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Eine kleine Stadt in einer kargen Landschaft, wo niemand lebt; die einzigen Attraktionen der Gegend sind die Höhlen und der Sandpass, wo man hinfährt, wenn man von allem genug hat. Eine 18jährige verschwindet spurlos; das Einzige, was man weiß: Suse ist mit ihrem Freund Jakob im Auto weggefahren. Viel wird spekuliert: Haben sich die beiden in den Höhlen verirrt? Aber wo ist dann das Auto? Sind sie etwa einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen? Aber der ortsbekannte Sexualverbrecher steht unter permanenter Bewachung. Oder sind sie einfach abgehauen, weg in die Städte, weil ihre Eltern ihnen verboten haben, sich zu treffen? Allein Freddy, Suses Kusine, will genau wissen, was passiert ist. Manche halten Freddy für einen Jungen, niemand nimmt sie ernst, nur der Polizist Kowalski. Er ist griesgrämig, desillusioniert, gesundheitlich angeschlagen und –man muss es leider sagen– ziemlich unfähig als Ermittler. Aber die beiden sind es, die die Suche nach Suse vorantreiben. Dann wird ihr Auto gefunden.
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Seitenzahl: 336
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Am Sandpass
Ralph Johanson wartete auf den Feierabend: Endlich die Unterlagen wegräumen, die Steuerung der Schiebetür ausschalten, und vor allem dass diese Verkaufsgespräche ein Ende hätten. Die Mechaniker der Werkstatt waren schon vor einer halben Stunde nach Hause gegangen.
Sein Schreibtisch stand etwas erhöht, so hatte er den Eingang im Blick, über die Dächer der ausgestellten Autos hinweg. Im Autohaus JOHANSON & SÖHNE standen die drei neuesten Modelle des Herstellers: Ein Kleinwagen, ein SUV, ein Sportcabriolet. Ralph sah wieder auf die Uhr, dann lockerte er den Knoten seiner Krawatte: Noch eine Viertelstunde.
Das Autohaus lag an der Allee des Dritten Oktober, am Rand von Sabel. Hier werden die Gärten größer und die Zäune höher. Jetzt, am Ende des Sommers, hatten die Bäume die Blätter schon verloren; für Pappeln ist es zu trocken hier.
Eine Limousine fuhr gemächlich die Allee hoch; Ralph hatte sie schon im Blick, bevor sie auf den Hof des Autohauses bog. Er kannte den Wagen. Willibald Haraldson hatte ihn zwar nicht bei ihnen gekauft, ließ ihn aber in der Werkstatt warten. Für Reparaturen hatten sie den besten Ruf in Sabel.
Ralph zog den Krawattenknoten wieder fest, aber er blieb sitzen, bis sich die Schiebetür öffnete. Mit einem Ruck erhob er sich und ging der Kundschaft entgegen; nicht zu schnell, gerade angemessen, um sein Interesse zu bekunden.
Herr Haraldson kam nicht alleine. Seine Frau folgte, dann die Tochter, mittlerweile auch schon groß. Hinter ihnen ein Mädchen, das Ralph nicht kannte. Jeder hielt einige Schritte Abstand zum anderen, so als wollten sie nicht zusammen gehören. „Schön, Sie zu sehen“, begrüßte er Haraldson, „was kann ich für Sie tun?“ Er gab ihnen nacheinander die Hand. Bei dem fremden Mädchen sagte Haraldson: „Meine Nichte. Sie ist neu hier.“
Dieses Mädchen sieht seltsam aus, dachte Ralph; ihre Zöpfe passen weder zu dem kantigen Gesicht noch zu ihrer Statur oder den kurzen Hosen; sie sieht aus wie ein Junge, der als Mädchen rumläuft.
Auch das Ehepaar erschien ihm etwas sonderbar, altmodisch wie ihr Auto: Er trug einen Anzug mit breiten Streifen, sie einen gepunkteten Faltenrock, dessen Gürtel die Taille fest umschnürte. Nur die Tochter war aktuell gekleidet; die Mode trägt heute Schwarz.
„Ist das wieder eine Hitze!“ fing Haraldson an. In Sabel ist es üblich, Gespräche mit Klagen über das Wetter zu beginnen; im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt, und dazwischen ist es auch nicht recht. Ralph pflichtete ihm bei, worauf Haraldson ihm die Geschichte seines vertrockneten Rasens erzählte. Plötzlich, mitten im Satz, brach er ab und schaute sich im Geschäft um. „Ich suche ein Auto für meine Tochter“, sagte er. Er sah zu seiner Frau: „Für unsere Tochter natürlich. Sie hat ja jetzt den Führerschein.“ Er erklärte wortreich die Beweggründe für den Kauf, sprach von der Jugend im Allgemeinen, ihrer Gedankenlosigkeit, ihrem Ungestüm. „Kurz und gut: Ich möchte nicht, dass etwas an mein Auto kommt.“
Die junge Frau schien das Ganze zu langweilen, sie sah sich gar nicht die Ausstellungsmodelle an.
„An welche Kategorie hatten Sie denn gedacht?“ Ralphs Blick schwankte zwischen Vater und Tochter. Sie sagte nichts, der Vater machte: „MhM.“
Ralph begann zu schwitzen. Er eilte zum Präsentationspult, wo er nach dem Katalog für die Mittelklassemodelle griff. „Hier haben Sie unser günstigstes Angebot.“ Er begann die Vorteile aufzuzählen, und dachte dabei an eine Theateraufführung vor Publikum, das lieber zu Hause geblieben wäre. Während er redete, bemerkte er, dass die Nichte zur Werkstatt ging und sich dort umschaute; es ist nicht üblich, dass die Kunden in die Werkstatt gehen! „Entschuldigung!“ rief er, „da dürfen Sie nicht hinein!“
Haraldson fragte: „Können wir dann mal eine Probefahrt machen?“
„Selbstverständlich, selbstverständlich!– Kommt sie zurück?“
„Frederieke!“ rief Frau Haraldson. Das Mädchen erwiderte nichts, aber sie kam zurück. Ralph fuhr fort: „Hier das Cabriolet ist vom Fahrgefühl ähnlich wie das Modell, das ich Ihnen gerade vorgestellt habe.“ Er schaute vom Vater zur Tochter zur Mutter. An ihr blieb sein Blick hängen, sie hatte ihn so angestarrt!
„Wieso dann nicht das Cabrio?“ fragte die Tochter den Vater. Der wandte sich an Ralph, erzählte allerlei über die wirtschaftliche Lage generell, und die in ihrer abgelegenen Region im Speziellen, klagte über die hohen Abgaben für mittelständische Unternehmen wie das seine –IHRES DOCH SICHERLICH AUCH!– und was an staatlichen Auflagen nicht alles zu erfüllen sei. Endlich fragte er nach dem Preis.
„Ich kann Ihnen ein günstiges Finanzierungsangebot unterbreiten.“ Ralph geriet ins Stocken: UNTERBREITEN?– muss es nicht heißen: AUSARBEITEN? ERRECHNEN LASSEN? Oder vielleicht einfach MACHEN? Das Mädchen schaute ihn mit einem komischen Lächeln an, als würde sie durchschauen, dass er hier nur Theater spielt.
Herr Haraldson aber lächelte und sagte: „Das ist eine gute Idee, lieber Johanson.“
„Ich möchte jetzt die Probefahrt machen“, sagte seine Tochter.
„Ich hole schnell die Papiere.“ Ralph beeilte sich: DER KUNDE IM AUTO, DAS IST SCHON HALB VERKAUFT.
Also das Cabriolet.Ralph öffnete die Flügeltüren im Autohaus.
„Sie kommen doch mit“, sagte Herr Haraldson.
„Eigentlich“, begann Ralph, „muss ich noch–.“
„Sie müssen uns doch alles erklären, das geht am besten auf der Fahrt.“
„Ja, gut gut. Ich muss gerade noch die Schiebetür ausschalten. Es ist ja schon Verkaufsschluss.“
Als Frau Haraldson die enge Rückbank sah, sagte sie: „Da verzichte ich doch freiwillig. Ich warte beim Café Central auf euch.“
Das ist gut, dachte Ralph, dann wird die Tour bestimmt nicht so lange dauern.
Frau Haraldson schaute von einem zum anderen. Als sie wieder zu Ralph sah, begann sie zu lächeln: „Ich kann mich doch auf Sie verlassen, dass nichts passiert?“ Es klang etwas spöttisch. Ralph versicherte ihr, dass auf seinen Probefahrten noch nie ein Unfall geschehen sei.
„Es ist etwas eng hier“, sagte Ralph, als er sich neben das Mädchen auf die Rückbank drückte, und nach vorne gerichtet zu Vater und Tochter: „Im Coupé bietet der Fond deutlich mehr Platz.“
Er wollte noch die Bedienungselemente des Autos erklären. Aber die Tochter sagte: „Ich kenn mich schon aus!“ Sie startete den Motor, der heulte laut auf; sofort auf die Straße, ohne zu schauen, und an der ersten Ampel bei Rot durch; Ralph erschrak, sagte aber nichts.
Am Ortsausgang das imposante Schild des Touristikamts: AUF EIN WIEDERSEHEN IN DER STADT DES GRASES, STADT DER HÖHLEN– schon vorbei, der Wagen hatte da die Geschwindigkeitsbegrenzung längst überschritten.
Ralph zog es vor, zum Seitenfenster hinauszuschauen. Eine weite Ebene mit nichts als verdorrtem Gras, bis zum Horizont, dort, wo die Berge beginnen. Wenn er so rausschaut, dann muss er nicht mehr daran denken, dass er als Verkäufer hier sitzt; dann ist es wieder ganz wie damals als Kind, wenn die Familie am Sonntag ihre Ausflüge machte und er stundenlang zum Fenster hinausschaute und nichts sagen brauchte. Sie nahmen den Abzweig Richtung Sandpass, es ging jetzt steil bergauf.
„Was für Höhlen?“ fragte das Mädchen neben ihm.
Er schrak aus seinen Gedanken auf. „Ja– Ja, es ist ein ausgedehntes Höhlensystem hier im Karstgestein.“ Er hielt den Mund nah an ihr Ohr, der Fahrtwind hätte seine Worte sonst weggetragen. Sabel liege am Rand der Berge, erklärte er ihr, und die seien so durchlöchert wie ein Käse aus der Schweiz.
„Wie tief geht denn die Höhle?“
Höhlen, ein ganzes System sei das und niemand wisse genau, wie groß. Eine Expedition sei einmal 600 Meter in die Tiefe vorgedrungen und habe dabei mehr als 40 Kilometer zurückgelegt, robbend, kletternd, tauchend. „Richtige Flüsse sind dort unten. Bei uns in Sabel fehlt dann das Wasser.“
Das Mädchen schaute wieder nach vorne auf die Straße. Ralph überlegte, wie er das Gespräch fortsetzen könnte. „Bist du– sind Sie– oder darf ich DU sagen?“ fing er an.
Das Mädchen musterte ihn: „Sicher.“
Er versuchte zu lächeln: „Darf ich nach deinem Namen fragen?“
„Freddy.“
„Bist du schon lange hier– bei uns.“ Er zeigte auf die karge Umgebung.
„Nein, erst ein paar Tage. Sieht es hier immer so aus?“
„Im Frühling ist alles voller Farben“, antwortete er, „da blühen die Berge. Im Sommer verbrennt dann die Sonne die ganze Pracht.“
„Ach so“, sagte Freddy. Sie fand, dass dieser Mann aus zwei Personen besteht: Einem Träumer und einem Schwätzer. So gespalten war auch seine Kleidung: Ein feiner Anzug, aber auf dem Kopf hatte er eine Batchcap.
Er hatte ihren Blick bemerkt und rückte seine Kappe zurecht. „Die Sonne ist zu prall“, entschuldigte er sich.
„Ist es hier immer so heiß?“ fragte sie.
„Die Winter sind so kalt, dass–.“ er suchte nach Worten.
„Ja?“
„Mir fällt kein passender Vergleich ein. Aber es gibt hier immer etwas zu klagen. Nur der Frühling ist wirklich schön.“
„Ach, ich finde auch das hier schön“, sagte sie und schaute zur Seite hinaus; ihren Arm ließ sie im Fahrtwind baumeln. Niemand sagte mehr etwas, ganz so als würde diese leere Landschaft alle Worte aufsaugen.
Sie erreichten den Sandpass: 1723 müNN. „Was?“ rief der Händler, „so weit sind wir gefahren?“ Er wandte sich an die Fahrerin: „Da vorne ist eine gute Gelegenheit zum Wenden. Sie werden sehen, wie leichtgängig das bei diesem Modell ist.“
Die Straße war schmal, rechts und links ging es den Abhang hinunter. „Ja, man kommt sich vor wie auf einer Urlaubsfahrt“, sagte der Onkel. „Kriegst du das hin?“ wandte er sich an seine Tochter.
„Was glaubst du denn?!“ So rasant sie gestartet war, so rasant legte sie jetzt den Rückwärtsgang ein. Der Händler rief ACHTUNG, doch sie verzog keine Miene, selbst als das Heck schon halb über dem Abgrund hing. Freddy mochte ihre Kusine nicht besonders, aber für ihre Furchtlosigkeit bewunderte sie sie.
Auf der Rückfahrt fing der Händler wieder an, weitere Vorteile des Modells aufzuzählen. Der Wind trug seine Worte davon. Es war ein heißer Wind, der keine Kühlung brachte. Als er noch näher ans Ohr des Onkels rückte, sagte der: „Das sagten Sie bereits.“
Das Begrüßungsschild von Sabel war auf der Rückseite des Verabschiedungsschildes: HERZLICH WILLKOMMEN IN SABEL, STADT DES GRASES, STADT DER HÖHLEN. Der Händler saß zusammengesunken auf der Rückbank. Freddy war sich sicher: Er würde seine Zeit umsonst mit ihnen verschwendet haben, denn der Onkel ist zu knausrig, um seiner Tochter ein nagelneues Auto zu kaufen. Freddy sagte: „Ich werd das dann ja sehen.“
Der Händler wachte auf: „Wie? Was?“
„Den Frühling in Sabel, meinte ich.“
„Ah, Sie bleiben also länger hier?“
„Es ist so vorgesehen, dass ich jetzt immer hier lebe.“
Freddy bemerkte seinen fragenden Gesichtsausdruck. „Ja, das muss wohl so sein“, sagte sie.
Sie fuhren auf den großen Platz im Zentrum von Sabel und hielten vor dem Café Central. Ihre Tante saß unterm Sonnenschirm. Obwohl sie in ihre Richtung schaute, winkte sie nicht, selbst als alle ausgestiegen waren.
Der Händler verabschiedete sich: „Ich kann Ihnen versichern, Sie werden zufrieden sein mit dem Coupé.“
Der Onkel lächelte unverbindlich: „Ich muss es mir noch überlegen.“
Seine Tochter sagte: „Ich will dieses Auto hier!“
„Will!“ antwortete ihr Vater. „Von WOLLEN kann hier nicht die Rede sein. Wir werden sehen.“ Er drehte sich noch einmal zum Händler zurück: „Ich melde mich.“
„Ich erwarte Sie!“ Sein verkniffenes Lächeln beim Handschlag. Zu Freddy sagte er: „Vielleicht sehen wir uns ja demnächst noch mal.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Ach ja, mein Name ist Ralph.“
Dieser Mann– Freddy wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Aber ihr gefiel, dass sie jemand tatsächlich wie eine Erwachsene behandelt. „Ja, das würde mich freuen“, antwortete sie.
Sie folgte den anderen zum Café. Die Tante schaute nicht von ihrer leeren Kaffeetasse auf, selbst als ihr Mann direkt vor ihr stand. Er sagte: „Na Schatz, hast du dich gut amüsiert?“
„Amüsiert?“ antwortete sie. „So viel Kaffee kann ich gar nicht trinken!“
„War es etwas lang geworden?“
„Zwei Stunden habt ihr mich warten lassen! Wolltet ihr in Urlaub fahren?“
„Du hättest dich ja melden können.“
„Was denkst du, was ich gemacht habe?!“
„Ach, tut mir Leid. In den Bergen gibt es wahrscheinlich kein Netz.“
„Als wär das eine Neuigkeit! Hier, bezahl mal für mich!“ Sie stand auf und ging zum Familienauto, wo sie sich hinters Steuer setzte. Ihr Mann beglich ohne Kommentar die Rechnung.Ralph kam um neun Uhr nach Hause. Seine Frau saß vor dem Fernseher; das ist ihre Art, auf ihn zu warten. „Wie war`s im Geschäft?“ fragte sie.
„Nichts Besonderes. Die Haraldsons haben einen Gast. Es scheint auf Dauer zu sein.“
„So?“
„Ja, wohl auf Dauer.“ Er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich in seinen Sessel, am entgegengesetzten Ende des Wohnzimmertischs. „Was macht Danny?“ fragte er.
„Daniel ist wieder oben vor dem Computer. Schon seit Stunden!“ Ein auffordernder Blick von ihr; er zog es vor, nach vorne auf den Bildschirm zu schauen.
„Sag mal was!“
„Ja, ich geh mal zu ihm hin“, antwortete er.
„Demnächst, oder wann?“
„Er hat doch noch Ferien.“
„In drei Tagen fängt die Schule wieder an. Er sollte sich schon mal vorbereiten.“
„Ach, Ferien sind doch Ferien.“ Er schaute zu ihr hinüber, jetzt starrte sie auf den Bildschirm. „Worum geht`s denn da?“ fragte er.
„Ein Sozialdrama. Familie im Prekariat“, las sie aus der Programmzeitung vor. „Sie ist Architektin, er Übersetzer, und beide sind ständig in Auftragsnot.“ Sie schaute zu ihm auf: „Um die Kinder kann sich da natürlich keiner richtig kümmern.“ Er vernahm ihren Vorwurf. „Wie gut, dass es uns besser geht“, fügte sie hinzu.
„Ja.“ Sollte er ihr von seinen Sorgen erzählen? Er kannte ihre Entgegnung: DU GLAUBST DOCH NICHT ETWA, WIR KÖNNEN VON MEINEM GEHALT ALLEINE LEBEN? Dabei ist sie Lehrerin, hier am Gymnasium, und bekommt wie alle Staatsbediensteten eine Zulage, weil Sabel so abseits ist.
Er ging auf die Terrasse. Selbst in der Stadt kann man viele Sterne erkennen, die Luft ist sehr sauber hier. Ralph hatte nie woanders leben wollen. Er überlegte, dass es schön wäre, mal wieder nachts mit dem Teleskop in die Berge zu fahren; wieso nicht heute?
Die Tür ging auf, sein Sohn trat neben ihn: „Hallo, Papa.“
„Hallo. Wie geht`s?“
„Hat die Mama sich schon wieder beschwert?“
„Na, du weißt ja“, antwortete Ralph.
„Ja, ich weiß.“
„Willst du mal wieder mit mir Sterne gucken fahren?“
„Wann, heute?“
„Ja, wieso nicht.“
„Mhm.“ Sein Sohn zögerte.
„Keine Lust?“ Es sollte aufmunternd klingen. Ralph wollte nicht aufdringlich sein.
„Ach, ich muss noch einige Sachen für die Schule vorbereiten. Du weißt ja.“
„Ja, ich weiß“, antwortete Ralph. Er sah seinem Sohn hinterher, wie er drinnen ein paar Worte mit seiner Mutter wechselte. Er zögerte hineinzugehen. Es war nicht so, dass er die Gegenwart seiner Familie unerträglich fand; nur dachte er abends manchmal, dass er nicht hierhin gehöre. Schließlich ging er doch wieder ins Wohnzimmer und setzte sich eine Weile in den Sessel. Der Film langweilte ihn. „Ich fahr noch etwas raus“, sagte er.
„Ja, tu das“, antwortete sie ohne vom Fernsehen aufzuschauen.
Ralph hatte sich eine dicke Jacke angezogen und Handschuhe eingesteckt. Im September wird es nachts schon ziemlich frisch. Er kennt sich gut aus in der Gegend. Nur wenige Kilometer von Sabel entfernt gibt es eine Stelle, wo keinerlei Licht stört. Hier ist es so ruhig, dass man die Mäuse hören kann, wenn sie über die Felsen huschen. Er stellte sein Teleskop auf. Es war ein semiprofessionelles Gerät, ziemlich teuer; man kann eine Kamera daran anschließen und sogar Details auf dem Mars erkennen. Aber momentan stand der Mars in Konjunktion zur Erde, dass man ihn nachts nicht sehen kann.
Ralph hatte schon als Kind ein Teleskop gehabt. Mit den Jahren hatte die Begeisterung für die Sternenbeobachtung nachgelassen. Auch an diesem Abend schaute er nur kurz durch das Gerät; ist es doch vor allem der Klang der Stille, den er hier sucht.
Er legte sich auf den Felsen, die Hitze des Tages war noch darin gespeichert. All die Sterne, wie klein wir doch sind, so unbedeutend. Und selbst diese Milliarden von Sonnen schaffen es nicht, das Universum zu erhellen; der Raum zwischen ihnen bleibt kalt und schwarz. Ruhe überkam ihn. Alles, was ihn bedrückte, wurde gering, und er bekam eine Ahnung von Gott, oder der Ordnung; aber das ist vielleicht dasselbe. Er wurde müde und schlief ein.
Als er aufwachte, war es schon weit nach Mitternacht. Ursus Maior, der Große Wagen, stand gegen Nordwesten. Der Felsen zeigte jetzt sein kaltes Herz, Ralph war froh um die Handschuhe. Rasch packte er das Teleskop zusammen. Auf der Straße war er allein, und auch in Sabel war es dunkel; nachts sind dort nur wenige Straßen beleuchtet.
Bei ihnen im Schlafzimmer war etwas Licht. Seine Frau lässt im Bad immer eine Lampe brennen und die Tür einen Spalt breit offen. Sie sagt, schon als kleines Kind mochte sie nicht im Dunkeln schlafen. Tagsüber ist seine Frau gar nicht ängstlich, da nimmt sie es mit den rabiatesten Schülern auf; nicht einmal vor deren Eltern hat sie Angst.
Der Lichtstreifen aus dem Bad fiel auf ihr Gesicht. Ralph blieb einen Moment stehen. So sanft sieht sie jetzt aus; es erinnerte ihn daran, warum er sich einst in diese Frau verlieben konnte.Herr Haraldson rief erst am nächsten Montag an. Er habe sich das Angebot gründlich durch den Kopf gehen lassen und sei zu dem Schluss gekommen, einmal nachzufragen, ob sich noch etwas am Preis machen ließe.
„Eigentlich sind alle Rabattmöglichkeiten ausgereizt“, antwortete Ralph.
„Ist das Ihr letztes Wort?“
„Ja, wissen Sie–.“ Ralph suchte nach einer Erklärung.
„Ja?“
„Ja, bei Barzahlung des gesamten Kaufpreises könnte ich Ihnen noch einen Skonto von 1,5% gewähren.“
„Sind nicht 3% üblich?“
„Ja, wissen Sie–.“ Er hätte jetzt wie Haraldson klagen müssen über die wirtschaftliche Lage, die im Allgemeinen und die im Speziellen – wie lächerlich! Aber er musste etwas sagen; Haraldson verstand sich darauf, zum richtigen Zeitpunkt zu schweigen. „Also gut“, sagte Ralph, „2%.“
„2,5? Ich käme auch sofort vorbei, ja?“
„Okay. 2,5.“
Als Herr Haraldson zwanzig Minuten später vorfuhr, bedauerte Ralph schon längst sein Zugeständnis. Für das Unternehmen bliebe kaum etwas übrig.
Diesmal kam nur seine Tochter mit. Sie war wie letztens in Schwarz: Schwarzes Netzhemd über schwarzem T-Shirt über schwarzer Hose über schwarzen Boots; die Fingernägel schwarz lackiert, die Augen schwarz umrandet und die Haare waren auch schwarz. Ralph konnte sich erinnern, dass sie als Mädchen mal blond war. Über der Schulter hing ihre Schultasche; natürlich auch in Schwarz. Bei der Begrüßung schaute sie Ralph nur kurz an, aber es schien ihm, als würde ihr Blick ihn röntgen. Kein Lächeln.
„Möchten Sie einen Kaffee?“ fragte er und wies auf den Kaffeeautomaten für die Kundschaft.
„Gerne. Du auch?“ Haraldson wandte sich an seine Tochter. Sie wollte nicht. Ralph bediente ihn –SCHWARZ? MIT ZUCKER?– und sortierte daraufhin die nötigen Papiere. Alles schien klar, bis Haraldson fragte: „Welche Farben haben Sie denn zur Auswahl?“ Selbst seine Tochter zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
Ralph sagte: „Es gibt keine Auswahl. Mein Angebot gilt für den Wagen, der da steht, Entschuldigung.“
„Das ist aber kein Neuwagen.“
Ralph schloss kurz die Augen; diesmal würde er nicht nachgeben! Aber noch bevor er sich Entgegnungen zurechtgelegt hatte, sagte die Tochter: „Natürlich nehme ich den Wagen, wie er da steht.“ Und zu ihrem Vater gewandt: „Glaubst du etwa, ich will noch Wochen warten?! Du lässt mich ja sowieso nicht mit deinem fahren.“
„Das wär ja auch noch schöner“, sagte er. Er schaute zur Decke und schwieg für den Rest der Verhandlung. Die Tochter gab alle Informationen, die Ralph zum Ausfüllen der Formulare benötigte, der Vater musste nur noch ein paar Unterschriften leisten.
Herr Haraldson hatte tatsächlich 30.000 in bar mitgebracht, alles in 50ern. „Frisch gedruckt“, scherzte er und holte sechs Bündel aus seinem Aktenkoffer. „Die Bank hat sie schon gezählt.“
„Sie gestatten, dass ich nachzähle. Auch Banken können sich vertun.“ Als er damit fertig war, sagte er: „Wir können die Anmeldung gerne für Sie übernehmen. Das dauert ungefähr fünf Tage. Sie wissen ja–.“
„Ich mache es selbst“, sagte Tochter Haraldson.
„Das sollte innerhalb von drei Tagen geschehen. Sie wissen ja–.“
„Kein Problem.“
Als ihr Ralph die Schlüssel und Papiere aushändigte, erschien für einen Moment ein schmales Lächeln auf ihrem Gesicht: „Danke.“
Er öffnete die Flügeltüren, die Tochter startete und fuhr in ihrem rasanten Stil auf die Straße. Herr Haraldson war sitzen geblieben. „Ein schönes Geschäft haben Sie“, sagte er. „Mein Hotel–.“ Er schluckte seine Klagen herunter. „Haben Sie schon gehört. Der Kaczek ist wieder raus.“
„Kaczek, Kaczek?“ Ralph hatte den Namen schon mal gehört. „Ach ja, war da nicht letztens eine Notiz in der Zeitung?“
„Ja, sie wollen es möglichst klein halten“, antwortete Haraldson.
Ralph erinnerte sich: Kaczek, der Vergewaltiger; der, der dreimal Frauen in die Höhlen verschleppt hatte, eine war später an den Folgen der Misshandlung gestorben; ein Kinderschänder, eine der Frauen war ein Mädchen von 15 Jahren gewesen; hatte Lebenslang bekommen, und war jetzt nach 15 Jahren probehalber entlassen. „Lebt er nicht neuerdings wieder bei seinem Bruder hier in Sabel?“
„Allerdings! Keine Sicherungsverwahrung, und er ist nicht mal therapiert worden.“ Haraldson beugte sich in seinem Stuhl so weit vor, dass sein Kinn fast die Schreibtischplatte berührte. „Ist das GERECHT?“
„Na ja“, antwortete Ralph.
„Wir haben beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen.“
„Wer?“
„WIR, die Bürger von Sabel.“
„Hat der Stadtrat das beschlossen?“
„Der Stadtrat! Der Stadtrat! Bis die was beschließen, sind unsere Frauen alle–.“
„Na ja.“ Ralph war der Ton unangenehm; was ereifert der sich so? War seine Frau betroffen damals? Nein. Seine Schwester? Nein. Niemand in seiner Familie.
„Das kann man doch nicht zulassen! Schließen Sie sich uns an!“
„Was denn?“
„Eine Mahnwache. Vor dem Haus von dem Bruder. Wir bewachen ihn Tag und Nacht, dass er nichts anstellen kann. Unterstützen Sie uns.“ Er versuchte Ralph in derselben Art anzuschauen, wie es seine Tochter vorhin gemacht hatte; aber er hatte nicht diesen Röntgenblick. „Es ist wichtig“, fügte er hinzu.
„Ach, wissen Sie. Das Geschäft, die Familie, es gibt so viel zu tun.“
Haraldson ließ sich in den Stuhl zurückfallen. „Ja, ich verstehe schon.“ Plötzlich sprang er auf und streckte Ralph die Hand entgegen: „Ich habe ja auch viel zu tun. Das Hotel und– damit alles schön für die Gäste ist.“
Er eilte zu seinem Wagen zurück und stieg ein. Doch als Ralph eine Minute später noch einmal rausschaute, stand der Wagen immer noch da, und Haraldson saß bewegungslos hinter dem Steuer, als hätte ihn sein abrupter Aufbruch zu sehr erschöpft. Haraldsons Hotel war einmal das erste in der Stadt gewesen. Bis eine der landesweiten Billigketten ein Gebäude aus Fertigteilen am Stadtrand errichtet hatte und die Geschäftsleute auf der Durchreise abfing.
Endlich startete er den Wagen. Diese alten Motoren haben doch noch einen unverwechselbaren Klang, dachte Ralph. Früher, als er und sein Bruder nach der Schule zum Vater ins Autohaus gekommen waren, machten sie immer einen Wettbewerb daraus: Wer erkennt als erster am Klang Marke und Typ der vorbeifahrenden Autos. Sein Bruder war meistens schneller, so wie er überhaupt geeigneter war für Autos. Aber sein Bruder ist seit zehn Jahren tot. Nur deshalb ist es jetzt seine Aufgabe, die Familientradition fortzuführen.
Der Werkstattmeister kam kurz herein, um sich einen Kaffee zu nehmen. Alle Mitarbeiter hatten die Erlaubnis dazu. „Chef, wir müssen heute Überstunden machen.“
„Ich werde gleich nach Hause fahren. Denken Sie an die Alarmanlage, wenn Sie gehen, ja?“
„Wird gemacht, Chef.“
Wenigstens die Werkstatt läuft gut: Die Autos heute, die alle gleich klingen, haben auch alle die gleichen Probleme. Automatik hier, Assistent da, meist liegt der Fehler in der Elektronik. Es wäre wohl besser, wenn sich sein Unternehmen auf Reparaturen spezialisieren würde, den Autoverkauf sollten sie aufgeben. Aber was für eine Aufgabe hätte ich dann noch? Hab ja nicht mal ein ordentliches Handwerk gelernt.FREI! Frei. Frei? Über ihren Ellenbogen im Fensterrahmen strich der Wind, während sie das Lenkrad locker festhielt. Mit der anderen Hand holte sie die Zigarettenschachtel aus ihrer Tasche. Sie drückte den Zigarettenanzünder hinein. Endlich kann sie fahren, muss niemandem mehr erklären, wohin, bis wann, mit wem. Ihr Phone hatte sie ausgeschaltet; kann man doch nie wissen, wer einem hinterher spioniert.
Nach 10 Kilometern bog sie von der Hauptstraße ab, auf einen schmalen Weg. An einigen Stellen war der Asphalt noch erhalten, der Rest war Schotter. Im Rückspiegel sah sie lediglich eine dichte Staubwolke, die hinter dem Wagen in den Himmel stieg. Hier draußen also wohnt er: Jakob. JAKOB! Ein schöner Name, biblisch. Ihr eigener hingegen so langweilig: Suse. Jakob, mit dem sie erst zwei oder dreimal auf dem Schulhof gesprochen hatte. Jakob, der so eine weiche Stimme hat. Jakob mit dem Flaum auf der Oberlippe– Hör auf zu schwärmen, Frau!
Der Weg wurde immer schlechter, ausgehöhlt vom Winterregen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich auf dem richtigen Weg war; sie hatte es bei Google nachgeschaut; wie weit draußen die wohnen! Ihr Vater hätte nicht wissen dürfen, dass sie hier ist, bei den TAUGENICHTSEN. Ihr Vater ist nicht gut auf Jakobs Familie zu sprechen. Vor Urzeiten muss da mal was gewesen sein, wegen einer Frau.
Büschel von Gras, dazwischen der karstige Boden, eine Landschaft ohne Farbe. In der Ferne tauchte die Farm auf. Je näher sie kam, desto kleiner erschien sie. Als sie das Tor zum Grundstück erreicht hatte, war es nicht mehr als ein flaches Haus, eher eine Hütte, mit einem Schober daneben, der langsam verfiel. Jakob arbeitete hinten am Zaun, er hämmerte Pfosten in den Boden. Sie stieg aus. Als sie sich näherte, schaute er hoch. Sie rief: „Was machst du da?“
„Ich flick die Zäune. Und was machst du hier?“
Sie stellte sich neben ihn, er arbeitete weiter. „Sollen wir `ne Tour machen?“ Sie zeigte auf ihr Auto.
Für einen Moment schaute er dorthin. „Schick“, sagte er, „ist das deins?“
„Ja, seit eben. Und? Machst du eine Tour mit?“
Er kratzte sich an der Stirn. Ihr fiel auf, wie schlank seine Finger sind; keine Hände für grobes Werkzeug.
„Weißt du, mein Alter–“, fing er an.
„Hast du Schiss?“ Ist er etwa ein Angsthase? „Kannst ja sagen, wir müssen was für die Schule machen.“
„Okay. Aber setz dich ins Auto, er muss dich ja nicht gleich sehen.“
Sie ging zurück, während er im Haus verschwand. Nach gut fünf Minuten kam er wieder, die Haare noch feucht, ein neues T-Shirt an. „Na, du hast aber schnell geduscht“, sagte sie. Sie nahm ihre Tasche vom Beifahrersitz und warf sie auf den Rücksitz.
„Man tut, was man kann.“ Er ließ sich neben sie fallen. „Dann mal los!“
„Wo sollen wir hin?“ fragte sie.
„Fahr mal.“
Sie fuhren zurück zur Hauptstraße. „Links? Rechts?“
„Nur weg“, antwortete er. „Lass uns zum Sandpass.“
„Kannst du mir mal aus der Tasche eine Zigarette geben? Nimm dir doch auch eine“, sagte sie.
„Das ist ja`n Durcheinander“, bemerkte er, als er ihre Tasche durchsuchte.
Der Zigarettenanzünder sprang heraus, und sie hielt sich das glühende Metall an die Zigarette. „Hast dir ja doch keine genommen.“
„Ach, im Augenblick–.“
Als er nicht weitersprach, deutete sie auf den Zigarettenanzünder: „Dass Autos überhaupt noch so Dinger haben.“
„Wieso meinst du?“
„Na, weil sie heute doch alle so viel Angst um ihre Gesundheit haben.“
„Ach du meinst, weil niemand mehr raucht. Man braucht sie noch als Stromanschluss. Falls du im Auto fernsehen willst.“
Sie lachte. Sie war froh, dass er überhaupt was redet; Jakob gilt auf dem Schulhof als Ganz Schweigsamer. Sie sagte: „Dabei sterben wir alle sowieso. Nur verpassen die vor lauter Angst um ihre Gesundheit noch ihr Leben.“
„Wohl wahr.“ Er schaute aus dem Fenster.
Sie schnipste die Asche in den Fahrtwind. „Sag doch mal was“, sagte sie schließlich.
„Du musst aufpassen wegen Feuer.“
„Ach, bist du–!“ Sie drückte die Kippe dann aber im Aschenbecher aus. Wenn er nicht redet, muss halt ich– sie sagte: „Ja, weißt du, das sind so Typen wie der Autohändler letztens, mit dem wir die Probefahrt gemacht haben– übrigens sind wir da auch zum Sandpass gefahren.“
„Was war mit dem Händler?“
„Na, halt so`n Typ mit spitzem Mund und hässlicher Brille. Der würd dir sogar seine Großmutter verkaufen, wenn er dadurch Gewinn macht.“ Welchen Schwachsinn red ich da?! Sie sagte: „Was meinst du dazu?“
„So`ne Typen kenn ich. Sind überall in der Stadt.“
„Und in der Schule, und– ich möcht niemals so werden wie die!“
„Dann musst`e weg von hier.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich werde wie die“, sagte sie. Er antwortete nicht.
„Is ja klar“, sagte sie, „wir tun das alles nur, um nicht an den Tod zu denken. Das ist doch schrecklich. Oder, was findst` du?“
„Ganz schön morbide. Fahr mal nicht so schnell.“
Suse kann Kritik nicht leiden; aber sie wusste, dass er Recht hat, und ging etwas vom Gas. Die Straße war kurvenreich und führte steil bergan. Schließlich erreichten sie die Passhöhe. Die Luft hier oben war frisch, fast schon kühl, obwohl die Sonne schien. Kaum dass hier etwas Gras wächst; ansonsten nur Flechten auf dem Fels. „In der Stadt riecht es schon nach Herbst“, sagte Suse.
„Ja, Herbst.“
„Man riecht das Ende.“
Sie standen nebeneinander und schauten in die Ebene. Es war nicht zu erkennen, wo Horizont und Himmel miteinander verschmolzen. Hinter ihnen, dort wo die Straße den höchsten Punkt passierte, stand ein Fahnenmast; die zerzauste Nationalflagge schlug im Wind. Der Schrei eines Adlers und Stille.
„Es kommt mir so vor, als wären wir die einzigen Menschen auf der Welt“, sagte sie.
Er stand nur da und schaute in die Ferne. Was er dort sah, konnte sie nicht mal erraten. Es war, als wolle er sich durch den Anblick hypnotisieren.
„Sag mal, weißt du eigentlich–.“
Nach einiger Zeit fragte er: „Was?“
„Ach nichts.“ Der Zwist zwischen ihren Eltern; die Frage kam ihr plötzlich zu persönlich vor. Sie trat etwas näher zu ihm. „Was machst du, wenn du`s Abi hast?“
„Jedenfalls nicht hier bleiben. Selbst wenn ich`s nicht schaffe.“
„Ist es so knapp bei dir?“
„Ich sollte mehr tun.“
Sie standen jetzt so nahe beieinander, dass ihre Schultern sich fast berührten. Als sich Suse ihm zuwandte, war sein Blick noch immer in die Ferne gerichtet. Einen Scherz machen? Seine Hand nehmen? Nach einem Moment wandte sie sich zurück zum Auto. „Lass uns fahren!“ Ihre Stimme war härter als gewollt.
Sie saß schon im Auto und hatte sich eine Zigarette genommen, als er endlich kam. Auf der Rückfahrt schwiegen beide. Erst an der Stelle, wo der Weg zu Jakobs Haus abzweigte, sagte er: „Du kannst mich hier rauslassen.“ Er blieb aber sitzen, nachdem sie schon angehalten hatte. Mit einem Ruck wandte er ihr den Kopf zu: „Ich hab mich sehr– ja schön, dass du vorbeigekommen bist.“ Kurz berührte er ihre Schulter, dann stieg er aus, die Hand zum Gruß erhoben. Sie winkte ihm nach, aber da hatte er sich schon weggedreht.
„Scheiße!“ rief sie und schlug so hart aufs Lenkrad, dass ihr die Hand davon weh tat.Spätestens mit Ankunft am Hotel hatte sich ihre Euphorie verflüchtigt. GRAND HOTEL; die Leuchtbuchstaben überragten das Dach des Hauses. Es kam ihr lächerlich vor; als wärs eines der Traumschlösser von ihrem Bruder, die der sich für seine Modelleisenbahn bastelt.
Der Wohnbereich der Familie lag in einem Anbau hinter dem Hotel. Ihr Vater wünscht es nicht, dass die Familienmitglieder durch die Lobby gehen; meistens wird sein Wunsch ignoriert. Jetzt, wo sie ein Auto hat, wird sie immer von hinten kommen, vom Parkplatz her.
Sie warf ihre Schultasche unter die Garderobe, schlüpfte aus den Boots und wollte gerade weiter zur Küche gehen, als sich Mutter ihr in den Weg stellte: „Schon mal was von GUTEN TAG gehört?“
„Tag. Und, darf ich mir jetzt vielleicht was zu essen nehmen?“
„Räum erst mal dein Zeugs aus der Diele. Überall stolpert man!“
„Okay, okay.“ Sie schob die Boots mit dem Fuß an die Wand und warf die Tasche auf die unterste Treppenstufe: „Nehm ich gleich mit hoch. Darf ich jetzt mal durch?!“ Wie ihr diese ganzen Vorschriften zum Hals raushängen!
Mutter rief: „Hast ein Auto jetzt und bist noch immer nicht zufrieden!“
Suse nahm sich ein Stück Käse, ein Brot, schnitt Tomaten, und wusste die ganze Zeit, dass Mutter ihr dabei zuschaut– weil sie immer noch auf eine Antwort hofft; da kann sie aber lange warten! Suse nahm den Teller und ging zu ihrem Zimmer hoch. „Dass die Teller auch ja wieder runterkommen!“ rief Mutter hinterher.
Was redet die im Plural? „Ich lass nie was oben!“ rief Suse zurück. Sie stieß die Zimmertür mit dem Fuß zu. Ihre Mutter: Eine Hausfrau, immer am nörgeln, nie zufrieden!
Suse setzte sich auf die Fensterbank, einen Fuß auf den Dachziegeln. Unten auf der Veranda lag die Kusine in der Hängematte, ein Glas neben sich, mit einem Strohhalm, als wäre sie im Urlaub. Und ständig diese Trauermiene! Ist die wirklich so traurig?
Suse ging mit dem leeren Teller hinunter. Sie nahm auch älteres Geschirr mit, so viel sie tragen konnte, und stellte es auf der Spülmaschine ab. Mutter rief von nebenan: „Häng noch die Wäsche auf!“
„Könnt ihr euch nicht endlich mal `nen Trockner anschaffen?“
Ihre Mutter steckte den Kopf in die Tür: „Wenn du die noch lange feucht in der Maschine lässt, wird sie wieder riechen. Dann beschwer dich nicht!“
Suse holte die Wäsche aus dem Keller. Mit dem Korb ging sie auf die Veranda. Sie sagte: „Frederike, du kannst auch mal was tun.“ Sie fing an, die Sachen auf die Leine zu hängen. Die Schnüre waren quer über die Veranda gespannt. „Hast du gehört?“ sagte Suse. Sie hängte eine Hose so knapp über die Hängematte, dass sie fast den Strohhalm der Kusine berührt hätte– stört die nicht mal! Suse sagte: „Hast du Bohnen in den Ohren?!“
„Ich heiße Freddy.“
„Dann also: FREDDY. Beweg gefälligst deinen Arsch!“
Nach einer Weile stand Freddy aus der Matte auf und half. Suse fragte: „Bist du wirklich so traurig, oder wie?“
„Traurig?“ fragte Freddy, „was meinst du damit?“
„Na ja, wegen deinen Eltern und dem Unfall.“
„Es ist mehr so– das Geräusch da“, antwortete Freddy.
„Wie meinst du?“
„Weißt du, als sich der Stahlträger ins Auto bohrte, da gab es so ein Geräusch– ein Schaben, wie Metall auf Knochen. Ich hab es immer noch im Ohr. Wenn ich so liege, wie eben.“
„Dann solltest du besser nicht so faul da rumliegen.“ Sie sah ihrer Kusine dabei zu, wie sie die letzten T-Shirts aufhängte. Als Freddy fertig war, fragte Suse: „Hast du da eigentlich gar nichts abbekommen?“
Freddy hob ihren Pony. Auf beiden Seiten der Stirn zogen sich zwei gerade Wunden entlang, sie waren fast vernarbt. „Seh ich nicht aus wie Frankenstein?“
„Na ja, die Narben werden wohl bleiben“, antwortete Suse, „aber sei froh, dass du kein Mann bist. Die bekommen da ganz schnell `ne Glatze.“
Als Freddy zurück in die Hängematte wollte, sagte Suse: „Das ist nicht deine!“ Sie schob ihre Kusine beiseite und ließ sich selber hineinfallen. Vom Tisch angelte sie sich ein Urlaubsmagazin, in dem sie herumblätterte. Freddy wartete einen Moment, dann ging sie.
Sommer, Sonne, Sand und Strand; wie wäre es unter Palmen zu liegen und den ganzen Tag nichts zu tun? Mit dem Auto so weit zu fahren, bis die Straße im Meer endet? Mit Jakob. Sie träumte.
Die Schritte ihres Vaters holten sie aus dem Halbschlaf. Seit einiger Zeit schleifen seine Füße immer über den Boden; aber nur, wenn er glaubt, allein zu sein. Sie bewegte sich nicht. Er stand am Geländer und starrte auf das kleine Stück Rasen zwischen Veranda und Parkplatz. Es war komplett vertrocknet.
Willi Haraldson erwartete nichts mehr; gibt es doch Momente, da ist der Kopf so voll, dass man keinen Gedanken mehr fassen kann. Als sich die Hängematte bewegte, schrak er hoch. Es war seine Tochter; hat sie mich etwa die ganze Zeit beobachtet? Nur lächeln, egal wie schwer es fällt! „Na“, sagte er, „wie war die erste Fahrt in deinem neuen Auto?“
„Ja, schön.“
„Und, wo warst du hingefahren?“
Suse folgte dem Blick ihres Vaters. Aber sie konnte nicht erkennen, ob er da etwas sah, wo er hinstarrte. „Ist das eine Inquisition?“ fragte sie.
Vater wandte ihr den Kopf zu; ein verständnisloser Blick. Sie begriff, dass er seine Frage lediglich aus alter Gewohnheit gestellt hatte und nicht, um sie zu kontrollieren. „Zum Sandpass“, antwortete sie.
Es dauerte etwas, bis er reagierte. Aber als er sich zu ihr umdrehte, lächelte er: „Weißt du, dass ich damals auf meiner ersten Fahrt alleine– da bin ich auch zum Sandpass hoch.“
„So was“, antwortete sie, erstaunt, dass ihr Vater etwas aus seinem Leben erzählt. „Ja, danke auch noch mal für das Auto“, sagte sie.
„Ja, ja. Bitte.“ Er zögerte.
Sie fragte: „Und? Fährst du jetzt auch noch manchmal zum Sandpass?“
„Ich war schon lange nicht mehr– na ja, bei der Probefahrt letzte Woche natürlich. Ich komm so selten hier weg, weißt du. Die Arbeit.“
„Ja, die Arbeit. Ist Arbeit eigentlich immer wie ein Gefängnis?“
„Wie kommst du darauf?“
„Alles, was man so liest– es scheint mir fast so.“
Sein Blick ging durch sie hindurch. Schließlich gab er sich einen Ruck und sagte: „Ja, man könnte fast diesen Eindruck gewinnen.“ Er verschwand durch die Tür.
Nach einiger Zeit wurde sie wieder in ihren Gedanken gestört. Ihre Mutter trat auf die Veranda und sagte: „Du musst mir einen Gefallen tun, ja? Und deinen Bruder abholen.“
„Muss das sein?“
„Die haben eben angerufen. Der Bus kommt später und wir haben einen Termin.“
„Was für`n Termin denn?“
„Einen Termin halt. Ja? Holst du ihn ab? So gegen neun.“
Dass Eltern alles von ihren Kindern wissen wollen, aber selbst nichts verraten! „Wenn`s sein muss“, antwortete sie und nahm ihr Magazin wieder auf.
Es war schon dunkel, als sie zum Großen Markt fuhr. Hier liegen die wichtigsten Gebäude von Sabel: Der Dom, den man anderswo nur Kirche nennen würde; das neue Rathaus, für das man sich auf fünfzig Jahre verschuldet hat; das Gymnasium für die Kinder der besseren Leute; ein anderes gibt es hier sowieso nicht. Es standen viele Eltern herum, die auf den Reisebus mit den Kindern warteten. Alle redeten miteinander. Manche der Leute kannte Suse vom Sehen. Sie hielt sich abseits.
Nach einer dreiviertel Stunde ertönte das Horn, der Bus kam um die Ecke. Sie hatten eine weite Fahrt hinter sich, vom Meer, fast 1500 Kilometer. Suse hatte den Ort bei Google gesucht. Ob sie mitfahren wolle, hatten ihre Eltern sie gefragt; MIT DIESEM KINDERGARTEN?
Sie hätte ihren Bruder fast nicht wieder erkannt, dabei war er nur drei Wochen weg gewesen: Schmutzig, dürr, die Haare lang und schon wieder fünf Zentimeter gewachsen. Ist es passend, so einen dreizehnjährigen Etwas noch zu umarmen? Sie ging auf ihn zu, er lachte und winkte seinen Freunden zum Abschied zu. Sie standen einander gegenüber. Ein kurzer Blick in die Augen, dann war klar, dass sie ihm nur die Hand reichen durfte. „Wie war`s?“ fragte sie.
Er sah ihr neues Auto und fragte: „Ist das deins?“
„Ja.“
„Kann ich auch mal–“
„Nein.“
„Du weißt ja gar nicht, was–“
„Klares Nein.“ Sie war froh, dass wenigstens noch die Dialoge zwischen ihnen in üblichen Bahnen verliefen. Sie nahm ihm das Gepäck ab und verstaute es im Kofferraum.
Er erzählte vom Wasser, vom Strand, wo sie abends immer Feuer gemacht hatten, von den Schiffswracks, die dort bei Ebbe auftauchen. Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie doch hätte mitfahren sollen.
Zu Hause. „Ist niemand hier?“
Suse antwortete: „Die haben irgendeinen Termin. Ach ja, und dann ist jetzt unsere Kusine da.“
„Kenn ich die?“
„Mama sagt, dass wir die mal besucht hatten. Aber ich kann mich nicht erinnern. Du sowieso nicht, da warst du erst zwei oder drei.“
„Wo ist sie denn?“
„Wahrscheinlich in meiner Hängematte.“
Felix ging auf die Veranda. Tatsächlich lag jemand drin. Es war dunkel, nur das Display ihres Phones gab Licht. Die hat aber einen kantigen Kopf! „Hallo“, sagte er, „kennen wir uns?“
Es dauerte, bis sie antwortete: „Ich glaube nicht.“ Sie streckte ihm aus der Matte die Hand entgegen. „Ich bin Freddy.“
Sie hatte eine dunkle Stimme, das gefiel ihm. Er sagte: „Hat dich meine Schwester noch nicht aus der Matte geworfen?“
„Doch.“
„Die macht das immer so.“
Sie stand auf und stellte sich ihm gegenüber. Sie war so groß wie er, trug Shorts wie er und ein T-Shirt. In der Dunkelheit sah es so aus, als wär`s einer seiner Freunde nachts am Strand. „Und, wie gefällt`s dir hier?“ fragte er.
„Ja, wieso nicht.“
Er verstand ihre Antwort nicht ganz; ihr Akzent ist komisch; vielleicht kann sie gar nicht richtig Deutsch? „Ich meine“, sagte er betont langsam, „fühlst du dich gut oder schlecht?“
„Du brauchst nicht mit mir zu reden wie zu einem Idioten!“
„Ich dachte nur.“ Er schaute zu Boden.
„Ach, mein Akzent. Ich kann so gut Deutsch wie du.“ Sie stupste ihn kurz an der Schulter: „Was machst du denn so alles?“