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Arbeiterpoetik und Tagebuchaufzeichnungen verbinden sich in diesem ungewöhnlichen Roman zu einem solidarischen und zärtlichen Manifest. »Am laufenden Band« ist die Geschichte eines jungen Mannes, der als Zeitarbeiter in Fischfabriken und Schlachthöfen in der Bretagne arbeitet. In einer einfachen und einfühlsamen Sprache erzählt Joseph Ponthus mit viel Humor von seinem Arbeitsalltag. Er berichtet von Monotonie und Schichtarbeit, von Kälte und Gestank, von körperlicher Erschöpfung und dem allgegenwärtigen Tod von Tieren, aber auch von der Solidarität der Arbeiterschaft und der »paradoxen Schönheit« der Hallen. Während er am Fließband steht und gegen Tonnen von Wellhornschnecken kämpft, erinnert er sich an die Musikerinnen und Schriftsteller, die ihn prägten. Dank Dumas wird er wieder Musketier, mit Apollinaire ist er Lous Liebhaber, mit Marx kämpft er gegen die Auswüchse des Kapitalismus.
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Joseph Ponthus
Aufzeichnungen aus der Fabrik
Aus dem Französischen vonMira Lina Simonin Zusammenarbeit mitClaudia Hamm
DIESES BUCHIST FÜR KRYSTEL UND VERDANKT IHR ALLES
ICH WIDME ES MEINEN BRÜDERN
DEN PROLETARIERN ALLER LÄNDERDEN ANALPHABETEN UND DEN ZAHNLOSENMIT DENEN ICH SO VIELGELERNT GELACHT GELITTEN UND GEARBEITET HABE
CHARLES TRENETOHNE DESSEN LIEDERICH NICHT DURCHGEHALTEN HÄTTE
M.D.G.UNDMEINER MUTTER
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Teil 2
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Ich danke
Zitatnachweise
»Fantastisch, was sich alles ertragen lässt.«
GUILLAUME APOLLINAIRE
(Brief an Madeleine Pagès, 30. November 1915)
Bevor ich in die Fabrik kam
Dachte ich natürlich an
Den Gestank
Die Kälte
Das Schleppen schwerer Kisten
Die Erschöpfung
Die Arbeitsbedingungen
Das Fließband
Moderne Sklaverei
Ich bin dort nicht für eine Reportage hin
Und schon gar nicht für die Revolution
Nein
Die Fabrik ist für die Kohle
Ein Brotjob
Wie man so sagt
Weil meine Frau es satt hat mich auf der Couch auf eine Stelle in
meiner Branche warten zu sehen
Also
Lebensmittelindustrie
LM
Wie man hier sagt
Eine bretonische Fisch- und Garnelenproduktions- und
-verarbeitungs- und -gar- und all das -fabrik
Ich geh dort nicht zum Schreiben hin
Sondern für die Kohle
In der Zeitarbeitsfirma werde ich gefragt wann ich anfangen kann
»Wenn morgens fahle Sonne frühe Gärten bleicht«
Antworte ich so schlicht wie Hugo
Beim Wort genommen fange ich am nächsten Morgen um sechs Uhr
an
Im Laufe der Stunden und Tage setzt sich das Bedürfnis das zu
beschreiben hartnäckig fest wie eine Gräte im Rachen
Nicht die Eintönigkeit der Fabrik
Sondern ihre paradoxe Schönheit
An meinem Förderband denke ich oft an eine Parabel von ich glaube
Claudel
Auf seinem Pilgerweg von Paris nach Chartres trifft ein Mann einen
Arbeiter beim Steineklopfen
Was machen Sie da
Meinen Job
Felsblöcke rollen
Scheiße
Mein Rücken ist hin
Sauerei
Müsste verboten sein
Zum Verrecken
Ein paar Kilometer weiter ein zweiter bei der gleichen Arbeit
Gleiche Frage
Ich schufte
Muss die Familie ernähren
Das ist hart
Aber ist halt so und ist immerhin Arbeit
Das ist das Wichtigste
Noch weiter
Kurz vor Chartres
Ein dritter Mann
Mit strahlendem Gesicht
Was machen Sie da
Ich baue eine Kathedrale
Mögen meine Garnelen und meine Fische meine Steine sein
Ich rieche den Gestank der Fabrik nicht mehr der mir zuerst in die
Nase stach
Die Kälte ist mit dickem Pullover Kapuzenpulli zwei Paar Socken und
langer Unterhose erträglich
Die schweren Kisten lassen mich Muskeln entdecken von denen ich
bislang nichts wusste
Die Knechtschaft ist freiwillig
Fast beglückend
Die Fabrik hat mich gekriegt
Ich sage nur noch
Meine Fabrik
Als sei ich kleiner Zeitarbeiter unter all den anderen irgendwie
beteiligt an der Fisch- und Garnelenproduktion oder den -maschinen
Bald
Produzieren wir auch Muscheln und Schalentiere
Krebse Hummer Seespinnen und Langusten
Ich hoffe bei dieser Revolution noch dabei zu sein
Und Scheren zu klauen obwohl ich jetzt schon weiß
Das wird nichts
Nicht mal die kleinste Krabbe dürfen wir uns angeln
Will man ein paar verdrücken muss man sich gut verstecken
Noch nicht unauffällig genug hat die alte Brigitte gesagt
»Ich hab nichts gesehen aber pass auf wenn die Chefs dich
drankriegen«
Seitdem pul ich sie klammheimlich unter der Schürze mit meinen
drei Paar Handschuhen die mich vor Feuchtigkeit Kälte und
allem anderen schützen und futtere an Naturalien was ich für das
Mindestmaß an Erkenntlichkeit halte
Ich schweife ab
Zurück zum Schreiben
»Ich schreibe wie ich spreche wenn der Feuerengel des Gesprächs
mich zum Propheten macht« schrieb in etwa ich weiß nicht mehr wo
Barbey d’Aurevilly
Ich schreibe wie ich denke an meinem Förderband schwirre alleine
unbeirrbar durch meine Gedanken
Ich schreibe wie ich arbeite
Am Fließband
Am laufenden Band
Die Schicht
Beginnt zwangsläufig am Anfang des endlosen weißen kalten Gangs
Bei den Stechuhren um die wir uns nachts drängen
Um vier
Um sechs
Um sieben Uhr dreißig morgens
Je nach Arbeitsauftrag
In der Entladung also beim Fischkistenleeren
In der Verarbeitung oder Enthäutung also beim Fischezerlegen
In der Garung also bei allem was mit Garnelen zu tun hat
Noch hatte ich zum Glück keine Nachmittags- oder Abendschicht
Beginn sechzehn Uhr Ende um Mitternacht
Hier
Sind sich alle einig
Und bis jetzt sehe ich das auch so
Je früher
Desto besser – auch wenn es nachts zwanzig Prozent mehr gibt –
Dann »haste deinen Nachmittag«
»Wenn schon früh
Dann richtig früh«
Ach was
Acht Stunden Arbeit
Sind acht Stunden Arbeit egal wann
Und dann
Geht man heim
Feierabend
Kommt nach Hause
Gammelt
Döst
Und denkt schon an den Wecker
Egal wann er klingelt
Er klingelt immer zu früh
Nach dem Tiefschlaf
Den Kippen und dem heruntergekippten Wachmachkaffee
Gehts in der Fabrik
Knallhart los
Als hätte es kein Aufwachen gegeben
Gleitet man wieder in einen Traum
Oder Albtraum
Das Neonlicht
Die mechanischen Griffe
Die im Halbschlaf umherschweifenden Gedanken
Das Ziehen Schleppen Sortieren Heben Wiegen Räumen
Wie beim Einschlafen
Versteht man nicht wie diese Griffe und Gedanken ineinanderfließen
Am laufenden Band
Wundert man sich immer wieder dass Tag ist wenn man Pause
machen rausgehen rauchen und einen Kaffee trinken kann
Ich kenne nur wenige Orte mit einer so
Kompromisslosen existenziellen radikalen Wirkung wie
Griechische Heiligtümer
Gefängnisse
Inseln
Und die Fabrik
Kommt man heraus
Weiß man nicht kehrt man zurück in die echte Welt oder verlässt
man sie
Obwohl man ja weiß eine echte Welt gibts nicht
Aber egal
Apoll hat Delphi nicht zufällig zum Zentrum der Welt gewählt
Athene hat die Agora zwangsläufig zum Geburtsort einer
Weltvorstellung gewählt
Das Gefängnis hat das Gefängnis gewählt das Foucault gewählt hat
Licht Regen und Wind haben die Inseln gewählt
Marx und die Proletarier haben die Fabrik gewählt
Geschlossene Welten
In die man willentlich hineingeht
Entschlossen
Und aus denen man nicht mehr herauskommt
Oder wie soll ich sagen
Ein Heiligtum verlässt man nicht unversehrt
Ein Gefängnis verlässt man nie wirklich
Eine Insel verlässt man nicht ohne zu seufzen
Eine Fabrik verlässt man nicht ohne in den Himmel zu schauen
Feierabend
Was für ein schönes Wort
Das man kaum noch benutzt und wenn dann nicht wörtlich
Denn abends
Ist man körperlich
Nicht in der Lage zu feiern
Will nur noch loslassen loswerden duschen die Fischschuppen
abwaschen doch wenn man endlich im Garten sitzt ist es zu mühsam
zum Duschen aufzustehen nach acht Stunden Fließband
Der nächste Tag
Ist für einen Zeitarbeiter
Nie garantiert
Die Verträge laufen zwei Tage höchstens eine Woche
Man könnte meinen wir sind bei Zola
Schreiben das 19. Jahrhundert die Epoche der Arbeiterhelden
Doch wir sind im 21.
Ich hoffe auf Arbeit
Ich warte auf Feierabend
Ich warte auf Arbeit
Ich hoffe
Warten und Hoffen
Fällt mir ein sind die letzten Worte im Graf von Monte Christo
Mein guter Dumas
»Mein Freund, hat der Graf uns nicht gesagt, die ganze menschliche
Weisheit bestehe in diesen beiden Worten: Warten und Hoffen!«
Für wen produzieren wir täglich die vierzig Tonnen Garnelen deren
Haltbarkeitsdatum jeden Tag wieder in einem Monat abläuft
Sechzig Millionen Franzosen müssten also täglich vierzig Tonnen
Garnelen essen
Mit Verlusten würde die Fabrik nicht laufen
Vor vier Jahren wurde die Fabrik zerstört und in
dreihundertvierundsechzig Tagen wiederaufgebaut ganz im Rahmen
der gesetzlichen Versicherungsfrist
Ein Chef hat sie zweimal absichtlich angesteckt munkelt man
Wie fackelt man eine Fabrik ab deren Höchsttemperatur acht Grad
Celsius beträgt
Muss man erstmal schaffen
Muss man wirklich wollen
An was denken meine Kollegen Produktionsmitarbeiter beim
Sortieren ihrer Garnelen welche Ohrwürmer besetzen ihre Köpfe oder
summen ihre Münder vor sich hin
Durch Ohrstöpsel und Fabriklärm hindurch hör ich manchmal
Balavoine und Christophe Maé der sich fragt wo das Glück ist und
Véronique Sanson
Leute die jeder kennt
Unsere gigantischen Förderbandmaschinen
Metallbäuche in denen die Garnelen
Aufgetaut
Sortiert
Gegart
Wiedertiefgefroren
Wiedersortiert
Verpackt
Etikettiert
Und wiederwiedersortiert werden heißen
Coaxial
Ishida
Multivac
Arbor
Bizerba
Jede hat ihre eigene Funktion
Solche riesigen Maschinen muss man erstmal produzieren nur wer
macht das und wo
Sind es weitere Maschinen die die Maschinen herstellen
Und wenn ja welche Fabriken stellen die Maschinen für unsere
Fabrik her
Und in welchen Fabriken stellen dann Maschinen die Maschinen her
die die Maschinen für unsere Fabrik herstellen
Ich spreche nicht von Menschen an den Maschinen sondern vom
Paradigma der Maschine die eine andere Maschine herstellt
Angeblich beschäftigt die Fabrik zwei Drittel Zeitarbeiter und ein
Drittel Festangestellte
Angesichts der Gehälter fragt man sich warum
Das wissen nur die Chefs
Allein
Warum grüßt der graumelierte Chef nie irgendwen während andere
in dieser Maschinenwelt doch recht menschlich sind
Welchen Teil der Maschine verkörpern wir unbewusst selbst
Alle Garnelen kommen tiefgefroren aus Madagaskar Peru Indien
Nigeria Guatemala Ecuador
Exotischen tropischen Reisezielen
Vielleicht Billigflaggen
Bestimmt Handelshäfen
Alle Garnelen kommen ungepult außer die besonders dicken
»Aperitif-Garnelen« die in einem Plastikrund mit einem Gewicht von
einhundertfünfundzwanzig Gramm zu einem Supermarktpreis von
rund fünf Euro als »Kränze« verkauft werden
Oft produzieren wir mehr als zehntausend Aperitif-Garnelen-
Kränze pro Tag mit gut zwanzig Mini-Garnelen pro Kranz
Welche Produktionsmitarbeiter aus welchem Land haben
vor uns so viel gepult
Welche Arbeiter
Für welches Geld
Welche Kinder
Wie sehen die Gesichter der Produktionsmitarbeiter aus
Wie ihr Leben hinter den persönlichen Schutzausrüstungen
Unter den Masken
Hinter den mechanischen Griffen der gegenseitigen Hilfe der
automatischen Freundlichkeit von denen die klaglos schuften
Nicht übers Leben zu reden scheint stillschweigend abgemacht
Die Fabrik geht vor genau wie der Lohn
So viele Garnelen
So viele Fragen
Morgen
»Oh meine Danaidenfässer«
Wie Apollinaire gesagt hat
Oh bodenlose Fässer der vierzig Tonnen Garnelen pro Tag
Nehm ich meine Fabrik wieder auf
Geh ich zu meinen Garnelen zurück
Zur Plackerei derer die nur
Ihre Hände zu verkaufen
Ihre Fürze abzulassen haben
Ihre obszönen Witze um sechs Uhr früh
Was sie auch singen
Welche Fragen sie auch stellen
Beim Sortieren der Garnelen
Existenzielle oder nicht
Ich bin einer von euch
Ein Fabrikarbeiter
Ein Fragenabarbeiter zum Großen Ganzen zu nichts Wichtigem zur
Literatur zu allem anderen zu den Garnelen
Was im Grunde aufs Gleiche hinausläuft
Acht Stunden pro Nacht pro Tag an den Maschinen
Das Wort Garnele fällt mir ein liest man zum ersten Mal bei Rabelais
Das gefällt mir und passt zum sauren Gestank der Fabrik
Die Fabrik verlassen Sonne Wärme tanken falls vorhanden
Rauchen
Heimkommen
Trinken
Vögeln
Weinen
Lachen
Sein Leben woanders leben als bei den Garnelen
Schlafen
Den Wecker stellen
Schlafen wie ein Stein
Morgen zurück zu den Garnelen
Am Montag fange ich um vier Uhr morgens an
Nicht bei den Garnelen sondern beim Frischfisch
Um vier Uhr morgens wenn die Fischer von Guilvinic Douarnenez
der Île-d’Houat oder anderswo aufs Meer rausfahren
Darauf bin ich ein bisschen stolz
Frischfisch des Tages ist bestimmt ne Riesenlieferung Sardinen
Beim letzten Mal waren zehn Tonnen zu sortieren und mit dem
Etikett »Pavillon Frankreich« zu versehen und in Styroporkisten
voller Eis zu stapeln
Es ist Sommer also werden es weit mehr sein als die zehn Tonnen
vom letzten Mal
Schließlich ist Grillzeit
Ich werde beim Sortieren gut aufpassen und die Makrelen und Stinte
herausfischen
Um vier Uhr morgens heißt zwei Stunden früher aufstehen schon am
Vortag starken Kaffee machen das Fahrrad nehmen eine halbe Stunde
in die Pedale treten
Ich werde unterwegs sicher an Vatel denken der sich unter
Ludwig XIV. wegen einer verspäteten Fischlieferung das Leben nahm
Bin ich zu spät und ist es kurz nach vier Uhr morgens sieht meine
Zukunft nicht rosiger aus als die von Genosse Vatel
Am Montag
Um vier Uhr morgens
Beim Frischfisch
Anfang der Woche kam ein neuer Zeitarbeiter der wiegt eine Ladung
Sardinen auf
Er ist nicht nur Drückeberger
Kippenschnorrer
Mitfahrgelegenheitswegschnapper
Nein er ist vor allem genauso kälteempfindlich wie
verständnisresistent
»Ist echt arschkalt in der Fabrik«
»Ist ne Frischfischfabrik da ists besser wenns kalt ist«
»Aber ich trag drei Paar Handschuhe und die Hände sind eisig«
»…«
»Denkst du ich kann den Chef fragen ob wir warmes Wasser in die
Fischkisten mit Eis kippen können das wär zum Arbeiten besser«
Der Gute hat als Kind zu heiß gebadet scheints
Und Arbeiten ist auch nicht so sein Ding
Die Sortierer
Ähneln den Büchermachern in der Gewerkschaft
Sie arbeiten allein
Im stillen Kämmerlein
Und haben echte Vorteile
Im Vergleich zu den anderen Fabrikarbeitern
Sie können sich fünf Minuten Verspätung erlauben
Um vier Uhr morgens bei Schichtbeginn
Ist die Raumtemperatur von acht Grad Celsius recht mild
Sie haben Anspruch auf zwei gesetzlich geregelte Pausen statt auf
eine die der Chef zuteilt
Kurze Zehn-Minuten-Kippe-Kaffee-Pause um sechs
Dreißig Minuten Kaffee-Kippen-Pause um halb neun
Die Arbeit ist nicht ganz so anstrengend
Und eintönig
Fünfundzwanzigkilokisten Fisch leeren und andere
Fünfundzwanzigkilokisten füllen
Klar denkt man da an die Shadoks
Aber ist halt Fabrikarbeit
Und macht Muskeln
Die Maschine geht niemals kaputt
Und die Fischarten wechseln
Seelachse Merlane schwarze Seelachse gelbe Seelachse Haarschwänze
Schellfische Seeteufel und vor allem und noch viel mehr Seelachse
aller Art
Soll ja nicht langweilig werden
Heute haben die Sortierer gestreikt
Alle anderen Arbeiter nicht
Ein Beweis für die errungenen Vorteile
Umso besser die Vorteile haben sie hart erkämpft
Bei Schichtbeginn waren wir nur zu zweit
Nach der ersten Pause kam Verstärkung
Wir haben Kisten um Kisten mit Haarschwänzen und Merlanen
sortiert
Wir haben die Arbeit geschafft
Und während ich das schreibe
Sortiere ich weiter
Nur diesmal Wortarten
Zwischen ein paar Tonnen Seelachsen Haar- und Rattenschwänzen
Hab ich heut dreihundert Kilo Chimären sortiert
Bis heute Morgen wusste ich nicht mal dass ein Fisch dieses Namens
existiert
Meine Chimären kamen nach der Pause
Lustige Fische mit zwei schönen Bauchflossen wie Flügel
Vielleicht heißen sie deshalb so
Vielleicht aber auch nicht
Damit war der Vormittag gerettet
Dass ich mir sagen konnte
Ich hab meine Chimären sortiert
Heut ist der 31. am Nachmittag geh ich zur Zeitarbeitsfirma meinen
Vorschuss holen denn vertragsgemäß werden wir erst am 11. des
Folgemonats bezahlt
Der Vorschuss beträgt maximal fünfundsiebzig Prozent der
geleisteten Arbeitszeit
Die Personalabteilung der Fabrik hat meine Stunden der letzten
Woche noch nicht bestätigt
Heißt ich bekomme nur fünfzig Prozent von dem was ich dachte
Noch eine Chimäre
In der Fabrik
Sortiere ich heut haufenweise Grenadierfische
In der Fabrik
Wünschen sich einige Kollegen selbst Grenadiere zu sein
Im militärischen Sinn des Worts
Seit dem Terroranschlag in Nizza am 14. Juli bei dem ein Lastwagen
in die feiernde Menge raste
Wünscht sich der eine sein Jagdschein hätte eine Sonderzulassung
für »Kakaken«
Die Mischung aus Kameltreiber und Makaken
Wünscht sich die andere man setze alle in ein Boot in den Atlantik
und schwupp unsere Fische hätten gut zu fressen
Verständigen sich viele auf Bürgerwehren wenn die Bullen schon
nichts taugen
Fabrice Le Noxaïc
Der für seinen Jagdschein die Sonderzulassung »Kakaken« will
Versieht mit einem schwarzen Filzstift seine Schutzausrüstung
Stiefel Kittel Hosen Handschuhe systematisch mit seinen Initialen
aber mit dem Nachnamen zuerst also LNF
Die Vorstellung wie es ihm auf den Sack gehen muss FLN zu
schreiben bringt mich zum Lachen
Vielleicht hieße er auch lieber Olivier-Antoine Schultz
Für einen Monat hab ich einen Job in meiner alten Branche
Und zum ersten Mal in meinem Leben
Werde ich Chef sein
Oder na ja
So wie es nicht mehr »Arbeiter« heißt sondern
»Produktionsmitarbeiter«
Werd ich nicht »Chef« sein sondern »Leitender Begleiter«
In diesem Fall bei einem Dutzend Ferienfreizeiten für »Menschen mit
Behinderung«
»Behinderte« sagt man nicht mehr und »Mongis« schon gar nicht
Im Norden Frankreichs zwischen Belgien und Paris
Dienstwagen Hotels und Spesen wenn alles gut läuft
Eine endlose Strecke wenn es sechshundert Kilometer von mir
entfernt Probleme gibt
Aber darum gehts jetzt nicht
Heut hatte ich im Kaff von Ker Breizh dem Zentrum vom Arsch der
Welt der Bretagne eine Schulung um meine Cheffitüde zu trainieren
und meine Teams in spe zu treffen die Teamer und Begleiter
Von heut auf morgen vom Rhythmus der Fabrik zu dem der
Sozialarbeit zu wechseln
Ist als wechselte man von einem Arbeitsbegriff zu einem anderen
und zwar im marxistischsten Sinn des Wortes
Kaffee Kippe Pause Kaffee Kippe Pause »Austausch unter Kollegen«
Kippe Kaffee und so weiter Pause
Garnelen Wellhornschnecken Garnelen Garnelen Kisten und weitere
Kisten und wieder diese Scheißgarnelen und auf die Pause warten die
der Chef zuteilt und wieder Garnelen Wellhornschnecken Garnelen
Garnelen
Hier wie dort Unterordnung und Verkauf meiner Arbeitskraft
Unter der Woche untergeordneter Arbeiter
Diesen Samstag frischgebackener Chef
Eine meiner zukünftigen »Mitarbeiterinnen« in Hippielook wie frisch
vom Festival Vieilles Charrues die Haare in Dreadlocks wie
selbstgedrehte Kippen will mich kurz unter vier Augen sprechen
»Also du bist hier mein Leitender Begleiter«
»Ja«
»Na ja also ich glaub ja unsere Freizeitteilnehmer sollten echt ne gute
Freizeit haben weil ist halt ihre Freizeit«
»…«
»Weil schau uns selbst an wenn man keine gute Freizeit hat ist es halt
auch keine echte Freizeit«
An manchen Samstagen bedauert man seine Arbeitskraft nicht an die
Garnelen und Wellhornschnecken verkauft zu haben die zumindest