Am Ende der Welt - Walther Kabel - E-Book

Am Ende der Welt E-Book

Walther Kabel

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Beschreibung

Walther August Gottfried Kabel (* 8. August 1878 in Danzig; † 6. Mai 1935 in Kleinmachnow) war ein deutscher Unterhaltungsschriftsteller. Er gilt als einer der meistgelesenen deutschen Volks-Schriftsteller der 1920er Jahre, der über 15 Jahre jede Woche eine neue Story veröffentlichte. Er veröffentlichte unter anderem unter den Pseudonymen Walter Kabel, Max Schraut, Olaf Karl Abelsen, W. Belka, Walther Neuschub, William Käbler, M.E. Schugge, Waltraud Kebla, Wally Lebka, Swea von Münde, K. Walter, W. i. Zehlen, W. K. Leba, Walther Bekal, W. von Neuhof, W. K. Abel, Karla Walther, Helene Fromm, Theodor Kabelitz und Rudolf Berg.

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Inhalt

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

Impressum

I.

Die Nacht damals war kalt, regnerisch und finster. Eine bessere Nacht konnte ich mir kaum wünschen.

Wenn die Regenschauer und Windstöße über das Schieferdach hinwegfuhren, drang mir die Kälte durch die durchnäßten, muffig stinkenden Leinenhosen und die aus der grauen Wolldecke in heimlicher Arbeit zurechtgeschneiderte Jacke bis auf die Knochen.

Seltsam – meine Gebeine fühlte ich, als ob es eisige, eiserne Stangen wären. Aber meine Haut und mein Gesicht brannten wie damals, als ich mitgeholfen hatte, der Jungfrau durch den felsigen Leib finstere Schlünde zu bohren: Höhensonne – Gletscherbrand!

Vom Dache liefen zwei dicke Drähte mit leichtem Gefälle über den Hof und die hohe Mauer hinweg bis zu einem nahen Hügel.

Zwei Drähte – der eine isoliert, der andere durch die Witterungseinflüsse oxydiertes Kupfer.

Drähte, die den Tod leiteten, aber auch Licht, Kraft, Wärme spendeten.

Die Drähte lagen etwa fünfzig Zentimeter auseinander und schwankten im Winde. Ich bin nie ein Seiltänzer gewesen. Man wird alles, wenn Not am Mann ist. Und ich hatte dieses Leben satt. Ich war in den letzten acht Monaten, wo ich lediglich häßliche Pantoffel genäht und nicht ein einziges Mal anständig gegessen hatte, fraglos um zwanzig Pfund leichter geworden. Ich schätzte mein Gewicht auf hundertzehn. Wenn die Drähte hielten und wenn ich das Kunststück fertigbrachte, auf diesen Metallstrippen, die den Weg in die Freiheit darstellten – den einzig möglichen Weg – bis drüben zum dicken Holzmast der Starkstromleitung zu gelangen, so war immerhin etwas gewonnen.

Noch lange nicht alles.

Vom Boden des roten Ziegelgebäudes hatte ich mir ein Stück von einer zerbrochenen Fahnenstange mitgebracht.

Als Balancierstange.

Ich setzte mich auf den Lukenrand, streifte die plumpen Lederschuhe ab und zog die anderen über – aus Gummistoff, auch selbstgefertigt, genau wie die Gummihandschuhe, die ich über meine Finger zwängte. Mit solchen Drähten muß man vorsichtig sein, zumal wenn die Isolation des Plusleiters vom Zahn der Zeit schon arg benagt ist und man nicht dafür gutsagen kann, das Gleichgewicht trotz totaler Nüchternheit nicht zu verlieren.

Unten im Hof ging ein dunkler Schatten hin und her.

Der Mann war mir gleichgültig, auch sein Karabiner. Die Instruktion verlangte, daß er die hohe Ziegelmauer überwache, die oben noch eine nach innen geneigte Verlängerung von acht Stacheldrähten trug. Bisher war noch keiner meiner Kameraden über diese Mauer hinweggelangt.

Ich packte die Stange und begann diesen Weg zu beschreiten, der wahrhaftig kein Alltagsweg war.

Die Dachluke hatte ich wieder zugeklappt. Und das war gut. So hat man sich denn wochenlang die Köpfe zerbrochen, wie Ingenieur Olaf Karl Abelsen das Hotel ›Düsterburg‹ wohl verlassen haben könnte.

Die ersten gleitenden Schritte auf den beiden Drähten hätten vielleicht noch vor acht Monaten meine Unternehmungslust bis zum Gefrierpunkt abgekühlt. Die acht Monate Pantoffeln und Staatshotelkost – und die Aussicht auf noch sechzehn Monate: Lieber das Genick brechen oder eine elektrische Hinrichtung hier am eigenen Leibe durchmachen!

Weiter!

Linken Fuß auf dem isolierten Draht vorgeschoben, rechten Fuß auf der Kupferstrippe breitbeinig folgen lassen!

Zähne zusammengebissen!

Aha – das Knochengerüst wird gleichfalls warm, die Gelenke werden geschmeidig, die frische Luft tut wohl.

Spiel mit dem Tode!

Mein Gott – nicht das erste Mal!

Als damals im Jungfrautunnel der Sprengschuß zu früh losging, lag ich eigentlich schon mit beiden Beinen im Grabe. Der Sprung hinter den Geröllhaufen hätte keinen Bruchteil einer Sekunde später erfolgen dürfen.

Verdammt!

Dieser Windstoß eben hätte mich beinahe unten dem Posten vor die Füße befördert. Der arme Kerl hätte keinen schlechten Schreck über den Haufen blutigen Menschenfleisches bekommen.

Ich wurde wieder vorsichtiger. Wenn der Wind eine Pause machte, schaffte ich immerhin fünf Schritte vorwärts.

So – nun lag die Mauer hinter mir.

Bis zum Hügel und Holzmast noch etwa dreißig Meter.

Ich schwitze.

Früher hatte ich nie geschwitzt. Auch damals nicht, als ich den Schienenbruch entdeckt hatte und dem Schnellzug Malmö-Stockholm entgegenlief. Und in jener Nacht handelte es sich um zahlreiche Menschenleben, die auf dem Spiele standen. Heute nur um mein eigenes, und daran lag niemandem etwas. Die Welt hatte Karl Olaf Abelsen gestrichen.

Aber mein einst so trefflich trainierter Körper besann sich doch so allmählich auf seine einstige Leistungsfähigkeit. Mit dem wachsendem Selbstvertrauen ging es auch schneller voran.

Tückischer Nachtwind – Bestie!!

Tut so, als ob sie wieder Atem schöpfen wollte und bläst mir ganz plötzlich derart in den Rücken, daß mein linker Fuß ausgleitet.

Die Stange saust in die Tiefe ... ich hänge an der Kupferstrippe ... pendele hin und her ...

Die beiden Drähte schwingen ... schwingen ...

Der schwarze berührt meinen Handschuh und schwingt zurück.

Für einen Moment ist mir das bekannte Kribbeln durch die Hand gelaufen. Der Handschuh isoliert doch nicht vollständig.

Die Bestie Wind stellt das Fauchen wieder ein.

Und ich hänge nur mit einer Hand an der Kupferstrippe, recke die andere weit vor, umklammere den Draht, öffne die erste und arbeite mich so bis zum dicken, geteerten Mast.

Dank auch, fürsorgliche Kollegen, die ihr an diesem Mast Steigeisen befestigt habt!

Ich habe die erste Etappe hinter mir.

Meine Beine zittern, meine Armmuskel flattern.

Ich lehne unten am Mast, und Regen und Wind fächeln mein schweißtriefendes Gesicht. Ich schelte den Wind nicht mehr Bestie. Jetzt erscheint er mir wie kühle, liebkosende Frauenhände, die mir streichelnd Glück wünschen. Hinter mir liegt der große dunkle Bau mit den zahllosen kleinen Fensterchen.

Einzelne Fenster sind hell – die Flurfenster!

Zuweilen gleitet ein Schatten hinter diesen Fenstern vorüber: Die armen Angestellten des Hotels ›Düsterburg‹ haben nicht einmal nachts Ruhe.

Die ›Hotelgäste‹ haben es besser. Die dürfen ab neun Uhr ungestört ihren jagdsportlichen Neigungen nachgehen. Meine Jagdbeute pro Nacht betrug durchschnittlich dreißig Wanzen.

Meine überanstrengte Muskulatur beruhigte sich wieder.

Ich mußte daran denken, den zweiten Teil meines Programms zu erledigen, denn die Nächte im April sind hier in Südschweden nicht allzu lang. Um sieben wird es hell und bis dahin mußte ich den Boden meines Landes unbedingt verlassen haben.

Ich wandte mich der im Tale liegenden Stadt zu, kam über ein reißendes Flüßchen, dessen Holzbrücke unlängst von meinen bisherigen Kameraden erneuert worden war, und sah nun links die Lichtreihen des Bahnhofs und rechts einzelne helle Villen in alten, dichtbewachsenen Gärten herüberwinken.

Um die literarischen Größen meiner Heimat hatte ich mich gerade soviel gekümmert, daß mir noch rechtzeitig im Hotel ›Düsterburg‹ eingefallen war, hier in der Stadt wohne die berühmte geistvolle Frau, deren Werke in alle Sprachen übersetzt worden sind.

Ich wußte auch, daß sie hier eine burgähnliche Villa besaß, die in einem uralten Schloßpark lag.

Es galt also, die Villa zu suchen. Denn nur diese Frau mit dem goldenen Herzen würde mir helfen. Ohne sie war diese Vergnügungsreise sehr bald zu Ende.

Die Straßen des Villenvororts waren wie ausgestorben. Nur Katzen und Hunde verrieten trotz des erbärmlichen Wetters das Nahen des Frühlings. Ich beobachtete verschiedene vierbeinige Liebespärchen, die je nach Charakterveranlagung die Schäferstündchen laut oder leise vorbereiteten. Katzen pflegen sich hierbei zumeist ziemlich pöbelhaft zu benehmen. Wenn all die süßen menschlichen Fräuleins auch so alles durchdringend kreischen wollten, würde die vielgequälte Polizei noch mehr zu tun haben.

Unter einer Laterne lehnte schlaftrunken ein Polizist. Es ist ein wahres Glück, daß die Herren Polizeiminister noch immer so rückständig sind, ihre Leute in eine weithin erkennbare Uniform zu stecken. Wie leicht könnte man, wenn die Beamten schlichten Spießbürgern glichen, ihnen in die Arme laufen.

Ich machte einen Bogen um besagte Laterne und spähte emsig nach einem burgähnlichen, großen Gebäude aus.

Dann stand ich plötzlich vor einer Gitterpforte und betastete die eingravierten Buchstaben des Messingschildes mit den Fingerspitzen, kletterte über den Zaun und schlich die Allee entlang, bis ich rechts zwei helle Fenster im hohen Erdgeschoß bemerkte – die einzigen erleuchteten Fenster des mächtigen Heims der großen Dichterin.

Vor den Fenstern zog sich ein Balkon hin, und dort stand ein Mensch, ein Mann, halb zusammengeduckt. Der matte Lichtschein zeigte mir einen verregneten Velourhut, einen hochgeklappten Ulsterkragen und ein besonnenes Profil mit sehr gerader Nase und blondem Spitzbart.

Dieser Herr störte mich. Er paßte nicht in mein Programm hinein. Wenn er stehlen wollte, und wenn er sich dabei ungeschickt benahm, konnte das auch für mich unangenehme Folgen haben.

Jeder ist sich selbst der Nächste. Zumal nach acht Monaten Freiquartier im Staatshotel.

Ich begann an dem eisernen Träger des Balkons empor zu klettern. Daß der Mann mich nicht hörte, dafür sorgte der Wind und der Regen und ein Katzenpaar in den nahen Büschen.

Als ich den Kopf über die Balkonbrüstung hob, stand der eine Flügel der Fenstertür halb offen, und der Herr war verschwunden. Ich war zu spät gekommen und mußte die beabsichtigte Aussprache mit dem Fremden, der fraglos der Faust des einstigen Amateurmeisters des Boxclubs ›King Tor‹ nicht gewachsen gewesen wäre, vorläufig aufgeben.

Umkehren etwa?

Nein, denn das wäre gleichbedeutend mit freiwilliger Rückkehr ins Hotel ›Düsterburg‹ gewesen.

Vor der halboffenen Tür hing innen ein Vorhang. Er bewegte sich leicht hin und her, und als ich ihn nun ein wenig zur Seite schob, erblickte ich links in einem weißlackierten, geschnitzten Bett eine blonde junge Frau aufrecht sitzen und mit beiden Händen eine blauseidene Steppdecke gegen die Brust pressen. Ihr Gesicht lag im Schatten, da die kippbare Nachttischlampe mit gelbem Trichterschirm so gedreht war, daß der Lichtschein den Fremden traf, der noch weiter links neben einem dreiteiligen Frisiertisch stand.

Der Mann sprach.

Ich erhaschte nur einzelne Worte.

Eine gewisse junge Dame, deren Namen hier zu nennen zu viel Ehre für sie wäre, kann darüber Auskunft geben, weshalb Olaf Karl Abelsen niemals mehr irgendwelche Gefühlsdummheiten begehen wird, zu denen ich auch meine damalige Rettung des Schnellzuges Malmö-Stockholm rechne. Die Menschen sind es nicht wert, sich irgendwie für sie aufzuopfern, und Weiber erst recht nicht.

Hier lagen die Dinge anders. Hier gedachte ich nicht den Lohengrin zu spielen, der Elsa von Brabant von einem Feinde befreit. Hier handelte es sich um mich selbst, und ich selbst war es mir schuldig, dieser Szene da drinnen ein Ende zu machen.

Die Stimme des blonden Kindes dort im Bett hatte eben nochmals beteuert, daß sie dem Erpresser beim heiligen Gott nichts – nichts mehr aushändigen könne, als ich den jämmerlichen Wicht schon beim Genick hatte.

Vom Bett her klang ein leiser Schrei.

Der Kerl flog über die Balkonbrüstung unten in eine Taxushecke, rappelte sich auf, suchte seinen Hut und rannte die Allee entlang.

Ich kehrte in das Schlafzimmer zurück. Das junge Mädchen starrte mich an und meinte weinerlich:

»Ist er fort? Sie sind wohl ein Kriminalbeamter, mein Herr?«

»Ja! – Und Sie, mein Fräulein?«

Sie zögerte.

»Sie ... kennen mich also nicht?«

»Nein. Ich bin erst kurze Zeit hier in dieser Stadt, ganz kurze Zeit. Ich war bisher in einer staatlichen Anstalt beschäftigt. Ein eiliger Auftrag ruft mich außerdem noch in dieser Nacht nach Trelleborg, mein Fräulein. Könnten Sie mir irgendwie einen Anzug, einen Mantel und Wäsche und so weiter beschaffen und mir ein Fahrrad leihen?«

Ihr Gesicht konnte ich noch immer nicht deutlich erkennen, zumal ihr jetzt noch das aufgelöste blonde Haar nach vorn gefallen war.

Sie schwieg sekundenlang.

Ich fühlte ihre forschenden Blicke und ahnte, daß sie mich durchschaut hatte.

»Sie ... kommen aus Hafdengarden?« flüsterte sie.

»Ja. Ich bin der Ingenieur Olaf Karl Abelsen, der wegen Totschlags zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Vielleicht haben Sie in den Zeitungen davon gelesen. Es ist freilich schon über acht Monate her.«

»Mein Gott – – Abelsen!! – Oh, ich will Ihnen helfen. Ich ... ich bin das Stubenmädchen der Dame, der diese Villa gehört. Die Dame ist verreist, und auch der Chauffeur hat Urlaub. – Drehen Sie sich um. Ich will nur einen Morgenrock überwerfen. Ich bringe Sie in die Garage, in die Stube des Chauffeurs.«

»Ich werde wieder in den Garten hinabklettern«, vereinfachte ich ihre Vorschläge. »Kommen Sie in den Garten, bitte ...«

Sie kam. Sie hatte einen langen Ledermantel an, eine Autokappe auf und eine Schutzbrille vor den Augen.

In der Stube des Chauffeurs ließ sie mich allein, um den Wagen zur Fahrt nach Trelleborg fertig zu machen. Die Kleider des Chauffeurs paßten mir leidlich, und nachher nahm ich auch noch einen kleinen Koffer mit, um mehr den Eindruck eines schlichten Reisenden hervorzurufen.

Wir fuhren davon.

Sie saß am Steuer. Ich neben ihr. Wir tauschten wie bisher nur wenige Worte aus. Und kurz vor sechs Uhr hielten wir unweit Trelleborg auf der Chaussee.

Ich stieg aus, nahm den Koffer, dankte dem Mädchen und übersah ihre Hand, die sie mir zwanglos hinreichte – wollte sie übersehen ...

»So nehmen Sie doch«, rief sie ungeduldig, »Sie brauchen doch Geld, und die drei Schminkstifte werden Sie auch zu benutzen verstehen.«

Als Nachsatz kam ein wenig verlegen: »Man würde es Ihrer Gesichtsfarbe ansehen, Herr Abelsen, woher Sie kommen.«

Ich nahm. Bevor ich nun aber, gerührt durch ihre Fürsorge, meinen Dank nochmals in herzlichere Worte kleiden konnte, wurde der Wagen geschickt gewendet, sauste den Weg zurück und entschwand. Mein Händewinken, meine Zurufe blieben unbeachtet, und meine Retterin, die niemals – das hatte ich längst bemerkt – ein Stubenmädchen war, entglitt mir vielleicht für immer.

Ich hatte sie nicht nach ihrem Namen gefragt, ich hatte nur still in mich hinein gelächelt, wenn sie während der spärlichen Unterhaltung sich mit geringem Erfolg bemüht hatte, in ihrer Ausdrucksweise den Ton eines halbgebildeten Mädchens zu treffen. Und doch wußte ich ihren Vornamen: Gerda! – Der Mann mit dem blonden Spitzbart hatte ihn mehrfach über seine elenden Lippen gebracht, bevor ich ihn in die Taxushecke hinabschleuderte, diesen jämmerlichen Halunken.

Gerda also.

Immerhin etwas. Aber ein Stubenmädchen – niemals! Schon das Schlafzimmer hatte dagegen gesprochen, erst recht ihr Benehmen, ebensosehr ihre Sicherheit in der Führung des Kraftwagens.

Schade, daß ich mir von ihren Gesichtszügen keine rechte Vorstellung machen konnte. Nur die großen dunklen Augen, das blonde Haar und ein Paar sehr frische, sehr schön geformte Lippen hatten sich meinem Gedächtnis eingeprägt.

Vielleicht war Gerda eine Freundin oder Verwandte der berühmten Schriftstellerin.

Es muß wohl so sein: eine Verwandte, vielleicht eine Nichte, denn die große Dichterin zählte mindestens fünfzig Jahre und entstammte einer zahlreichen Familie.

Gerda!

Das Leben würfelt mit Menschenschicksalen. Blinder Zufall regiert unser Dasein. An ein Fatum, eine Vorausbestimmung unserer Lebenslinie, glaube ich nicht. Wäre dieses Rückgrat der Lehre des Propheten Mohammed unentwirrbar von der Wiege an in unseres Daseins buntes Netz mit hineingewirkt, wären wir Menschen nur Marionetten, die am unsichtbaren Faden eine vorgeschriebene Bahn entlanggeleitet würden, so täten wir besser, am Tage der Vollreife geistiger Erkenntnis uns eine Pistole an die Schläfe zu drücken und diese Marionettenfäden zu durchlöchern, um wenigstens in diesem einen Augenblick, wo der tödliche Schuß knallt, Herr über uns selbst werden und nicht bis zum »vorgeschriebenen Verrecken« elende Hampelmänner zu bleiben.

Das Leben würfelt. Und auf zwei Flächen zweier Würfel standen zwei Namen.

Das Leben schüttelte den Schicksalsbecher und diese Namen fielen nach oben.

Aber der meine war nicht darunter.

II.

Chaussee nördlich von Trelleborg.

Es regnet noch immer. In der Strohhütte einiger Steinschläger, die ihre Arbeit noch nicht begonnen hatten, schaute ich in den Spiegel hinein, den ich aus der Chauffeurstube gleichfalls entliehen hatte. Ein Rasierspiegel zeigte mir so ein graues, mageres Gesicht mit dunklem Haar, und eine Mund- und Kinnpartie, die der Herr Staatsanwalt vor acht Monaten zum Gegenstand besonderer Bemerkungen gemacht hatte: brutal, selbstbewußt, fast roh in der Linienführung, auf Jähzorn hindeutend – und so weiter!

Der Mann hatte nicht so ganz unrecht gehabt. Nur eins stimmte nicht. Von Jähzorn hatte ich bei mir nie etwas gespürt. Lächerlich – ich, der schon als Schüler die Kunst der Selbstbeherrschung mit allen Kniffen modernster Seelenforschung geübt hatte!

Die Schminkstifte unauffällig zu benutzen war nicht ganz so einfach für einen Laien auf dem Gebiete der Gesichtsveränderung. Nach mehreren mißglückten Versuchen war ich mit dem rotwangigen Gesicht Olaf Karl Abelsens – nein doch, des Chauffeurs Gunnar Aalfström zufrieden. Ich hatte auch Aalfströms Paß an mich genommen, ohne den ich niemals den Dampfer nach Travemünde hätte betreten können, da jetzt so kurz nach dem Ende des großen Völkermordens die Grenzkontrolle noch sehr scharf gehandhabt wurde.

Ich wanderte dem Hafen zu.

Trelleborg ist ein elendes, reizloses Nest, und wer von den eindrucksvollen Gestaden Bornholms oder anderer Inseln zum erstenmal nach Trelleborg kommt, muß unsagbar enttäuscht sein.

Ich wußte, daß der Dampfer um sieben Uhr Trelleborg verläßt. Ich hatte gerade noch Zeit, mir eine Fahrkarte zu lösen. Gerda hatte mir in das Päckchen auch fünfhundert Kronen hineingelegt, dazu noch – mir sehr wertvoll – eine Miniaturpistole, wie die Stockholmer Waffenfabrik sie vor einigen Jahren mit Patronenrahmen zu sieben Stück auf den Markt gebracht hat.

Die Paßkontrolle ging ohne Weiterungen vonstatten, desgleichen die Zollkontrolle. Mein kleiner Koffer enthielt nur die allerbescheidensten und allernotwendigsten Reiseutensilien. Die Schminkstifte hatte ich weggeworfen.

So betrat ich denn den Rauchsalon der eleganten ›Drottning Viktoria‹, setzte mich in einen Klubsessel und bestellte beim Steward Frühstück.

Die Schiffsglocke am Kai begann zu läuten.

Ich atmete doch ein wenig erleichtert auf. Gleich mußte der große Dampfer die Liegestelle verlassen.

Die Schiffsglocke hörte plötzlich mit ihrem Gebimmel auf.

Die Maschinen, die bereits in Gang gewesen, stockten wieder, und das dumpfe Dröhnen, das sie hier zum Oberdeck emporgeschickt hatten, verstummte.

Ich nahm den ersten Schluck Kaffee und den ersten Happen des noch bäckerwarmen Brötchens, dann schob ich die kleine Pistole in den rechten Ärmel – entsichert.

Lebend fing mich niemand.

Und aß weiter, nur die Linke benutzend.

Außer mir befanden sich nur noch zwei Herren im Rauchsalon, ein fetter Handelsbeflissener und ein schlanker Mann mit bartlosem Gesicht, der nach mir hereingekommen war und mir nun den Rücken zukehrte und Zeitung las.

Was ich vermutet, geschah.

Drei Herren in Zivil betraten den Salon und näherten sich mir. Mein Herz tat zehn raschere Schläge, beruhigte sich wieder. Mein Haar wurde durch die tief herabgezogene Reisemütze verdeckt, und mein rotes, gesundes Gesicht und die Schatten um den Mund hatten von dem Aussehen eines vor fünf Stunden aus dem Staatshotel urplötzlich verschwundenen Gastes mit der Nummer 311 wenig übrig gelassen.

Polizeibeamte! – Fragten nach meinem Paß ...

»Bitte!«

War in Ordnung.

Ich kaute und nahm wieder einen Schluck Kaffee. Sechs Augen musterten mich, ließen sich täuschen.

Die drei wandten sich dem Zeitungsleser zu. Der erschien mir sichtlich nervös, und als ich nun sein Profil gegen die dunkle Wandtäfelung als klare Silhouette sah, kam er mir merkwürdig bekannt vor. Nun, ich kenne viele Herren in Schweden, die mich nicht mehr kennen wollen.

Und ich frühstückte weiter.

Die drei zogen ab, und sehr bald bimmelte die Kaiglocke von neuem. Die ›Drottning Viktoria‹ – jeder Schwede ist mit Recht stolz auf sie – dampfte in die stark bewegte Ostsee hinaus.

Der zweite Punkt meines Programms war erledigt. Wenn der dritte, die Landung in Travemünde, ebenso tadellos klappte, war ich nach fünf Stunden in Sicherheit.

Der Steward brachte mir Zeitungen. Ich nahm ein amerikanisches Blatt und orientierte mich über die Weltgeschichte, denn das Hotel ›Düsterburg‹ hatte in dieser Beziehung miserabel für seine Stammgäste gesorgt.

Der Krieg war aus.

Das Schicksal Deutschlands beschäftigte die Herren Politiker. Ich habe für Politik nie etwas übrig gehabt.

Ich blätterte weiter.

Der Dampfer schaukelte sanft, und die eintönige Musik des Regens, der gegen die Fenster des Salons klatschte, ließ mich in den tiefen, weichen Klubsessel einschlafen. Als ich erwachte, war der Salon leer. Draußen schien die Sonne, und die Fahrgäste wanderten auf und ab. Der Steward räumte den Tisch leer, ich bezahlte, bestellte noch Zigaretten und begab mich gleichfalls auf das Promenadendeck hinaus, ging bis zum Bug und beobachtete die Leute des Minenauslugs, denn es sollten sich noch zahllose, vom Sturm losgerissene Minen in der Ostsee umhertreiben, hatte mir der Steward vertraulich mitgeteilt.

Ich stand an der Reling halb hinter einem der Rettungsboote und sah nun von Westen her, aus dem berüchtigten Regenloch, eine pechschwarze Wolke heransegeln. Die Sonne verschwand, die ersten Tropfen fielen, und das Deck leerte sich schnell.

Es goß.

Ich hatte den Mantelkragen hochgeklappt. Das Rauschen des Regens erquickte mich. Auch der Wind blies schärfer. Es wurde sehr dunkel, und die ›Drottning Viktoria‹ fuhr langsamer, ließ ihre Scheinwerfer spielen, um die gefürchteten Riesentöpfe aus Eisen rechtzeitig sichten zu können.

Das Schiff, von den Wogen breitseits getroffen, rollte jetzt ziemlich schwer, da der Kapitän aus Vorsicht die Geschwindigkeit noch weiter mäßigte und die Kraft der Schrauben gegenüber den anrollenden Wasserbergen keinen genügenden Ausgleich mehr schaffte. Die Wellenkämme schickten ihren Gischt nur zu oft bis auf das Promenadendeck empor, und Regentropfen und das salzige Naß der Ostsee suchten mit keckem Übermut mein geschminktes Gesicht zu treffen, was für mich doch unangenehme Folgen hätte haben können, denn verlaufene Schminke würde wohl nur zu bald Argwohn erregt haben.

Ich zog die Mütze noch tiefer, knöpfte den Mantelkragen zu und schritt breitbeinig, dem Unwetter den Rücken kehrend, davon, und – schwenkte plötzlich nach rechts ab.

Wie wenig ich, der wegen Totschlags zu zwei Jahren Zuchthaus Verurteilte, doch die Kniffe der Polizei kannte!

Ich armseliger Tor hatte mir eingebildet, daß die drei Polizeibeamten in Zivil die ›Drottning Viktoria‹ noch im Trelleborger Hafen verlassen hätten! Und eben hatte ich zwei von ihnen oben auf der Brücke neben dem Kapitän im Lichtkreis der Strahlenflut eines Scheinwerfers erkannt, und den dritten rechts von mir an der Reling, mich mit eindeutiger Schärfe beäugend.

Wieder hatte da mein im Hotel ›Düsterburg‹ doch ein wenig nervös gewordenes Herz, das einst selbst bei den waghalsigsten Kletterpartien in den Felsschluchten der Jungfrau nie versagt hatte, zu hüpfen begonnen.

Ein wahres Glück, daß ich die ›Drottning Viktoria‹ in all ihren Teilen so genau kannte.

Wäre es nicht der Fall gewesen, hätte der Mann an der Reling, der mir tatsächlich nun folgte und mir so den Beweis lieferte, daß ich mich einem völlig verfehlten Sicherheitsgefühl hingegeben hatte, die kleine Pistole mir wieder in die Hand gezwungen, und die drei Herren, die schließlich nur ihre Pflicht taten, wären von Travemünde lediglich mit der Totennummer 311 nach Schweden zurückgekehrt.

Nach wenigen Minuten hatte ich den Verfolger abgeschüttelt und stand in einem matt erleuchteten Raume, der zwischen den tieferen Decks der ›Drottning Viktoria‹ lag. Ölgeruch und rauchige Luft, an den Wänden Tische mit allerlei Werkzeugen und am Heck und Bug zwei gewaltige eiserne Flügeltüren, nun verschlossen und doch unschwer zu öffnen.

Ein anhaltendes Klirren von Eisenteilen und Poltern und Stoßen und Vibrieren verschiedenartigster Töne erfüllt den Raum, unter dem die Kessel stöhnen und fauchen und die Schraubenwellen kreisen.

Wieder ein Blick in die Runde.

Ich bin hier am Heck allein. Und ich will nicht sterben. In meinen Jahren klammert man sich an das Leben, besonders wenn man noch eine Aufgabe zu erfüllen hat wie ich.

Zwei Jahre Zuchthaus!! Sollte ich das auf mir sitzen lassen?? Niemals! Totschläger, wo nur die Aussage eines jämmerlichen Weibes mir den Schutz des Notwehrparagraphen geraubt hatte?? Niemals!!

Noch ein Blick in die Runde.

Dann klappte ich den Deckel des Holzkastens empor. Daß der Kasten Korkwesten enthielt, wußte ich. Zwei davon genügten. Und wenn das Wasser der Ostsee nicht gerade allzu unbarmherzig mit mir umging und die nasse Kälte mir den Lebensodem nicht raubte, würde ich schon die Küste Laalands oder Fehmarns erreichen.

Dicht vor der Flügeltür war es noch dunkler. Jetzt erst sah ich, daß der eine Torflügel eine kleine Pforte besaß. Ein schwerer Klappriegel verschloß sie. Als ich sie geöffnet hatte, brodelten und schäumten gerade unter mir die von den Schrauben gepeitschten Wasser.

Ich mußte einen Anlauf nehmen, mußte durch weiten Sprung aus dem Bereich der saugenden Kraft der Schrauben heraus. Aber durch das Schlingern des Schiffes schlug die Pforte krachend wieder zu, und in wilder Hast rückte ich eine große Ölkanne vor das rasch wieder geöffnete Eisentürchen, trat ein paar Schritte zurück, duckte mich zusammen und wagte den Sprung, versank in den schäumenden Wogen, tauchte wieder auf, und war den wirbelnden Schrauben glücklich entronnen.

Bange Minuten dann.

Würde die ›Drottning Viktoria‹ wenden, war meine Flucht von Bord bemerkt worden?

Ich sah, daß das Türchen noch immer offen stand.

Niemand erschien in der Türöffnung. Niemand war oben auf dem im Sommer so prächtig mit Blattpflanzen geschmückten Heckausbau sichtbar.

Ich war allein, inmitten der heranstürmenden Wasserberge. Ich war längst bis auf die Haut durchnäßt. Noch fror ich nicht. Noch kreiste das erregte Blut wärmend durch die Adern.

Noch ...

III.

Wie lange noch??

Ich begann zu schwimmen. Mußte schräg gegen die Wogen ankämpfen, wenn ich nicht nach Osten abgetrieben werden wollte. Im Osten gab es kein rettendes Inselgestade. Ich mußte die Küste Fehmarns erreichen, oder ich war verloren.

Die beiden Korkwesten behinderten mich. Der Mantel war noch lästiger. Ich hätte ihn ausziehen sollen, bevor ich den Sprung wagte.

Schon nach kurzer Zeit merkte ich, daß mein Kampf gegen die seitlich herandrängenden Wellenberge völlig aussichtslos war. Meine Arme waren abgestorben, meine Beine hingen gleichfalls wie Eisklumpen schlaff herab, und selbst die äußerste Anspannung meiner Energie reichte nicht mehr hin, diese Vorboten des nahenden Endes zu verscheuchen.

Ich erinnerte mich noch genau, daß ich mit einer gewissen Neugier dem Kommenden entgegensah, wie ein Unbeteiligter, wie ein kaltherziger Zuschauer, der einen mit dem Tode Ringenden beobachtet und jede einzelne Phase des langsamen Nachlassens der Kräfte und des letzten Aufflackerns des Lebensflämmchens voller Interesse aufzeichnet. Meine Persönlichkeit war gleichsam geteilt worden. Mein Körper starb dahin, mein Geist spielte den Arzt, der ein Tier viviseziert hat und das Nachlassen der Arbeit der einzelnen Organe mit der Gefühllosigkeit des begeisterten Wissenschaftlers feststellt.

Ich schluckte viel Seewasser. Mein Kopf pendelte hin und her. Traf mich ein Wellenkamm mit voller Wucht von vorn, so war es, als erhielte ich Ohrfeigen.

Wie lange ich in diesem Zustande merkwürdiger Gleichgültigkeit ein Spiel der Wellen gewesen, habe ich erst später ungefähr feststellen können: etwa anderthalb Stunden!

Dieser Zustand fand bei noch immer völlig verfinstertem Himmel und bei noch immer in Gießbächen herabplätscherndem Regen und orkanartigen Sturmstößen durch einen überaus schmerzhaften Stoß ein Ende, der meine linke Schulter traf.

Der Schmerz war es, der mir Siedehitze über den Leib jagte, der meine Lebensgeister wieder weckte und meine geteilte Persönlichkeit plötzlich wieder zusammenschmolz.

Ich war Olaf Abelsen, und ich sah, fühlte, hörte, schmeckte.

Ich sah die mächtige Eisenkugel, die dort im Wellental davontaumelte – eine Mine!

Sie hatte mir den Schlag versetzt.

Ich fühlte die stechenden Schmerzen in der getroffenen Schulter, hörte das Toben des Meeres ringsum und schmeckte den bitteren Salzgeschmack der erbarmungslosen Ostsee auf meiner Zunge.

Ich erbrach mich und kämpfte gegen eine Ohnmacht. Mir wurde noch heißer. Ich konnte Arme und Beine wieder bewegen. Auch meine Halsmuskeln hatten wieder Spannkraft gewonnen. Mein Kopf war kein Kürbis mehr, der mir lediglich an einem halb verfaulten, weichen Stiel zwischen den Schultern baumelte.

Ich schaute mich um. Ich wurde gerade von einem Wellenberg emporgetragen und erspähte so links von mir einen dunklen Fleck, der in seinen verwischten Umrissen immerhin dem Bug eines kleinen Dampfers glich.

Es war ein Dampfer.

Wenn er diesen Kurs beibehielt, war er verloren und ich ebenfalls, denn er mußte gerade auf die treibende Mine aufrennen.

Ich wollte brüllen, rufen. Eine Welle füllte mir den Mund. Ich spuckte, spuckte.

Da schwenkte der Dampfer scharf nach Süden ab. Ich sah, daß offenbar die ganze Besatzung vorn am Bug versammelt war und sich wie eine Rotte Tollhäusler benahm. Die meisten hatten Stangen in den Händen, mit denen sie andauernd in die Wogen stießen. Es war nur ein kleiner Frachtdampfer, und am Heck wehte eine Flagge, deren Anblick gemischte Gefühle in mir aufsteigen ließ.

Und doch – hier ging es um mein Leben!

Also Lungen voll Luft gepumpt.

Ein Schrei sollte das werden, den die Leute drüben unbedingt hören mußten.

Er wurde es aber nicht, denn drüben gab es plötzlich einen Knall, als ob das Himmelsgewölbe auseinanderriß.

Dort, wo eben noch der Dampfer seinen Bug in die Wogenberge gebohrt hatte, wo noch eben vielleicht fünfzehn Menschen sich eng zusammengedrängt hatten, gab es nur mehr eine Fontäne von Wrackteilen und menschlichen Leibern.

Das sah ich noch. Dann hatte mich der Luftstoß der Explosion tief in die See hinein gedrückt und als ich wieder emportauchte, konnte ich nur noch gerade feststellen, daß der von dem Dampfer übriggebliebene Teil langsam versank. Die Kessel explodierten erst unter Wasser und warfen zwei mächtige, grüne Berge empor.

Um mich her hagelten nun die Einzelheiten der Fontäne herab. Und mit einer gewissen Ungeduld wartete ich darauf, daß ein Balkenstück mich treffen würde, was alle weiteren Gedanken, ob ich die Fehmarnküste jemals noch zu Gesicht bekäme, überflüssig gemacht hätte.

Balken fielen herab, trafen mich aber nicht. Bald war die Luft von umherfliegenden Gegenständen befreit. Ein halber Lukendeckel schwamm vorüber, in dessen geborstene Bretter zwei Tote eingeklemmt waren, Beine nach oben, Köpfe und Rümpfe sah ich nicht. Ihnen folgte ein menschliches Bein, das durch das Drahtgeflecht eines Hühnerkäfigs geflogen war. Der in einem schwarzen Stiefel steckende Fuß leistete so vier toten Hühnern Gesellschaft. Dem Beinkleid nach zu urteilen, hatte das Bein einem Fahrgast des Dampfers gehört. Es war eine olivfarbene Breecheshose.

Auch der Käfig glitt vorüber.

Dann kam ein menschlicher Rumpf ohne Kopf. In der Brust steckte wie eine Harpune ein spitz zulaufendes, langes Brett. Die Jacke des Toten hatte an den Ärmeln einige goldene Streifen, wahrscheinlich also der Kapitän.

Dann war die Prozession von Leichen vorüber.

Ich wunderte mich, daß dieser Anblick mich so vollständig kalt gelassen hatte.

War ich wirklich roh, abgebrüht, vertiert?? Hatte nicht der Herr Untersuchungsrichter mir damals vor acht Monaten bei einer Vernehmung ins Gesicht geschrien, ich hätte Mörderaugen, und ich sollte nur gestehen, daß ich Sir Stuart Barclag mit Vorsatz und Überlegung getötet hätte.

Mörderaugen? Roh und abgebrüht??

Nein, doch wohl nicht. Nur Nerven, die mir besser gehorchten als Löwen ihrem Dresseur – trainierte Nerven.

Ich hielt nun in weiterem Umkreis Ausschau nach irgend etwas, das mir gestattete, das eisige Wasser zu