Am Anfang eines Lebens - Hanna Hommes - E-Book

Am Anfang eines Lebens E-Book

Hanna Hommes

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Beschreibung

Katharina ist Anfang Dreißig und lebt in Köln. Was für andere selbstverständlich ist, stellt Katharina in Frage: ihren Job als Grundschullehrerin, ihr Leben in Köln, ihre Beziehung zu Männern. Sie fragt sich, ob es irgendwann möglich ist, die eine, wahre Liebe zu finden. Und dann, plötzlich, ist sie da, die neue Chance. Aber ist Katharina in der Lage, das Wechselspiel von Nähe und Distanz, Freude, Leid und Trauer auszuhalten? Katharina führt in dieser Zeit viele Kämpfe - mit anderen und auch mit ihren Ängsten, Sorgen und den Fragezeichen in ihrem Leben: Wie möchte sie ihre Zukunft gestalten? Wo möchte sie leben und mit wem? Ist sie bereit, für einen Neuanfang ihr altes Leben aufzugeben?

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Katharina ist Anfang Dreißig und lebt in Köln. Was für andere selbstverständlich ist, stellt Katharina in Frage: ihren Job als Grundschullehrerin, ihr Leben in Köln, ihre Beziehung zu Männern. Sie fragt sich, ob es irgendwann möglich ist, die eine, wahre Liebe zu finden. Und dann plötzlich, ist sie da, die neue Chance: Aber ist Katharina in der Lage, das Wechselspiel von Nähe und Distanz, Freude, Leid und Trauer auszuhalten? Katharina führt in dieser Zeit viele Kämpfe - mit anderen und auch mit ihren Ängsten, Sorgen und den Fragezeichen in ihrem Leben: Wie möchte sie ihre Zukunft gestalten? Wo möchte sie leben und mit wem? Ist sie bereit, für einen Neuanfang ihr altes Leben aufzugeben?

Die Personen und die Handlung der folgenden Erzählung sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder Personen wären rein zufällig.

Für Lars

INHALT

Nachher

Vergangenheit

Vorübergehend

Zukunft

Alles ist endlich

Vielleicht für die Ewigkeit

Vom Anfang bis zum Ende

Sehr viel später

NACHHER

In der Stille, die mich umgibt, wenn ich alleine bin, formen sich manchmal Wörter, dann ganze Sätze, manchmal bleiben es auch nur Versatzstücke, die ich mir notiere, mit dem sicheren Gefühl, dass sie für mich bedeutsam sind, aber ohne konkrete Idee, was ich damit anfangen werde. Ich notiere sie handschriftlich, mit einem dicken schwarzen Filzstift, um den Moment beobachten zu können, in dem die Bewegung meiner Hand aus dem weißen Untergrund ein beschriftetes Blatt Papier macht, die Bewegung des Stiftes schwarze Spuren auf dem Papier hinterlässt, die eine Bedeutung haben, wie bei einer Sprache, bei der aus einer Bewegung des Kehlkopfes, der Zunge und des Kiefers ein Laut entsteht, nichts anderes als ein Luftzug, der aber eine bestimmte Bedeutung bekommt, sobald er sich in eine Reihe von anderen Lauten einfügt und plötzlich entstehen Silben, Wörter, ganze Sätze und die leere Luft ist gefüllt von den Schallwellen, mit denen wir sie füllen, das Blatt vollgeschrieben mit den Buchstaben, die wir brauchen, um sagen zu können, was wir sagen wollen. Je stiller ich bin, desto mehr Wörter gibt es in meinem Kopf, Wörter, die sich zu dem formen, was ich sagen will, zu der Geschichte, die ich erzählen will.

VERGANGENHEIT

Meine Geschichte begann, als ich dich traf und noch niemand unsere Geschichte kannte. Hätten wir sie selbst vorhersehen können, hättest du geahnt, mit welcher Leichtigkeit die Dinge in Bewegung geraten, hättest du vielleicht nicht so einfach zugelassen, was dann folgte, was sich schon in unserer ersten Begegnung spiegelte, als ich dich zum ersten Mal anschaute. Schon im ersten Moment war es ein mit Angst gefüllter Blick, die Angst davor, etwas verlieren zu können, das ich in mein Herz lassen würde. Ich war sechzehn und ich hatte nicht vorgehabt, mich zu verlieben. Ich glaubte auch nicht an Geschichten über die große Liebe, das Sich-Verlieben auf den ersten Blick, das Hin- und Weg-Sein vom ersten Moment an, und trotzdem passierte es so, als wir uns zum ersten Mal trafen. Bei einem Picknick im Park, das ein gemeinsamer Freund organisiert hatte. Als wir unser Proviant auf Decken ausgebreitet hatten, hast du dich neben mich gesetzt und später hast du mir dann erzählt, dass du nur zufällig da warst und gar keine Lust auf ein Picknick hattest. In unserer Unterhaltung lag eine Aufregung, die Luft zwischen uns flimmerte nicht etwa wegen der Sommerhitze, sondern wegen der Spannung, die uns verband als wären unsichtbare Bänder zwischen uns gespannt. Unsere Worte waren überlegt, wir fragten vorsichtig, bemühten uns darum, nichts Falsches zu sagen, unsere Stimmen waren zittrig und unsicher. Wir waren ängstlich, wann würde das Picknick vorbei sein, hatte der andere ähnliche Gedanken, wann würden wir endlich unsere Telefonnummern austauschen und wie konnten wir das bewerkstelligen? Wir waren sechzehn, da ist sowas eben nicht leicht.

Einige Jahre später dann war es ganz anders. Die Bewegungen, mit denen du dir die Brotstückchen mit Soße in den Mund schobst, waren nicht mehr fremd, sondern so vertraut, als wären sie meine eigenen und auch dein Name, Jon, der einen komischen Klang hatte, als ich ihn zum ersten Mal aus deinem Mund hörte, war später so gewöhnlich für mich, dass man ihn fast überhören könnte, hätte er mich nicht jedes Mal aufs Neue an die Sicherheit und Ruhe erinnert, die von dir ausging und die auch auf mich überging, sodass ich das tun konnte, wonach mir gerade der Sinn stand, ins Ungewisse streben, solange du da warst und deine Hand da war, nach der ich greifen konnte und nach deren Festigkeit und Wärme ich mich danach noch oft sehnte.

Als ich zum ersten Mal deine Eltern traf, kamen sie mir vor wie ein glückliches Ehepaar aus einem Bilderbuch, das man Kindern vorlegen würde, um zu beweisen, dass eine lebenslange Liebe möglich war und sofort begann ich, mich zu fragen, was sie in mir sehen würden - ganz bestimmt nicht die Frau, die sie sich als Partnerin ihres Sohnes selbst ausgesucht hätten. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich versuchte, nett zu ihnen zu sein, mir nichts anmerken zu lassen, wie eine Schwindlerin kam ich mir vor, denn wenn sie mich erstmal richtig kennen würden, würden sie Jon davon überzeugen müssen, nach jemand anderem zu suchen. Trotz allem begann ich, Teil von Jons Bilderbuchfamilie zu sein.

Aber die Dinge sind nie so wie sie scheinen, der erste Eindruck ist nur das Abbild einer Hochglanzversion von dem, was wir zeigen möchten - der erste Eindruck ist ganz anders als die Seiten, die hinter dem Cover, dem Inhaltsverzeichnis und der Einleitung folgen, die dunkler sind, die man erst sieht, wenn man im Leben der Menschen blättert wie in einem Buch, wenn man Geduld hat, über die ersten Seiten hinweg zukommen, und Interesse hat, den ganzen Rest zu erschließen, auch wenn es anstrengend wird und überraschend, wenn die Seiten noch viel dunkler sind, als man sie erwartet hat. Auch Jons Eltern hatten mit ihrem eigenen Schicksal zu kämpfen, besser gesagt, mit ihrer Entscheidung füreinander und mein verliebter Blick und die Anwesenheit Jons in meinem Blick auf sie hatten mich getrübt. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie mich so akzeptierten, wie ich war, sofern sie denn eine Ahnung hatten, dass es für Jon keinesfalls einfach werden würde, an meiner Seite zu leben. Aber vielleicht ahnten sie auch überhaupt nichts und freuten sich für uns, dass wir damals einer Liebe nahe waren, die sie selbst nicht erreicht hatten, die in ihrer Tiefe schon erkennbar war, wenn wir uns anschauten oder Jon seine Hand scheinbar beiläufig auf meinen Arm legte.

Für unsere Urlaube fuhren wir nach Frankreich, es waren keine aufwändigen Fernreisen, die dich zwar, ebenso wie mich, hätten begeistern können, aber wir fanden beide Gefallen daran, uns in ein kleines Zelt zu schmiegen, auf einer wackeligen Gasflamme Spaghetti zu kochen und nach dem Essen in den dunklen Himmel zu schauen. Gerade hattest du den Führerschein gemacht und wir fuhren mit deinem ersten kleinen Renault zwölf Stunden lang auf der Autobahn, bewunderten die unbekannten Autokennzeichen, verfolgten, wie aus Brennnesseln und Malven Holunder und schließlich blühender Oleander und Zypressen wurden und dann fühlte ich mich manchmal wie ein Kind auf der Rückbank des elterlichen Autos, das die Hälfte der Fahrt verschlafen hat und beim Blick durch das Fenster erkennt, dass man endlich angekommen ist. Auch der Himmel leuchtete jetzt viel blauer, als dies zu Hause je möglich gewesen wäre und ein Gefühl der Freiheit begleitete mich, und auch ein Gefühl der Sicherheit, neben dir, Jon, denn vom ersten Moment an bestand kein Zweifel, du warst ein zuverlässiger, ausgeglichener, vorausschauender Fahrer, der uns, auch in unserer gemeinsamen Zukunft, durch unwegsame Situationen manövrieren würde, das Steuer des Autos in deiner Hand in jenen Momenten, in denen ich nicht vorgehen konnte oder wollte. Du warst die beständige Größe, die mir eine Richtung vorgab, und schon damals neben dir im Auto wusste ich, dass deine Ruhe den nötigen Ausgleich für meine Unbeständigkeit sein könnte.

Wenn ich an diese Urlaube zurückdenke, erinnere ich mich am deutlichsten daran, mit nackten Füßen auf dem Sand unter den Pinienbäumen neben dir herzulaufen, auf dem Weg zur Rezeption, an der wir uns ein Eis kauften, um die Hitze irgendwie zu ertragen, ein gemeinsamer Familienausflug, nur dass es keine Familie gab, aber das störte uns damals nicht, auch nicht, als wir mit dem Fahrrad in die Dörfer fuhren, unterwegs unsere Decke auf einer frisch gemähten Wiese ausbreiteten und von dem gros pain aßen, das wir in einem der aus Stein gemauerten Häuser gekauft hatten. Dort schmeckte mir zum ersten Mal der herzhafte Käse, den wir uns in dick geschnittenen Stücken auf das Brot legten, und stell dir vor, bis heute mag ich Käse nur in dicken Stückchen. Ich musste mit den Augen der Menschen auf uns blicken, die in Autos an uns vorbei rauschten und dieser Anblick gefiel mir, es war das Bild eines jungen Pärchens mit Zukunft, das ein Paar Jahre als Studenten verbringen würde, bevor es eine Familie gründen und vielleicht ein Haus bauen würde. Endlich wusch die kühlende Brise des Fahrtwinds auch die letzten Zweifel meinerseits an dieser Zukunft weg und aus Jon wurde Joni, immer dann, wenn ich es besonders liebte, bei dir zu sein.

Die wichtigste Erinnerung aber, die ich an dich habe, Joni, ist, wie wir uns manchmal anschauten, und wussten, woran der andere dachte, wie wir in den Bewegungen des anderen lesen konnten wie in einem offenen Buch, und ich deine Bewegungen verfolgte und sah, wurdest du langsam, wurde auch ich langsam und bewegtest du dich schneller, machten auch meine Gedanken Sprünge und gingst du in die Küche, wusste ich, dass du Salz holen wolltest, weil es dir auf deinem Brot fehlte und saßt du vor dem Computer mit hochgezogenen Schultern wusste ich, dass dich etwas bedrückte und manchmal war es nicht nötig, dich danach zu fragen, denn mit unwichtigen Dingen wolltest du mich nicht beschäftigen und über wichtige Dinge haben wir gesprochen, wenn wir uns am Esstisch gegenüber saßen und zu Abend aßen. Und trotz des Einklangs, in dem wir miteinander lebten, verloren wir nie die anfängliche Leidenschaft, im Gegenteil fandest du die größte Zufriedenheit darin, mich zu befriedigen, immer wieder begehrten wir einander, hungrig auf eine noch größere Verbundenheit unserer Körper. Waren wir uns zuvor darüber einig, einander nie besitzen zu wollen, wollte ich dich gerade in solchen Momenten doch besitzen und deine Mimik und die Haltung deines Körpers zeigte, dass du ähnliche Gedanken hattest und in gegenseitigem Einverständnis besaßen wir uns dann gegenseitig, wenn auch nur für kurze Zeit.

Joni, sollen wir spazieren gehen, fragte ich dich früh am Morgen, als mich ein unbestimmtes Bedürfnis nach frischer Luft und Bewegung nach draußen zog, und als du dann antwortetest, ja, lass uns später an die frische Luft gehen, machte mein Herz Luftsprünge in Vorfreude darauf, an deiner Hand am Rhein entlang zu spazieren, Joni was machen wir als Nächstes, ich weiß nicht, was möchtest du denn machen, ich glaube, ich will was Leckeres kochen, in Ordnung, machst du mit? Ich war wie ein kleines Kind, das sich freute, wenn der Lieblingsfreund kam und mit ihm das Lieblingsspiel spielte, immer wieder, jeden Tag, die ganze Zeit, und es wurde nie langweilig.

Auch wenn er keine Zeit für mich hatte, weil er an einer Hausarbeit für die Uni schreiben musste, hatte ich Verständnis und wanderte mit vorsichtigen Schritten um ihn und seinen Schreibtisch herum um ihn nicht zu stören, höchstens mal, um ihm einen Kaffee in der Tasse hinzustellen, die er besonders gern mochte.

Ich fragte mich auch damals schon, ob meine Bedeutung für ihn genauso groß war wie seine für mich. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob er sich an die Momente erinnern würde, an die ich mich erinnere. Zum Beispiel, als meine Eltern uns eingeladen hatten. Es war Wochenende, eigentlich hatten wir beide frei, ich hatte Lust, einen Spaziergang zu machen, die Musik laut aufzudrehen, einfach gemeinsam auf dem Sofa zu liegen. Aber wir hatten meinen Eltern schon vor Wochen zugesagt und ich hatte sie lange nicht gesehen und auch nicht am Telefon mit ihnen gesprochen. Am Vormittag tigerte ich durch die Wohnung, lief vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer und von dort wieder zurück ins Wohnzimmer, konnte mich nicht entscheiden, etwas Bestimmtes zu tun, denn alles schien mir vergeudete Zeit, wir mussten ja sowieso bald los, und dieser Ausflug schien den ganzen Tag zu zerreißen. Also tat ich nichts, außer abzuwarten, und ich schwieg, hatte keine Lust, mich zu unterhalten, Jon von meinen Gedanken zu erzählen. Aber er wusste auch so genau, was los war, denn als wir unsere Mäntel anzogen, schaute er mich an, musterte jede kleinste Falte, die sich in meinem Gesicht bewegte, als könnte er darin lesen, wie in einem Buch, und wusste, dass ich nicht losfahren wollte. Er nahm mich in den Arm, drückte fest zu und fragte, sollen wir hierbleiben, ist dir das lieber? Aber auch das wollte ich nicht, ich fühlte mich, als sei ich im Zwiespalt meines Lebens, ich wusste weder vor noch zurück, keine der beiden Optionen schien mir die bessere, ich war gefangen in einem Zwiespalt, der sich durch mein ganzes Leben zu ziehen schien, immer schien ich in solche dummen Zwiespalte zu geraten, musste mich zwischen zwei Seiten entscheiden, und immer waren diese Entscheidungen so schwer, immer wieder fragte ich mich auch, warum konnte mein Leben nicht einfach ganz ohne Entscheidungen ablaufen, das wäre doch so viel einfacher! Erst, als du mein Gesicht in deine Hände genommen hast und gesagt hast, es wird alles gut, Katharina, beruhige dich, wir fahren jetzt erstmal dahin, und dann wird alles gut, wusste ich, dass du Recht hattest, und ich nur das tun brauchte, was du sagtest, du hattest mir die Entscheidung einfach abgenommen, so einfach war das und so warst du, auch damals schon.

Eines Abends sahen wir uns einen Dokumentarfilm im Fernsehen an, bei dem es um Meeresbiologen und deren Arbeit im Wattenmeer ging: Die Forscher beobachteten mehrere Kolonien von Seehunden und versuchten, herauszufinden, welchen Einfluss der vermehrte Schiffsverkehr in der Nordsee auf das Leben der Seehunde hatte. Die Forscher wollten auch der Frage nachgehen, inwiefern zukünftige Offshore Windparks die Tierwelt dort beeinträchtigen könnten. Als ich die bärtigen Männer mit Mützen und die Frauen in gelben Gummistiefeln und Windjacken sah, und wie unkompliziert sie miteinander umgingen, und wie selbstverständlich sie auf dem schwankenden Kahn standen und sich Wind und Wetter aussetzten, dachte ich, ich will auch eines Tages so etwas machen, vielleicht nicht in dieser Klimazone, sondern irgendwo, wo es wärmer ist und man den ganzen Tag in Flip Flops herumlaufen kann und der Wind keine Feuchtigkeit mitbringt, sondern warm-trockene Luft, vielleicht aus der Südsee - oder wenigstens der Sahara. Du hast damals nur gelächelt, Jon, aber es war kein herablassendes Lächeln, sondern es lag eine Bewunderung in deinen hochgezogenen Mundwinkeln und den Falten um deine Augen, nämlich eine, die du damals noch für mich und meine Träume empfunden hast. Aber gleichzeitig war dein Blick auch ernst, so als hättest du da schon gewusst, wenn du Träume hast, dann musst du sie verfolgen und vergiss niemals, wer du eigentlich bist und was du tief in deinem Herzen willst, denn nur das ist es, was zählt. Und jetzt frage ich dich, was, wenn mein Traum ganz einfach darin bestand, mit dir zusammen zu sein, was, wenn mir das allerwichtigste du warst, was, wenn meine Zeit wertlos war, wenn ich sie nicht mit dir verbrachte, würdest du dann immer noch sagen: Verfolge deinen Traum, lass ihn bloß nicht los? Und warum hast du dann irgendwann losgelassen? Ich habe dich nicht verlassen, oh nein, und würdest du das behaupten, würde ich dir sagen, dass du es warst, der sich von mir verabschiedete und nicht umgekehrt, aber du hättest mich einfach nicht gehen lassen sollen, denn du warst mein wichtigster Traum, ohne dich hatte alles keinen Sinn mehr. Aber nicht nur du bist für mich da gewesen, auch ich habe Verständnis für dich, dafür, dass du vielleicht Angst bekommen hast, dafür, dass du wie jeder andere Mensch selbst auch Schwächen hast, auch wenn du dir das nicht eingestanden hättest, und dass du einfach nicht wusstest, wie wichtig wir füreinander waren, und somit konnte ich - nicht direkt, aber nach einer Zeit - auch endlich von dir Abschied nehmen.

Aber erstmal war es schwer: So lange noch, nachdem ich dich zum letzten Mal sah, fragte ich mich, wie es dazu kommen konnte, dass unsere Geschichte zu Ende war und während ich am Esstisch saß und mir die Augen rieb, die vor Anstrengung schmerzten, hoffte ich, dass es mir irgendwann egal werden würde, wo du warst und mit wem, und dass es nicht mehr so schmerzen würde wie am ersten Tag nach unserer Trennung, als du mir erklärtest, dass du nicht mit einer Frau leben könntest, die untreu war. Die Dinge sind nie so wie sie scheinen, hast du zu mir gesagt. Dabei war doch alles nur ein großes Missverständnis, Joni, das musst du mir glauben, denn hattest du nicht auch manchmal Zweifel, dass wir uns zu früh an jemand anderen gebunden hatten? Wie konnte ich mit jemandem für den Rest meines Lebens zusammen sein, den ich mit sechzehn kennengelernt hatte, aber als ich dich anflehte, mich verstehen zu können, dir schilderte, wie es dazu kommen konnte, dass du gesehen hast, wie ein anderer Mann meinen Nacken küsste und meine Haare in seiner Hand hielt, schütteltest du den Kopf und konntest mir nicht mehr in die Augen schauen und ich begann zu ahnen, dass etwas in unserer Beziehung zueinander zerbrochen war, dass ich dachte, wir könnten es mit unserer Stärke wieder verbinden, und ich dachte in diesem Moment, ich finde ganz bestimmt die Kraft, die Scherben wieder einzusammeln, die noch übrig waren von uns, um sie zusammenzukleben, vielleicht würde es lange dauern, denn es war wie ein Puzzle und die Einzelteile sollten wieder zusammen passen, aber ich wusste ja, dass sie es taten, dass zu jedem Stück von dir auch ein Stück von mir auf dem Scherbenhaufen zwischen uns lag. Aber du ließest mich nicht, wehrtest jeden Versuch ab, nicht ein einziges Mal wolltest du mich noch sehen, reagiertest nicht auf meine Briefe, in denen ich dich um ein Treffen bat, um das Missverständnis aus der Welt zu schaffen, um dir zu erklären, dass es nur ein kurzer Moment war, in dem ich Dinge mit mir geschehen ließ, ohne darüber nachzudenken, aber in dir hatte sich etwas entwickelt, das du mir mit einer Härte entgegenstelltest, die ich nicht von dir kannte und ich begann allmählich daran zu zweifeln, dich gut gekannt zu haben. Später dann hörte ich von Anna, dass du in Kanada lebtest und mit einem freudestrahlenden Lächeln verrieten deine Fotos bei Facebook, dass du glücklich mit jemand anderem warst, ein Leben, in dem ich nicht die geringste Rolle spielte. Deinem stand mein eigenes Leben gegenüber, in dem alles, was ich noch spüren konnte, eine vergangene und verdorbene Liebe war, die Liebe meines Lebens. So einfach sollte das alles enden, wenigstens eine Erklärung warst du mir schuldig, oh mein lieber Joni, wenigstens eine Erklärung, und schon allein deshalb bewahrte ich meinen Teil der Scherben auf, behütete sie wie einen kostbaren Schatz.

Ich begann, zu rauchen, obwohl es mir komisch vorkam, ein mit Tabak gefülltes Stück Papier in den Mund zu stecken und daran zu ziehen. Als Anna sagte, es stehe mir überhaupt nicht, wusste ich, sie hatte Recht, aber da war es schon zu spät, denn das Einsaugen und Ausfließen der gräulichen Luft ermöglichte es, dass ich nicht Jon selbst, aber das Verlangen nach ihm für einen kurzen Moment vergaß, das Verlangen, das immer noch da war und dessen schmerzende Stiche ich immer dann besonders deutlich spürte, wenn ich beim Lernen oder Lesen eine Pause einlegte und sich die Gelegenheit ergab, nachzudenken, wenn ich dann darauf wartete, dass Jon in einem Brief aus Kanada wieder ein Wort an mich richten würde, ein Hallo, und ein ja, ich weiß, dass es dich noch gibt und ja, es gibt mich auch noch, aber ich möchte nicht mit dir sprechen. Es hätte mir schon gereicht, zu wissen, wo er ist und was er macht, hätte die tobenden Quälgeister in meinem Kopf beruhigt. Aber es kam kein Brief aus Kanada.

Es blieb mir nichts Anderes übrig, als mich mit mir selbst zu beschäftigen. Aber wer war ich überhaupt, was machte mich aus? Ich kam mir selbst fremd vor, besonders in den Momenten, in denen ich eine Zigarette rauchte, die übel schmeckende Luft einatmete, die manchmal in den Rachen stach. Immer wenn ich tiefer horchte, war da eine Leere in mir, ein Loch, das niemand füllen konnte. Niemand schien die Veränderungen zu bemerken und ich wollte niemanden darauf ansprechen, als hätte ich unter der Kleidung an meinem Körper eine hässliche Wunde, auf die alle mit dem Finger zeigen würden, wenn ich sie offenlegte, wie schrecklich, guck mal die, was die da hat, diese Leere in ihrem Körper! Es kam mir vor, als wäre ich der einzige Mensch, der wirklich so gar nichts in sich hatte, der ohne Richtung und ohne Ziel im Weltraum des täglichen Lebens strudelte, schwerelos und gefangen in einem dicken, schweren Raumanzug, der alle Gefühle, außer die Schmerzen des Verlustes, so unendlich dämmte, dass ich dort drinnen fast nichts spürte.

Genau dann kam Jakob in mein Leben. Er kam so schnell, dass ich gar keine Zeit hatte, zu überlegen, ob da überhaupt Platz für ihn war. Er war 21, hatte zwei Jahre lang an der Uni die Luft der Freiheit geschnuppert und genossen, jetzt wollte er sich an jemanden binden.

Natürlich waren da auch noch meine Eltern, die mit Sorge beobachteten, wie schwer mir der Abschied von Jon gefallen war. Man sah es in ihren Augen, wenn sie mich begrüßten, wie sie die Leere rechts und links von mir musterten - mitleidig - ach, Katharina, da ist immer noch niemand an deiner Seite, Mensch, du musst dich endlich von Jon verabschieden, du bist es doch selber schuld, und jetzt versinke nicht in Selbstmitleid, sondern tu etwas, du brauchst endlich einen Mann an deiner Seite. Das sagten sie mir nicht so. Aber manchmal muss man Dinge eben nicht sagen, man versteht sie auch so.

Also waren auch meine Eltern schuld daran, dass ich einwilligte, Jakob zu treffen. Wir schlenderten über den Weihnachtsmarkt, schauten mehr, was es an den Ständen gab, als dass wir uns unterhielten. Jakob war nett und er gab mir das Gefühl, wichtig zu sein, machte mich zum Mittelpunkt seines Lebens. Nicht wir schlenderten durch die mit Lichterketten geschmückten Buden, sondern er an meiner Seite, ich entschied, wohin wir gingen und er folgte mir. Komisch, dass es manchmal auch andersherum war. Denn eigentlich war er derjenige, der mir zeigte, wo die Grenzen waren, in die ich von nun an meine Ideen und Gedanken einordnen könnte.

Denn Grenzen kannte er viele und alles in seinem Leben brauchte einen eigenen Platz. Als würde er sicher gehen wollen, dass ich das auch verstand, baute er mir Regalbretter, auf die ich meine Bücher stellen könnte, kaufte mir Ordner, in die ich meine Unterlagen einsortieren konnte und besorgte mir Kisten, in denen ich meinen Kram verstauen konnte. Mir war das egal, vielleicht war es mir auch recht, denn es war einfach und es war klar, genau das, was ich brauchte in meinem Leben. Und die Ordnung seines Lebens färbte auf mich ab, denn es schien fast so, als stürzte ich mich umso fleißiger in mein Studium je mehr ich ihn kennenlernte. Um genau zu sein, war ich nie so fleißig gewesen wie zu dieser Zeit und genau zu wissen wohin es ging, erleichterte mich, es passte so gut mit dem Leben mit Jakob zusammen. Jetzt war ich endlich sicher, dass ich wirklich Grundschullehrerin werden wollte und verfolgte diesen Weg geradlinig, konzentriert. Plötzlich war alles so einfach.

In manchen Momenten jedenfalls. Denn auch wenn es jetzt ein neues Leben gab, gab es viele Tage, an denen ich an Joni in seinem neuen Leben dachte, in Kanada, und diese Einsicht schmerzte mich immer und immer wieder, überraschte mich in Momenten, in denen ich sie nicht erwartete, sie kam als Welle der Übelkeit, als ich an der Kasse des Supermarktes stand und es für eine Weile weder vor noch zurück ging, ich stattdessen den Wagen hin und her schob, die Luft plötzlich stickig und zäh war und auch das Aufknöpfen meiner Jacke nicht half und ich mich in Gedanken schon auf den Weg nach Hause begab, überlegte, in was für ein Leben ich ging im Gegensatz zu demjenigen, der vor mir wartete, oder auch im zähfließenden Verkehr, als ich den trüben, ins leere starrenden Blick des Mannes im Auto hinter mir durch den Rückspiegel bemerkte und mich fragte, ob jemand zu Hause auf ihn warten würde, und so kreiste ich mich immer wieder selbst mit meinen Gedanken ein, Gedanken über mich, die anderen, Jon, Jakob und wieder mich und die anderen, bis sie mich am Ende immer wieder zu Jon führten und ich begann, mit ihm zu sprechen, wie geht es dir, wann kommst du zurück, wie sieht deine Wohnung aus, welches Buch liest du gerade, denkst du oft an zu Hause, und wie ein Halleluja am Ende einer Predigt murmelte ich manchmal Kanada... Kanada, Kanada, und warum war ich hier in Köln, eine Entfernung, die Jon offensichtlich nicht überbrücken wollte und ich nicht überbrücken konnte. Und so fühlte ich mich nicht in der Lage, in die Ferne zu reisen, denn würde Jon mich in Köln suchen und wäre ich gerade nicht hier, hätte ich mir das nie verziehen und wenn schon eine Reise in die Ferne, warum dann nicht nach Kanada, doch das machte ich Jakob zuliebe nicht, und da passte es gut, dass Jakob nicht der Typ dafür war, in die Welt zu reisen, ihm passte es besser, in unserem Wohnzimmer zu bleiben und so igelten wir uns dort ein und schauten Filme, auch wenn es dann schwierig für mich wurde, Filme zu gucken, die in der Ferne spielten.

Aber mein Leben nahm seinen Lauf, funktionierte praktisch automatisch und endlich beherrschte mich bald nicht mehr ständig der Gedanke, wen ich liebte und mit wem ich zusammenleben wollte, denn Jakob war einfach da und ich stellte ihn nicht in Frage, so wie auch er keine Fragen stellte.

Es war etwa in der Mitte meines Studiums, auf der Hälfte meines Wegs hin zu meiner Arbeit als Grundschullehrerin, als ich begann, mich immer weniger für didaktische Theorien, Lehr- und Lernmethoden und die psychosoziale Entwicklung von Menschen zu interessieren, ich war es einfach satt, ich konnte es nicht mehr hören, das ganze Geschwafel über Klafki und Bildungstheorien war so abstrakt, was hatte das bitte mit mir zu tun, fragte ich mich, ich in meinem Leben, zwischen Jon und Jakob, zwischen Köln und Kanada, zwischen Vergangenheit und Zukunft und was hatte da die lerntheoretische Didaktik zu suchen, in welchem Verhältnis stand dies alles zu mir?

An einem Montagabend sah ich dann eine Sendung im Fernsehen, die mein Leben bald in Frage stellen sollte, nur dass ich das damals noch nicht wusste. Ich weiß noch genau, dass es ein Montag war, weil ich damals schon ein komisches Gefühl hatte, es war keine Übelkeit, nein, überhaupt nicht, aber es war eine Enge in der Brust und auch eine Enge im Bauch, die ich spürte, als würde mich etwas beunruhigen. Ich dachte in diesem Moment, dass es vielleicht der Anbruch der neuen Woche war und mich die Aussicht beunruhigte, dass es erst Montag war und ich ein paar anstrengende Tage vor mir hätte.

Was ich mir im Fernsehen anschaute war jedenfalls eine Sendung über Meerestiere, in der komische Wesen, die als Punkte in verschiedenen Abstufungen von blau, mittelblau, tiefblau, dunkelblau, grünblau, nachtblau oder ultramarinblau über den Fernsehbildschirm schwebten, und irgendwie konnte ich nicht wegschauen, verfolgte jeder ihrer Bewegungen, bis ich vergaß, dass sie nur im Fernsehen waren und das Gefühl hatte, sie könnten zu mir aufs Bett kriechen.

Ich begann, mich für das Thema Meeresbiologie zu interessieren und hungerte förmlich nach neuem Wissen in diesem Bereich. Ich verbrachte mehr und mehr Zeit am Schreibtisch, las Artikel über Krebse im Hadal, in der Unterwelt der Meeresböden in 6000 Metern Tiefe, lernte, dass Hummer blaues Blut hatten und ein Krake drei Herzen, versuchte, herauszufinden, wie Krakenherzen funktionierten, konnten Kraken eigentlich fühlen, wenn ja, konnten sie auch lieben, und wären sie in der Lage, ihre Herzensgefühle aufzuteilen auf drei verschiedene Artgenossen, mit denen sie ihr Leben gleichzeitig teilten? Bald konnte ich Stunden damit verbringen, meinen Kopf im kleinen Lichtkegel der Schreibtischlampe über einen neuen Aufsatz zu beugen, den ich mir in der Bibliothek kopiert hatte, und mir vorzustellen, in das geheimnisvolle Dunkel der Tiefsee abzutauchen, mich in der Stille der Welt der Meerestiere lautlos fortzubewegen, ohne erklären zu müssen, was ich machte und warum, und als ich über die Fortbewegung von Fischen las, war mir, als könnte ich mich sehr gut einfinden in den geschmeidigen, glatten, fast körperlosen Fischleib, der flink und fast ungesehen im kalten Wasser dahin schießt. Und ich stellte mir meine Position in der Welt der Fische vor und war mir sicher, ich wäre dann nicht einer der Fische, der sich einem riesigen Schwarm von Artgenossen anschlösse, nein, mir gelänge es besser, mich in den Körper eines Einzelgängers zu verwandeln, ein Einsiedlerkrebs, der immer zur Hälfte in seinem Haus steckte, das er stets mit sich herumtrug, immer die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, unsichtbar zu werden. Aber vielleicht wäre ich auch ein Blauwal, denn auch die waren Einzelgänger, wie ich schnell lernte. Immer wenn ich mir Dokumentationsfilme dazu anschaute, fühlte ich mich wie die Hauptfigur in Julio Cortázars Kurzgeschichte Axolotl, der die seltsamen Süßwasserwesen durch die Scheibe eines Aquariums in einem botanischen Garten betrachtet und sich vorstellt, sie hätten ein eigenes menschliches Bewusstsein, das in einem Fischkörper gefangen ist. Wenn er sie beobachtet, fühlt er sich fast schon von ihnen bedroht, so durchdringend starren sie ihn an, aber er beginnt, mit ihnen zu sprechen, und betrachtet sie so lange, bis er schließlich selbst zum Axolotl wird, und aus dem Aquarium heraus sein eigenes Gesicht an der Scheibe sieht. Erst dann merkt er, dass er die Verwandlung nicht mehr rückgängig machen kann und beobachtet aus dem Aquarium heraus, dass er selbst als Besucher des Aquariums immer seltener vorbeischaut, bis er irgendwann ganz fortbleibt, während der verwandelte Mensch-Axolotl im Aquarium gefangen bleibt. Und so fragte ich mich, würde auch ich mich irgendwann in diesen Welten, über die ich jetzt so viel las, verlieren und nicht mehr in mein eigentliches Leben, zu Jakob und meinem Staatsexamen zurückkehren können?

Ich versuchte, diese Gedanken wegzuwischen, besuchte aber dennoch eine Vorlesung über Schwimmbewegungen bei Fischen am Institut für Zoologie der Universität Bonn, kreiste mir einige weitere Vorlesungen ein, stellte aber schnell fest, dass es weder in Köln noch in Bonn wirkliche Experten gab, die ihren Schwerpunkt auf die Meeresbiologie legten, wie auch, wenn das nächste Meer doch so weit entfernt war. Schnell merkte ich auch, dass mich die steifen, monoton sprechenden Professoren mit ihren Vorträgen und die müden und ebenfalls monoton dreinblickenden Studenten mich langweilten und so vertiefte ich mich lieber in Bildbände, Wissenschaftssendungen und dazu gehörige Abhandlungen, die ich mir im Internet über wissenschaftliche Plattformen herunterlud, schwärmte bald insgeheim für Professoren, die Marine Science an Universitäten mit interessanten Namen lehrten, an der Hawaii Pacific University, der Humboldt State University oder der James Cook University.

Ich verbrachte Stunden allein am Schreibtisch, sofern Jakob nicht einforderte, wir sollten uns unbedingt wieder sehen, während ich dachte, aber wir hatten uns doch erst vor drei Tagen gesehen, musste es unbedingt heute Abend sein, und weil ich immerhin über diesen Gedanken erschrak, sagte ich ihm, ja, es wäre toll, wenn wir heute Abend vielleicht mal einen Spaziergang machten oder essen gingen, aber wenn wir uns dann abends sahen, waren es wirklich schöne Stunden, die ich genoss und die die Muskeln meiner Schultern wieder entspannten, die von der über den Schreibtisch gebeugten Körperhaltung ganz hart geworden waren.

Aber nichts davon berührte mich wirklich, nichts davon ging mir unter die Haut oder blieb in meinen Gedanken hängen. Was mir aber im Gegenteil Schauer über den Rücken jagte und meine Arme mit den Hubbeln einer Gänsehaut überzog, waren die Dinge, über die ich tagsüber las und ich verspürte bald den Wunsch, wirklich mal in die Tiefe zu tauchen, am Nabel des Lebens nur durch einen Schlauch und eine Sauerstoffflasche auf dem Rücken zu hängen, keine Wahl zu haben, nur zwischen dem nächsten Atemzug und dem Luftanhalten, das musste doch eine wahnsinnige Erfahrung sein, ich wollte wissen, was mit mir passieren würde, ob ich in der Lage wäre, in so einer Situation durchzuhalten, einfach weiter zu atmen, am Leben zu bleiben, und ich wollte auch wissen, wie es war, in der Dunkelheit zu schweben. Und so informierte ich mich über Tauchgebiete und überredete meinen alten Schulfreund Alex, in den nächsten Semesterferien mit mir nach Thailand zu fahren, wo ich innerhalb einer Woche einen Tauchschein machte und auch einige Schiffsausflüge buchte. Auch wenn Alex meine Begeisterung nur mit einem spöttischen Ausdruck im Gesicht belächelte, dachte ich in dieser Zeit sogar darüber nach, einen Bootsschein zu machen. Als ich wieder in Köln war, suchte ich nach Kursen in Unterwasserfotografie, überlegte, mir ein eigenes Aquarium zuzulegen, suchte im Internet nach Briefmarken zu dem Thema und wurde Mitglied bei Oceancare. Die meisten meiner spontanen Einfälle in dieser Zeit verwarf ich wieder, plante aber weitere Reisen, überredete Jakob zu einem Urlaub in Neuseeland, denn ich wollte unbedingt die Wale sehen, die dort vorbei zogen, und auch Alaska legte ich als Ziel für die darauffolgenden Semesterferien fest.

So hatte mich das Fernweh schneller überkommen, als mir lieb war und ich war nur froh, dass Kanada kein Mekka für Meeresbiologen zu sein schien. Außerdem war da ja Jakob, der meine Begeisterung für Fische & Co geduldig ertrug, auch wenn ich seinem Blick ansah, dass er sich Sorgen machte, wohin das Ganze führen würde, dann aber besänftigt war von dem augenscheinlich fundierten wissenschaftlichen Interesse, das ich dem Thema entgegen brachte. Er war genau wie meine Eltern, mit denen ich gelegentlich am Telefon sprach, sie schienen meine Leidenschaft unter dieser Bedingung zu akzeptieren.

So gab es in mir zwei Welten, das reale Leben und das Meer, die manchmal friedlich nebeneinander dahinplätscherten, manchmal aber auch miteinander rangen, um meine Aufmerksamkeit heischten, das Leben außerhalb des Meeres mit seinen Anforderungen und täglichen Bedürfnissen, aufstehen, frühstücken, duschen, spülen, Wäsche waschen, Rechnungen bezahlen, Arztbesuche und dergleichen, und der Wunsch, all das hinter mir zu lassen, nur das zu machen, was mich interessierte, und wenn ich überlegte, diesem Wunsch nachzugeben, merkte ich, wie beide Welten an mir zerrten, miteinander rangen, sich gegenseitig an die Gurgel gingen, von innen gegen meinen Brustkorb drückten, manchmal auch in meine Bauchhöhle traten, bis ich glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, das Fenster aufreißen wollte, um die frische Luft einzusaugen, die mir Erleichterung verschaffte, mir half, einen kühlen Kopf zu bewahren. Nachdem ich anfänglich diesen Kampf noch als Schiedsrichter beobachtete, beurteilte, mich für einen Sieger entschied, blieb ich in schwachen Momenten teilnahmslos, ließ meine Gedanken immer häufiger schweifen, ließ mich treiben im zähen Fluss der Tage und tat nur das, wozu ich gerade Lust hatte. Ich schaffte es zwar noch, meine Stelle als Hilfskraft im Institut für Didaktik fortzuführen, doch wenn ich dort den Schlüssel im Schloss umdrehte und mich auf den Weg nach Hause machte, spürte ich, dass ich meine Kraftreserven für diesen Tag bereits aufgebraucht hatte, wurde das Gefühl nicht los, dass meine Knie beim nächsten Schritt einknicken würden, sah mich schon auf dem Boden liegend, fremde Leute, die herbeieilten und Hilfe holten, was ist mit Ihnen los, würden sie fragen, und ich würde antworten, es ist alles in Ordnung, ich bin nicht krank, es ist nur so, dass… ich weiß auch nicht, mir geht es… ja, was war denn eigentlich mit mir los, ich hatte das Bedürfnis, laut zu schreien, man solle Joni holen, denn ich wusste, Joni, wenn du hier wärst, du könntest mir sagen, was mit mir los war, denn du warst der einzige Mensch, der mich jemals gut gekannt hat, besser als ich mich selbst.

Aber es war nicht Joni, sondern Jakob, der mich rettete, mich aus meinem Taumel riss, mich vor dem Fall ins Bodenlose bewahrte und dafür, Jakob, bin ich dir bis heute dankbar, dafür war ich bereit, mein Leben mit dir zu teilen, du hast mich wirklich so geliebt, wie ich war, fragest nicht nach, hast nicht in mir herumgestochert um mein Innerstes aufzuwühlen, sondern hast die Wogen geglättet, hingenommen, was war, nicht viel gefordert und du wolltest auch nicht gefordert werden, ein Bündnis in beiderseitigem Einverständnis, das wir in stiller Zufriedenheit an den Nachmittagen in unserer - bald gemeinsamen - Wohnung besiegelten, ohne darüber sprechen zu müssen, deine festen Arme, die mich hielten, reichten aus, mein Leben nicht anzuzweifeln. Vielleicht war für dich die Erkenntnis wichtiger, wie gut die Form meines Hinterkopfes und meiner Wirbelsäule sich an dein Kinn und deinen Brustkorb anpassten, auch wenn du es nie geschafft hättest, so etwas in Worte zu fassen, wenn wir auf dem Sofa lagen und vor uns hin dösten, im Hintergrund die Stimme des Fernsehreporters, der von Biathleten berichtete, die im Schneetreiben durch die Eiseskälte hetzten, den Mund vor Anstrengung weit aufgerissen, die hinter der Ziellinie in sich zusammenbrachen, während sich ihr Brustkorb hob und senkte, die ich in diesem Moment gerne von ihrem unglaublich schweren Schicksal erlöst hätte, aber das war nicht meine Aufgabe, stellte ich zufrieden fest, denn wir lagen zu Hause auf dem Sofa in Wärme und absolutem Einklang, unsere Beine ineinander verschlungen, als wollten sie letzte Zweifel, wir gehörten doch nicht zusammen, aus dem Weg räumen, wir waren unausweichlich miteinander verbunden, wer würde jetzt noch daran zweifeln, dass wir unseren Platz gefunden hatten?

Nach etwa vier Jahren, Jakob, erinnerst du dich, wie waren beide etwa 25, reichte es uns nicht aus, uns abends zu treffen, wir wollten uns eine eigene Wohnung suchen, eine gemeinsame Grundlage schaffen, wollten nicht mehr alles mit unzuverlässigen, lauten und anstrengenden Mitbewohnern teilen müssen. Als wir eine gemeinsame Wohnung gefunden hatten, ging alles sehr schnell, der reibungslose Umzug ein weiterer Beweis, wie gut wir zusammen funktionieren würden, jeder hatte seine Aufgabe, der eine verstand den anderen auch ohne Worte, weißt du auch noch, was das für ein erfüllendes Gefühl war? Am deutlichsten erinnere ich mich an den Moment, als wir unsere Kisten auspackten, auf die ich mit sorgfältig nachgezeichneten Buchstaben die Räume geschrieben hatte, die sie füllen sollten, Badezimmer, Schlafzimmer, Wohnzimmer, denn auch das hatten wir nun zum ersten Mal in unserem Leben und schon als ich das Wort W-o-h-n-z-i-m-m-e-r in ordentlichen Buchstaben auf den Karton gemalt hatte, hatte ich mir vorgestellt, wo unsere Sachen stehen würden und wie ich mich in unserem eigenen Raum bewegen würde, als würde ich auf mich herabschauen und meinen Schritten folgen durch eine Kamera, die jemand an der Decke angebracht hatte. Ganz besonders wichtig war die Küche und so wies ich jedem Gegenstand, den ich auspackte, eine neue Bedeutung zu, mit dem Messer würde ich die Möhren würfeln, die wir für unsere Spaghettisoße brauchten, die ich mit dem hölzernen Kochlöffel umrühren würde, der zwischen den kleinen und großen Tellern am Boden des Kartons hervorlugte und in der nächsten Kiste lagen die Gläser, wie ein kostbarer Schatz, in Lagen knisternden Papiers versteckt, die ich jetzt vorsichtig von ihrer Hülle befreite und mir am liebsten direkt ein Glas Rotwein eingeschenkt hätte, das ich dann zusammen mit Jakob trinken würde. Auch wenn mir einen Augenblick später einfiel, dass Jakob gar keinen Wein trank, redete ich mir ein, es sei mir egal, ich würde ihn eben alleine genießen, man muss ja nicht immer alles miteinander teilen, im Gegenteil, wie furchtbar waren die Pärchen, die immer alles zusammen machten, immer einer Meinung waren, wie meine Freundin Marie-Christin, die immer bestimmte. Ihr Freund war ein Ja-Sager, sogar zum Kaffeeklatsch mit Freundinnen nahm sie ihn mit, aber das war nichts für mich. Wollte ich einen Escortservice würde ich mir doch jemanden mieten, hatte ich die ganze Zeit denken müssen, während ich versucht hatte, den Gesprächen der anderen zu folgen, so etwas verabscheute ich, nein, so wollte ich auf keinen Fall werden, stellte also zufrieden Jakobs Weizenglas neben meine Weingläser, und außerdem, dachte ich, Menschen ändern sich auch, wer weiß, Jakob müsste nur mal einen Schluck probieren.

Doch ausprobieren war genau das, was Jakob nicht gerne tat und selbst wenn ich ihm versichert hatte, dass es gut schmeckte, was ich gekocht hatte, verweigerte er sich, wenn es eine Zutat enthielt, die er mal wieder nicht mochte. Wie sehr ich mich darüber geärgert hatte, wie oft hatte es mich zur Weißglut getrieben! Und es hatte mich auch traurig gemacht, wie unterschiedlich wir waren, entsprach es doch überhaupt nicht meinem Prinzip, mich treiben zu lassen, das Leben im Fluss, ich in einem Boot auf diesem Fluss, schaute auf Landschaften, die rechts und links vorbeizogen und wenn ich die Hand ausstreckte, konnte ich Dinge berühren, streifen, einstecken und mitnehmen, aber Jakob, du hast dich manchmal verweigert, Dinge zu sehen und zu verstehen, und es lag nicht daran, dass sie nicht da waren oder dass man sie nicht verstehen konnte, sondern dass du sie nicht sehen und verstehen wolltest.

Ich habe Angst vor der Prüfung morgen, habe ich zu dir gesagt, ich glaube, ich werde sie nicht bestehen, und du sagtest, du brauchst keine Angst zu haben, du bist gut vorbereitet und es gibt Schlimmeres. Ich antwortete dir, ich fühle mich aber nicht gut, ich werde alles vergessen und ich habe keine Lust, ich glaube ich werde nicht hingehen, und du sagtest dann immer, denk nur an die Kinder in Afrika, wie die leiden, die kennen solche Ängste gar nicht, die wären sogar froh, deine Prüfung machen zu können. Wie wütend du mich damit gemacht hast, der Ärger wurde ein dicker Kloß, der mir im Hals lag, und gegen Ende unserer Zeit musste ich in solchen Momenten mit Tränen kämpfen, wie wenig verstanden ich mich dann fühlte und wie sehr spürte ich, dass wir im Grunde nicht zusammenpassten, denn wenn du diese Unsicherheit in meinem Wesen jetzt nicht erkennen und akzeptieren könntest, würdest du mich nicht halten können in schlimmeren Krisen. Aber das war es, das ich unbedingt brauchte, jemanden, der mich vor Krisen bewahrte, es war zum Verzweifeln.

Im Flur unserer neuen Wohnung hing ein länglicher Spiegel, in den ich oft im Vorbeigehen schaute, manchmal stellte ich mich auch länger davor, fragte mich, war das wirklich ich, Katharina, einmal sprach ich sogar laut und deutlich die Silben meines Namens vor mich hin, Ka-tha-ri-na, um es auszuprobieren, mein Name, in einer eigenen Wohnung, mein neues Leben war irgendwie spießig, aber gleichzeitig war ich stolz und fühlte mich frei, mich so aufrecht durch unsere erste eigene Wohnung zu bewegen und eine solide Basis war ja das, was ich brauchte, um auch in der Uni nach vorne zu blicken, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Ich ging wieder zu Kolloquien, bereitete mich auf die Abschlussprüfungen vor, fest entschlossen vereinbarte ich Termine mit den Professoren. Am Tag meiner Abschlussprüfung küsste Jakob mich zum Abschied auf die Stirn und wünschte mir viel Glück, bevor ich mich auf den Weg machte, mich zwang, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Kurz vor meiner Ankunft am Hauptgebäude verließ mich mein Mut, was machte ich eigentlich hier, fragte ich mich, und mein Herz pochte so stark, dass ich das Gefühl hatte, es würde gleich meinen Brustkorb sprengen, ich würde in tausend Teile explodieren, die Menschen, die mir entgegenkamen, nur noch verzerrte Gestalten mit verschwommenen Umrissen, die Wände der Unterführung auf einmal beweglich, sie kamen jetzt näher und entfernten sich wieder, jetzt sah ich es ganz deutlich, sie rückten auf mich zu, bedrohlich nah, bis ich ein paar schnelle Schritte tat, um zum Licht am Ende des Tunnels zu gelangen. Warum war ich in einer solchen Situation, wer hatte mich hierher gebracht, wer zwang mich, ich will das nicht, waren die einzigen Worte, die in meinem Kopf schwebten, unbeweglich, aber schmerzhaft, bis doch noch etwas kam, die Frage, was kam nach dieser Prüfung, wo wollte ich eigentlich hin, und ganz automatisch bog ich an der nächsten Abzweigung nicht nach rechts, sondern nach links ab. Schon an der nächsten Ecke wurde mir klar, was ich gerade tat und zwang mich zur Vernunft. Ich konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, versuchte, mir einzureden, dass meine Muskeln stark genug waren, meine Beine in Bewegung zu setzen und so schaffte ich den restlichen Weg, kam gerade noch rechtzeitig am Prüfungsraum an.

Nach der Prüfung war ich unendlich erleichtert, die Professoren lobten die Klarheit und Komplexität meiner Ausführungen, schade, dass ich keine Karriere an der Uni anstrebte, sagten sie mir und hatten keine Ahnung, wie wenig mir ihr Feedback bedeutete, weil die wichtigste Frage in meinem Leben eigentlich eine war, die sie mir in der Prüfung nicht gestellt hatten, nämlich, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, nein, wollte, und das war nach wie vor ungeklärt, eine 1 in der Wissenschaft, aber im wahren Leben eine 6, setzen, so hart hätte ich mich gerne selbst bestraft. Die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen, hätte ich in diesem Moment gerne zu diesen weisen Gestalten vor mir gesagt.

Im Referendariat perfektionierte ich meine Fähigkeiten, mehr über mich nachzudenken, als gut war, jeden meiner Schritte und jedes meiner Worte mit Argusaugen zu begutachten, und merkte, dass es den meisten anderen Referendaren tatsächlich schwerfiel, sich selbst zu reflektieren. Ich betrachtete sie mit Unverständnis, weil sie wie Trampeltiere waren, die mit Scheuklappen durchs Leben gingen – und bewunderte sie deshalb zugleich, merkte, dass es so viel einfacher war für sie, vor einer Klasse zu stehen, den Schülern zuzuhören, ohne sich dabei selbst ständig im Blick zu haben, so dass mein Wunsch, so zu sein wie sie, manchmal sehr groß war. Auch jetzt war es wieder Jakob, der mich auffing, unberührt von meinen Sorgen, der eine unsichtbare Augenbinde trug, blind war für meine Ängste, meine übermäßige Empfindlichkeit, die ich in dieser Zeit entwickelte, und ich verließ mich darauf, dass er da war und war froh, dass er da war.

Sehr bald arbeiteten wir beide viel, holten kaum Luft, dachten kaum nach und gingen ganz selbstverständlich davon aus, dass da jemand anders war, mit dem wir die Wohnung teilten. Mit dem Freiraum, der mir die einkehrende Routine aber auch gab, hatte ich wieder mehr Zeit, mich meinem Hobby, der Meeresbiologie, zu widmen. Ich las Artikel, morgens während des Frühstücks, abends vor dem Einschlafen und manchmal genehmigte ich mir auch eine kurze Auszeit, bevor ich meine Schulsachen am Schreibtisch erledigte. Jakob und ich hatten einen unterschiedlichen Rhythmus, sahen uns tagelang kaum, er arbeitete bis spät abends, ich ging früh ins Bett und so wurde Jakob in vielen Momenten einfach zu demjenigen, mit dem ich zusammenwohnte, sein Name war eben der andere Name auf dem Klingelschild. Oft wollte ich ihn fragen, was er dachte, wusste aber, dass ich ihn mit dieser Frage nervte, sah an seinem ausweichenden Blick, dass er keine Lust hatte, darüber zu sprechen und so unterdrückte ich mit einem Kloß im Hals den Impuls, ihn nach seinem Tag zu fragen, wünschte mir stattdessen, dass er mich fragte. Aber die Frage kam nie, ich dachte, so fühlte es sich also an, wenn man sich auseinanderlebte, wenn man sich nicht mehr füreinander interessierte, sich gegenseitig langweilte, eine Langeweile, die auch da war, wenn wir miteinander schliefen, denn das taten wir noch, aber obwohl wir uns berührten, fühlte es sich falsch an, als berührte mich ein Fremdkörper, kein Mensch mit Haut und Haaren, der etwas in mir auslöste.

An den Wochenenden gingen Jakob und ich manchmal spazieren und in den langen Gesprächspausen, in denen wir uns nichts zu sagen hatten, die länger wurden je mehr wir teilten und je mehr wir uns aneinander gewöhnten, ließ ich meine Gedanken schweifen, überlegte, wie es wäre, wenn ich mit der jungen Frau vor uns die Rolle tauschen könnte, einfach so in ihre Haut schlüpfen, den jungen Mann an ihrer Seite an die Hand nehmen und mit ihm davongehen und die Vorstellung, ihn zu küssen ist zuerst aufregend, ein Prickeln kriecht mir an den Beinen hinauf, lässt mir die Hitze in die Wangen schießen, hoffentlich merkt Jakob nichts, denke ich. Wie gerne würde ich mit dieser Frau tauschen - nur einmal ganz kurz sie sein, in diesem anderen Leben! Kurz darauf allerdings bemerke ich den etwas krummen Gang des Mannes, schon in jungen Jahren geht er vornübergebeugt, und ist das etwa eine Schuppenflechte auf seinen dünnen Haaren, dazu die fast riesig wirkenden Ohren, die im Alter ganz sicher noch größer werden würden, und auch die ausgeprägten Falten um seine Mundwinkel fallen mir jetzt auf, nein, es wäre unmöglich, ihn zu küssen, ohne ständig auf seine Falten starren zu müssen, und so fand ich mich wieder in meinem eigenen Leben ein, zufriedener als vorher, aber auch erschrocken über die Grausamkeit meiner Gedanken, denn urteilte ich so über andere, dann urteilten andere auch über mich. Außer Jakob – und ich vergewisserte mich, er ging noch neben mir – Jakob, der alles so akzeptierte, wie es war, der niemals etwas würde ändern wollen.

Dennoch - ich ertappte mich dabei, andere Männer zu beobachten. Ich spielte mit dem Gedanken, jemand anderen zu küssen. Gelegenheiten gab es ein paar, Kommilitonen aus der Uni, eine Urlaubsbekanntschaft aus Thailand, ein Referendar auf der Examensfeier, aber mein schlechtes Gewissen - und ich wusste, es würde kommen - hielt mich davon ab. Der stechende Schmerz, den Jons Abschied in mir ausgelöst hatte, war zwar verschwunden, aber die Erinnerung an die quälenden Gedanken war immer noch da, an die mir unendlich lang vorkommende Zeit des Leidens. Also beließ ich es dabei, nur darüber nachzudenken, denn allein die Gedanken sind frei, obwohl sie ebenso schwer wiegen können, wie etwas, das man anfassen kann, das verstand ich immer mehr. Und schwere Gedanken waren da, das Unbehagen, wenn ich den Schlüssel im Schloss drehte und überlegte, was mir diese Wohnung bedeutete, das in den Ohren schmerzende Scheppern der Löffel, die gegen die Topfränder schlugen, wenn ich versuchte, keine Geräusche zu machen, um dich nicht zu stören, und auch du Jakob, hattest solche Gedanken, ich bin mir sicher, die Zweifel, die deinen in Richtung Computer gebeugten Rücken mit Schauern überzogen, die Vorsicht, mit der du dich mit geschlossenem Mund räuspertest, um auch mich bloß nicht zu stören, die Angst, mit der du die Gardinen im Wohnzimmer morgens zuzogst, weil du uns vor den Veränderungen des Lebens außerhalb unserer Wohnung schützen wolltest, aber am Ende hat dies alles nicht geholfen. An das Ende unserer sieben gemeinsamen Jahre setzte ich ein Gespräch, in dem ich gefüllt war mit Zuversicht, mit der Hoffnung auf ein anderes Leben, auf Momente echten Glücks, die ich vielleicht doch noch erleben könnte, wenn ich jetzt ausstieg, rechtzeitig, bevor mein Leben zu Ende war. Aber du, Jakob, hast das alles nicht verstanden, oder wolltest es nicht verstehen, ließest auch mich im letzten Moment nochmal zweifeln, obwohl ich doch eigentlich wusste, dass du einer Idee nachhingst, die schon längst für uns verloren war, schon längst.

Jakob, dir blieb ja nichts Anderes übrig, als meine Entschlossenheit zu schlucken und einen Monat später warst du weg, hattest ein neues Zuhause gefunden, ein neues Schneckenhaus, in das du dich einigeln konntest. Und ich war allein, ohne Plan und ohne Richtung, verunsichert und zweifelnd, nur die Arbeit blieb mir, in der ich für eine Weile genügend Beschäftigung fand und das Schreiben, in das ich mich flüchtete, um meine Geschichte zu erzählen, und die von Jon und Jakob und allen, die in meinem Leben noch eine Rolle spielen würden und wollten, vorausgesetzt, ich ließ sie.

VORÜBERGEHEND

Es war Sonntag Abend und ich wusste, ab Montag verlief mein Leben fünf Tage lang wieder in geregelten Bahnen. In Gedanken hing ich den Unruhen des Wochenendes nach, dem Auf und Ab, der Frage, wonach ich überhaupt suchte und diese Gedanken hinterließen ein verschwommenes Gefühl der Zerrissenheit in mir, wie Stofffetzen, in die sich mein T-Shirt teilte, wenn ich daran riss und es machte sich der seltsame Nachgeschmack eines Gerichtes breit, das nicht geschmeckt hat, weil dessen einzelne Bestandteile nicht zusammenpassten. Dennoch, ich habe gespürt und auch jetzt spürte ich ganz deutlich, dass ich lebendig war und auch wenn das für andere Menschen ganz selbstverständlich war, war es das für mich nicht, nein, es war ein Gefühl, das ich mir hart erkämpft hatte, durch die Trennung von dir, Jakob, ein Weg, für den ich mich entschieden hatte, weil ich die Notwendigkeit dafür gespürt habe, und jetzt merkte ich auch, dass ich mich leichter fühlte, ohne den Ballast der letzten Jahre, die Schwierigkeiten im Zusammenleben, um die unsere Gedanken immer mehr kreisten, die Zweifel, ob wir zusammen passten, die stärker wurden, je weiter wir uns voneinander entfernten, der fehlende Wille, für etwas zu kämpfen, dessen man sich nicht mehr sicher war. Und geblieben war auch ein wenig Wut, Jakob, hast du eigentlich nie bemerkt, wie sehr du meine Lust auf Leben erstickt hast, wenn du die Gardinen zugezogen hast, um deine Ruhe zu haben, die ich gerade erst aufgerissen hatte in der Hoffnung auf einen neuen Tag meines Lebens, und hast du nie bemerkt, wie sehr ich mich danach sehnte, von dir wahrgenommen zu werden, als Mensch mit seinen Bedürfnissen, nachdem ich stundenlang deinen vor dem Bildschirm des Computers gebeugten Rücken betrachtet hatte, ja, hast du dir je Gedanken um meine Bedürfnisse, Hoffnungen, Vorstellungen von Glück gemacht? Hättest du mich danach gefragt, hätte ich dir kein Bild einer Familie mit Kindern, Haus und Garten gemalt, so wie du es wahrscheinlich erwartet hättest, dich lange in Sicherheit wägend, mich verstanden und befriedigt zu haben, nein, ich hätte dich gebeten, mich in einer Art und Weise zu berühren, die mein tiefstes Inneres versteht. Und wahrscheinlich war es auch dafür schon vor Jahren zu spät, als ich mich gar nicht mehr von dir in dieser Weise hätte berühren lassen wollen, vielleicht hätte ich mehr Verständnis für dich gehabt, wenn du das erkannt hättest, hätte mich dir wieder geöffnet, wenn du mir Vorwürfe gemacht, mir an den Kopf geworfen hättest, wie unfair es war, mich dir derart zu verschließen, dass du gar keine Chance hattest, auf mich zuzugehen. Aber selbst wenn du die Chance gehabt hättest, ich glaube nicht, dass du in der Lage gewesen wärst, sie zu ergreifen. Und am Ende stand auch die Frage, die immer lauter wurde, bis sie wie ein pochender Kopfschmerz von allen Seiten auf das Gehirn hämmerte, die Frage, ob ich zufrieden war, mit nur einer Person bis ans Ende meiner Tage zu leben, die schwierigste Frage, die schwer auf mir lastete, deren Gewicht ich nun nicht länger tragen musste, weil ich mich von dir getrennt habe.

Und an diesem Sonntagabend genoss ich meine Einsamkeit, die sich frei und leicht anfühlte. Ich war hier gerne alleine, die Wände meiner Wohnung beschränkten mich nicht, sondern im Gegenteil, sie waren meine Freiheit, waren das, wonach ich mich seit Jahren gesehnt hatte, die Stille wirkte beruhigend auf mich und die weißen Wände, die mich umgaben und bestätigten, das war meines, ganz allein meines, ließen Platz für mich, ich konnte so besser atmen. Ich brauchte diesen Platz und mir wurde klar, dass nicht du es warst, Jakob, der mich eingeschränkt hat, es war, als hätte ich mich selbst eingeschränkt, zu lang, und eine Welle von Zärtlichkeit gegenüber Jakob überkam mich.

Aber dieser neue Ort hier war das, was ich mir gewünscht hatte und es erfüllte mich mit Stolz und neuer Liebe zu mir selbst, einer Liebe, die ich lange nicht gespürt hatte, vielleicht weil ich voller Liebe zu dir war, die ich nicht länger bereit war zu geben, um mich selbst in den Schatten zu stellen, nicht weil du es verlangt hast, sondern weil es mich erfüllt hat. Und dieser neue Ort war wie eine Lichtung, auf die ich zufällig traf, als ich im Wald spazieren ging, und die eine solche Anziehungskraft hatte, dass ich immer wieder zu ihr zurückkehren wollte, und die ich jetzt gefunden hatte. Inmitten der dunklen Tannen gab es einen Freiraum, in dem ich meinen Platz gefunden habe, an dem ich mich in den Sonnenstrahlen wärmen konnte, die mich mit einer wohligen Wärme überzogen, die den Weg durch die Bäume hindurch bis zu mir und bis zum Boden fanden und hier war es, als läge mir die ganze Welt zu Füßen, denn ich war die Königin der Freiheit, der Tiere im Wald und der Pflanzen, die wuchsen, der neuen Triebe, die hellgrün und kräftig aus dem Boden schossen und so legte ich mich auf den grünen Teppich aus Gras, der nach Erde duftete und schmiegte mich so lange ein, bis ich die warme Erde unter mir spürte.

Am nächsten Tag kaufte ich im Supermarkt Weintrauben und Himbeeren und in einer freudigen Vorahnung stellte ich mir vor, wie ich die dunkelrot leuchtenden Beeren auf meiner Zunge zerdrückte, und selbst die Äpfel, die ich sonst nicht gerne aß, strahlten in verschiedenen Farben, sahen so verlockend aus, dass ich einen Moment zögerte und mich fragte, ob dies alles nur eine Täuschung war, aber nein, auch die Auberginen waren echt und glänzten in einem Dunkelrot, dessen Schimmer mich wieder beruhigte, und ich mich fragte, sahen die anderen Menschen diese Schönheit nicht, und nahmen sie denn meine Schönheit gar nicht wahr, die ich meinen Schritten vorausschickte, bis in die hinterste Ecke des Raumes und ich wunderte mich, warum gratulierte mir keiner, sah denn keiner die Freiheit, die ich mit mir herumtrug, die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, neue Kleider zu tragen, ein neues Leben zu beginnen, und ich wollte herausrufen, kommt alle zu mir, schaut, wie gut es mir geht und fast wollte ich dem Verkäufer neben mir, der mit starrem Blick Dosen in das Regal einsortierte, die Hand reichen, mich vorstellen, und sagen, ich bin Katharina und ich habe jetzt ein neues Leben, mit einer neuen Wohnung und ich habe sogar einen Balkon ins Grüne, ist das nicht großartig?

Aber natürlich traute ich mich nicht, stattdessen streifte ich ausgiebig entlang der gefüllten Regale und überlegte, was ich mitnehmen und was ich mir kochen könnte, aber so großen Hunger hatte ich dann doch nicht und da ich mich nicht entscheiden konnte, nahm ich nur das, was auch auf meiner Einkaufsliste stand, vielleicht kaufe ich die anderen Dinge ja beim nächsten Mal, dachte ich. An der Kasse schaute ich mir die anderen Menschen an, fragte mich, warum sie missmutig waren, und ich verstand, dass auch sie in ihrem Leben versunken waren, so wie ich in meinem, aber es sind andere Leben, schlechter und trauriger kamen sie mir vor, und ich schien neben ihnen größer und strahlender zu werden und es gab keine Brücke, die von meinem Glück zu ihrer Unzufriedenheit herüber führte, und so konnte ich ihnen nicht helfen in ihrem Unglück, jeder musste mit sich selber klarkommen und weil mir dies gelang, war ich voller Stolz.