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Maria und Claudia sind Nachbarinnen im Quartier Q49 - eine Wohnanlage mit hübschen Einfamilienhäusern in bester Lage. Beide sind verheiratet, berufstätig, führen ein glückliches Leben. Zumindest auf den ersten Blick. Doch hinter der schönen Fassade hüten sie - wie alle anderen Nachbarn auch - Geheimnisse, die ans Licht drängen. Mit der Unzufriedenheit wächst der Wunsch nach Veränderung.
Auch die alleinerziehende Mutter, der nette Witwer und die beiden Paare, die wie die Musketiere immer zu viert auftreten, müssen sich Herausforderungen stellen. Wer hat den Mut, neue Wege einzuschlagen? Maria und Claudia entschließen sich, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Während die eine viele kleine Schritte der Veränderung geht, wagt die andere den ganz großen Schritt.
Denn am Ende des Tages wollen sie glücklich sein ...
Ein Feel-Good-Roman mit wohltuenden Impulsen für ein gelingendes und glückliches Leben - allein und zusammen
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Seitenzahl: 332
Maria und Claudia sind Nachbarinnen im Quartier Q49 – eine Wohnanlage mit hübschen Einfamilienhäusern in bester Lage. Beide sind verheiratet, berufstätig, führen ein glückliches Leben. Zumindest auf den ersten Blick. Doch hinter der schönen Fassade hüten sie – wie alle anderen Nachbarn auch – Geheimnisse, die ans Licht drängen. Mit der Unzufriedenheit wächst der Wunsch nach Veränderung.
Auch die alleinerziehende Mutter, der nette Witwer und die beiden Paare, die wie die Musketiere immer zu viert auftreten, müssen sich Herausforderungen stellen. Wer hat den Mut, neue Wege einzuschlagen? Maria und Claudia entschließen sich, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Während die eine viele kleine Schritte der Veränderung geht, wagt die andere den ganz großen Schritt.
Denn am Ende des Tages wollen sie glücklich sein …
Ein Feel-Good-Roman mit wohltuenden Impulsen für ein gelingendes und glückliches Leben – allein und zusammen
Patricia Küll arbeitet beim Südwestrundfunk und moderiert das Flaggschiff des SWR, die LANDESSCHAU RHEINLAND-PFALZ, sowie die Kultursendung LANDESART. Zudem ist sie diplomierte systemische Coach und zertifizierte Beraterin für Persönlichkeitsentwicklung. Sie schreibt Fachbücher und hält Vorträge zum Thema »Gelingendes Leben«.
Patricia Küll lebt mit Mann und zwei Kindern in Mainz.
Mehr über die Autorin finden Sie unter: www.patricia-kuell.de
PATRICIA KÜLL
Am Endedes Tageswerden wirglücklichsein
ROMAN
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG,
Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
unter der Verwendung von Motiven von © VectorART - stock.adobe.com
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-4208-5
luebbe.de
lesejury.de
Im Zimmer herrschte ein warmes, gemütliches Halbdunkel. Die Fenster standen sperrangelweit offen, die Rollläden waren fast völlig heruntergelassen. Auf schneeweißen Laken räkelten sie sich – zwei gebräunte Körper, nebeneinander, aufeinander, durcheinander. Es war ein wildes Treiben auf unschuldiger Baumwollbettwäsche wie Adam und Eva vor dem Sündenfall. Ihre Augen, seine haselnussbraun, ihre jeansblau, ihre Lippen, seine kussförmig, ihre herzförmig, ihre Körper, beide sportlich durchtrainiert, konnten nicht voneinander lassen. Sie pflügten sich durch die Bettlandschaft, trotz King Size zu schmal für ihre Begierde, und hinterließen tiefe Furchen der Leidenschaft. Er fühlte, dass ihr Puls in Höhen schoss, die unter anderen Umständen besorgniserregend gewesen wären. Jede Ecke des Zimmers roch nach Leben, Liebe und Leidenschaft. Nach Sommer, Sonne und Sex. Sie hatten an diesem Sommernachmittag alle Fenster offen stehen lassen. Wie leichtsinnig! Man hätte sie hören können, denn auch wenn sie sich um Lautlosigkeit bemühten, so waren die Geräusche, die sie machten, deutlich vernehmbar und auch eindeutig einzuordnen. Wie gut, dass die Nachbarn um diese Zeit nicht anwesend waren – und die Häuser ließ es ohnehin kalt, was in ihnen getrieben wurde.
Danach lagen sie eng umschlungen nebeneinander. Eine schöne blonde Frau in den braun gebrannten Armen eines sympathischen Mannes. Ein Traumpaar.
»Wo würdest du dieses Jahr eigentlich gern die Sommerferien verbringen?«, fragte er leise, während er ihre Schläfe mit kleinen Küssen liebkoste.
Sie blickte zur Decke, ohne sie anzusehen. »Nicht wieder Griechenland, da war es letztes Jahr kaum zum Aushalten. Freddie hatte diese schreckliche Sonnenallergie. Erinnerst du dich?«
Sie drehte sich auf den Bauch und schmachtete ihn an. Nur sie konnte bei banalen Themen wie Urlaubsplanung so hingebungsvoll gucken. Er küsste sie erneut, doch er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, und löste sich von ihr, noch bevor die Welle des Begehrens sie wieder überrollen konnte.
»Wie wär’s mit Oberitalien oder noch besser Südtirol? Vorausgesetzt wir kriegen überhaupt noch was, wir sind verdammt spät dran dieses Jahr. Guck doch mal, ob du ein großes Ferienhaus findest, was richtig Schickes mit Pool. Dann könnten die anderen den ganzen Tag am Beckenrand chillen und wir beide würden unauffällig mit den Mountainbikes verschwinden.«
»Super Idee«, murmelte sie und streckte sich, um ihn zärtlich zu küssen.
Er konnte nicht anders, als den Kuss zu erwidern. Doch er gönnte ihnen nur ein paar Sekunden, dann machte er sich frei und sprang aus dem Bett.
»Sorry, mein Schatz, ich muss.«
Während er sich sein weißes Businesshemd anzog und zuknöpfte, es spannte ein wenig über seiner muskulösen Brust, lag sie auf der Seite, das Kinn auf der Hand abgestützt und beobachtete ihn. Er fand es amüsant, dass sie ihn nach all den Jahren immer noch anschmachtete. Er wusste, dass er gut aussah und auch die Blicke anderer Frauen auf sich zog. Aber er bildete sich nichts darauf ein. Er würde sich niemals in einem Fitnesscenter quälen, um seine Figur zu optimieren, er wusste, dass allzu viel Schönheit schnell langweilig wurde. Und Perfektion bei anderen nur Aggression auslöste. Mit diesem Wissen lief er lässig bis nachlässig durchs Leben.
Ganz anders die Frau, die ihn immer noch bewundernd betrachtete. Dass sie von einem Mann wie er einer war, begehrt wurde, konnte sie kaum fassen. Dabei stand sie ihm im Aussehen in nichts nach. Doch das erkannte sie nicht. Dazu fehlte ihr das Selbstbewusstsein.
Als er angezogen war, beugte er sich zu ihr hinunter und nahm ihr Kinn in die Hand. »Ich liebe dich, wie ich noch keine andere geliebt habe, und ich habe länger auf dich gewartet als auf jede andere Frau.«
Er sah ihr in die blau strahlenden Augen und registrierte zufrieden, dass dieser Satz seine Wirkung tat, denn sie schmolz dahin wie Schokolade in der Sonne. Vermutlich wusste sie nicht, dass er ihn sich nur ausgeliehen hatte – bei Rhett Butler, der damit bei Scarlett O’Hara in Vom Winde verweht ebenfalls eine durchschlagende Wirkung hatte verbuchen können. Er gab ihr noch einmal einen Kuss, erhob sich, zwinkerte ihr frech zu, schnappte sich seinen schwarzen Lederrucksack, den er anstelle einer Aktentasche mit ins Büro nahm, und verließ das Schlafzimmer. Mit jugendlichem Elan lief er die Treppe hinunter. An der Haustür angekommen, öffnete er diese einen Spalt und überblickte mit einem schnellen, routinierten Blick den kleinen Garten und den Weg links und rechts. Kein Mensch weit und breit, zu dieser Uhrzeit waren die meisten Nachbarn noch bei der Arbeit und die Mütter mit ihren Kindern aufgrund der Hitze im Freibad oder im Garten.
Er ging hinaus, zog vorsichtig die Tür ins Schloss und eilte durch den kleinen, mit Buchsbäumchen, Rosen und Lavendel bepflanzten Vorgarten. Er scannte unauffällig die Umgebung, bog nach rechts, ließ drei Reihenhäuser unbeachtet liegen und sprang dann über den niedrigen Zaun in den nächsten Vorgarten, der nicht ganz so schön angelegt war. Sein Blick fiel auf das Keramikschild, das an der Haustür hing. Darauf eine Bärenfamilie – Vater Bär, Mutter Bär und zwei Bärenkinder – sowie die Worte: Hier leben und lieben Selma, Robert und ihr Nachwuchs. Er fand das Ding kitschig und peinlich, aber Selma mochte es. Also ließ er ihr nach anfänglichen Diskussionen ihren Willen. Wie so oft.
Er fingerte die Schlüssel aus seinem Rucksack, schloss die Haustür auf und rief, noch ehe er die Diele betreten hatte: »Schatz, ich bin zu Hause!«
Peep – peep – peep. Der Wecker klingelte pünktlich um sechs Uhr wie jeden Tag außer am Wochenende, da konnte es passieren, dass Maria noch früher aufstand. Sie war bereits kurz vorher wach gewesen und hatte das kleine quadratische Gerät aus Metall beim ersten Geräusch ausgestellt.
Normalerweise sprang sie in derselben Sekunde aus dem Bett, griff nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag, und checkte noch auf der Toilette die eingegangenen Nachrichten der vergangenen Nacht. Die meisten Mails waren von der amerikanischen Anwaltskanzlei, für die sie in der Deutschlandniederlassung arbeitete. Unter der Dusche dachte sie über die ersten kniffligen Fragestellungen nach und formulierte Antworten. Während andere morgens einen langen Vorlauf brauchten, bis sie auf Betriebstemperatur waren, war Maria immer gleich voll da. Direkt mit hundertachtzig Sachen rein ins Geschehen. Ohne Anlauf. Ohne Umwege. Sie trank ihren Kaffee und tippte die ersten Gedanken zu den meist komplizierten Sachverhalten in fließendem Englisch in den Laptop. Ihre Arbeit als Wirtschaftsanwältin forderte sie sehr – zu allen Tages- und Nachtzeiten – und genau das liebte sie. Immer schnell, immer in Bewegung, nur kein Stillstand.
Normalerweise wäre sie bereits wie ein aufgeladener Duracell-Hase in den Tag gestartet, doch es war der erste Dienstag im Monat. An jedem ersten Dienstag im Monat traf sie sich mit ihrer Mutter, und da sie bei ihr unmöglich schon um sieben Uhr morgens auftauchen konnte, blieb sie in ihrem breiten, weichen, wunderbaren Bett liegen – zumindest noch eine kleine Weile.
Sie hörte das Rauschen der Dusche. José war wie immer schon vor ihr aufgestanden. Nicht dass sie ihn gehört hätte, nein, er war immer sehr rücksichtsvoll und leise. Außerdem hatte sie nachts Stöpsel in den Ohren. Und sie hatten getrennte Schlafzimmer, also halb getrennte, wie sie es nannte. Zwei Zimmer, verbunden mit einer Schiebetür. »So sind wir uns nah, und doch hat jeder nachts die Umgebung, die er für einen guten Schlaf braucht. José ist mehr der Strandschläfer, er hat es gern warm und hell, und ich bin im Gegensatz dazu der Sargschläfer, liebe es kalt und dunkel«, erklärte sie gern lachend und eine Spur zu ausführlich, damit niemand falsche Rückschlüsse aus den getrennten Schlafzimmern ziehen konnte. Was natürlich trotzdem jeder tat.
In ihrem Zimmer war es gar nicht mehr so dunkel. Die Sonne schlich sich bereits durch den Spalt, den sie jeden Abend beim Herunterlassen der Rollläden freiließ, um wenigstens ein bisschen frische Luft zu bekommen. Dunkel und kalt, das klappte in diesen heißen Sommerwochen nicht wirklich, deswegen war der nahezu geschlossene Rollladen ein Kompromiss – fast dunkel und lauwarm. Eigentlich hatte sie bereits im Jahr zuvor eine Klimaanlage einbauen lassen wollen, um nachts ihr Schlafzimmer auf eine erträgliche Temperatur kühlen zu können, aber das hätten ihr die Nachbarn in dem ökologisch vorbildlichen Quartier persönlich übel genommen. Also hatte sie die Pläne fallen lassen, noch bevor ein Kostenvoranschlag eingeholt worden war.
Maria griff nach der Fernbedienung, die neben ihrem Handy auf dem Nachttisch lag, und ließ den Rollladen per Knopfdruck nach oben fahren. Nun konnte die Sonne in ihrer ganzen Morgenschönheit ins Zimmer scheinen. José hatte seine Dusche offenbar beendet, denn das Wasserrauschen war verstummt.
Jetzt summt er bestimmt wieder, während er sich rasiert.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.Sie liebte seine südländische Leichtigkeit.Versonnen blickte sie ins Freie. Von all den Pflanzen im Garten sah sie nur die Spitze der Zierkirsche, über deren rosafarbene Blüten sie sich jedes Frühjahr aufs Neue freute. Das säulenartige Gewächs war in den Jahren, seit sie in ihrem Haus lebten, groß und stattlich geworden. Maria und José waren mit die Ersten gewesen, die damals ins Quartier gezogen waren. Und sie gehörten zu den Wenigen, die keine Kinder bekommen hatten.
Sie schnupperte. Noch nahm sie keinen Kaffeeduft wahr, aber sie wusste, wenn sie lange genug liegen blieb, dann würde er zu ihr raufgezogen kommen. Dieser wunderbar herbe Duft von frisch gemahlenem und frisch aufgebrühtem Kaffee. Ein guter Morgen fing eigentlich erst damit an, und wenn José dann noch mit zwei Bechern zu ihr ins Schlafzimmer kam und sich auf ihre Bettkante setzte, dann waren die freien Dienstagvormittage wirklich zu etwas gut. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie in diesen Momenten vor lauter Zufriedenheit am liebsten angefangen zu schnurren.
Die Kaffee-ans-Bett-bring-Tage gab es noch nicht so lange. Maria hatte erst zwei Jahre zuvor begonnen, einen Vormittag im Monat für ihre Mutter zu reservieren. Damals hatte sie realisiert, dass die Zeit endlich ist. Sie wollte sie gut nutzen, um sich später keine Vorwürfe machen zu müssen. Nicht noch mehr als ohnehin. Allerdings sollte nicht die gemeinsame Zeit mit José darunter leiden, deswegen hatte sie mit ihrem Arbeitgeber die freien Tage ausgehandelt. Der sah das nicht gerne, aber was sollte er zu einer Mitarbeiterin sagen, die ohne zu murren jede Woche sechzig Stunden und mehr arbeitete?
Sie hob die Nase leicht an, denn sie glaubte, den ersehnten Duft erschnuppert zu haben. Und tatsächlich ging die Schlafzimmertür auf, und José kam herein – mit ihm eine überaus angenehme Melange aus Kaffeegeruch und dem eines frisch Geduschten. Er hielt in jeder Hand einen Becher und hob den Blick erst, als er an ihrem Bett angekommen war.
»Guten Morgen, mein Schatz. Alles klar?« Er reichte ihr einen Kaffee.
Sie nickte. »Wird nur sehr spät heute Abend. Muss mal schauen, wie ich die Arbeit schaffe nach dem Besuch bei Mutter. Außerdem hab ich mit den Nachbarn ein Treffen wegen unseres Festes. Also warte nicht auf mich.«
»Was steht denn die Woche noch an?«
»Bei mir wird es jeden Tag spät wegen der Geschäftsübernahme dieses wichtigen Mandanten, du weißt schon. Da kommt einiges auf mich zu.« Sie blies vorsichtig in den Kaffee und trank einen kleinen Schluck. Dann versuchte sie sich zu erinnern, was noch in ihrem Terminkalender stand. »Ach ja, das Radtraining am Samstag wurde auf sechs Uhr vorverlegt. Das ist selbst für mich früh, aber dann ist es wenigstens noch nicht so heiß.«
Sie fuhren beide leidenschaftlich Rad. Im völligen Gleichtakt traten sie auf ihren Rennrädern in die Pedale, als wären sie auf einem Tandem unterwegs. Die Körperhaltung in den schwarzen Radlerdresses, die Kopfstellung unter den Helmen, ja selbst die Atmung – als wären sie Zwillinge. So sahen sie auch aus. Sie hatten beide dunkle Locken, schokobraune Augen, die gleiche schlanke Gestalt – und eine Vorliebe für helle Leinenhemden und Segelschuhe. Als sie sich das erste Mal so gegenübergestanden hatten, war die Anziehung schon spürbar gewesen. Als sie sich dann einander vorgestellt und realisiert hatten, dass sie Maria und Josef wären, wenn José statt eines chilenischen einen bayerischen Vater gehabt hätte, da hatten sie sofort an Schicksal geglaubt und waren den ganzen Abend nicht mehr zu trennen gewesen. Wenige Wochen nach ihrem Kennenlernen waren sie zusammengezogen.
»Wird dir das alles nicht zu viel? Wir können das Radtraining doch auch mal schwänzen.«
»Ach was«, wehrte sie mit einem Lächeln ab. »Schwänzen kommt nicht in die Tüte. Das Gute an dem frühen Training ist, dass wir dann in Ruhe unseren Wochenendeinkauf machen können. Am Nachmittag treffen wir die Rotarier. Und wenn wir diesmal nicht wieder direkt vom Kaffee zum Wein übergehen, wird es auch nicht so spät.« Sie grinste ihn an in Erinnerung an das letzte Treffen, das zu einem Totalabsturz bei allen Beteiligten geführt hatte. Dann fuhr sie im sachlichen Ton einer Chefsekretärin fort, die Termine fürs Wochenende runterzubeten. »Am Sonntag um sechs wieder Training, am Nachmittag sind wir bei deinen Apothekerfreunden eingeladen, und abends haben wir Karten fürs Theater.« José zog die Augenbrauen hoch. Doch bevor er Einwände hervorbringen konnte, redete sie weiter. »Wir machen einfach alles ganz entspannt.«
Das, was Maria entspannt nannte, hätte bei anderen allein vom Zuhören Stresspusteln hervorgerufen. Mit dem letzten Satz wollte sie José signalisieren, den Terminplan nicht infrage zu stellen. Und erwartungsgemäß schluckte er seine Bedenken hinunter.
»Alles klar, mein Schatz, dann weiß ich Bescheid.« Er stand auf, stellte seinen Becher auf den Nachttisch, beugte sich zu ihr runter, um ihr einen Abschiedskuss zu geben. Doch sie drehte schnell den Kopf zur Seite und bot ihm ihre Wange an. Sie wollte nicht auf den Mund geküsst werden, solange sie noch nicht die Zähne geputzt und gegurgelt hatte. Er ärgerte sich sichtlich, dass er nicht daran gedacht hatte. So küsste er sie erst auf die Wange und dann noch mal auf die Stirn. »Ich muss los, wir bekommen heute in der Apotheke eine große Lieferung mit Medikamenten und Beautyartikeln, die muss eingeräumt werden, bevor ich den Laden öffne.«
»Bring mir was mit, wenn es was tolles Neues gibt.«
»Mach ich. Dir gutes Gelingen bei deiner Mutter, grüß sie von mir.« Er winkte beim Rausgehen, sein frischer Rasierwasserduft zog mit Verspätung hinter ihm her.
Maria sah José versonnen nach.
Was hab ich für ein Glück mit ihm. Er hat all das, was mir fehlt.
José war spontan, aufgeschlossen, emotional, optimistisch, und er konnte Menschen im Sturm gewinnen. Was ihn aber wirklich besonders machte: Er hatte keine Angst vor der Traurigkeit in ihren Augen, er konnte damit umgehen. Wenn Maria sie zuließ. Das tat sie nur meistens nicht. Sie rannte vor ihr davon, immer in Eile, immer in Bewegung.
Und auch jetzt hielt sie die Stille nicht mehr aus. Sie spürte, wie die Unruhe in ihr hochkroch. Maria scheute wie so viele Menschen den Stand-by-Modus, denn in Zeiten der Ruhe kamen die Geister hervor. Gefühle, denen man nicht gern begegnete, wälzten sich in Mußestunden aus ihren Verstecken und überfielen einen, wenn man nicht auf Flucht eingerichtet war. Deswegen war es besser, man blieb im ständigen Dauerlauf.
Irgendjemand hatte ihr einmal gesagt, dass verdrängte Gefühle immer wiederkommen und dabei immer stärker werden. Doch das wollte sie nicht wahrhaben. Und so vertrieb sie auch jetzt die aufkommenden Emotionen Einsamkeit und Melancholie mit Aktivität. Sie stand auf, stellte sich in ihrem weißen Seidennachthemd ans bodentiefe Fenster und schaute in den Sommergarten hinaus. Die Luft war trotz der frühen Stunde schon wieder angedickt wie Marmelade zu Beginn des Einkochens.
Im Quartier regte sich das erste Leben. Sie hörte Kinderweinen und Geschirrgeklapper. Diese Alltagsgeräusche nervten sie in letzter Zeit immer öfter, sie konnte sich kaum noch auf das Schöne in ihrem Garten konzentrieren. Viele verschiedene Stauden bildeten ein wildes Miteinander. Um den Lavendel mit den dunkellila Köpfchen schwirrten emsig zahllose Bienen. Die prallen Rosenköpfe in Himbeerrot und edlem Creme blühten in einer Fülle, dass sie gar nicht wusste, wohin sie zuerst schauen sollte. Der fein-süße blumige Duft waberte bis zu ihr in die erste Etage.
In diesem Garten hatten sie schon zahllose wundervolle Feste mit Nachbarn und Freunden gefeiert. Sie war eine beliebte Gastgeberin, denn sie hatte eine Begabung dafür, Menschen zusammenzubringen und sie mit außergewöhnlichen Kreationen aus der Küche zu verwöhnen. In Kombination mit Josés unterhaltsamem, überschwänglichem Naturell war es kein Wunder, dass ihre Einladungen heiß begehrt waren und niemals jemand absagte. Sie waren im Quartier und auch außerhalb ausgesprochen angesehen. Man hätte neidisch auf dieses perfekte Leben werden können, und diejenigen, die glaubten zu wissen, dass Maria sowieso alles in den Schoß fiel und sie einfach ein ausgemachtes Glückskind war, was ihre Herkunft, ihren Beruf, ihren Mann und ihr Schicksal im Allgemeinen anging, waren es mit Sicherheit auch. Wie so oft sahen andere nur den Glanz und nicht die Mühen. Manchmal ärgerte sie sich darüber, dass jeder glaubte, ihr würde alles zufliegen. Doch um anderen klarzumachen, wie es wirklich war, hätte sie sie hinter die Fassade blicken lassen müssen. Und das wollte sie dann doch nicht.
Maria ging ins Bad, duschte in Ruhe, frühstückte einen Joghurt und eine Banane und las ausführlich die Tageszeitung. Aktivitäten, für die sie sich normalerweise deutlich weniger Zeit nahm. Die Mails ihres Arbeitgebers hatte sie noch nicht gecheckt. Das kostete sie große Selbstbeherrschung. Aber es ergab keinen Sinn, ihre Mutter zu besuchen und im Kopf ein berufliches Problem zu wälzen. Nein, sie wollte in diesen wenigen Stunden ganz im Hier und Jetzt sein. Also würde sie die Mails erst mittags lesen, auch wenn es ihr permanent in den Fingern juckte, schnell mal den Mailbutton auf ihrem Handy zu drücken und die eingegangenen Nachrichten kurz zu überfliegen. Jeden ersten Dienstag im Monat kämpfte sie gegen sich selbst und war immer ein bisschen stolz auf sich, wenn ihr Ehrgeiz und ihre Zielstrebigkeit in beruflichen Dingen die Unterlegenen blieben.
Maria blickte auf ihre Uhr, eine hübsche, sehr wertvolle Markenuhr mit kleinen Diamanten anstelle der Stundenzahlen. Sie hatte sie zum zehnten Hochzeitstag von José geschenkt bekommen. Noch hatte sie Zeit. Sehr viel Zeit. Vielleicht könnte sie heute ausnahmsweise … Nur weil sie noch fast eine Stunde hatte, bis sie losfahren musste. Gedacht, getan. Schnell öffnete sie ihren Laptop, und das war ein Fehler.
Ihr Mailaccount war voller ungelesener Nachrichten. Alle aus den USA. Alle mit dem Betreff URGENT. Maria dachte keine halbe Sekunde nach, sondern öffnete reflexartig die erste Nachricht. Ihr wichtigster Mandant, ein amerikanischer Unternehmer, wollte ein deutsches Sportlabel aufkaufen, da durfte nichts schiefgehen. Es ging um mehrere hundert Millionen Dollar, doch es fehlten immer noch wichtige Beglaubigungen, die deutschen Behörden arbeiteten verdammt langsam, die Amis wurden unruhig, und nun sollte Maria Feuerwehr spielen und die Brandherde löschen – ohne allzu viel Rauch zu verursachen und am besten noch bevor irgendetwas in Flammen stand. Maria verschaffte sich schnell einen Überblick, schaute noch einmal auf die Uhr und seufzte. Kurz hielt sie inne und dachte nach.
Heute, wirklich nur heute, sage ich ab. Absolute Ausnahme. Ich versprech’s.
Wem sie es versprach, sich oder ihrer Mutter, definierte sie nicht. Sie fuhr den Laptop runter, klappte ihn zu und machte sich auf den Weg.
Mit eiligen Schritten überquerte sie den großen rechteckigen Quartiersplatz und bereute im selben Moment, dass sie nicht außenherum gegangen war, denn von Weitem erkannte sie Susanne, die ihr bereits fröhlich zuwinkte. Maria fluchte innerlich. Über Susannes fehlendes Feingefühl wurde in der Nachbarschaft immer wieder gelästert. Natürlich nur hinter ihrem Rücken. Sie merkte nie, wenn es jemandem nicht gut ging oder wenn jemand in Eile war oder einfach keine Lust auf einen Plausch hatte.
»Wie schön, dich zu sehen, Maria«, rief Susanne dann auch erwartungsgemäß quer über den Platz.
Das war für gewöhnlich ihr Aufschlag für ein längeres Gespräch, das daraus bestand, dass sie ausführlich völlig uninteressante Geschichten zum Besten gab. Doch Maria schlug sie diesmal mit ihren eigenen Waffen.
»Ich freu mich auch, aber ich hab leider überhaupt keine Zeit.«
Dabei klopfte sie demonstrativ auf die Uhr und lief weiter, denn das war der Trick: nicht stehen zu bleiben. Auf keinen Fall stehen zu bleiben.
»Ach ja, heute ist ja der erste Dienstag im Monat. Wie ich dich beneide um diese Mutter-Tochter-Tage, ich kann es dir gar nicht sagen.« Susanne hatte ihren Schritt sichtbar verlangsamt und ließ Maria auf sich zukommen. Das war ihr Trick, um etwas Zeit zum Quatschen rauszuschinden. »Ich wünschte, ich hätte auch so ein tolles Verhältnis zu meiner Mutter und würde so tolle Sachen mit ihr unternehmen können wie du mit deiner. Na ja, das weißt du sicher.« Maria nickte ihr freundlich zu, ging aber unbeirrt weiter, auch als sie auf Susannes Höhe angekommen war. Die musste sich umdrehen und ihr hinterherrufen. »Dann halte ich dich nicht länger auf, grüß sie unbekannterweise. Viel Spaß beim Shoppen und Essen und allem, was ihr machen werdet.«
Maria winkte ihr, ohne sich umzudrehen. Dass Susanne von ihren Dienstagstreffen mit ihrer Mutter wusste, erstaunte sie. Sie hatte es ihr bestimmt nicht erzählt. So dicke war sie mit ihr nicht. Doch offenbar war sie selbst auch ab und an Mittelpunkt des nachbarschaftlichen Klatsches. Darüber hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht. Nur gut, dass sie nicht wusste, was die anderen über sie erzählten.
Dreißig Minuten später war sie – anders als Susanne es vermutet hatte – in der Kanzlei. Dort schrieb sie José in aller Eile eine Kurznachricht, und dann tauchte sie ab. In Paragrafen und Rechtsprechungen. Maria konnte sich auf eine Aufgabe so fokussieren, dass sie jedes Zeit- und Hungergefühl verlor.
Es klopfte. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren, wo sie eigentlich war. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass Stunden vergangen waren. Noch bevor sie »Herein!« sagen konnte, öffnete sich die Tür, und ihre Kollegin und Freundin Tamara spazierte ins Zimmer, in jeder Hand einen Kaffeebecher.
»Hey, ich hab gehört, dass du im Haus bist. Dachte mir, du brauchst vielleicht einen Kaffee.« Mit vorwurfsvollem Blick reichte Tamara ihr einen Becher.
»Was guckst du so?«, fragte Maria gereizt. Sie kannte diesen Blick nur zu gut.
»Warum bist du hier? Du hast heute deinen freien Dienstagvormittag.«
»Ich weiß.« Maria fiel auf ihrem Schreibtischstuhl zusammen wie ein Soufflé, das zu früh aus dem Ofen geholt worden war. »Aber was hätte ich denn tun sollen?«
»Nein sagen«, antwortete Tamara. Maria hörte das nicht zum ersten Mal. »Du weißt, ›Nein!‹ ist ein ganzer Satz.« Sie blickte liebevoll-spöttisch zu ihr herunter. »Am Ende deines Lebens wirst du dein ewiges ›Aber was hätte ich denn tun sollen?‹ noch verfluchen.« Sie beugte sich zu ihr und gab ihr einen freundschaftlichen Schmatzer auf die Wange. Im Rausgehen mahnte sie: »Mach wenigstens nicht wieder bis in die Nacht.«
Kaum war Tamara weg, kam das schlechte Gewissen.
Am Ende deines Lebens wirst du den Satz ›Aber was hätte ich denn tun sollen?‹ noch verfluchen.
Maria atmete schwer aus. Tamara hatte so recht. Wie sehr, das ahnte sie vermutlich gar nicht.
Im nächsten Monat besuche ich dich bestimmt, Mutter – und wenn die Kanzlei pleitegeht.
Doch in diesem Monat hatte der Job mal wieder erste Priorität. Wenn Maria ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, dann hätte sie sich eingestanden, dass sie sich ganz gerne in die Arbeit flüchtete. Für diese Art der Selbstreflektion hatte sie allerdings keinen Sinn und – glücklicherweise – überhaupt keine Zeit.
Sie nippte kurz an ihrem Kaffee und vertiefte sich wieder in die Akten. Als sie das nächste Mal aufblickte, war das Getränk kalt, ihr Magen knurrte vernehmlich, draußen breitete sich die Dämmerung wie eine viel zu dicke Daunendecke über einen weiteren heißen Sommertag aus. Maria griff nach ihrem Handy und checkte ihre Nachrichten.
Verdammt, ich hab das Treffen mit den Nachbarn vergessen.
Schnell schrieb sie in den Dinner-in-white-Chat: Sorry, ihr Lieben, in der Kanzlei war die Hölle los. Lohnt es noch vorbeizukommen? GLG Maria. Sie fuhr ihren Computer runter, räumte ihren Schreibtisch auf und packte ihre Sachen zusammen. Ihr Mobiltelefon piepste. Die Nachbarn hatten geantwortet: Alles gut. Planungen stehen, To-do-Listen gehen gleich per Mail raus, kannst deine weißen Klamotten bügeln. Wir sehen uns am Samstag auf dem Platz. GLG Das Planungsteam. PS: Wir brauchen noch eine Lichterkette. Habt ihr eine?
Maria war heilfroh, dass nach diesem Tag niemand mehr etwas von ihr wollte – außer einer Lichterkette. Auf dem Weg zum Auto merkte sie, wie müde sie war. Sie dachte an ihre Mutter.
Nächsten Monat besuche ich dich auf jeden Fall. Ich will mir nicht noch mal in meinem Leben solche Vorwürfe machen müssen. Ich werde dich besuchen. Egal, was kommt. Nächsten Monat. Ich versprech’s.
Die Ehe ist ein Versprechen, und versprochen hat man sich schnell.
An diesen dummen Spruch musste Claudia denken, als sie schon wieder an einer roten Ampel halten musste. In letzter Zeit hatte sie viel darüber nachgedacht, ob ihre Ehe eher ein Versprechen oder ein Versprecher war. Sie glaubte, die Antwort zu kennen. Da diese Grund für viel Trübsal gewesen wäre, stellte sie sich die Frage erst gar nicht. Sie wusste, dass die Verdrängungstaktik zu nichts führte, aber sie konnte nicht anders. Zumindest nicht im Moment. Im Moment blieben viele Fragen ungestellt, weil sie Angst vor den Antworten hatte.
Entgegen ihrer Art tippelte sie nervös auf dem Gaspedal herum, in Habachtstellung, um sofort losfahren zu können, falls die verdammte Ampel jemals wieder grün würde. Schon auf dem Weg zur Schule war sie von einer roten Ampel zur nächsten geschlichen. Beinahe wäre Emil zu spät gekommen. Was ihm ziemlich egal gewesen wäre. Breitbeinig und wortlos hatte er auf dem Beifahrersitz gesessen und Clash of Clans auf seinem Handy gespielt. Als er sich mit einem raschen »Tschau« blicklos von ihr verabschiedet hatte, hatte sie ihrem Siebzehnjährigen eine kurze Zeit hinterhergeschaut. Er war fast acht Jahre jünger als seine Schwester Kerstin und wurde als Nesthäkchen leider zu sehr von ihr verwöhnt. Ihr Herz war schwer geworden, doch bevor sie sich dem hatte hingeben können, war sie vom unhöflichen Hupen eines anderen Autofahrers aus ihren Gedanken gerissen worden. Sie hatte die aufkommende Wehmut mit einer fahrigen Handbewegung verscheucht, so als wäre eine Fliege zu verjagen gewesen, und sich aufs Fahren konzentriert.
Das Ampelsystem hatte auch auf dem Heimweg keine Gnade mit ihr, unbarmherzig schaltete jede Signalanlage kurz vor ihrem Ankommen auf Rot. Bloß gut, dass ich zu Haus schon das meiste auf Vordermann gebracht habe, das würde ich jetzt nicht mehr schaffen, dachte sie, überholte den Langweiler vor sich auf der rechten Spur und zwang ihn dann zum Bremsen, indem sie sich vor ihn drängte. Kein feiner Stil, aber an diesem Morgen konnte sie keine Rücksicht nehmen, wie sie es sonst immer tat.
Als sie mit dem großen Familienvan endlich ankam – ausnahmsweise war sie bis vors Haus gefahren, was streng genommen in dem autofreien Quartier nicht erlaubt, aber möglich war –, wartete Frank bereits. Wie immer sah es aus, als wollte er ausziehen. Silberne Metallkisten, schwarze Hardcoverkoffer und etliche Taschen stapelten sich auf dem Weg durch den Vorgarten. Darin Kameras, Stative, Licht, Tonausrüstung – alles was man brauchte, um Filme zu drehen. Eigentlich reichte Frank bei seiner Arbeit eine kleine Kamera und ein Mikro, denn er und sein Assistent mussten meist schnell und effizient sein. Wenn es um Leben und Tod ging, war eine große Ausrüstung mehr als hinderlich. Aber Frank sagte immer: Man weiß ja nie, was kommt und wozu man sie braucht. Natürlich war das nicht der wahre Grund, aber den wahren Grund würde ihr Mann niemals zugeben, nicht mal sich selbst gegenüber.
»Alles eingepackt. Brauchst du noch was, oder können wir los?«
Frank hatte das Auto schnell und geschickt beladen und stand nun ungeduldig neben ihr am geöffneten Seitenfenster.
»Wir können los«, murmelte sie und rutschte umständlich auf den Beifahrersitz.
Nach den vielen Jahren Ehe wusste sie, dass Frank nicht gefahren werden wollte, sondern selbst fuhr. Immer und überallhin.
»Was hast du denn heute vor?« Er sah sie kurz an und ließ seinen Blick dann zu ihrem Rock wandern.
»Wieso?« Ruckartig wandte sie ihm den Kopf zu. Ohne abzuwarten, ob er vielleicht etwas erwidern wollte, sprach sie weiter. »Nichts, bei mir ist alles wie immer. Außer dass ich mal wieder Lust hatte, einen Rock anzuziehen. Manchmal kann ich die ollen Jeans nicht mehr sehen. Zudem ist es viel zu warm für Hosen.« Ihre Stimme flatterte wie ein Vögelchen, aber er merkte nichts davon. Sie rutschte an ihn ran, so nah es in einem Auto eben möglich war, und schmiegte sich an seinen Oberarm. Das weiße Poloshirt, das sie gebügelt hatte, wie sie all seine Sachen bügelte, sogar die Unterhosen, weil er das so wollte, stand in schönem Kontrast zu seinem braun gebrannten, behaarten Arm. Sie spürte die Wärme und gab sich ein paar Sekunden dem trügerischen Gefühl der Geborgenheit hin. »Ich will, dass du mich in guter Erinnerung behältst«, raunte sie ihm ins Ohr.
Frank schaute sie belustigt an, legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich. Wie der schiefe Turm von Pisa saß sie auf ihrem Sitz, die Mittelkonsole presste sich unsanft in ihre Rippen. Ihre Halswirbelsäule war so verdreht, dass sie schon die ersten Anzeichen von Kopfschmerzen spürte. Unbequemer ging es kaum, aber war nicht das ganze Leben mit Frank unbequem? Wie anders war das damals mit Leonhard gewesen.
Claudias Gedanken schweiften ab. Leonhard … Was hatte sie ihn angehimmelt. Über Jahre. Natürlich nur heimlich wie ein Schulmädchen. Mit ihm war alles leicht und unbeschwert gewesen. Leonhard hatte immer gute Laune gehabt, war immer anwesend und nie von oben herab gewesen. Leider war er ihr Chef. Niemals hätte sie auch nur zu träumen gewagt, dass zwischen ihnen beiden mehr werden könnte. Doch dann war diese Produktion gekommen, für die sie über Wochen hinweg unzählige Überstunden gemacht hatte. Leonhard und sie hatten täglich von morgens bis abends in den Sicht- und Schneideräumen gesessen. Eigentlich war sie als Assistentin für den Papierkram zuständig, aber bei dieser Filmproduktion hatte Leonhard sie mehr denn je gefordert. Immer häufiger hatte er sie in den Schneideraum gerufen, um ihre Meinung zu hören. Oft hatten sie bis tief in die Nacht gearbeitet, und eines Abends waren sie sich tatsächlich nähergekommen. Es war gar nicht viel passiert, ein paar Küsse, während sie darauf gewartet hatten, dass der Rechner die Daten für das geschnittene Filmmaterial speicherte.
Als seine Hände angefangen hatten, über ihren Körper zu gleiten, war sie es gewesen, die sich von ihm gelöst und keine weitere Grenzüberschreitung zugelassen hatte. Sie spürte seine Finger noch immer auf ihrer Haut – wie eingebrannt – und bedauerte im Rückblick zutiefst, dass sie so vernünftig, so moralisch, so blöd gewesen war. Denn seit diesem Tag war alles anders geworden. Er war weiterhin freundlich zu ihr, hatte sie aber kein einziges Mal mehr nach ihrer Meinung gefragt. Sie war auf ihre Assistentinnenrolle zurückgeworfen worden, und es war ihr sehr bald klar geworden, dass sich das nie wieder ändern werden würde. Doch das war nicht das Schlimmste. Die vertraute Nähe zwischen ihr und Leonhard, die ihr an jedem Tag Auftrieb gegeben hatte, hatte sich in nichts aufgelöst. Für Claudia gab es nun keinen Rettungsring mehr, der sie über Wasser gehalten hätte, und sie musste all ihre Energie aufbringen, um nicht nach und nach unterzugehen. Im Job waren der Spaß und das Vertrauen dahin, und zu Hause hatte sie wegen dieser lächerlichen Küsse ein furchtbar schlechtes Gewissen. Nun wagte sie es noch weniger, gegen Franks Machogehabe aufzubegehren.
»Komm Schatz, beweg dich, ich hab’s eilig.«
Franks Worte holten sie in die Gegenwart zurück. Ohne dass sie es bemerkt hatte, waren sie am Flughafen angekommen. Geschickt stapelte ihr Ehemann die Kisten und Koffer, auf denen Dutzende Aufkleber der großen Fernsehsender Europas klebten, auf einen Gepäckwagen. Er selbst trug die Teamjacke mit dem auffälligen Senderlogo und an einem Band um den Hals seine Akkreditierung, die ihn als Reporter im Dienst auswies. Das wäre auf dem Weg zum Einsatzort gar nicht nötig gewesen, aber Frank gab gerne zu erkennen, was er beruflich machte.
Sie bekam einen schnellen Kuss, dann lief er los. Wenn er glaubte, keiner wüsste, warum er wegen des vielen und ungewöhnlichen Gepäcks jedes Mal das ganze Theater mit dem Zoll auf sich nahm, dann täuschte er sich. Claudia wusste Bescheid. Sie sah ihm hinterher, als er wie ein Model auf dem Laufsteg zum Flughafeneingang stolzierte. Wenn er mit den Kisten auf dem Gepäckwagen durch die großen Hallen des Flughafens schritt und merkte, wie die Menschen ehrfürchtig erst auf sein Equipment und dann auf ihn schielten, wuchs er regelmäßig mehrere Zentimeter. Sie kannte seine Eitelkeit nur zu gut. Eigentlich benahmen sich vor allem kleine Männer so. Doch Frank war groß und breitschultrig. Er war nicht im klassischen Sinn gut aussehend, aber er hatte etwas. Dennoch fehlte es ihm an Selbstbewusstsein, und so musste er es sich und anderen immer wieder beweisen, indem er Kopf und Kragen in irgendwelchen Krisengebieten dieser Welt riskierte.
Claudia seufzte. Was hatte sie ihn anfangs geliebt. Und bewundert. Und wie unglaublich glücklich war sie gewesen, als sie schwanger geworden war. Hatte er sie nur deswegen geheiratet? Sie wusste es nicht. Mittlerweile war es müßig, darüber nachzudenken, denn in all den Jahren waren das Glück und die Liebe immer kleiner geworden. So wie man an einer Fleischwurst Scheibe für Scheibe abschnitt und am Ende alles aufgefuttert war, so hatte Frank Stück für Stück ihrer Liebe abgesäbelt. Und nun war nichts mehr übrig – außer vielleicht einem traurigen Rest. Dieses bisschen Gefühl stopfte sie wie so vieles, was ihr in den vergangenen Jahren Kummer bereitet hatte, in einen großen, imaginären Beutel. Es war eine Art Mary-Poppins-Tasche für Gefühle. Alles, was man reinsteckte, verschwand. Egal, wie viel es war. Sehr praktisch.
Frank war zwischen den großen Automatikglastüren verschwunden, ohne sich noch einmal umzudrehen. Claudia nahm wieder auf der Fahrerseite Platz, schob den Sitz ein ganzes Stück nach vorne, schnallte sich an und gab Gas. Sie war auf einmal unglaublich nervös, deswegen fuhr sie besonders vorsichtig. Ein Unfall hätte ihr jetzt gerade noch gefehlt.
Kurz hinter dem Flughafen ging es links nach Hause, doch sie bog nach rechts ab. Sie hatte etliche Kilometer vor sich und musste unbedingt pünktlich sein, sodass sie nun bereits zum zweiten Mal an diesem Tag zu den eher unangenehmen Autofahrern gehörte, tendenziell immer ein bisschen zu schnell und zu dicht auffahrend.
Nach einer knappen Stunde hatte sie ihr Ziel erreicht, und tatsächlich ging ihr Wunsch ans Universum in Erfüllung. Direkt vor dem riesigen Gebäude fand sie einen Parkplatz, was sie als gutes Omen ansah. Schnell fischte sie ihre Tasche von der Rückbank und lief mit eiligen Schritten auf das Haus zu. Für die Schönheit der Blumenanlagen davor, den stahlblauen Himmel und den strahlenden Sonnenschein hatte sie keinen Blick. Ihre Nervosität war von Kilometer zu Kilometer gewachsen. Dafür gab es eigentlich keinen Grund, denn sie war sehr gut vorbereitet, dennoch spürte sie, wie sich die Röte auf ihrem Hals immer weiter ausbreitete. Dummerweise sah sie immer aus wie ein Rotkehlchen, wenn sie aufgeregt war.
Zwei Stunden später hatte sie es geschafft. Sie lief, nein, sie schwebte durch das prächtige Foyer des Gebäudes Richtung Ausgang. Um ihren Mund ein kleines inniges Lächeln, in ihren Augen ein Strahlen. Irgendwie sah sie anders aus als am Morgen, obwohl sie immer noch den halblangen beigen Leinenrock, das einfache weiße Shirt und Sneaker anhatte. Sie wirkte jünger. Dynamischer. Als sie an einem bodentiefen Spiegel vorbeikam, erhaschte sie einen Blick auf sich und drehte sich im Vorbeigehen nach sich selbst um. Es gefiel ihr, was sie sah.
Es gefiel ihr, was sie sah. Der große schlichte Platz mitten im Quartier war einladend geschmückt und sah im weichen Licht der schon recht tief stehenden Sonne so schön aus wie selten. Sie freute sich unbändig auf diesen Abend mit den Nachbarn. Claudia hatte sich – wie es die Kleiderordnung für das Fest verlangte – ganz in Weiß gekleidet. In der hellen, kurzärmligen Bluse mit Lochstickerei, dem Volantrock und den flachen Riemchensandalen sah sie ungewohnt weiblich aus. Die meisten kannten sie nur in praktischen Jeans, T-Shirt und Turnschuhen. Ihr dichtes dunkles Haar hatte sie ausnahmsweise nicht zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sondern mühselig mit der Rundbürste in Form geföhnt. Doch sie bereute bereits, auf den Pferdeschwanz verzichtet zu haben, denn dieser Sommer gab alles, und sie spürte, wie sich die ersten Schweißtropfen im Nacken sammelten. Sie war allein, Frank war auch bei diesem Fest nicht dabei. Was nichts Neues war. Die Krisengebiete weltweit wurden leider nicht weniger, und Franks Arbeit wurde von den Sendern sehr geschätzt. Das Alleinsein tat ihrer Vorfreude keinen Abbruch. Die Vorbereitungen für das Nachbarschaftsfest hatten Wochen gedauert, sie hatte fleißig geholfen, jetzt wollte sie feiern. Schließlich hatte sie etwas zu feiern, auch wenn sie niemandem davon erzählen wollte. Noch nicht.
Sie stand am Rand des Quartierplatzes, der an allen vier Seiten von kleinen, sündhaft teuren Reihenhäusern eingerahmt wurde. Die Bewohner hatten Biertische und -bänke aufgestellt und diese mit weißen Tischdecken, Überwürfen und feinem Geschirr so schön gedeckt, dass sie wie Tafeln in einem Luxusrestaurant wirkten. Über den Tischen schaukelten Glühbirnen, deren warmes Licht zu dieser Tageszeit nur zu erahnen war. Sie hingen in den dürren Ästen der Pappeln, die der Architekt des Q 49 hatte pflanzen lassen. Eigentlich sollten sie an heißen Sommertagen Schatten spenden, doch sie wurden seit Jahren nicht größer. Schuld hatte die Baufirma, die bei der Erstellung des Quartiers der Einfachheit halber und aus Kostengründen den gesamten Bauschutt unter dem Platz entsorgt hatte. Als das ans Licht gekommen war, hatten sich die Nachbarn anfangs furchtbar echauffiert, aber irgendwann waren sie von anderen Sorgen eingeholt worden. Ging mal wieder eine Pappel ein, wurde die Baufirma informiert. Diese ersetzte kommentarlos und schnell den Baum, und gut war es. Man hatte sich arrangiert. Der Bauschutt war das erste Übel, das in dem ökologisch vorbildlichen Quartier einfach vergraben worden war. Tatsächlich gab es mit jedem Jahr mehr Unrat, den die Bewohner gern für immer verscharren würden, wenn es denn möglich wäre.
An diesem Abend hatten sich Schleierwolken vor die Sonne geschoben. Die Strahlen, die durchschienen, ließen die Szenerie wie in Watte gepackt aussehen. In der Mitte des Platzes standen bereits die ersten Bewohner um Stehtische herum. Die Nachbarn in ihren weißen Hosen, Hemden, Blusen und Kleidern und die Tische in ihren strahlend weißen Hussen gaben ein festliches Bild ab. Kein Kind störte diese Stunden, denn entweder waren sie bereits ins Bett gebracht worden und ihr Schlaf wurde nun mittels Babyfonen überwacht, oder sie saßen in den Wohnzimmern vor den Fernsehern, wobei die Größeren auf die Kleineren aufzupassen hatten. Die älteren Teenager waren mit ihren Freunden unterwegs.