerutscht und schwer gestürzt. Dabei hatte sie sich nicht nur einen Beinbruch zugezogen, sondern auch an der Hüfte verletzt. Wenn es nach Anne gegangen wäre, wäre sie sogleich nach Trondheim gereist, um der Großmutter beizustehen. Es gab niemanden, nicht einmal Eva, mit dem sie sich mehr verbunden fühlte. Zwar sahen sie sich aufgrund der großen Entfernung nur selten, das konnte ihrem Verhältnis aber nichts anhaben. Bei keinem anderen Menschen hatte Anne das Gefühl, so sie selbst sein zu können. Egal, was sie sagte oder tat, Mormor stand zu ihr. Sie vermutete, dass es Eva ähnlich ging. Gesprochen hatten sie nie darüber. Die Tatsache, dass Eva sich innerhalb kürzester Zeit Urlaub genommen hatte und nach Trondheim gefahren war, hatte Anne allerdings mehr als genug über die Empfindungen der Schwester verraten. Ihr selbst hatten die Eltern die Reise mit Verweis auf die Schule verboten. Sie hatte protestiert, wenn auch halbherzig. Denn sie hatte gewusst, dass jeglicher Widerspruch zwecklos war. Selbst wenn die Eltern ihre Zustimmung gegeben hätten, ihre Klassenlehrerin hätte der Bitte auf Freistellung vom Unterricht wegen einer kranken Großmutter niemals entsprochen. Für Frau Hellmann waren Ordnung, Disziplin und Pflichterfüllung die obersten Gebote im Leben. Dahinter hatte alles Private zurückzustehen.
Anne erinnerte sich daran, wie eine ihrer Klassenkameradinnen eine Zeit lang Schwierigkeiten gehabt hatte, ihre Hausaufgaben pünktlich abzuliefern, da deren Mutter schwer erkrankt war und sie für die jüngeren Geschwister hatte sorgen müssen. Frau Hellmann hatte keine Entschuldigung gelten lassen und nur gesagt, dass das Mädchen sich eben mehr anstrengen müsste. Das Ganze hatte damit geendet, dass die anderen Mädchen in der Klasse für Regine die Hausaufgaben miterledigt hatten. Alle hatten sie große Angst davor gehabt, dass Frau Hellmann das herausfände. Dennoch hatten sie Regine nicht im Stich lassen wollen. Zur Sicherheit hatten sie einige Fehler bei den Aufgaben gemacht, damit das Ganze nicht zu sehr auffiel. Denn im Unterricht und den Klassenarbeiten konnten sie Regine schließlich nicht helfen. So war das Unternehmen am Ende auch gescheitert und Regine hatte die Klasse wiederholen müssen.
»Du hörst mir ja gar nicht zu«, beschwerte sich Ingrid und sah ihre jüngste Tochter vorwurfsvoll an.
»Wie?« Erst in diesem Augenblick bemerkte Anne, dass alle sie anstarrten.
»Sie träumt mal wieder, Mutter«, sagte Georg. Damit schien die Sache für ihn abgetan zu sein, denn er konzentrierte sich wieder auf sein Essen.
Ingrid seufzte. »Wie soll das bloß erst nächstes Jahr werden, wenn du in die Lehre gehst?«
Anne und Eva blickten sich an. Eva schüttelte leicht den Kopf. »Das wird schon, Mama«, meinte sie dann. »Bis dahin ist ja noch etwas Zeit. Viel wichtiger ist die Frage, ob ich dir noch Stoff für ein neues Sommerkleid mitbringen soll. Wenn du dich nicht beeilst, ist das Beste bald weg.«
Als Angestellte des Warenhauses bekam Eva Prozente beim Einkauf. Daran ließ sie ihre Familie teilhaben.
Die Unterhaltung verwandelte sich nun in eine Diskussion über Stoffe und Schnittmuster. Auch Anne, die wie ihre Mutter und ihre Schwester eine gute Näherin war, beteiligte sich daran. Obgleich sie der Mode nicht in der gleichen Weise zugetan war wie ihre Schwester, war das Schneidern neuer Kleidung etwas, was ihr großen Spaß bereitete. Zudem erfüllte sie es mit Stolz, wenn sie mit ihrer selbst geschneiderten Kleidung das Lob ihrer Klassenkameradinnen erntete. Denn mit ihrem untrüglichen Gespür für die neuesten Trends und besten Schnitte suchte Eva nicht nur die Stoffe und Schnittmuster aus, die besonders modisch waren, sondern auch Annes zierlicher Gestalt am besten schmeichelten.
Erst abends im Bett wanderten Annes Gedanken zurück zu Herrn Michelsen und einer möglichen Lehre in dessen Laden. Wieder und wieder ging sie durch, wie sie ihn darauf ansprechen sollte. Zu gerne hätte sie sich mit ihrer Schwester beraten. Doch Evas ruhige Atemzüge verrieten ihr, dass die große Schwester tief und fest schlief. Aufwecken mochte sie sie nicht. Sie befürchtete, statt guten Zuspruchs nur beißenden Tadel zu ernten. Unruhig wälzte sie sich hin und her, bis sie irgendwann der Schlaf übermannte.
Herr Michelsen schob die Brille ein wenig die Nase hinunter und sah Anne prüfend an. »In die Lehre willst du also bei mir gehen?«
Anne konnte nur nicken. Ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Erst als Eva ihr den Ellenbogen in die Rippen stieß, lockerte sich die Blockade. Zumindest war Anne imstande, ein leises »Ja« hervorzustoßen.
Um Herrn Michelsens Mundwinkel zuckte es leicht.
»Meine Schwester ist eine sehr gute Fotografin«, beeilte sich Eva, Anne zu Hilfe zu kommen. Dann stieß sie Anne erneut in die Seite. »Zeig ihm die Fotos«, zischte sie.
Annes Finger zitterten, als sie den Verschluss ihrer Tasche öffnete, um nach den sich darin befindenden Fotos zu suchen.
»Es ist schon lange her, dass ich einen Lehrling hatte«, sagte Herr Michelsen.
»Dann wird es ja höchste Zeit«, bemerkte Eva.
Während Herrn Michelsens Mundwinkel erneut zuckten, hielt Anne erschrocken die Luft an.
Was fiel Eva bloß ein, eine derart freche Äußerung von sich zu geben? Bei einem solchen Verhalten wäre es kein Wunder, wenn Herr Michelsen sie hochkant aus dem Laden warf.
Doch der Ladenbesitzer schien nichts dergleichen im Sinn zu haben. Ruhig wartete er, bis Anne die Fotos herausgezogen und auf die Ladentheke gelegt hatte. Dann schob er seine Brille die Nase hinauf, griff eines der Fotos und betrachtete es.
Angespannt beobachtete Anne ihn.
»Die hast du gemacht?«, erkundigte sich Herr Michelsen.
Wieder konnte Anne nur nicken.
»Sie ist die Familienfotografin«, fühlte sich Eva aufs Neue bemüßigt einzugreifen.
»Ach, tatsächlich?« Dieses Mal war es ein richtiges Lächeln, das sich auf Herrn Michelsens Mund zeigte. »Nun, sie sind gut.« Er legte die Bilder wieder auf die Theke. »Du wirkst noch sehr jung«, wandte er sich an Anne.
»Sie ist nächstes Jahr mit der Volksschule fertig. Der Abschluss reicht ja wohl?« Mit dem strengen Blick einer Lehrerin, die keine Widerworte duldete, sah Eva Herrn Michelsen an. Dann deutete sie auf das Zeugnis ihrer Schwester, das neben den Fotos auf der Ladentheke lag. »Sie ist gut in der Schule.«
»Eva«, sagte Anne leise. Es war ihr peinlich, dass ihre Schwester sie anpries wie eine Ware, die sie unbedingt verkaufen wollte.
»Schulnoten und Abschlüsse interessieren mich nicht«, antwortete Herr Michelsen. »Wenn ich einen Lehrling einstelle, ist es wichtig, dass er in den Laden passt. Ob er ordentlich ist …«
»Das ist meine Schwester.«
Wieder verzogen sich die Lippen des Ladenbesitzers amüsiert. »Und ob er sich geschickt anstellt, bereit ist zu lernen und sich gut benehmen kann.«
»Das trifft alles auf meine Schwester zu. Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie es ja ausprobieren. Anne kommt nach der Schule zu Ihnen und hilft Ihnen im Laden. Unentgeltlich selbstverständlich. Dann können Sie sich davon überzeugen, wie gut sie ist.«
»Sie geben wohl nicht so leicht auf, mein Fräulein?«
»Wenn es um eine gute Sache geht, nein.«
»Und Ihre Schwester einzustellen, ist eine gute Sache?«
»Ja, das ist es.«
»Na, schön. Dann probieren wir es aus. An welchem Nachmittag willst du denn zu mir kommen?«, wandte Herr Michelsen sich an Anne.
Der Nachmittag bei Herr Michelsen war wie im Flug vergangen. Erstaunt hatte Anne den Ladenbesitzer angesehen, als er ihr mitgeteilt hatte, dass es an der Zeit wäre, nach Hause zu gehen.
»Darf ich wiederkommen?« Erschrocken hatte sie sich sogleich auf die Zunge gebissen und ihre dreiste Frage bereut.
Doch Herr Michelsen hatte gelacht und geantwortet, dass er sich über jeden weiteren Besuch von ihr sehr freuen würde. Und dann hatte er den Satz gesagt, den Anne seit Verlassen des Ladens unablässig vor sich hin murmelte.
»Ich würde mich freuen, wenn du nächstes Jahr bei mir als Lehrling beginnst.«
Anne fühlte sich wie berauscht. Hüpfend legte sie den kurzen Weg zur Wohnung zurück. Dort angekommen, zog sie sich augenblicklich in das kleine, schmale Zimmer zurück, das sie sich mit ihrer Schwester teilte. Eva war noch nicht zu Hause. Und ohne die Schwester mochte sie ihre große Neuigkeit nicht verkünden.
»Na, wie ist es gelaufen?«, fragte Eva, kaum nachdem sie das Zimmer betreten hatte.
Anne war nach wie vor derart von Freude erfüllt, dass es ihr unmöglich war zu sprechen. Doch Eva musste nur einen Blick auf das Gesicht der Schwester werfen, dann hatte sie ihre Antwort.
»Er nimmt dich«, stellte sie fest und klatschte in die Hände. »Habe ich es dir nicht gesagt?«
»Ja, du hattest mal wieder recht.«
»Anne! Eva! Essen!«, erschall der Ruf der Mutter.
»Ich möchte es ihnen erst nach dem Abendbrot erzählen«, raunte Anne ihrer Schwester zu.
»Hältst du es denn so lange aus?«
»Habt ihr nicht gehört?« Ingrid hatte die Tür geöffnet und sah ihre Töchter auffordernd an. »Wir wollen essen.«
Die beiden Schwestern blickten sich an und begannen zu kichern.
»Was ist denn mit euch los?«, wunderte sich Ingrid. »Ihr seht aus wie zwei kleine Kinder, die etwas ausgefressen haben.«
»Ich muss euch etwas erzählen«, platzte es aus Anne heraus. Nach einem warnenden Blick von Eva schob sie hinterher: »Nach dem Abendbrot.«
Ihre Mutter lächelte. »Das trifft sich gut. Wir wollen dir auch etwas erzählen.«
Wieder wurde es ein Abendessen, bei dem Anne nicht stillsitzen konnte. Auch das Essen fiel ihr schwer. Mit Mühe zwang sie sich eine Brotscheibe hinunter. Sie sah, wie Eva mit den Augen rollte. Doch die übersprudelnde Freude in ihr schlug derart heftige Blasen, das sie sich daran nicht störte. Die Eltern kommentierten weder ihr Ess- noch ihr Sitzverhalten.
Schienen sie etwas zu ahnen? Anne fiel auf, wie die beiden sich ein paarmal zulächelten, wie es zwei Menschen taten, die ein Geheimnis miteinander teilten.
Nach Ende des Abendbrots konnte Anne gar nicht schnell genug den Tisch abräumen und mit dem Abwasch beginnen. Denn sie wusste, bevor die Küche nicht aufgeräumt war, würde sich ihre Mutter niemals in die Stube setzen, um zum »gemütlichen Teil« des Abends überzugehen.
»Wenn du denkst, dass dein Verhalten niemandem auffällt, muss ich dich leider enttäuschen«, flüsterte Eva.
Anne erwiderte nichts und griff sich den nächsten Teller, um ihn abzuspülen. Endlich war alles erledigt, und sie konnten in die Stube gehen.
Erneut sah Anne, wie sich die Eltern zulächelten, bevor die Mutter dem Vater mit einer Kopfbewegung zu verstehen gab, das er derjenige war, der sprechen sollte. Erwartungsvoll betrachtete Anne ihn. Sie konnte sich nicht vorstellen, was er ihr zu sagen hatte. Es war ihr allerdings auch gleichgültig. Alles in ihr brannte darauf, ihre große Neuigkeit zu verkünden.
Georg räusperte sich. »Es ist so …«, begann er, nur um sich erneut zu räuspern.
Anne rutschte auf dem Sofa hin und her. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Eva grinste.
»Ja, es ist so«, fing Georg von Neuem an und zupfte sich dabei am Ohrläppchen. »Wir waren heute bei deiner Klassenlehrerin. Zum Gespräch.«
Anne starrte ihren Vater an.
»Aber das weißt du ja. Jedenfalls ist sie sehr zufrieden mit deinen Leistungen.«
Endlich begriff Anne, wovon er sprach.
Das Elterngespräch. Natürlich. Sie hatte den Zettel schließlich selbst den Eltern übergeben. Wie hatte sie das vergessen können?
»Du bist ja jetzt im letzten Schuljahr«, fuhr der Vater fort. »Da wird es Zeit, dass du dir eine Lehrstelle suchst.«
Anne spürte Evas Blick auf sich ruhen, als stumme Aufforderung, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, die Sprache auf Herrn Michelsen und den Fotoladen zu bringen. Bevor sie dem Folge leisten konnte, ergriff ihre Mutter das Wort.
»Sie hat gesagt, du sollst ins Büro gehen«, verkündete sie mit solchem Stolz, als hätte Frau Hellmann Anne für den Nobelpreis vorgeschlagen.
Ins Büro? Eine eisige Klammer schien sich um Annes Brust zu legen. Hastig begann sie, von ihrem Besuch im Fotoladen zu berichten. Je stärker sich die väterliche Stirn in Falten legte und die mütterlichen Augen sich vor Sorge verdunkelten, desto mehr steigerte sich Annes Sprechtempo. Alle Formulierungen, die sie sich vorher sorgfältig zurechtgelegt hatte, waren vergessen. Die Wörter verflossen miteineinander und bildeten ein zunehmend unverständlicher werdendes Gebilde. Als Anne endlich verstummte, senkte sich Schweigen über die Stube. Auch Eva war, ganz gegen ihre Gewohnheit, der Sprachlosigkeit verfallen.
Wie kam Anne dazu, so wirr daherzureden? Glaubte sie allen Ernstes, die Eltern auf diese Weise überzeugen zu können? Sie würden doch nun erst recht darauf bestehen, dass einem Mädchen, das sich derart gebärdete, nicht die Entscheidung über die eigene Zukunft anvertraut werden durfte. Vielleicht hatte ihre Entscheidung nach dem Gespräch mit der Lehrerin noch nicht endgültig festgestanden, doch spätestens nach Annes Auftritt eben waren wohl die letzten Zweifel beseitigt.
»Wir wissen, dass du gerne fotografierst«, sagte Georg. »Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden. Aber als Beruf?«
»Herr Michelsen würde mich nehmen.« Alles Fahrige und Hastige war von Anne abgefallen. Sie hockte auf dem Sofa, die Hände derart fest ineinander verschränkt, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Das bezweifele ich auch nicht, min Deern.« Der Vater zupfte erneut an seinem Ohrläppchen. »Aber ein Fotoladen? Das ist doch nicht das Gleiche wie eine Arbeit im Büro. Was glaubst du, wie viele Mädchen alles dafür geben würden, um mit dir zu tauschen?«
»Dann sollen sie es doch«, entfuhr es Anne.
Es war schwer zu sagen, wen von den Anwesenden Annes Worte mehr überraschten. Sie konnte mitunter sehr lebhaft sein, aber offen das Wort gegen die Eltern zu erheben, getraute sie sich in der Regel nicht.
So dauerte es auch ein wenig, bis ihr Vater zu einer Entgegnung ansetzte. »Untersteh dich, in diesem Ton mit uns zu reden. Wir wollen nur dein Bestes.«
»Aber …«, protestierte Anne.
»Eine Lehre im Büro ist die beste Grundlage für dein Berufsleben.«
»Niemand von uns arbeitet im Büro«, entgegnete Anne. Ihre übliche Unsicherheit war von ihr abgefallen. Sie wog nicht wie sonst das Für und Wider ab, sondern handelte instinktiv, angetrieben von dem übermächtigen Wunsch, die Eltern auf ihre Seite zu ziehen.
Doch egal, was sie sagte, welches Argument sie auch vorbrachte, die Eltern rückten nicht von ihrer Meinung ab.
»Aber Eva habt ihr auch nicht ins Büro geschickt.«
»Eva hatte auch nicht so gute Noten wie du. Im Büro hätten sie sie gar nicht genommen.«
»Ich will aber nicht ins Büro.« Anne verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
»Nun verhalte dich nicht wie ein unvernünftiges Gör«, fuhr sie ihr Vater an. Er erhob dabei nicht die Stimme. Doch es lag eine Schärfe in seinem Ton, die auf Anne furchteinflößender wirkte, als wenn er geschrien hätte. »Du bist erst 14. Du kannst noch gar nicht wissen, was gut für dich ist.«
»Anne, wir meinen es doch nur gut«, sagte Ingrid mit sanfter Stimme. »Frau Hellmann hat deine Leistungen so gelobt. Vor allem in Deutsch hast du so gute Fortschritte gemacht.«
Leider zu spät, dachte Anne. Am Englischunterricht würde sie nicht mehr teilnehmen können. Es war eine schwelende Wunde in ihr, dass ihr die Möglichkeit, diese Sprache zu erlernen, genommen worden war.
»Du gehst ins Büro. Frau Hellmann hat auch schon eine passende Firma für dich gefunden.«
Anne kam sich vor wie eine Schiffbrüchige. Anstatt, dass es etwas gab, nach dem sie greifen und sich daran festhalten konnte, schlug über ihr eine Woge nach der anderen zusammen.
»Ist sie das Arbeitsamt?«
»Jetzt reicht es!« Georgs Faust donnerte auf den Sofatisch, sodass alle zusammenzuckten. »Du gehst ins Büro. Und jetzt will ich von dem Thema nichts mehr hören.«
»Anne.« Ingrid machte Anstalten, nach der Hand ihrer jüngsten Tochter zu greifen.
Als hätte jemand sie mit einer Nadel gestochen, sprang Anne auf. »Ihr seid so was von gemein!« Dann rannte sie aus der Stube.
»Anne.« Sanft streichelte Evas Hand ihr Haar. »Nun nimm es nicht so schwer. Eine Lehre im Büro ist nicht der Weltuntergang.«
Gedämpftes Schluchzen antwortete ihr. Anne lag lang ausgestreckt auf dem Bett und hatte den Kopf ins Kissen vergraben.
»Weißt du, was Papa gesagt hat?«
Wieder war nur Schluchzen zu hören.
»Eigentlich darf ich es dir gar nicht sagen.« Eva machte eine Pause. Als die erwartete Nachfrage ausblieb, seufzte sie. »Du bist genauso stur wie Papa. Er hat gesagt, dass er dir eine Kamera kaufen will.«
»Ich will keine Kamera.« Anne hatte sich aufgesetzt. Das dunkelblonde Haar stand in alle Richtungen ab, und die Augen waren vom Weinen gerötet. »Und von Papa schon gar nicht.«
»Anne, jetzt führst du dich wirklich kindisch auf.«
»Wer hat denn gesagt, dass ich bei Herrn Michelsen wegen einer Lehre vorsprechen soll? Das warst doch du.«
»Das stimmt. Aber da wusste ich nicht, dass deine Klassenlehrerin mit Mama und Papa schon über eine Lehrstelle für dich gesprochen hat.«
»Und wenn du es gewusst hättest, hättest du mir nicht geraten, zu Herrn Michelsen zu gehen?«
Eva überlegte einen Moment. Der Kummer ihrer kleinen Schwester rührte sie. Zu gerne hätte sie ihr geholfen. Doch sie wusste, dass das nicht in ihrer Macht stand. Nachdem Anne aus dem Zimmer gestürmt war, hatte sie mit den Eltern geredet, sie versucht umzustimmen. Ihnen Annes Begeisterung geschildert und noch einmal betont, wie gerne der Besitzer des Fotoladens die kleine Schwester zum Lehrling haben wollte. Nichts hatte geholfen.
»Sie ist 14, Eva«, hatte Georg erwidert. »In dem Alter begeistert man sich für vieles. Das kann in ein paar Jahren ganz anders sein. Und dann? Mit einer Bürolehre hat sie eine solide Grundlage. Da stehen ihr viel mehr Möglichkeiten offen. Und sicherer ist so ein Beruf auch. Eine Frau als Fotografin.« Bei dieser Vorstellung hatte er den Kopf geschüttelt.
Aus Evas Sicht waren die Argumente des Vaters nicht von der Hand zu weisen. Das galt vor allem hinsichtlich der Sicherheit, die eine Bürolehre für Annes Zukunft versprach.
»Nein, das hätte ich nicht«, beantwortete sie die Frage ihrer Schwester.
Annes Augen füllten sich mit Tränen. Dann ließ sie sich aufs Bett fallen, um den Kopf aufs Neue im Kissen zu vergraben.
Eva überlegte, was sie tun sollte. Letztlich entschied sie sich dafür, Anne ihrem Kummer zu überlassen. Irgendwann würde die Welt wieder anders aussehen. Wenn vielleicht auch nicht gleich morgen. Aber irgendwann würde Anne begreifen, dass die Entscheidung der Eltern die richtige gewesen war.
Hamburg, fünf Jahre später
Ein metallisches Geräusch verriet Anne, dass die Haustür aufgeschlossen wurde. Erstaunt setzte sie sich auf.
Wer konnte das sein? Die Eltern waren eingeladen und Eva mit ihrem Freund unterwegs.
Hastig legte sie das Buch, in dem sie gelesen hatte, aus der Hand und erhob sich vom Bett. Bevor sie auch nur zwei Schritte gemacht hatte, ging die Zimmertür auf, und Eva kam herein.
Erstaunt sah Anne die Schwester an. »Was machst du denn hier?«
»Ich wohne hier!«, lautete die schnippische Antwort.
Anne öffnete den Mund, doch wieder einmal wollte ihr keine schlagfertige Erwiderung einfallen.
»Meine Güte, war das ein Tag. Ich habe das Gefühl, halb Hamburg wollte sich heute neue Klamotten kaufen.« Mit einem Stöhnen ließ sich Eva auf Annes Bett fallen.
Sehnsüchtig blickte Anne zu dem kleinen Beistelltisch hinüber, auf dem ihr Buch lag. Sie hatte sich auf einen ruhigen Abend gefreut. Wenn die Eltern zu Hause waren, lief der Fernseher in der an ihr Zimmer grenzenden Stube immer so laut, dass es ihr schwerfiel, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren. Und waren die Eltern ausgegangen, nutzte Eva dies, um den Plattenspieler in einer Lautstärke abzuspielen, die schon zu der einen oder anderen Beschwerde der Nachbarn geführt hatte. Daher war es Anne wie der reinste Glücksfall erschienen, als Eva ihnen im vergangenen Jahr in Gestalt von Jürgen Hoffmann ihren neuen Freund präsentiert hatte.
In seinem ordentlich gebügelten Anzug und mit dem streng zum Seitenscheitel gekämmten Haar entsprach der junge Bankangestellte nicht dem Mann, den sich Anne an der Seite ihrer Schwester vorgestellt hatte. Doch sie sollte ihn schließlich nicht heiraten. Es reichte, wenn er ihrer Schwester gefiel. Einen Heiratstermin gab es allerdings noch nicht. Seit der Verlobung der beiden und dem Besuch von Jürgens Eltern bei ihnen, erwarteten Anne und ihre Eltern jedoch, dass dieser bald verkündet wurde. Bis dahin genoss Anne die Abende, wenn Eva mit ihrem Auserwählten unterwegs war. Auch wenn Eva in Anwesenheit der Eltern nicht wagte, die Musik laut aufzudrehen, ganz verzichten mochte sie auf eines ihrer größten Vergnügen nicht. Wenn es wenigstens Musik gewesen wäre, die Anne gefallen hätte. Doch so wie sich die Leben der beiden Schwestern immer mehr voneinander entfernten, taten es auch ihre Musikgeschmäcker.
Seit Anne im vergangenen Jahr im Kino Doktor Schiwago gesehen hatte, hatte sie eine Vorliebe für russische Musik entwickelt. Von den Klängen der Balalaika bis zum berühmten Klavierkonzert von Tschaikowsky reichte mittlerweile ihre Sammlung an Schallplatten.
Eva hingegen konnte diese Musik nicht ausstehen. Für sie gab es nur eine wahre Musik. Und das war die der Beatles. Wie Millionen anderer junger Mädchen auf der Welt war Eva der englischen Popgruppe verfallen. Zu Annes großem Leidwesen hatte sie von allen Mitgliedern große Poster an ihrer Wandseite aufgehängt.
Die beiden Schwestern hatten, nachdem es zunehmend unmöglich geworden war, zu einer Einigkeit hinsichtlich der Zimmereinrichtung zu gelangen, entschieden, den kleinen Raum in zwei Bereiche zu teilen. Es gab die Eva-Zone mit besagtem Beatlesschrein und die Anne-Zone, die mit einem Filmpaket von Doktor Schiwago sowie einem Poster von Anthony Perkins geschmückt war. Eva hatte Annes herausforderndem Blick, als sie das Foto des amerikanischen Schauspielers aufgehängt hatte, mit einem mitleidigen Lächeln beantwortet und am folgenden Tag ein neues Poster, dieses Mal von allen Beatles gemeinsam, an die Wand geklebt.
Im Moment schien sich Eva aber weder für die Poster zu interessieren noch unternahm sie Anstalten, zum Plattenspieler zu gehen, um die Musik ihrer Lieblinge abzuspielen. Mit geschlossenen Augen, den Handrücken auf der Stirn, lag sie da, als litte sie unter einer schweren Migräne. Da ihre Schwester noch nie zuvor über Kopfschmerzen geklagt hatte, vermutete Anne den Grund für Evas Verhalten allerdings in etwas anderem.
Wahrscheinlich war sie einfach erschöpft. Den ganzen Tag zu stehen, war anstrengend. Und sich dann noch stets ein Lächeln auf die Lippen zaubern zu müssen. Ein leichter Schauder rann Annes Rücken hinab. Da konnte sie froh sein, dass sie im Büro gelandet war. Nicht auszudenken, wenn Eltern und Lehrerin auf einer Lehre als Verkäuferin bestanden hätten.
Wie immer in solchen Augenblicken dachte Anne an Herrn Michelsen und sein Fotostudio. Doch dieser Gedanke war bloß ein flüchtiges Aufblitzen, als sähe man etwas am Horizont, das zu weit entfernt war, um es genauer erkennen zu können. Und anstatt die Augen zusammenzukneifen, um es näher zu betrachten, zog man es vor, sich abzuwenden und seinen Weg fortzusetzen.
So war es auch in Annes Fall. Nachdem sie Herrn Michelsen mitgeteilt hatte, dass sie die Lehre bei ihm nicht antreten könnte, hatte sie seinen Laden nie wieder betreten. Auch Fotogafieren tat sie seitdem immer seltener, obgleich der Vater Wort gehalten und ihr zum Lehrbeginn eine eigene Kamera geschenkt hatte. Nicht die erträumte Leica. Die hätte Anne allerdings sowieso nicht mehr haben wollen. Doch die frühere Leidenschaft, ihre Umgebung auf Bilder zu bannen, war verschwunden. Es gab nun andere Dinge, die ihr mehr am Herzen lagen.
Erneut warf sie einen Blick zum Beistelltisch und dem darauf liegenden Dostojewski-Roman. Zu gerne hätte sie darin weitergelesen.
»Wann holt Jürgen dich denn ab?«, fragte sie ihre Schwester, die nach wie vor mit geschlossenen Augen auf Annes Bett lag.
Aufgrund der räumlichen Enge besaßen beide Schwestern Klappbetten, die erst zum Schlafengehen oder, wie nun bei Anne, für eine gemütliche Schmökerrunde aufgestellt wurden.
»Er holt mich nicht ab«, murmelte Eva.
»Oh, ist er krank?«
»Nein.«
»Verreist?«
»Nein.«
»Aber sonst verbringt ihr doch jeden Freitagabend zusammen?«
Und nicht nur den, dachte Anne im Stillen. Eva war mehr Abende unterwegs als sie zu Hause war. Da sie nie über Nacht wegblieb und die Eltern Jürgen als ihren künftigen Schwiegersohn ansahen, gab es von deren Seiten dagegen keine Einwände.
»Mensch, Anne. Du bist echt eine Nervensäge.« Mühsam richtete sich Eva auf. »Mit Jürgen ist es aus.«
»Was?« Vor Überraschung klappte Annes Mund auf.
Eva nickte und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
Nachdem sie ihre Schockstarre überwunden hatte, erhob sich Anne vom Schreibtischstuhl, wo sie die vergangenen Minuten gesessen hatte, und ließ sich neben ihrer Schwester auf dem Bett nieder. »Seit wann?«
»Seit gestern.«
»Das tut mir sehr leid.« Verzweifelt rang Anne nach Worten des Trostes. Was sagte man in einer solchen Situation? Gab es irgendetwas, das nicht klang, als entstammte es einem abgedroschenen Liebesfilm?
»Du kannst ja nichts dafür.« Schluchzend vergrub Eva den Kopf an der Schulter der Schwester.
Unbekannte Empfindungen überkamen Anne. Zum ersten Mal fühlte sie sich als die Stärkere und Reifere. Behutsam legte sie einen Arm um Eva, während sie gleichzeitig mit der anderen Hand Rücken und Haar der Schwester sanft streichelte. Erst als Evas Körper nicht länger zuckte, löste sie sich, um aufzustehen und ihrer Schwester ein Taschentuch zu holen.
Nachdem Eva sich ausgiebig geschnäuzt und aus dem von Anne gebrachten Glas Wasser getrunken hatte, war sie in der Lage, die näheren Umstände der Trennung zu schildern.
»Ich wollte ihn überraschen«, berichtete sie mit rauer Stimme.
»Ich hatte mit einer Kollegin getauscht und deswegen gestern frei.« Sie schniefte, und Anne machte sogleich Anstalten, ihr ein weiteres Taschentuch zu reichen. Doch bevor sie die Hand ausstrecken konnte, hatte Eva bereits weitergesprochen. »Ich bin zur Bank, um Jürgen abzuholen. Ich war zu früh, daher bin ich ein wenig hin und her geschlendert.« Sie presste das Taschentuch zu einem festen Knäuel zusammen. »Dadurch habe ich Jürgen erst gesehen, als er schon auf der Straße war. Ich wollte zu ihm laufen, aber mein Absatz ist an einer Kante hängen geblieben.« Sie lächelte. Es war ein Lächeln, dem jegliche Freude fehlte. »Im Nachhinein kann ich dafür nur dankbar sein. Denn sonst hätte ich sie nicht gesehen.« Sie schluckte schwer. »Die Frau, die ihn abgeholt hat.«
»Vielleicht war es eine Cousine«, meinte Anne.
»Eine Cousine?«, schnaubte Eva. »Dafür waren die Zärtlichkeiten, die die beiden ausgetauscht haben, doch ein bisschen zu intim.«
»Auf offener Straße?«
Eva wandte den Kopf ab. »Ich bin ihnen gefolgt.«
Bei der Erinnerung daran ergriff ein Gefühl der Beschämung von ihr Besitz, als wäre sie diejenige, die den Treuebruch begangen hatte. Doch sie verdrängte es rasch.
»Und das war auch gut so.«
Sie berichtete ihrer Schwester, wie Jürgen und die unbekannte Frau in einem Torbogen verschwunden waren und sie ihnen nach kurzem Zögern gefolgt war. Wie angewurzelt war sie dann stehen geblieben. Nur wenige Schritte von ihr entfernt, hatten Jürgen und die Unbekannte gestanden und sich mit leidenschaftlicher Inbrunst geküsst.
»Als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen«, sagte Eva in bitterem Ton.
Wie erstarrt hatte sie die Szene beobachtet. Selbst als die beiden sich voneinander zu lösen begannen, war sie unfähig gewesen, sich zu bewegen. So war es nicht ausgeblieben, dass Jürgen ihre Anwesenheit bemerkt hatte. Er hatte ihren Namen gerufen. In einem Ton, der mehr von Überraschung als von Bestürzung zeugte. Was Eva jedoch am meisten verstörte, war der Umstand, dass er es nicht für nötig befand, dabei die Hand von der Taille der anderen Frau zu nehmen. Letztlich war es diese, im Vergleich zum Kuss eher schlichte Geste, die Eva dazu brachte, sich umzudrehen und fortzulaufen. Nach ungefähr 50 Metern hielt sie an und drehte sich in der Erwartung, Jürgen würde ihr folgen, um. Das tat er nicht.
»Und jetzt bin ich fertig mit ihm«, schloss sie ihre Erzählung ab.
Mit jeder Minute des Zuhörens war Annes Betroffenheit größer geworden. Wut brodelte in ihr. Am liebsten wäre sie zu Jürgen gegangen und hätte ihn zur Rede gestellt.
Wie kam er dazu, eine so wunderbare Frau wie Eva auf eine derart schändliche Art und Weise zu behandeln?
»Nun guck nicht so grimmig«, meinte Eva. »Es ist vermutlich besser so. Wenn er mich schon vor der Heirat betrügt, wie wäre es denn erst danach geworden?«
Anne war zwar erleichtert, dass ihre Schwester ihre Verzweiflung überwunden und zu weinen aufgehört hatte. Jürgens Verrat als etwas Gutes hinzustellen, überstieg jedoch ihr Vorstellungsvermögen.
»Aber er hat dich betrogen!«, rief sie. »Das kannst du doch nicht einfach so hinnehmen?«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Zu ihm gehen und ihn anflehen, die andere aufzugeben?« Eva schüttelte den Kopf. »Selbst wenn er das tun sollte, was ich bezweifle, wird er es irgendwann wieder tun.«
Anne konnte über die plötzliche Abgeklärtheit ihrer Schwester nur staunen. Eben noch hatte sie sich an ihrer Schulter wie ein kleines Kind ausgeweint, und nun sprach sie wie eine alte Frau, die in ihrem Leben schon zu viel erlebt und gesehen hatte.
»Ich bin bloß froh, dass ich seinem Drängen nicht nachgegeben habe«, sagte Eva.
»Du meinst, ihr habt nicht?«
Eva schüttelte aufs Neue den Kopf. »Er wollte natürlich. Aber ich habe ihn nicht gelassen. Jedenfalls nicht ganz.«
Anne konnte nicht verhindern, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg. Obgleich das Thema Sex in der Öffentlichkeit zunehmend präsenter wurde, war es ihr unangenehm, darüber zu sprechen. Es erschien ihr stets, als verstoße sie dann gegen ein ungeschriebenes Gesetz. Eva war diesbezüglich um einiges lockerer. Daher hatte Anne angenommen, dass ihre Schwester mit Jürgen auch schon geschlafen hatte.
»Und du solltest das auch nicht tun, wenn du mal einen Freund hast«, warnte Eva.
»Ich gehe nicht mal mit jemandem aus«, wandte Anne ein.
»Noch nicht. Aber das kann sich jederzeit ändern. Du siehst schließlich gut aus, bist freundlich und gut erzogen.«
Anne rümpfte die Nase. »Das klingt, als wäre ich eine Katalogware.«
Eva seufzte. »Nun sei nicht so empfindlich. Ich meine es nur gut. Ich möchte nicht, dass du irgendwann mal so endest wie Mama.«
Anne runzelte die Stirn. »Wieso wie Mama? Papa hat sie doch nicht sitzengelassen, sondern geheiratet.«
Auch wenn ihre Eltern es ihr selbst nicht erzählt hatten, wusste Anne, dass die beiden erst ein Jahr nach Evas Geburt geheiratet hatten.
»Das hat er«, bestätigte Eva. »Er ist niemand, der eine Frau sitzen lässt. Er hätte sie wahrscheinlich sogar geheiratet, wenn ich nicht von ihm wäre. Nur weil er sich Mama gegenüber verpflichtet fühlt.«
»Aber wie kann er sich ihr gegenüber verpflichtet fühlen, wenn du nicht von ihm bist?«
Eva blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Die Norwegerinnen, die während des Krieges eine Beziehung mit einem Deutschen hatten, sind nach Kriegsende nicht gut behandelt worden. Da war es besser, wenn man einen von ihnen geheiratet hat und nach Deutschland gegangen ist.«
Eva entsann sich der Unterhaltung, die sie vor einigen Jahren mit ihrer Großmutter in Norwegen zu dem Thema geführt hatte. Anlass war die Bemerkung eines Jungen gewesen.
Der Junge hatte in derselben Straße in Trondheim wie Evas Familie gewohnt. Nachdem sie sich wiederholt draußen begegnet waren und dabei schüchtern Blicke oder ein kleines Lächeln ausgetauscht hatten, hatte der Junge Eva eines Tages, als sie allein auf dem Weg zum Einkaufen war, angesprochen. Sie unterhielten sich lange miteinander, und am Schluss lud der Junge Eva für den kommenden Tag ins Kino ein. Er tauchte jedoch am vereinbarten Treffpunkt nicht auf. In der Befürchtung, er könnte entweder krank geworden sein oder sie hätte eine der Einzelheiten der Verabredung falsch in Erinnerung, ging Eva zu seinem Haus. Er machte ihr selbst die Tür auf. Bevor sie etwas sagen konnte, teilte er ihr mit, dass er mit den Kindern von Deutschenhuren nichts zu tun haben wollte. Danach schlug er die Tür zu. Völlig aufgewühlt, kehrte Eva zum Haus ihrer Familie, wo ihre Großmutter im ersten Stock wohnte, zurück. Kristine Bakken begriff sogleich, dass etwas passiert war. Sie kochte ihrer Enkelin einen Tee und setzte sich danach neben sie.
»Magst du mir erzählen, was passiert ist?«, fragte sie mit sanfter Stimme, die Eva immer an geschmolzene Schokolade erinnerte.
Stockend berichtete Eva von ihrem Erlebnis. »Warum hat er mich das Kind einer Deutschenhure genannt, Mormor?«, fragte sie, nachdem sie geendet hatte.
Kristine sah ihre Enkelin traurig an. »Ach, Eva, mein Liebes.«
Dann erzählte sie ihr von der Besatzung, wie die Deutschen Norwegen überfallen und dem Land ihre Gesetze und Verordnungen aufgezwungen hatten. Dagegen hatte sich Widerstand geregt. Erst nur ein wenig, dann immer mehr. Die Deutschen hatten darauf mit brutaler Gewalt geantwortet. Viele Menschen wurden verhaftet, eingesperrt oder sogar getötet. Wer konnte, flüchtete wie Evas und Annes Onkel Arne nach Schweden.
»Aber noch mehr Ablehnung haben die Norweger erfahren, die die Deutschen unterstützt haben. Zum Beispiel für sie an der Ostfront gekämpft haben«, sagte Kristine. »Der größte Hass richtete sich allerdings gegen die Mädchen und Frauen, die mit einem Deutschen eine Beziehung eingingen. Besonders schlimm war es, wenn sie ein Kind von ihm bekommen haben.«
»So wie ich«, flüsterte Eva.
»Ja, so wie du, Eva.«
»Und was ist mit den Frauen passiert?«
Eigentlich wollte Eva fragen: »Was ist mit Mama passiert?« Aber etwas hielt sie davon ab. War es Angst? War es Scham? Sie hätte es nicht benennen können.
Kristines Gesicht wurde zu einer undurchdringlichen Maske. »Es ist ihnen schlecht ergangen. Sie sind beschimpft und ausgegrenzt wurden.«
Eva hatte das Gefühl, als wollte ihre Großmutter noch etwas hinzufügen.
Diese nahm jedoch Evas Hände zwischen die ihren und lächelte ihre Enkelin an. »Zum Glück hat deine Mutter deinen Vater wiedergefunden und ihn geheiratet. Eigentlich wollten sie das schon früher tun. Aber während des Krieges war das mit zu vielen Schwierigkeiten verbunden. Nach der Heirat mussten sie nach Deutschland ziehen. Was angesichts der Not dort nicht leicht war. Aber sie, ihr, habt diese schlimmen Jahre überstanden. Und jetzt geht es euch gut.«
Ging es ihnen gut? Von außen betrachtet schon. Sie litten keine Not. Hatten eine eigene Wohnung. Zwar klein, aber mit fließendem Wasser und Toilette.
Eva musste grinsen, als sie sich daran erinnerte, wie Anne nach ihrem Einzug ständig auf die Toilette gerannt war. Die Eltern hatten sich deswegen Sorgen gemacht, befürchtet, dass die Schwester sich eine hartnäckige Blasenentzündung eingefangen hatte. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass Anne ganz einfach fasziniert von der Spülung gewesen war und immer wieder an der Kette hatte ziehen wollen. Etwas Derartiges hatte es im Nissenhüttenlager, wo sie vorher gelebt hatten, nicht gegeben. Dort hatten sie nicht einmal eine eigene Toilette besessen.
»Was ist denn auf einmal so lustig?«, erkundigte sich Anne.
»Ach, ich musste an unseren Einzug hier denken und wie du ständig auf die Toilette gerannt bist, weil du unbedingt an der Spülkette ziehen wolltest.«
»Wie kommst du jetzt darauf?«, fragte Anne ungehalten. »Eben sprichst du noch von Mama und dann auf einmal von unserer Toilette?«
»Das lenkt mich von diesem treulosen Mistkerl ab, mit dem ich meine Zeit verschwendet habe.«
Selbstverständlich wollte Anne nicht, dass sich ihre Schwester wegen Jürgen Hoffmann grämte. Dennoch hätte sie gerne gewusst, was Eva mit ihrer Warnung, sie sollte mit keinem Mann schlafen, um nicht wie ihre Mutter zu enden, gemeint hatte.
Ein uneheliches Kind war eine Bürde, keine Frage. Es konnte den Ruf einer Frau unwiederbringlich zerstören. Zwar gab es mittlerweile eine Pille zur Verhütung. Allerdings war es nicht leicht, an diese heranzukommen. Rezepte wurden in der Regel nur an verheiratete Frauen ausgestellt. Nicht, dass Anne sich näher mit diesem Thema beschäftigt hatte. Es blieb jedoch nicht aus, dass sie bei der Arbeit das eine oder andere Gespräch der Kolleginnen über das neue Wundermittel mitbekam.
Doch das Stigma einer Frau mit unehelichem Kind haftete ihrer Mutter nicht an. Sie war verheiratet. Trotz gelegentlicher Streitereien verstanden sie und der Vater sich gut. Wie konnte Eva daher das Schicksal der Mutter als abschreckendes Beispiel hinstellen?
Sicher, die ersten Ehejahre waren nicht leicht gewesen. Aber das waren sie für niemanden. Hatte nicht das ganze Land unter den Entbehrungen, dem Hunger und der Kälte der Nachkriegszeit gelitten? Das war es doch, was so viele Ältere, angefangen von ihrer Nachbarin Frau Meyer bis zu ihrer ehemaligen Klassenlehrerin Frau Hellmann, ihnen, den Jüngeren, vorhielten. Dass sie im Gegensatz zu ihnen, die alle täglich um das Überleben gerungen hatten, im Überfluss lebten und dennoch nie zufrieden waren.
Ihre Eltern waren nicht so. Sie lebten ihr Sparsamkeit vor, zwangen sie jedoch niemals, ihrem Vorbild zu folgen. Was sie mit dem Teil ihres Lohns, den sie nicht zu Hause abgab, anstellte, blieb ihr überlassen. Und dass sie etwas abgab, war ihre eigene Entscheidung gewesen. Freilich war den Eltern die Erleichterung, dass sie es tat, deutlich anzumerken gewesen.
»Was hältst du davon, wenn wir etwas Musik hören?«, unterbrach Eva Annes Grübelei. »Zum Ausgehen habe ich heute wirklich keine Lust.«
Das Schicksal der Mutter war vergessen. Voller Unbehagen blickte Anne zu den Postern auf Evas Zimmerseite hinüber.
»Meinetwegen müssen es auch nicht die Beatles sein«, bot Eva großzügig an. »Wobei ich echt nicht verstehe, was dir an deren Musik nicht gefällt.«
Das konnte Anne selbst nicht sagen. Doch jedes Mal, wenn sie ein Bild der Pilzköpfe sah oder deren Musik hörte, überkam sie Abneigung. Lag es daran, dass die meisten Mädchen wegen der vier jungen Männer aus England fast komplett durchdrehten? Es war Anne unbegreiflich, wie man beim Anblick fremder Männer zu kreischen anfangen konnte. Das waren schließlich keine Heiligen, sondern ganz normale Musiker. Aber wenn es um die Jungs aus Liverpool ging, schien sich der weibliche Verstand abzuschalten.
Auch bei Eva war es so. Anne erinnerte sich daran, wie sich bei dem Besuch der Musikgruppe in Hamburg vor zwei Jahren nicht nur die Stadt, sondern auch ihre Schwester im Ausnahmezustand befunden hatte. Tagelang hatte es keinen anderen Gesprächsstoff gegeben. Zu Evas großem Kummer hatte sie keine Karte für das Konzert der Gruppe in der Ernst-Merck-Halle ergattern können. Um wenigstens einen Blick auf ihre Lieblinge zu erhaschen, war sie daher zum Flughafen gefahren, um bei der Ankunft der Musiker zugegen zu sein.