Am Tag, bevor der Frühling kam - Ella Cornelsen - E-Book

Am Tag, bevor der Frühling kam E-Book

Ella Cornelsen

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Beschreibung

Dieser eine Tag, an dem sich alles verändert. Eine alte Liebe, die nach Jahrzehnten wiederauftaucht. Und eine Frau vor einer großen Entscheidung ...

Ellinor hat sich stets danach gesehnt anzukommen. Beruf, Heirat, Kind, das alles hat sie erreicht. Doch noch während sie versucht hat, sich für dieses Leben passend zu machen, ist ihre Ehe in die Brüche gegangen. Und so ist die Küche ihrer Nachbarin Els zum Zufluchtsort für Ellinor und ihren Sohn geworden – bis ein Tag an der Schnittstelle zwischen Winter und Frühling plötzlich alles aus den Fugen bringt. Der Tod bricht in Ellinors Leben ein. Als dann noch ein Mann von früher wieder auftaucht, steht Ellinor vor der großen Entscheidung: Kann man sich in ihrem Alter noch einmal an die große Liebe heranwagen?

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch:

Ellinor hat sich stets danach gesehnt anzukommen. Beruf, Heirat, Kind, das alles hat sie erreicht. Doch noch während sie versucht hat, sich für dieses Leben passend zu machen, ist ihre Ehe in die Brüche gegangen. Und so ist die Küche ihrer Nachbarin Els zum Zufluchtsort für Ellinor und ihren Sohn geworden – bis ein Tag an der Schnittstelle zwischen Winter und Frühling plötzlich alles aus den Fugen bringt. Der Tod bricht in Ellinors Leben ein. Als dann noch ein Mann von früher wiederauftaucht, steht Ellinor vor der großen Entscheidung: Kann man sich in ihrem Alter noch einmal an die große Liebe heranwagen?

Autorin:

Ella Cornelsen, geboren 1958, ist mit mehreren Geschwistern aufgewachsen und hat in Tübingen studiert. Sie hat einen erwachsenen Sohn und lebt heute mit ihrer Familie in Stuttgart, wo sie auch in Sachen Kultur als Botschafterin unterwegs ist. Sie schreibt von Kind auf aus Leidenschaft, malt, singt und macht Musik. Ella Cornelsen ist gern in der Natur unterwegs, liebt alte Bäume, weite Landschaften, tropische Regenwälder und bunte Vögel. »Am Tag, bevor der Frühling kam« ist ihr zweiter Roman im Limes Verlag.

Ella Cornelsen

AM TAG, BEVOR DER FRÜHLING KAM

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Ella Cornelsen

© 2024 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Bildnachweis Grafiken: Adobe Stock/Illustratoren Somjal King, Nitinan, Tally 18

KW · Herstellung: DiMo

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg 

ISBN 978-3-641-30557-4V001

www.limes-verlag.de

Für alle, die an das Leben glauben, besonders dann, wenn es anfängt zu enden.

Wenn mein Ende nicht mehr weit ist, Ist der Anfang schon gemacht. Weil’s dann keine Kleinigkeit ist, Ob die Zeit vertane Zeit ist, Die man mit sich zugebracht.

Konstantin Wecker

Prolog

Oktober 2001

»Du könntest meine große Liebe werden«, sagst du. »Vielleicht bist du es schon.«

Wir stehen nebeneinander auf der Cannstatter Holzbrücke. Haben die Arme aufs Geländer gestützt, unsere Ellbogen berühren sich. Hier auf dem Fußgängersteg über dem Neckar haben wir uns zum ersten Mal geküsst, es ist gerade mal drei Wochen her. Wir waren einen Wein trinken, ins Gespräch vertieft und noch nicht fertig damit, als die Kneipe schloss; ein Regenschauer ging nieder, doch hier auf der überdachten Neckarbrücke redeten wir weiter, im Stehen, im Geruch des Regens, die ganze Nacht, während der Fluss unter uns murmelte und das Weite suchte. Tod und Katastrophen hatten dich und mich zusammengebracht, in dieser kühlen Septembernacht blieben sie außen vor. Viel gelacht und gefroren haben wir. Als im Osten ein Streifen Morgenröte über den Horizont kroch, hast du mich angelächelt und gesagt: »Schöne Frau! Es ist, als würde ich dich schon ewig kennen.« Kein Wunder, in den vergangenen Stunden hatten wir erzählt und erzählt und dabei zwei Leben miteinander verwoben, deines und meines.

Der Fluss füllte sich als Erstes mit dem Licht eines Herbstmorgens.

Berufstätige auf dem Weg zur Frühschicht gingen über die Brücke und hatten es eilig. Die Welt und die Holzbohlen unter unseren Füßen gerieten in Bewegung. Du neigtest dein Gesicht meinem entgegen und deine Lippen suchten meine.

Für gewöhnlich gehört ein erster Kuss zur Nacht. Dein Kinn am frühen Morgen war ein bisschen rau und stachlig, bereit zur Rasur, deine Lippen aber waren weich und jung. Keine Draufgängerlippen, und dennoch wussten sie, was sie wollten und wie es ging.

»Es soll nichts schwierig werden«, sagtest du nach den ersten Küssen, »ich mag keine Probleme«, und ich nickte, »nein, nein, ich will nichts Schweres zwischen uns«. Und dann sind wir zu mir gegangen, in meine Wohnung, und haben uns geliebt, schwierig ist nichts geworden, nicht bei diesem ersten Mal, auch nicht in den drei Nächten, die folgten.

Heute stehen wir also wieder auf der Brücke. Diesmal ist es mitten am Tag. Die Sonne hat sich auf Sommerwärme besonnen, ein letztes Mal, ehe die Farben sterben und die Hummeln und die Liebe. Wie vor drei Wochen blicken wir dem rasch fließenden Wasser nach, als schwömme dort unsere Zukunft, und wir trauten uns nicht, uns gegenseitig bei der Hand zu nehmen und hineinzuspringen.

Wie anders als neulich nachts ist unser Gespräch heute! Ein Rinnsal. Die Worte, die fallen, tun weh, deshalb wechseln wir wenige von ihnen.

Da sagst du diesen Satz. »Du könntest meine große Liebe werden.« Deine Stimme klingt nach einer großen Gefahr, trotzdem durchströmt mich einen Moment lang wilde Freude. »Vielleicht bist du es schon.«

»Und du meine.« Mein Herz tanzt.

Wir sind uns einig, auch in den Sätzen, die wir danach sagen. Jedenfalls rede ich mir das ein.

»Große Liebe – ach, sprechen wir lieber nicht davon. Große Lieben enden immer schlecht oder gar tödlich, also fangen wir besser erst gar nicht damit an. Wir müssen aufhören, bevor es ernst wird.« Dabei wissen wir, dass es das schon lange ist, ernst. Es wurde ernst, das Verhängnis nahm seinen Lauf – von dem Moment an, als wir uns zum ersten Mal gegenübersaßen. Ein schönes, ein wunderbares Verhängnis.

»Angelika, die Kinder …«, du schaust mich nicht an, während du sprichst, »Lars ist erst fünf.«

»Ja, ich weiß. Ich habe ja auch … jemanden.«

»Und dann ist da der Vertrag mit dem Sender. Die Reportage. Mitte November beginnen die Dreharbeiten. Zu Hause liegt der Mietvertrag für die Wohnung für uns vier in San José – alles ist vorbereitet.«

»Ja. Ja, ich weiß. Natürlich.« Mein Herz hat aufgehört zu tanzen.

San José – das ist auf der anderen Seite der Erde oder auch hinter dem Mond, was mehr oder weniger dasselbe ist.

Spaziergänger in kurzärmeligen Kleidern und Hemden flanieren ohne Eile an uns vorbei über die Brücke, sie bleiben neben uns in der Sonne stehen, die am Himmel festgeklebt ist und uns bescheint, als gäbe es weder Herbst noch Winter noch Tod. Ich hasse ihr Licht, ich ignoriere es und schaue auf den Fluss, in dem sich die am Ufer dümpelnden Ausflugsdampfer und unsere traurigen Köpfe verdoppeln.

Mich übers Geländer beugen, so weit, dass mein Wille nicht mehr ausreicht, um mich ans Leben zu klammern, und ich falle. Ich falle in unsere Zukunft, die nun nur noch meine ist. Die Ausflügler auf der Brücke, entsetzt, deuten aufs Wasser, auf mich, schreien: »Dort, dort!« Der Strom nimmt mich mit, spült mich aus dem Leben, meinem und deinem. Aber das tut man nicht – jemand mit meinem Beruf tut das nicht. Außerdem kann ich schwimmen.

Du als Kameramann hast es gut. Ich möchte diese Stadt verlassen wie du, um woanders ein neues Leben anzufangen. Aber ich bin gerade auf eine neue Stelle gewählt worden, im Stuttgarter Norden. Ich muss hierbleiben. Alles wird mich an dich erinnern.

»Es ist nicht die richtige Zeit für uns, Ellinor«, sagst du.

Wann ist denn die richtige Zeit?

»Offenbar soll es nicht sein zwischen uns, nicht jetzt.«

»Es ist besser, gute Freunde zu bleiben.«

»Ein furchtbarer Satz.«

»Fällt dir ein besserer ein?«

»Wir vergessen uns nicht.«

Als wäre das ein Trost.

»Nein, wir vergessen uns nicht.«

»Lass uns einander noch mal küssen.«

Dich küssen, Richard, noch mal und noch mal, und wissen, ich muss auf Vorrat küssen, denn es wird kein nächstes Mal geben. Die Gegenwart muss für die Zukunft vorhalten und dieser Kuss für die Ewigkeit reichen.

Der Tag

Freitag, 13. März 2020

Ein Tag, an dem alles auf einmal geschieht. Ein Tag wie ein Brennglas, das Strahlen sammelt und durch den Brennfleck Gegenstände in Brand setzt. Ein Tag, an dem der Abend ein Leben weit vom Morgen entfernt ist. Kann man solche Tage vorhersehen? Els konnte es.

1

Der Tag begann mit einer Beerdigung. Draußen war es kühl, der Himmel seit Wochen der Gleiche, ein gebrauchtes beige-graues Bettlaken, das man abzuziehen vergessen hatte. Ich konnte diesen tief hängenden Bettlakenhimmel mit seiner nichtssagenden Farbe inzwischen kaum mehr ertragen, war er doch das Markenzeichen jenes viel zu warmen und schneelosen Winters gewesen, der dafür aber jede Menge Regen und – für mich – sehr viele Beerdigungen im Gepäck gehabt hatte.

An diesem Morgen lehnte ich am Küchentisch, nippte an dem Cappuccino, der soeben aus der Espressomaschine in meine rote Lieblingstasse geflossen war, und blickte durchs Küchenfenster auf die Straße hinunter. Der Wind fegte altes Eichenlaub, vertrocknet wie zusammengeknülltes Packpapier, an der Sandsteinmauer um Els’ Grundstück entlang und ließ die Blätter in Spiralen tanzen. Nichts unterschied diesen Morgen von einem anderen, drei Monate zuvor, der mir plötzlich in den Sinn kam.

Eines Vormittags kurz vor Weihnachten, als ich von einer Trauerfeier nach Hause zurückkehrte, winkte mich Els an das Mäuerchen ihres Gartens, in dem sie gerade Tannenreisig auf den Beeten verteilte, und erzählte mir ihren Traum. Wir erzählten einander oft unsere Träume. Wobei Els stets mehr zu berichten hatte als ich, denn ich träume seit Jahren das Gleiche: von einer Reise nach Süden (Afrika) oder über die Meere in ein Land, das Amerika heißt, in dem ich aber nie ankomme. Ich sehe es von weit oben aus einem Flugzeug in seinem ganzen irren Ausmaß und mit den typischen Umrissen wie auf der Landkarte in meinem alten braunen Diercke-Weltatlas aus Schulzeiten und frage mich, was ich dort will. Ein Gefühl der Heimatlosigkeit verbindet sich mit meinem Traum und lässt mich stets mit einem Frösteln erwachen, noch bevor ich gelandet bin.

»Heute Nacht habe ich auch von einer Reise geträumt«, sagte Els an jenem Vormittag vor Weihnachten in ihrem Garten. Sie strich ihre verschossene eierschalenfarbene Lammfelljacke glatt, in der sie im vergangenen Jahr so dünn geworden war, und klemmte sich eine ihrer zinnfarbenen Strähnen hinters Ohr. »Von einer Seereise.« Dabei sah sie mich unter ihren langen gebogenen Wimpern an, die nicht wie ihr Haar ergraut, sondern schwarz geblieben waren, Wimpern einer Diva. Els war schön gewesen früher und war es immer noch, schön und ehrwürdig wie eine Schamanin mit ihren hohen Wangenknochen und der kompakten, wettergegerbten Stirn. In eine altertümliche Kogge mit vom Wind zu weißen Wolken geblähten Segeln sei sie gestiegen, erzählte sie.

»Du und Dean, ihr habt mich am Kai verabschiedet. Es war eine Reise über die Weltmeere.«

»Wohin bist du gesegelt?«, fragte ich neugierig, »Osterinsel, Australien, Hawaii?«

»Weiter«, erklärte Els, »viel weiter. Zu einem Ufer, so weit weg, als läge es am Rand des Universums. Ich wusste, wir würden uns lange nicht wiedersehen, sehr lange.«

»Warst du allein?« Ich wagte nicht, nach ihren Kindern zu fragen.

»Ich erinnere mich nicht genau«, Els stützte sich mit den Ellbogen auf das Mäuerchen. »Könnte sein, da war noch jemand. Eine Frau in einem langen Kleid mit langen dunklen Haaren und einer Krone. Ich sah sie nur von hinten.« Sie säuberte ihre Hände, an denen ein bisschen getrocknete Erde klebte, blickte auf und lächelte, wobei sich die Fältchen, die die Zeit und das Lachen um ihre Augen gegraben hatten, vertieften. »Aber Dean und du, ihr wart nicht allein«, sagte sie und wurde richtig lebhaft, »ihr wart zu viert, ein Mann und ein Mädchen waren bei euch.«

»Oh!« Ich kicherte. »Ein schöner Mann?«

Els wiegte den Kopf. »Ein … älterer Mann.«

»Älter als ich?« (Ich bin achtundfünfzig.)

»Ich glaube schon. Man weiß das ja nie so genau.« Els hielt inne. »Jung geblieben sah er aus, das schon. Aber eben nicht mehr jung, das ist nicht dasselbe.« Wieder unterbrach sie sich. »Größer als du.«

»Und das Mädchen?«

Els lächelte. »Klein. Kleiner als du.« Sie überlegte. »Hellblond. Blonder als du.«

»Ach, meine liebe Els!« Ich stellte den Korb mit meinem Talar und der Beerdigungsagende ab und schlang über das Gartenmäuerchen hinweg die Arme um sie. »Wie schön, dass du mir einen Mann träumst und Dean eine Freundin. Aber dass du ohne uns verreisen und uns so lange nicht wiedersehen willst, das gefällt mir gar nicht.«

»Von Wollen konnte keine Rede sein in dem Traum«, nuschelte Els. Sie drehte sich ein wenig zur Seite und umarmte ihren Garten mit einem Blick, als nähme sie Abschied. »Schade«, murmelte sie und dann etwas, was ich nicht verstand. Ihr Blick kehrte sich nach innen, ehe sie wiederholte: »Einfach schade.«

Els wohnte schon lange mit mir Tür an Tür. Oder besser, ich mit ihr, denn sie war bereits da, als ich ins Pfarrhaus zog, und bekam all meine Lebensphasen dort mit, zuerst mit Mann, dann mit Mann und Kind und schließlich nur noch mit Kind. Sie selbst lebte allein, in einem efeubewachsenen Häuschen gleich nebenan, all die Jahre nur mit einem Bild ihres verstorbenen Mannes auf dem Kaminsims und seit ein paar Monaten mit einem zugelaufenen Goldhamster. Manchmal wundere ich mich, wie man so wenig voneinander wissen und doch so vertraut miteinander sein kann, wie Els und ich es waren. Els’ Leben war eine Art Blackbox für mich. Der Mann auf dem Kaminsims war ihr zweiter; sie hatte einen Sohn und eine Tochter aus erster Ehe, nur so viel hatte mir Els verraten. Wenn ich vorsichtig nachhakte, wurde sie einsilbig, weshalb ich bald aufhörte zu fragen. Auch meinem Sohn Dean, für den Els immer mehr Ersatzoma geworden war, seit mein Mann Andreas ausgezogen war, blieb sie Antworten schuldig. Ihre Kinder schienen ein heikles Thema zu sein; ich hatte sie nie kennengelernt und wüsste nicht, dass sie sie je besucht hätten, selbst Fotos von ihnen gab es keine in ihren vier Wänden.

Am Morgen jenes kühlen Märztags, von dem ich eigentlich erzählen will, trank ich meinen Cappuccino in kleinen Schlucken und genoss die heiße Süße auf meiner Zunge, während ich mit zwei Fingern am Radioknopf drehte und einen Sender suchte, der weniger rauschte.

Auf allen Kanälen ging es um »das Virus«. Seit Tagen schon ging es in den Medien um nichts anderes mehr als »das Virus«. Anfangs war der neue Krankheitserreger, made in China, wie so viele vor ihm, weitgehend unbeachtet unter den Tisch gefallen. Bis vor ein paar Wochen war noch recht sorglos berichtet worden von Wuhan, Markt, Fledermäusen oder einer Laborpanne. Und selbst als das nachweihnachtliche Präsent aus Fernost in Italien anlandete, hielten wir das für ein Problem unserer südlichen Nachbarn, von denen uns zwei Grenzen trennten. Ich erinnerte mich an einen Witz, der im Internet und auf WhatsApp kursierte: »Der Chinese neben mir in der S-Bahn hustete und hustete. Zaghaft fragte ich: ›Wuhan?‹ Der Chinese antwortete: ›Zum Hauptbahnhof.‹« Wir schütteten uns aus vor Lachen, das uns erst bei der Heimkehr der deutschen Wintersportler aus dem Skiparadies Ischgl verging: Jeder Zweite hatte das Virus mit dem königlichen Namen, das sich schneller vermehrte als ein Stall Karnickel, im Gepäck oder bereits im Körper und verteilte es freigiebig an die Umgebung. Ab sofort war Corona im Land, auch von ersten Todesfällen hatten wir schon gehört.

»Am Mittag informiert die Landesregierung über weitere Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus.« Die Stimme der Radiomoderatorin war verschnupft, aber das war sie gerade bei vielen, auch ohne Erkältung. Die einen lamentierten von wegen Panikmache, die anderen, dass die Einschränkungen nicht weit genug gingen. Der Riss ratschte mitten durch die Familien, auch durch meine.

Dean hatte erst gestern gesagt: »Maßlos übertrieben, was die da alles beschließen! Keine Veranstaltungen mit über tausend Personen mehr. Jetzt haben sie sogar das Frühlingsfest abgesagt.« Er bedauerte, dass er derzeit nach der Schule nicht zu Els zum Mittagessen gehen konnte. »Aber vielleicht werden die Schulen ab kommender Woche sowieso geschlossen«, meinte er mit einem Grinsen. In letzter Zeit kam es selten vor, dass er mich angrinste. Es lief nicht gut zwischen uns; es lief auch nicht gut in der Schule, die Dean hasste. Vor Kurzem hatte er mir eröffnet, dass er vorhabe, im Sommer vom Gymnasium abzugehen, jawohl, nach der elften, er pfeife auf sein Abitur. Zwischen Tür und Angel hatte er es mir gesagt, eines Nachmittags, als ich gerade gekommen und er gerade gegangen war. Wohin Dean unterwegs gewesen war, hatte ich nicht gewusst. Ich wusste wenig von ihm in letzter Zeit, und jener Schlagabtausch vor ein paar Tagen hatte mich ahnen lassen, wie abgrundtief wenig es war. Zuvor hatte er meine Versuche, an ein Gespräch anzuknüpfen, meist mit schnoddrigen Bemerkungen abgespeist, und ich hatte ratlos nach dem Schlüssel für sein abweisendes Verhalten gesucht, ohne fündig zu werden. Früher war er ein fröhlicher kleiner Junge gewesen, und zwischen ihn und mich hatte kein Blatt Papier gepasst. Vor dem jungen Mann, der mich behandelte, als hätte er mir etwas zu verzeihen, fremdelte ich, und er fremdelte vor mir.

Ich seufzte, nahm noch einen Schluck Kaffee und ging in Gedanken meinen Tag durch. Gleich war es Zeit, zu meiner Beerdigung am Pragfriedhof um zehn Uhr zu starten. Danach ein Treffen, bei dem ich nicht wusste, ob ich es Date nennen durfte, mit Joachim, dem Leader meiner Band, in der Stadt. Um vierzehn Uhr das nächste Beerdigungsgespräch. Der Nachmittag? Der Abend? Ich hatte eine Karte für eine Theaterpremiere im Alten Schauspielhaus, zweifelte aber daran, ob sie unter den gegebenen Umständen überhaupt stattfinden würde.

Der Wetterdienst sagte ein sonniges Wochenende voraus, und ich wusste nicht recht, ob ich mich freuen sollte und worauf. Feiern? Eher nicht. Radeln? Laufen? Leben? Lieben? Gerne! Aber mit wem?

Mit wem? Zwei kleine unschuldige Wörter, verziert mit der Garnitur einer beliebigen Anzahl von Fragezeichen. Viele meiner Gedanken landeten in letzter Zeit bei diesen beiden Wörtern und endeten auch dort. Wie auf einem Bahnhof, von dem schon lange kein Zug mehr abfuhr. Ich hatte Freundinnen, klar, aber sie hatten Familie oder Partner, besonders am Wochenende, und ich mochte nicht stören, nicht das fünfte Rad am Wagen sein. Bei mir war es lange her, dass ich mehr als ein paar Nächte mit einem Mann das Bett geteilt hatte, und noch länger, dass ich über das Bett hinaus noch wesentlich mehr mit einem geteilt hatte. Ein paar wenige Romanzen hatte es in den letzten sieben Jahren seit der Scheidung von Andreas gegeben, doch die Männer, mit denen ich mich traf, fürchteten sich nicht selten vor meinem Beruf, vor dem Rattenschwanz an schwer verdaulichem Existenziellem, den er hinter sich herzog. Einer reagierte mit Befremden, als ich an einem Tag, an dem ich eigentlich dienstfrei hatte, der Bitte einer Familie nachkam, am Sterbebett des Großvaters ein Gebet zu sprechen. Ein anderer zog sich zurück, nachdem ich einmal einem eritreischen Paar, dem die Abschiebung drohte, für zwei Wochen Obdach in meiner Wohnung gegeben hatte.

In meinem derzeitigen Leben waren die einzigen Männer außer Dean der Briefträger sowie eben Joachim, der Sologitarrist und Leader der Band, mit dem ich nach meiner Trauerfeier zum Frühstück verabredet war. Eine lockere Freundschaft verband mich mit ihm, und seit einem langsamen Walzer, den ich vor zwei Wochen auf einer Fete bei geschlossenen Augen mit ihm getanzt hatte, noch ein kleines bisschen mehr. Joachim war allerdings vergeben, und auch wenn es sich anders verhalten hätte, wäre er zehn Jahre zu jung für mich gewesen. Trotzdem freute ich mich auf das Treffen mit ihm, obwohl es nur ein läppisches Frühstück war, bei dem sich höchstens unsere Blicke berühren würden oder unsere Finger, wenn sie zufällig gleichzeitig nach der Zuckerdose griffen.

Ich will es noch mal wissen, dachte ich – bloß was?

Im Hausflur schlüpfte ich in meinen Mantel, natürlich schwarz, was sonst. Ich mag Schwarz nicht besonders, eigentlich mag ich es überhaupt nicht; im Gegenteil, ich liebe Farben, würde mich gerne bunt und fröhlich kleiden, so wie ich es zu Beginn meiner Laufbahn als Pastorin ganz arglos getan habe. Damals hatte ich eine grüne Lederjacke, die mir rasch den Spitznamen »Rockerpfarrerin« eintrug. Von meinem ersten Gehalt kaufte ich mir eine rosafarbene Vespa, mit der ich sonntags zur Kirche in Stuttgart-Ost fuhr.

Doch nachdem ich einmal im Gottesdienst unter dem Talar ein meerblaues Kostüm und korallenrote Stöckelschuhe getragen hatte, war meine Gemeinde in hellem Aufruhr. Jemand beschwerte sich bei meinem vorgesetzten Dekan, der fand, das Maß des Erträglichen sei überschritten, sodass mir nichts übrigblieb, als klein beizugeben. Seither trage ich im Dienst nie etwas anderes als Schwarz, Schwarz und noch mal Schwarz, auch bei den normalen Gottesdiensten oder bei freudigen Anlässen, denn Schwarz ist die Farbe, mit der man nichts falsch macht, das habe ich gelernt, mit Schwarz trifft man immer ins Schwarze. Jedenfalls in meinem Beruf.

Ich stellte mich vor den Flurspiegel und taxierte mein Spiegelbild. Eins zweiundsiebzig groß und immer noch schlank. Ebenmäßiges Gesicht, weit auseinanderstehende grüne Augen, gerade Nase, auf der Stirn ein paar Falten. Ich zog mir die Lippen nach. Lippenstift – der einzige Rottupfer, der sich auch nach über dreißig Berufsjahren noch in meinem Amts-Outfit erhalten hatte. Schüttelte mein Haar, das nicht sonderlich lang war, jedoch lang genug, um es mit einem Band oder einer Spange zu zähmen, was ich selten tat. Bei meinen Auftritten auf der Kanzel und selbst am Rednerpult der Aussegnungshalle lasse ich es wallen, wie es will. Nach einem Gottesdienst oder einer Trauerfeier sagt dann manchmal jemand zu mir: »So habe ich mir eine Pastorin aber nicht vorgestellt«, wobei die Nuancen des Tonfalls von anerkennend über freundlich staunend bis leise vorwurfsvoll variieren. Gott sei Dank, denke ich dann, denn ich habe mir geschworen: An dem Tag, an dem man mir die Pastorin ansieht, werde ich meinen Beruf an den Nagel hängen. Nicht, dass mich jemand falsch versteht – ich mag ihn, meinen Beruf, oder vielmehr habe ich ihn in den vielen Jahren, während deren ich ihn ausübte, mögen gelernt. Die Anfänge waren etwas ruppig, das stimmt. Studieren wäre nicht schlecht, hatten meine Eltern nach dem Abitur gemeint, und auch ich meinte es. Schlecht war jedoch mein Notendurchschnitt, und dieses Schlechte mit etwas Besserem zu kombinieren, erwies sich als Herausforderung. Schließlich trieben mich meine vielen Lebensfragen, die in der Schule unbeantwortet geblieben waren, in einen Studiengang, der an den Unis ein ebenso exotisches wie archaisches Nischendasein führte.

Wo war ich, bevor ich geboren wurde? War ich irgendwo? Warum und wozu bin ich überhaupt da? Und wo geht es hin, wenn ich sterbe? Geht es irgendwohin? Ich war allein mit diesen Fragen, die mich umtrieben, und suchte nach Antworten. Als hätte ich mich besser im Leben zurechtfinden können, wenn ich das alles gewusst hätte. Wenn ich mit dem Inseldasein meiner irdischen Existenz hätte andocken können an den festen Grund eines Davor und Danach und dessen, was man Lebenssinn nennt.

Um es vorwegzusagen: Mein Theologiestudium ließ mich nur beschränkt fündig werden. Jede Antwort zog hundert neue Fragen nach sich. Und als ich nach einer Anzahl Semester schließlich feststellte, dass zu meinem Studium auch ein Beruf gehörte, war es zu spät, um noch umzusatteln. Lehrerin oder Pastorin? Von den beiden Alternativen schien mir die Pfarrerin das kleinere Übel zu sein, obwohl ich mit dieser Arbeitsplatzwahl in meiner Familie vollkommen aus der Art schlug. Dort gab es einen Arzt und eine Apothekerin, zwei Anwälte, eine Architektin und in der weit verstreuten Verwandtschaft auch ein paar Studierte, deren Beruf nicht mit einem A begann. Zu Anfang meines Berufsalltags fühlte ich mich denn auch, als wäre ich auf einem fremden Planeten aufgeschlagen. Bibelstunde, Frauenkreis, Konfirmandenunterricht, Seniorennachmittag, das alles war ebenso Neuland für mich wie die mit Bibelzitaten gespickten Andachten und die Gebete, die damals in keiner Gemeindeveranstaltung fehlen durften. Mit den Fragen war es erst mal vorbei. Sonntags auf der Kanzel hatte ich Gewissheit zu verkündigen und Zuversicht auszustrahlen. Die kirchlichen Räume, in denen ich ein und aus ging, atmeten eine jahrhundertelang praktizierte naive Frömmigkeit, die man förmlich riechen konnte und der ich nicht anhing. Ich war eine moderne junge Frau und verabscheute Kompromisse an jener Grenze, an der es auf Fragen nur ungenaue oder keine Antworten mehr gab und stattdessen blinder Glaube verlangt wurde. Das sagte ich geradeheraus jedem, der es hören wollte, und erntete darauf die gleichen verwunderten Blicke wie auf mein Äußeres.

Dass ich mich mit der Zeit dennoch mit meinem Beruf arrangierte und in ihm Wurzeln schlug, lag und liegt vor allem an jenen Menschen meiner Gemeinde, die sich zur Kirche zählen, jedoch ihrem verstaubten, oft rückständigen Erscheinungsbild ebenso wenig abgewinnen können wie ich selbst und dankbar sind für frischen Wind. Sie besuchen den Sonntagsgottesdienst, wenn sie im Gemeindeblatt lesen, dass ich die Predigt halte und nicht mein älterer Kollege; sie suchen mich auf, wenn sie in schwierigen Lebenssituationen nicht mehr weiterwissen, und sind froh, dass sie sich vor mir nicht verstellen müssen, weil ich nicht heiliger bin als sie selbst.

Im Hausflur stieg ich in meine schwarzen Pumps, ausgetreten, aber geputzt. Talar über dem Arm, Ringbuch, Beerdigungsagende in meinen Korb. Bevor ich ging, klopfte ich an Deans Zimmertür und drückte, als er nicht reagierte, mit dem Ellbogen die Klinke herunter. Dean lag im Halbdunkel auf dem Rücken, die Hände über dem Kopf zu Fäusten geballt, als wäre ein Unsichtbarer dabei, ihn niederzuringen. Das Licht, das durch die Schlitze der heruntergelassenen Rollläden drängte, tupfte kleine milchige Sprenkel auf sein Gesicht und seine langen braunen Locken, die sternförmig auf dem grünen Kopfkissen lagen, als hätte sie jemand sorgfältig zum Trocknen und Bleichen in der Sonne ausgebreitet.

»Dean, wach auf! Du musst zur Schule!«

Dean seufzte, hustete, hustete sich wach. Raucherhusten – Dean qualmte seit Langem obwohl er es eigentlich nicht vertrug die Zigaretten schlugen ihm auf die Schleimhäute.

»Anklopfen, bevor du hier reinkommst«, murrte er, als er sprechen konnte.

»Ich habe geklopft. Und habe nicht die Absicht, reinzukommen, ich stehe nur in der Tür. Hast du deinen Wecker nicht gehört? Es ist kurz vor halb zehn.«

Er grummelte etwas wie: »Waschonschoschpät«, und hustete wieder.

»Ich hab Beerdigung.«

»Ist deine Gemeinde bald ausgestorben?« Er hüstelte.

»Danach treffe ich mich mit Joachim in der Stadt.«

»Mhm.«

»Um die Mittagszeit bin ich wieder da.«

»Mhm.« Er öffnete mühsam ein Auge.

Ich versuchte die Ungeduld zu zügeln, die in mir hochkroch.

Sind alle halbwüchsigen jungen Männer solche Schlafmützen wie mein Sohn?, fragte ich mich. Und müssen sie alle von ihrer Mutter geweckt werden, um rechtzeitig zur Schule zu gehen?

2

Ich ließ die Tür zu Deans Zimmer angelehnt und eilte die Treppe hinunter. Draußen fiel der Wind über mich her, als hätte er hinter der Haustür auf mich gelauert.

Els’ Garten neben meinem wirkte nackt, seit sie letzte Woche die Tannenzweige von den Beeten genommen hatte.

»Dein Garten hat eine Glatze«, pflegte Dean früher immer zu ihr zu sagen.

Aus ihrem Hexenhäuschen, größer zwar, aber nicht viel höher als das Backhäuschen in ihrem Vorgarten, klang Musik. Es war etwas Klassisches, Beschwingtes, das wie Ofenwärme durch die Ritzen der Haustür und der kleinen Doppelfenster drängte. Unverkennbar Mozart. Eins seiner Lieder. Seit ich neben Els wohnte, hatte ich mehr oder weniger das ganze Köchelverzeichnis kennengelernt. Els hörte viel Musik, viel Mozart, viel Meditatives, immer Heiteres, nie Schweres, sie sagte, das Leben ist schon schwer genug. Seit sie so blass und dünn geworden war, hatte ich mir angewöhnt, alle zwei oder drei Tage bei ihr vorbeizuschauen, doch an diesem Morgen fehlte mir die Zeit.

In meinen Renault musste ich den Sitz weiter nach vorn stellen; Dean hatte als Letzter dort gesessen mit mir als Begleitung auf dem Beifahrersitz. Seit er am Tag seines siebzehnten Geburtstags die Führerscheinprüfung bestanden hatte, nahm er jede Gelegenheit zu fahren wahr und dafür in Kauf, dass ich als Aufpasserin neben ihm hockte.

Ich lenkte den Wagen aus dem Wohngebiet hinaus und fuhr stadteinwärts.

Kurz vor dem Nordbahnhof staute sich der Verkehr. Eine Fahrspur war gesperrt. Ich hatte ein bisschen Sorge, ob ich rechtzeitig zu meiner Trauerfeier kommen würde. Ein paar Minuten lang ging es bloß im Schritttempo voran. Ich lenkte mit nur einer Hand, ließ das Seitenfenster herunter, hängte meinen Arm in die Kälte und erhaschte einen Blick in die Einfahrt zur Rechten, an deren Ende der Schrebergarten mit dem Geräteschuppen lag, in dem unsere Band ihre Proben abhielt. Schrebergarten und Schuppen gehörten Joachim, und er hatte Letzteren zusammen mit Steffen, dem Bassisten, und Fränk, dem Schlagzeuger, so umgebaut und isoliert, dass er auch im Winter benutzbar war. Die Band, zu der ich vor zweieinhalb Jahren gestoßen war, hatte es damals schon länger gegeben. Außer Gitarre und Rhythmusgruppe gehörten Keyboard, Banjo und eine Sängerin dazu. Die Sängerin war gerade vom Team abgesprungen, als Joachim mich anrief, an einem Novembersamstag, an dem alle Leute ihre Winterreifen aufzogen.

»Wir suchen dringend eine Nachfolge«, sagte Joachim, »ich habe gehört, Sie singen und spielen außerdem Blues Harp.« »Von wem haben Sie das gehört?«, erkundigte ich mich neugierig, doch Joachim ignorierte die Frage und teilte mir stattdessen mit, die Band heiße Fortissimo, der Name sei Programm, ebenso wie Blues und Soul, die man spiele, und man könne sich schon in der nächsten Woche treffen, um Genaueres zu besprechen. Nie bekam ich heraus, wer ihn auf mich aufmerksam gemacht hatte, Joachim sagte mir nur vage, es sei jemand aus meiner Gemeinde gewesen, was mich wunderte, weil er mit Religion nichts am Hut hatte, wie ich bald feststellte. Damals am Telefon wehrte ich mich eine Weile ziemlich standhaft; ich nahm Unterricht und sang seit Langem, hatte es aber noch nie in einer Band probiert. Ich fürchtete mich davor, dass ich Joachims Erwartungen nicht genügen würde, und war mir alles andere als sicher, ob ich imstande wäre, der Combo aus der Patsche zu helfen. Aber Joachim ließ nicht locker.

In der Woche nach seinem Anruf schlich ich mit Herzklopfen und meinem Mundharmonikakoffer die Einfahrt zum Gartenschuppen entlang, aus dem »Down in the Valley« tönte, ein Titel, den ich kannte und schon gesungen hatte, sodass ich mich nach einer Weile traute, die Tür aufzustoßen und einzutreten. Joachim war ein Mann Mitte vierzig, an dem alles dunkel, gut proportioniert und vollkommen war, ein Wurf des Schöpfers, an den er selbst allerdings nicht glaubte. Es ging mir mit ihm, wie es mir immer geht mit Männern, die mir gefallen: Anstatt mit ihm zu flirten, wurde ich schüchtern. So einsilbig, als müsste ich meine Worte einzeln von einem Konto abheben, auf dem ich sie gespart hatte, teilte ich dem oberen Knopf seines mondgelben Hemdes mit, dass es die Band ja mal mit mir versuchen könne, worauf mir Joachim die übrigen Mitglieder vorstellte. Kirsten hinter dem Keyboard winkte, und Kano, die Banjospielerin, streckte mir zur Begrüßung die Hand entgegen. Alle lächelten und hießen mich willkommen. Joachim warf sich eine vorwitzige Tolle seines tiefschwarzen Haars mit einer Kopfbewegung aus dem Gesicht und sagte dann: »Okay. Machen wir also weiter. Womit möchtest du anfangen?« Ich schlug den »Basin Street Blues« vor und brachte mit viel Aufregung meine Gesangspremiere samt Harp Solo in einer Band hinter mich. Als wir mit dem Stück durch waren, schaute ich verlegen an Joachim vorbei, aber der nickte und sagte: »Nicht schlecht. Wird schon werden.« Das waren an diesem Tag die einzigen Worte, die er an mich richtete. Am Anfang war immer ein Graben aus Nichtgesagtem zwischen uns, den wir zunächst mit unserer Musik füllten und mit Worten nur sehr allmählich und zögerlich zuschütteten. Joachim war unser Primus inter Pares; äußerst ehrgeizig wollte er aus dem zusammengewürfelten Haufen unserer Band etwas Besonderes machen. Nach den Proben war er immer schnell weg, ohne Zeit, zu lächeln, in seinem Schrebergarten herumzustehen und zu reden. Zu unseren Auftritten reisten wir, um unser Equipment zu transportieren, mit verschiedenen Autos an, und hinterher nach dem Abbau war es meist zu spät für einen Umtrunk. Ich lernte, dass eine Band eine ziemlich nüchterne und pragmatische Angelegenheit ist, im seltensten Fall der Ort, an dem Liebesbeziehungen geknüpft werden. Vielleicht war es diese Erkenntnis, die mich Joachim gegenüber mit der Zeit lockerer werden ließ. Wir begannen uns zu necken und Witze zu machen; wir küssten links und rechts voneinander die Luft, wenn wir uns trafen, ohne dass ich mir etwas dabei dachte. Überdies hatte Joachim neben Tischmanieren, einer gut dotierten Stelle an der Uni und einer Eigentumswohnung im Stuttgarter Süden auch eine Freundin. Eine Freundin, die im Hintergrund blieb und bei unseren Gigs nie auftauchte, aber er hatte eine, Kirsten hatte es mir erzählt....Ende der Leseprobe