Ambach – Die Deadline / Das Strandmädchen - Jörg Steinleitner - E-Book

Ambach – Die Deadline / Das Strandmädchen E-Book

Jörg Steinleitner

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zum ersten Mal in seinem Leben hat Felix Ambach Geld. Er träumt davon, ein neues Leben mit seiner großen Liebe Dana anzufangen – und endlich das Kunstfälschen aufzugeben. Aber sein skrupelloser Geschäftspartner Gabriel de Moño hat andere Pläne. Geschickt gewinnt er den jungen Holzbildhauer für seine Interessen. Erst, als ein Mensch stirbt und Dana in Gefahr gerät, wird Felix klar, auf was er sich da eingelassen hat. Doch dann winkt der größte Coup seiner Fälscherkarriere. Gabriel will ihn überzeugen, gleich mehrere Skulpturen eines der bedeutendsten Meister der Moderne zu fälschen: Pablo Picasso.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2017

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-97085-3

Januar 2017

© Matthias Edlinger/Jörg Steinleitner 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Covermotiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Eins

Das Loch, das die Pistolenkugel in die Haut riss, war angesichts seiner mörderischen Wirkung lächerlich klein, kaum größer als der Nagel eines kleinen Fingers. Die Kugel bohrte sich unterhalb des linken Rippenbogens schräg nach oben. Sie durchschlug das Fettgewebe, die schräg verlaufende Bauchmuskulatur und passierte nach dem Durchtrennen der Magenwand die Überreste eines Butterbrots mit Käse. Dann durchtrennte sie das Bauchfell, ein äußerst schmerzhafter Vorgang, der sich im Gesicht des Opfers widerspiegelte. Sie zerriss das Zwerchfell und die Herzwand und eröffnete etwa einem halben Liter Blut den Weg in den Magen. Die Flüssigkeit im Magen führte unweigerlich zu einem starken Brechreiz des Sterbenden, er spuckte Blut. Der Anblick des nahenden Todes war ekelerregend, zugleich aber auch von faszinierender Farbenpracht. Das Rot von Menschenblut ist in seinem Farbton unverwechselbar. Nicht nur die Figur der Tänzerin, an der Felix Ambach kürzlich noch gearbeitet und die er im Stile des berühmten Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner gefälscht und beinahe fertiggestellt hatte, bekam einige rote Spritzer ab. Es traf auch die auf dem Ateliertisch liegenden Skizzen, einen überfüllten Aschenbecher, mehrere Schnitzmesser, ein Stemmeisen und andere Bildhauerwerkzeuge. Der Boden wurde mit Blut besudelt, sogar zwischen die Dielenbretter sickerte der Saft, wo er beinahe eine Ameise ertränkt hätte, die sich dort an den für das menschliche Auge kaum sichtbaren Überresten einer Mahlzeit labte. Die Ameise konnte sich in den Ritzen zwischen den Dielen in Sicherheit bringen. Die Kugel aber setzte ihr mörderisches Werk fort.

Während die Gesichtsfarbe des Getroffenen einen aschfahlen Ton annahm, trat das Geschoss schließlich unterhalb des rechten Schulterblatts wieder aus dem Körper aus, flog einige Meter weiter, zertrümmerte den über dem Werkstattwaschbecken hängenden Spiegel und blieb in der hölzernen Wand stecken. Der Schuss hallte nicht nach, Totenstille breitete sich aus.

Sechs Sekunden, nachdem die Kugel den Lauf der Pistole verlassen hatte, brach der Blutkreislauf des Bloggers und Journalisten Stefan Blank zusammen, sein Körper schlingerte, sackte weg; der Mann, der eben dabei gewesen war, den spektakulärsten Kunstfälschungsskandal seit Beltracchi aufzuklären, war so gut wie tot. Nur nicht sein Gehirn: Es verrichtete noch rund dreißig Sekunden seinen Dienst. Es mag erstaunen, aber der emsige Rechercheur Stefan Blank dachte im Moment seines Todes nicht an seine größte Story, auch nicht an Kunstfälschung im Allgemeinen oder an den Skandal um die gefälschten Riemenschneider-Heiligen im Besonderen (wegen denen er ja hier war und die wenige Monate zuvor im Rahmen einer Versteigerung des Münchner Auktionshauses Stettner für dreizehn Millionen an die katholische Kirche gegangen waren) – nein, Stefan Blank dachte an die Packung Sagrotantücher, die er in seinem Rucksack aufbewahrte. Gerne hätte er den Rucksack geöffnet, ein Tuch herausgezogen und sich das Blut von der Brust gewischt. Blut hatte außerhalb des Körpers nichts zu suchen. Hatte es seine gewohnten Bahnen verlassen, war es nichts weiter als Schmutz, der Kleider und andere Gegenstände besudelte. Stefan Blank aber hasste Schmutz. Seinen Tod hätte er sich sicherlich anders vorgestellt: reinlicher, geordneter und weniger infektiös. Doch zum einen hatte er ohnehin keine Wahl, zum anderen löste sich just in diesem Moment seine irdische Gedankenwelt auf. Ja, ihm war, als schwebte er nach oben an die Decke dieser Schnitzerwerkstatt, die sein Sterbeort geworden war. Ungläubig blickte er nach unten, sah sich selbst, wie er dalag und blutete und würgte und starb; wie dieser nichtsnutzige Fälscher Felix Ambach, den er ja praktisch überführt hatte, versuchte, ihn mit offensichtlich ungewaschenen Händen und einer stümperhaften Herzdruckmassage zu reanimieren. Stefan Blank war verwundert, dass er kein helles Licht am Ende irgendeines Tunnels sah und auch nicht sein ganzes Leben nochmals im Zeitraffer vor ihm ablief. Stattdessen rasten Bilder aus der Werkstatt an ihm vorbei. Die räumlichen und zeitlichen Dimensionen hatten sich aufgelöst. Eben noch hatte er in den Lauf der Waffe geblickt, die vor wenigen Sekunden auf ihn abgefeuert worden war; diese Pistole – es handelte sich um einen Klassiker der Waffenproduktion, eine Colt M1911 – lag nun auf dem Boden der Werkstatt und qualmte kaum sichtbar vor sich hin. Er sah den Elektroschocker neben sich auf dem Boden, das Gerät hatte ihm leider nicht wie erhofft das Leben gerettet. Und schließlich konnte er trotz des nahenden Todes mühelos beobachten, wie die Ameise jetzt doch absoff; es war einfach zu viel Blut, was da aus ihm heraussprudelte. Ein Liter – für eine Ameise ein Tsunami. Sie würden beide sterben. Die namenlose Ameise und Stefan Blank.

Panik. Felix war in Panik. Sosehr er auch auf Blanks Brustkorb drückte – die Rippen hatten bereits entsetzliche Geräusche von sich gegeben –, das Gesicht des Journalisten wurde bleicher und bleicher. Die Lippen waren längst blau. Die Augen hatte er weit aufgerissen, aber sie sahen nichts mehr. Es roch nach Säure, Blut und verbranntem Schießpulver. Felix’ Herz raste, er war zu keinem klaren Gedanken fähig. Literweise Blut. Blank lief förmlich aus. Sein Hemd hatte sich bereits vollgesogen, jeder Pumpdruck auf den Brustkorb löste ein schmatzendes Geräusch aus. Felix hatte Blut an den Händen, am Hemd, auch seine Hose war rot besudelt. Der Boden, Blanks Rucksack, alles war voller Blut. Auch an der Wand waren Blutspritzer, auf der Werkbank, auf dem Mülleimer, auf der Säge, sogar bis zum Fenster hatte es gespritzt. Jetzt, da Blank nicht mehr würgte, sondern nur noch regungslos dalag, überkam Felix ein starker Brechreiz. Am liebsten hätte er sich neben den Journalisten gelegt, so elend, matt und leer fühlte er sich. Am liebsten wäre er tot gewesen! Von irgendwoher klingelte ein Telefon. Felix brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass es gar nicht weit weg war, es handelte sich um sein eigenes Handy. Er wischte seine blutige Hand an der Hose ab und griff in die Tasche.

»Gabriel«, brach es aus Felix hervor. »Ich … der …« Er würgte kurz. »Der Typ hier ist tot! Ich glaube, der ist tot!«

»Ruhig, Felix, ganz ruhig«, sagte Gabriel. Felix tat es gut, die Stimme seines Partners zu hören.

»Wer ist tot?«

»Dieser Journalist. Er kam hierher, er wusste alles, er hat mich gefragt, ob ich die Riemenschneider-Nothelfer gefälscht habe.«

»Gut, dass du ihn getötet hast«, sagte Gabriel vollkommen ungerührt.

»Ich … ich habe ihn nicht getötet … also … äh … es war ein Unfall. Ein Scheißunfall, Gabriel! Er … ich … er wollte mir die Pistole wegnehmen, da ist sie losgegangen. Es war ein Unfall.«

»Beruhige dich, Felix. Ein Unfall. Gut. Ich glaube dir«, erwiderte Gabriel.

»Was, du glaubst mir? Hast du den Arsch offen? Natürlich glaubst du mir. Wegen dir ist das doch alles passiert. Es ist doch deine Scheißwaffe!«

»Ruhig, ganz ruhig«, sagte Gabriel erneut. »Welche Waffe?«

»Jetzt tu nicht so! Die Pistole, die du mir gegeben hast!« Felix schüttelte den Kopf. Was spielte Gabriel für ein Spiel mit ihm? Es konnte doch gar nicht sein, dass er sich nicht mehr an die Waffe erinnerte, die er ihm vor wenigen Monaten gegeben hatte. »Du musst wissen«, hatte er damals gesagt, »bei unserem Geschäft geht es um viel Geld. Wir haben nicht nur Freunde da draußen.« Genau das hatte Gabriel gesagt – und nun? Felix war vollkommen durcheinander. »Gabriel, was soll ich denn jetzt machen? Ich meine …« Er blickte auf den völlig leblosen Blank in der Blutlache. »… der ist …« Felix’ Stimme brach, Tränen mischten sich in seine nächsten Worte. »… tot! Ich muss … also … soll ich die Polizei rufen …?«

»Nicht die Polizei«, unterbrach ihn Gabriel freundlich, aber bestimmt. »Ich helfe dir. Wir sind Partner. Hör mir gut zu. – Hörst du mir zu?«

»Ja.« Felix fühlte sich wie gelähmt.

»Also. Du machst alles genau so, wie ich es dir sage: Lass alles so liegen, wie es jetzt ist. Geh rüber ins Haus, hol ein Bettlaken und lege es über diese …« Gabriel räusperte sich und setzte nochmals neu an. »… und lege es über … diesen Menschen. Verlasse die Werkstatt und sperr sie von außen ab. Geh zurück ins Haus, verriegle die Tür von innen und koch dir einen Tee. Ich bin in vierzig Minuten bei dir und kümmere mich um alles. Ruf niemanden an, lass auf keinen Fall irgendwen rein. Tu nichts, außer warten und Tee trinken. Bis ich bei dir bin. Ich werde dein Problem lösen. Keine Sorge.«

»Mein Problem?« Felix fröstelte es. »Aber, Gabriel … Ich bin … ich bin doch kein Mörder … Ich wollte … das alles nicht! Dieser Idiot ist mir in den Arm gefallen. Ich hatte die Pistole an meinem Kopf, ich wollte ihm drohen, dass ich mich … aber er ist … du musst mir glauben, Gabriel …«

»Ich glaube dir«, unterbrach ihn Gabriel streng. »Ich bin in vierzig Minuten da. Tu, was ich dir gesagt habe. Bis gleich!« Dann war die Leitung tot.

Felix starrte noch ungläubig auf das Display seines Handys, als ihn ein freundliches »Grüß Gott« aufschreckte. In der Tür der Werkstatt stand ein Riese. Wegen des Gegenlichts konnte Felix nichts als dessen Silhouette erkennen. Noch ehe er überlegen konnte, wie er auf diesen zweiten Eindringling reagieren sollte, sprach der weiter: »Kommen wir gleich zur Sache: Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, ich bin nicht von der Gendarmerie.« Felix musterte den Fremden. Er trug das typische Gewand eines Priesters. Freundlich lächelte ihn der Mann an. Seine Augen waren unter buschigen Brauen verborgen. »Auch können Sie unbesorgt sein, was das eben Geschehene betrifft. Das ist Ihre ganz private Angelegenheit. Und – wenn ich mir eine eigene Meinung erlauben darf –, wenn Sie mich fragen, hat dieser Journalist seine gerechte Strafe bekommen. Hatte ich ihn nicht sogar gewarnt?«

Felix starrte den Mann im Priestergewand ungläubig an. Vor wenigen Minuten hatte er einen Menschen erschossen, und jetzt stand ein Priester vor ihm. War das ein Traum? Doch der Fremde sprach einfach weiter: »Ich bin wegen etwas anderem hier. Es geht um Ihre Nothelfer-Skulpturen.« Der Fremde räusperte sich. »Ich bin im Bilde.«

Felix hatte das Gefühl, seine Knie hätten sich in Gelatine verwandelt.

»Aber …«, der Mann, der wie ein Pfarrer aussah, setzte eine gekonnte Pause, »Sie und ich, wir haben ein gemeinsames Interesse daran, dass die Öffentlichkeit nie erfährt, dass es sich hier um Fälschungen handelt. Nie!«

Erst jetzt, nachdem der seltsame Gast das letzte Wort sehr laut gesprochen hatte, fand Felix seine Stimme wieder. »Und was wollen Sie von mir?«

»Nun, mein kleiner Besuch bei Ihnen ist … formulieren wir es einmal vorsichtig … allenthalben mehr von symbolischem Wert. Oder präziser ausgedrückt: Uns wäre daran gelegen, bliebe die Wahrheit über die von Ihnen angefertigten Figuren unter uns. Aber ich denke, das ist auch in Ihrem Interesse.«

Während Felix noch versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging, streckte ihm der namenlose Priester die Hand entgegen. Felix verharrte regungslos. Der Mann trat noch einen Schritt vor und zeichnete Felix, lateinisch klingende Worte flüsternd, mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. Dann sagte er, wieder in normaler Lautstärke: »Sollten Sie jemals die Wahrheit über besagte Skulpturen preisgeben, wird das für Sie nicht gut ausgehen.«

Felix nickte gedankenverloren, warf einen Blick über die Schulter zu dem in der Werkstatt liegenden Toten, ergriff dann die Hand des Mannes, die ihm plötzlich wieder angeboten wurde, und schlug ein.

Zwei

Gabriel de Moño zog routiniert eine Line Koks von dem Marmortisch in seinem Münchner Penthouse. Er atmete tief aus, ging zielstrebig auf den Einbauschrank zu, öffnete die Schiebetür aus edlem Palisanderholz und griff sich den großen schwarzen Hartschalenkoffer, den er für derlei Notfälle immer im Haus hatte. Auf dem Weg zum Ausgang blieb er kurz vor dem Spiegel im Eingangsbereich stehen und überprüfte sein Äußeres. Er entfernte eine Wimper von seiner sonnengegerbten Stirn und band die ergrauten Haare zum Pferdeschwanz. Selbstzufrieden grinste sich de Moño im Spiegel an. Aus der obersten Schublade des Designerboards kramte er noch seine verspiegelte Pilotenbrille hervor und schob sie sich lässig ins Gesicht. Wenige Augenblicke später stand er im Aufzug, auf dem Weg in die Tiefgarage.

Am liebsten hätte er die Reifen des Jaguar durchdrehen und quietschen lassen, um im Höchsttempo zu Felix zu fahren, aber Gabriel war kein Amateur. Dafür hatte er mit seinen fünfundfünfzig Jahren zu viel erlebt. Jetzt ging es darum, cool und besonnen zu bleiben. In angemessenem Tempo wühlte er sich durch den Stadtverkehr und wechselte auf die Autobahn. Ohne große Verzögerungen nahm er wenig später die Ausfahrt nach Hinteröx. Hoffentlich war Felix ruhig geblieben, hoffentlich war er nicht durchgedreht. Hatte er den überaus talentierten, aber eben auch unbedarften Fälscher überfordert? Als de Moño den Kramerladen im Ortskern passierte, kamen ihm zwei Polizeiautos und ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr entgegen. War Felix schwach geworden und hatte die Polizei gerufen? Oder hatte ein Nachbar die Ordnungskräfte alarmiert? Gabriel drosselte das Tempo. Er hatte ein ungutes Gefühl. Nach einer weiteren Kurve bremste er abrupt ab. Ein Holzlaster stand mitten auf der Straße. Polizeibeamte sammelten orange-weiße Hütchen ein und rollten Absperrbänder zusammen. Auch einige Schaulustige standen herum. Gabriel schlängelte sich vorbei und bog dann nach links in den Feldweg zu Felix’ Grundstück ein. Er war erleichtert. Ein Blick auf seine schwarze Rolex sagte ihm, dass er exakt zweiundvierzig Minuten gebraucht hatte. Er war stolz auf seine exakte Prognose. Den Jaguar parkte er so zwischen Haus und Werkstatt, dass er etwaig vorbeikommenden Wanderern die Sicht in den Kofferraum verwehrte, den er nun öffnete um den Hartschalenkoffer herauszunehmen. Er hob den Blick und entdeckte Felix, der mit versteinerter Miene aus dem Fenster starrte und ihm zunickte. Kurz darauf standen die Männer einander gegenüber und schüttelten sich geschäftsmäßig die Hand. »Du bleibst hier draußen und sorgst dafür, dass wir keinen unerwünschten Besuch bekommen, ich kümmere mich um das Problem.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, rollte Gabriel den großen Koffer über den Kies und verschwand in der Werkstatt.

Felix stand noch immer unter Schock. Er fühlte sich zu schwach, um zu helfen. Gleichzeitig raste sein Herz. Irgendwie musste er sich beruhigen. Die Worte des imposanten Kirchenmannes hallten in ihm nach: »Sie haben mich nie gesehen, klar?« Was war das nur für ein Scheißtag. Sollte er Gabriel von dem Priester erzählen? Besser nicht. Felix schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Aus der Werkstatt hörte er gedämpfte Geräusche. Zunächst eingepresstes Stöhnen, als ob ein Gewichtheber gerade eine 200-kg-Hantel in die Höhe stemmen würde. Dann ein Rumpeln, und schließlich ein surrendes Geräusch, das wie ein Reißverschluss klang. Plötzlich tauchten vor Felix’ innerem Auge Bilder von dem Campingurlaub auf, den er als Zwölfjähriger mit seinem verhassten großen Bruder unternommen hatte. Der Urlaub war von Christians Hänseleien und Gemeinheiten geprägt gewesen. Nur in seinem Zelt hatte sich Felix damals wohlgefühlt. Immer, wenn er den Reißverschluss am Eingang zugezogen hatte, hatte sich in ihm ein Gefühl von Sicherheit ausgebreitet. Für einen Moment fühlte er das auch jetzt. Doch dann wurde er wieder unruhig, weil es in der Werkstatt plötzlich totenstill war. Was zum Teufel tat Gabriel da drinnen? Felix öffnete wieder die Augenund ging langsam auf das Fenster der Werkstatt zu. Je näher er dem Gebäude kam, desto schwindliger wurde ihm. Ein kurzer Blick ins Innere reichte, er drehte sich wieder weg. Die Leiche lag nicht mehr auf ihrem Platz, aber das Blut war noch da. Viel Blut, und darin Schleifspuren. Felix setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf die Bank im Garten und zündete sich eine Zigarette an. Ihm war speiübel.

Währenddessen griff sich Gabriel einen Eimer und das Reinigungsmittel aus dem Notfallkasten. Die nächsten fünfzehn Minuten verbrachte er mit emsigem Putzen.

Glücklicherweise war der alte Dielenboden speckig und so gesättigt, dass er das Blut nicht aufnahm. Auch war es noch nicht vollständig eingetrocknet, sonst hätte er die hartnäckigen Flecken nie aus dem Holz bekommen. Nachdem er die sechste Ladung Putzwasser verschrubbt hatte, waren die Blutflecken kaum noch zu erkennen. Gabriel richtete sich auf und sah sich in der Werkstatt um. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht: Da stand die Tänzerinnen-Skulptur, die Felix in seinem Auftrag geschnitzt hatte. Sie wirkte perfekt, wie ein echter Kirchner, saubere Arbeit. Gabriel näherte sich der Holzfigur, den Putzlappen noch immer in der Hand. Der weibliche Akt hatte eine verspielte, naive Anmutung, strahlte Ruhe aus. Gabriel berührte vorsichtig den Sockel der Skulptur und drehte sie leicht. Genervt schüttelte er den Kopf. Die komplette Vorderseite der Tänzerin war mit einer Vielzahl feiner Blutspritzer besprenkelt. Im Gegensatz zum Blut auf dem Boden hatte das unbehandelte Pappelholz diese kleinen Blutflecke bereits aufgesogen. Sie waren in die Maserung des Holzes eingezogen und festgetrocknet. Diese Flecken ließen sich nicht wegwischen. Die Fälschung war wertlos!

Enttäuscht und wütend drehte Gabriel sich um und erblickte Felix, der regungslos im Eingang der Werkstatt stand und auf den schwarzen Leichensack starrte. Der in der Mitte des Plastiksacks verlaufende silberfarbene Reißverschluss war bereits verschlossen, darunter zeichneten sich die Konturen des toten Journalisten ab.

»Die Figur ist im Arsch«, fauchte Gabriel.

»Ich …« Felix brach ab. Was sollte er sagen?

Gabriel rang um Fassung. Das mit der Figur war eine Katastrophe, aber es hatte jetzt keine Priorität. Er bellte einen spanischen Fluch, warf ärgerlich den Putzlappen in den schwarzen Plastikkoffer und griff nach dem Kopfende des Leichensacks. »Los, hilf mir!« Widerwillig packte Felix die Füße. Der Tote war leichter, als er gedacht hatte.

»Zum Kofferraum«, befahl Gabriel. Felix ging rückwärts voraus.

In dem Moment, in dem er aus der Werkstatt heraustreten wollte, hörte er plötzlich hinter sich Schritte im Kies. Blitzschnell drehte er sich um und erkannte Hubert Novak – sicher kam er, um ihm schon wieder einen schlecht bezahlten Auftrag anzubieten. Wie fast immer trug der Fünfzigjährige seine abgewetzte blaue Arbeitshose und ein Karohemd. »Ah, Hubert!«, schrie Felix panisch. »Bleib stehen! Bleib stehen!« Mit aller Kraft schob er die Leiche in seinen Händen, und damit auch den an der Kopfseite tragenden Gabriel, zurück in die Werkstatt. Schnell ließ er das Fußende des Sackes auf den Boden plumpsen, trat wieder aus der Werkstatt heraus und versuchte, die Tür zuzuziehen. Aber das ging nicht, die Leiche lag zu nah am Eingang. Felix warf Gabriel einen hilflosen Blick zu. Der nickte in Richtung Novak. Felix begriff, wandte sich um und trat Novak entschlossen entgegen. Hinter seinem Rücken hörte Felix ein schleifendes Geräusch. Er schwitzte vor Angst. Dann ging die Werkstatttür lautlos und wie von Geisterhand zu. Dies alles dauerte nur einige Sekunden.

Felix stand jetzt so nah vor Novak, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Er musste den Mann von der Werkstatt weglotsen. Unwillkürlich tat der Besucher einen Schritt zurück. »Ja, was ist denn bei dir los?« Er blickte fragend in Richtung Werkstatt. »Seid’s gerade am Leichenentsorgen, oder was?«

Felix war so sehr unter Stress, dass er nicht begriff, dass Novaks Frage als Scherz gemeint war. »Leichen? Wie kommst du denn darauf?«, antwortete er. Seine Stimme zitterte wie bei einem Kind, das gerade der Lüge überführt worden war. Doch dann kapierte er und schob hastig und verkrampft lachend hinterher: »Ach so, jaja, haha – so meinst du das! Klar, wir haben gerade den Deppenschorsch umgelegt.« Felix suchte in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch. Er spürte Schweiß auf der Stirn.

Der ältere Mann strich sich nachdenklich durch den leicht angegrauten Vollbart. »Kein guter Witz. Aber wahrscheinlich weißt du das noch gar nicht«, murmelte Novak mehr zu sich selbst. »Den Schorsch hat’s heute erwischt. Auf der Hauptstraße. Schwerer Verkehrsunfall.«

»Aha«, erwiderte Felix eher desinteressiert. Eigentlich hätte ihn die Nachricht schockieren müssen. Immerhin hatte Georg Seefellner, genannt »Deppenschorsch«, ihm als Strohmann geholfen, seine ersten gefälschten Holzskulpturen in den Kunstmarkt zu schleusen. Der Deppenschorsch war zwar geistig minderbemittelt, aber Felix hatte dessen unerschütterlichen Frohsinn stets geschätzt. Trotzdem spürte er in diesem Moment keinerlei Mitgefühl für Seefellners Schicksal. Er hatte andere Probleme. Ohne sich von Felix’ Desinteresse irritieren zu lassen, fuhr Novak mit seiner Erzählung fort: »Auf seinem Bonanza-Rad haben’s ihn zusammengefahren. Ein Holzlaster. Sieht übel aus. Kann sein, dass er es nicht überlebt.«

Im Gegensatz zu Felix verfolgte Gabriel, der noch immer in der Werkstatt herumfuhrwerkte, Novaks Bericht sehr aufmerksam. Seefellner wusste einfach zu viel. Tatsächlich war er der einzige verbliebene Zeuge, der Felix mit den Fälschungen in Verbindung bringen konnte. Aber mit ein bisschen Glück war er vielleicht wirklich schon tot.

»Und – was willst jetzt du von mir?«, fragte Felix, nachdem Novak aufgehört hatte, von Seefellner zu sprechen.

Ohne auf die Frage zu reagieren, wandte sich Novak dem Jaguar zu und meinte: »Toller Schlitten. Hast du Besuch?«

»Nein, also, ja … also schon.« Felix starrte den Wagen an, dessen Kofferraum immer noch offen stand.

»Der ist in letzter Zeit oft da, bei dir, oder – der Jaguarmann?«

»Ja, also … es geht so. Er ist ein … also, ich … ähm …« Ehe Felix weiterstammeln konnte, hörte er das Quietschen der Werkstatttür. Entsetzt drehte er sich um.