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Anastasia, eine fünfzigjährige Lehrerin, leidet an Burnout. In der Amitola-Klinik lernt sie viele interessante Menschen und vor allen Dingen sich selbst besser kennen. Ungewöhnliche Methoden, neue Erkenntnisse, Sichtweisen und viele erstaunliche Begegnungen helfen Anastasia und weiteren Patientinnen und Patienten, ihren Weg in ein glückliches Leben zu finden. Träume werden wahr, Lebensziele klar, Krankheit als Tür zum Glück - manchmal reicht ein einziger Schritt! Sie suchen Wege, um aus Burnout, Depression und Ängsten herauszukommen - oder wollen beim Lesen nur schmunzeln und sich amüsieren? Lassen Sie sich mitnehmen auf eine spannende Reise voller Farben zur Freiheit des Ichs!
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Seitenzahl: 634
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Prolog
Einweisung
Der Ehemann
Die Studienrätin
Der Sohn
Die Schülerin
Der Justizvollzugsbeamte
Die Verwaltungsfachangestellte
Der Schriftsteller
Die Gymnasiallehrerin
Die Ehefrau
Die Grundschullehrerin
Die Erzieherin
Der Arzt
Die Mutter
Die Gelangweilte
Entlassung
Epilog
Ich denke und fühle wie ein Wurm:
Ich bin ein Wurm.
Ich liege am Boden.
Ich krieche durch das Erdreich.
Ich wühle im Acker.
Ich denke und fühle wie ein Vogel:
Ich bin ein Vogel.
Ich hebe vom Boden ab.
Ich fliege über das Land.
Ich sinke im Sturzflug.
Ich denke und fühle wie ein Fisch:
Ich bin ein Fisch.
Ich schwimme im Wasser.
Ich tauche in den Tiefen der Meere.
Ich denke und fühle wie ein Mensch:
Ich bin ein Mensch.
Ich liege am Boden.
Ich krieche durch den Schlamm meines Daseins.
Ich wühle in den Tiefen der Vergangenheit.
Ich hebe von der Realität ab.
Ich überfliege meine Möglichkeiten.
Ich versinke in Melancholie.
Ich schwimme im Ungewissen.
Ich tauche in Abgründe.
Ich stürze ins Bodenlose.
Ich versinke im Undenkbaren.
Ich denke und fühle wie Gott:
Ich bin sein Ebenbild.
Ich esse vom Baum der Erkenntnis.
Ich habe gesündigt.
Gott verjagt mich aus dem Paradies.
Ich muss sterben.
Ich trinke vom Wasser des Lebens.
Ich kann zu Gott zurückkehren.
Ich werde auferstehen.
Ich möchte das neue Paradies finden.
Wer zeigt mir den Weg?
Sie stand vor der Eingangstür eines hohen Gebäudes. Die Eingangstür war breit, gläsern und verschlossen. Rechts und links der Tür ragten schwarze, breite Balkone wie wuchtige Ungeheuer die Wand entlang nach oben. Sie seufzte. Sie stellte ihre Koffer ab und überlegte, was sie tun könnte. Bis hierher hatte sie es geschafft, mit Zug und Taxi und den letzten Nerven, die sie noch hatte. Doch mit einer verschlossenen Tür hatte sie nicht gerechnet. Es war dunkel und kalt. Es gab keine Klingel. Ein Tastaturfeld mit Zahlen wollte einen Geheimcode zum Öffnen der Tür. Doch sie kannte ihn nicht. Sie schaute ins Innere des Gebäudes. Dämmriges Licht leuchtete ihr entgegen. Es musste doch jemand da sein. Sie sah sich um. Ein großes Schild mit dem Namen „Amitola“ leuchtete in allen Regenbogenfarben vor dem Eingang. Also war sie hier richtig. Aber niemand war zu sehen. Sie klopfte gegen die Scheibe der Tür. Doch es tat sich nichts. Sie setzte sich auf den großen Koffer. Sie wusste nicht mehr weiter. Sie war müde. Sie war erschöpft. Sie war völlig fertig. Sie beschloss vor der Tür hier auf dem Koffer sitzen zu bleiben. Irgendwann würde vielleicht irgendwer sie finden. Oder auch nicht. Vielleicht war ja auch das egal. Sie konnte nicht mehr und sie wollte nicht mehr. Ihre letzten Kräfte schienen verbraucht.
Ihr Kopf hämmerte, ihre Ohren sausten, ihr Magen knurrte und ihr ganzer Körper fing an zu zittern. Sie konnte sich auf dem Koffer nicht mehr halten und kippte zu Boden. Sie verlor das Bewusstsein.
Sie merkte nicht, dass die gläsernen Türflügel auseinander glitten, merkte nicht, dass jemand aus dem Inneren des Gebäudes auf sie zueilte und sie hochhob.
Sie kam zu sich auf einer Liege in einem Ärztezimmer und schaute in ein gütiges Paar blauer Augen. Die blauen Augen gehörten zu einem älteren Herrn mit weißem Haar. Sie schaute ihn verwirrt an. Er lächelte ihr freundlich zu.
„Wo bin ich?“, wollte sie wissen. „Sie sind in der Amitola-Klinik und in Sicherheit. Mein Name ist Dr. Schark. Ich bin der Internist hier in der Klinik.“ Dr. Schark legte eine Pause ein und ließ seine Worte erst einmal wirken. Dabei lächelte er weiter. Dann fragte er: „Und Sie sind….?“ „Anastasia Altmann“, gab Anastasia bereitwillig Auskunft. „Ich habe eine Einweisung in diese Klinik.“ Dabei rieb Anastasia sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf. „Ah, ja“, nickte Dr. Schark, „das haben wir uns schon gedacht. Herzlich Willkommen Frau Altmann.“ „Danke“, sagte Anastasia etwas mühselig und fragte dann verwundert: „Und wie komme ich hier in dieses Zimmer? Ich erinnere mich nicht.“ „Nun, Frau Altmann“, sagte Dr. Schark ernst und schien sich doch ein klitzekleines Schmunzeln nicht verkneifen zu können. „Wir haben Sie vor der Eingangstür gefunden. Sie lagen auf dem Boden. Da haben wir Sie erst einmal ins Haus und in mein Untersuchungszimmer getragen. Ich schaue Sie jetzt mal kurz etwas näher an, o. k.?“ Anastasia nickte. So langsam kam sie wieder zu sich. Sie setzte sich auf. „Wieso lag ich auf dem Boden? Sie meinen auf dem Boden vor der Klinik?“, fragte sie verwundert. „Ja, genau, Frau Altmann“, nickte Dr. Schark sachlich und schaute sie prüfend an. „Wieso Sie auf dem Boden lagen, weiß ich auch nicht. Aber vielleicht können Sie es mir sagen, Frau Altmann.“ „Tja“, meinte Anastasia und rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben erneut am Hinterkopf, „ich muss wohl umgekippt sein.“ Und nach einer kurzen Pause ergänzte sie: „Ja, genau, ich wollte in die Klinik. Doch die Türen waren verschlossen. Ich habe mich auf meinen Koffer gesetzt. Dann muss ich wohl umgekippt sein. Ich weiß es nicht mehr so genau.“ „Ja, so könnte es wohl gewesen sein“, erwiderte Dr. Schark vorsichtig und fragte dann: „Warum haben Sie denn nicht geklingelt?“ „Geklingelt?“, fragte Anastasia. „Tja, gute Frage. Warum habe ich nicht geklingelt? Ah, ich glaube, ich habe keine Klingel gesehen. Ich habe ein Tastenfeld mit Zahlen gesehen, wusste aber keine Kombination. Geklopft habe ich, aber es hat mich keiner gehört.“ „Nun“, sagte Dr. Schark, „das ist etwas unglücklich für Sie gelaufen. Über dem Tastenfeld gibt es eine Klingel, die man betätigen kann, wenn man seinen Türcode vergessen oder wie in Ihrem Fall noch gar nicht bekommen hat. Normalerweise reisen die Patienten nicht nach 17.00 Uhr an. Bis 17.00 Uhr ist die Rezeption besetzt und die Eingangstür offen. Danach benutzen die Patienten in der Regel ihren Schlüsselcode. Sie werden auch einen individuellen Code morgen an der Rezeption bekommen. Dann können Sie die Eingangstür öffnen, wann immer Sie wollen.“ Er lächelte sie freundlich an. Anastasia nickte. So war das also. Sie beschloss, später einmal nach der Klingel zu schauen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dass es solch´ einen Knopf geben sollte. Dr. Schark kehrte zur Untersuchung zurück.
„Wissen Sie, was heute für ein Tag ist, Frau Altmann?“, wollte Dr. Schark wissen.
Was war das denn für eine Frage? Natürlich wusste sie, was heute für ein Tag war. Sie schaute den Arzt irritiert an. Doch der schaute fest zurück und ließ nicht locker. „Nun, es ist Mittwoch,“ erwiderte Anastasia gedehnt. „Gut. Und welches Datum?“ Dr. Schark wollte es genau wissen. Anastasia musste tatsächlich ein bisschen nachdenken. Es war alles so verworren. Ihr Magen knurrte, ihr Kopf schmerzte und wo war eigentlich ihr Gepäck? Sie schaute sich suchend um. Als wenn Dr. Schark ihre Gedanken erraten hätte, sagte er: „Ihr Gepäck ist bereits auf Ihrem Zimmer. Sie werden später dorthin begleitet. Erst einmal beantworten Sie jetzt bitte meine Frage.“ Anastasia schaute in blaue Augen, die nicht von ihr ließen. Sie zuckte mit den Achseln. Es wollte ihr tatsächlich nicht so richtig einfallen. Anastasia rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf. Sie erinnerte sich, dass es ein Mittwoch war. Aber das Datum? Wieso war das jetzt wichtig? „Können Sie mir sagen, welches Jahr wir haben“, half Dr. Schark geduldig nach. Anastasia nickte. Ja, das wusste sie. „2014“. „Gut“, lobte Dr. Schark. „Und jetzt den Monat!“ Sie sah ihn wieder an. Es war dunkel draußen, sie hatte gefroren, es musste kalt sein. Es musste Winter sein. Viele Monate kamen nicht in Frage. Weihnachten war schon lange her, im letzten Jahr. Da fiel es ihr wieder ein: „Februar“. „Sehr gut“, lobte Dr. Schark erneut. „Und jetzt das genaue Datum. Welcher Tag im Februar?“ Dr. Schark ließ einfach nicht locker. Anastasia seufzte. Es war alles so verworren. Was tat sie hier? Wieso fragte man sie solche Sachen? Ihr Kopf schmerzte. Nein, diese Frage konnte sie jetzt nicht beantworten, beim besten Willen nicht. Anastasia rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf. Sie sah den Arzt etwas hilflos an. Dann schaute sie sich im Raum um, ob vielleicht irgendwo ein Kalender an der Wand hing. Nein, es fand sich keiner. Aber sie war doch mit dem Zug gekommen, hatte doch eine Fahrkarte. Die Fahrkarte musste in ihrem Mantel sein. Der Mantel hing über dem Stuhl. Sie stand auf, zog die Fahrkarte aus der Manteltasche und las vor: „Mittwoch, 19. Februar 2014.“ Fast schon triumphierend sah sie Dr. Schark an. Der lächelte etwas gequält und hatte auch gleich schon die nächste Frage parat: „Und wie alt sind Sie?“ Oh je. Wie alt war sie eigentlich? Ihr 50. Geburtstag war noch nicht lange her. Sie schüttelte den Kopf. Nein, das war jetzt wirklich nicht genau zu beantworten. Nein, das konnte sie jetzt nicht denken. Außerdem, war es nicht völlig egal, wie alt sie nun war? Sie seufzte und sagte vage: „Anfang 50.“ Dabei rieb sie sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf. Dr. Schark sah sie lange an, sagte aber dazu nichts weiter. Sie ließ noch ein paar körperliche Untersuchungen über sich ergehen. Dann ging die Tür auf.
Eine Dame, etwa so alt wie Anastasia selbst, kam lächelnd auf sie zu und begrüßte sie voller Liebenswürdigkeit.
„Ah, Se müssa Frau Altmann sai. Se werda scho erwarded. Herzlich Willkomma in der Amitola-Klinik. I bin Schweschdr Lara.“ Anastasia spürte einen Hauch von Geborgenheit.
Dr. Schark stellte Schwester Lara überflüssigerweise noch einmal vor. Wahrscheinlich hielt er Anastasia für nicht ganz zurechnungsfähig. Dann sagte er: „Frau Altmann, Sie können jetzt gehen. Schwester Lara wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen und sich um alles kümmern. Wir sehen uns morgen wieder. Seien Sie uns ganz herzlich willkommen und ruhen Sie sich gut aus.“ Damit war Anastasia aus dem Behandlungszimmer entlassen.
Sie folgte der schwäbelnden Schwester Lara in den ersten Stock. Dort wurde ihr ein Appartement zugewiesen. Das Appartement hatte zwei Zimmer, einen Flur und ein Badezimmer. Ein Zimmer war für sie. Das andere blieb verschlossen. Weiterhin wurde ihr ein Türschließmechanismus, genannt Schließtransponder, gezeigt. Er war für die Appartementtür und für ihre Zimmertür. Überwältigt von den neuen Eindrücken nahm sie die technische Raffinesse jedoch nur vage wahr. Sie bemühte sich aufzupassen und alles richtig zu machen, hatte jedoch das Gefühl, dass das sowieso nicht gelingen würde und dass es sie im Moment in ihrem Zustand nicht interessierte. Hier brauchte sie eigentlich nichts mehr richtig, nichts mehr perfekt, nichts mehr zu aller Zufriedenheit zu machen. Hier durfte sie jetzt einfach einmal sie selbst sein, durfte auch Fehler machen, durfte unzulänglich sein. Sie spürte, dass sie alleine schon bei dem Gedanken an Perfektion zusammenbrechen würde. Sie ließ sich einhüllen von der Liebenswürdigkeit des ankommenden Moments und der unbewussten Gewissheit, dass sie in Sicherheit war. Das Gepäck fand sie in ihrem Zimmer. Sie nahm das Zimmer vage zur Kenntnis, registrierte aber, dass es ein einziges Bett hatte und sie somit alleine schlafen würde. Ihr wurde das Badezimmer gezeigt, das sie sich mit einer weiteren Patientin teilen würde. Sie überlegte vage, ob die andere Patientin bereits in ihrem Zimmer war oder ob sie noch gar nicht angekommen war. Das Badezimmer sah leer aus. Also hatte sie möglicherweise das komplette Appartement derzeit für sich alleine. Sie hatte Kopfweh, sie wollte Ruhe und sie wollte nicht denken.
„Wenn Se so weid sind, noh kommet Sie do zum Abendessa! Se finda mi an der Rezebzion“, sagte Schwester Lara. Sie ließ Anastasia in ihrem neuen Zimmer allein. Anastasia sah sich nur kurz um, wusch sich rasch die Hände und suchte sich dann den Weg zum Speisesaal. Dort wartete noch ein Buffet mit großzügigen Resten an Brot, Wurst, Käse und Salaten auf sie.
Die Abendessenszeit war bereits vorbei, so dass nur noch vereinzelt Patienten und Patientinnen an den Tischen saßen. Anastasia nahm sich von allem etwas und setzte sich an den ersten Tisch, an dem noch zwei weitere Patientinnen saßen. Eine von ihnen stand gerade auf und verließ den Saal. Die andere, eine kleine schwarzhaarige Frau stellte sich vor und sagte ihren Namen, den Anastasia allerdings nicht verstand. Da sie eh´ alles wie durch einen Nebelschleier wahrnahm, unterließ sie es nachzufragen. Sie nannte ihren eigenen Namen und wurde gefragt, wo sie denn herkäme. Brav gab sie Antwort, dass sie aus Nordrhein-Westfalen käme und unter Burnout leide. Weitere Auskunft erschien Anastasia für den Moment nicht angebracht und zu mehr war sie eh´ kaum fähig. Die Frau, die aussah wie eine Italienerin, rutschte zu Anastasia rüber und beobachtete sie beim Essen. Sie murmelte etwas von gesundem Appetit und dachte gar nicht daran, sie, Anastasia, in Ruhe zu lassen. „Leckeres Essen hier!“, sagte die „Italienerin“ und nickte Anastasia anerkennend zu. Die anderen Patienten gingen ihrer Wege, Frauen, Männer, ganz normal aussehende Menschen und Anastasia blieb mit ihrer „Italienerin“ zurück. Schwester Lara schaute vorbei und vergewisserte sich, dass mit Anastasia für den Moment alles in Ordnung sei. „Jo, des isch ja schee, dess Se oi wenich Gesellschafd han. Geld, Frau Müller, Se kümmern sich a bisserl um Frau Altmann. Jo, des isch ja guod“, sagte Schwester Lara. Sie verschwand auch gleich wieder.
Anastasia rieb sich das Kinn mit der linken Hand, kratzte sich mit derselben am Hinterkopf und ergab sich - innerlich seufzend - in ihr Schicksal. Sie bedauerte, dass man sie immer noch nicht in Ruhe ließ und beschloss aber, jetzt, da sie den Nachnamen Müller verstanden hatte, der ja nun wirklich nicht italienisch klang, sich auf Frau Müller einzulassen. Die Ruhe musste dann halt noch ein bisschen warten. „Ich bin Lehrerin“, sagte da Frau Müller und Anastasia blieb nichts anderes übrig als zu sagen: „Ich auch.“ „Das habe ich mir gedacht“, erwiderte Frau Müller ungerührt, „fast alle Patientinnen hier sind Lehrerinnen! Und übrigens duzen sich hier alle Patienten untereinander. Falls du meinen Namen vergessen hast, ich bin Melina. Du bist also in guter Gesellschaft.“ Bevor Anastasia sich überlegen konnte, was sie mit dieser Information anfangen und wie sie sich eine Eselsbrücke zu diesem Namen bauen sollte, stellte Melina Müller gleich die Frage : “Hast du eine Patin bekommen?“
„Patin?“ gab Anastasia fragend zurück, rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf.
„Ah, ich sehe schon, du hast keine Patin bekommen und einen männlichen Paten wahrscheinlich auch nicht. Also, ein Pate ist jemand, der oder die sich um den Neuankömmling kümmert.“ Und bevor Anastasia Luft holen konnte, um etwas zu erwidern, sagte Melina: „Das kann ich ja dann übernehmen!“
„Nun ….“ Anastasia zögerte, rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf, suchte nach einer Ausrede und dem Namen der „Italienerin“, den sie fast sofort wieder vergessen hatte. Doch Melina wiederholte ihren Namen noch einmal, gab auch gleich die passende Eselsbrücke dazu zum Besten: „Melina, so ähnlich wie Melitta, du weißt schon, der Kaffee. Melina Müller, die gerne Kaffee trinkt, stimmt tatsächlich. Kann man sich ganz gut merken. Ich sage es aber auch noch ein paarmal“. Melina Müller war nicht im Geringsten beleidigt, dass Anastasia ihren doch so eingehenden Namen sich nicht so schnell merken konnte. Melina schien gerne und viel zu reden. Anastasia ging – auch wenn diese Mitpatientin noch so nervig erschien und Anastasia eigentlich nur ihre Ruhe haben wollte - eine Patenschaft mit ihr ein.
Melina führte Anastasia auf vielfältigen Wegen durchs ganze Haus und zeigte ihr die wichtigsten Räumlichkeiten. Sie fingen im fünften Stock an, in dem zwei große Ateliers und zwei große Seminarräume untergebracht waren und zwei Psychotherapeuten ihre Praxisräume hatten. Dann arbeiteten sie sich nach unten durch. Der vierte, dritte, zweite und erste Stock waren belegt mit Patientenzimmern, von denen es laut Melina sehr unterschiedliche gab. Im Erdgeschoss befanden sich neben dem Speisesaal und der Küche die Cafeteria und drei verschiedene Wohn- und Aufenthaltsräume in großzügigem Stil. Alle drei waren mit diversen Nischen, in denen hellbraune Ledersofas und Ledersessel, niedrige Tischchen und höhere Schreib- und Spieltische und offene Regale standen, versehen. Sie hatten thematisch ihren jeweiligen Schwerpunkt: In dem einen Wohn- und Aufenthaltsraum gab es einen Fernseher, in dem anderen eine Bibliothek und in dem dritten einen Billardtisch und diverse Gesellschaftsspiele. Die Nischen in den jeweiligen Räumen waren abgetrennt mit hellgrünen Trennwänden oder großen Blattpflanzen. Neben der Rezeption befand sich ein sehr großzügiger Bereich mit diversen Zeitungen und Zeitschriften und zwei PCs mit Internetzugang. Dort konnten die Patienten auf ihre Arzttermine warten und die neuesten Nachrichten abrufen. Die Praxen der meisten Ärzte und Therapeuten waren denn auch auf dieser Ebene, ebenfalls das Sekretariat und der medizinische Treffpunkt. Anastasia studierte die Namen der Ärzte und Therapeuten, konnte sich aber auf die Schnelle keinen Namen merken. „Und nun“, verkündete Melina, „gehen wir in den Keller. Da wirst du staunen!“ Anastasia konnte sich das kaum vorstellen, sie war eh´ schon so müde und wusste nicht, worüber man in einem Keller staunen sollte. Sie wollte protestieren, wollte in Ruhe gelassen werden, wollte keinen Keller besichtigen, wollte eigentlich nur ins Bett. Doch sie schwieg.
„Natürlich können wir auch den Aufzug nehmen“, sagte Melina und ließ den Aufzug bewusst links liegen, um die Treppen hinabzusteigen, „aber wir lernen hier in der Klinik, dass es gesünder ist, Treppen zu laufen, - auch wenn die Versuchung natürlich immer da ist.“ Anastasia folgte ihr gehorsam die Treppenstufen hinunter. Ein Geruch von Chlor und Vorstellungen von Wasser und Leichtigkeit schlichen sich in Anastasias Wahrnehmungen. „Willst du erst den Sportbereich sehen oder erst den Andachtsraum?“, fragte Melina und gab auch gleich die Erklärung dazu: „Das eine liegt ganz links im Keller bzw. im Anbau, das andere ganz rechts.“ Eigentlich war Anastasia nicht nach Entscheidung zumute, aber sie sagte ganz brav: „Rechts!“ So gingen sie dann an der Waschküche mit Waschmaschine, Trockner, Wäscheständer, Bügelbrett und Bügeleisen vorbei an verschiedenen Physiotherapieräumen bis hin zu einem Raum, der schon äußerlich durch eine besondere Tür auffiel. Während alle anderen Türen in dem Weiß der Wände gehalten waren, bestand diese Tür aus einem hellbraunen Holz, das durch seine Dicke bereits von Ferne auffiel. Über der Tür leuchtete ein kleines rotes Lämpchen. In das Holz der Tür waren Figuren eingraviert und als Anastasia davor stand, sah sie, dass es sich um Tiere handelte. Sie strich mit der Hand über das lackierte Holz und erkannte immer zwei gleiche Tiere, die sich schlangenförmig von links unten bis rechts oben ihren Weg bahnten. Sie erkannte Elefanten, Löwen, Pferde, Bären, Hunde, Katzen, Giraffen und verschiedenste Vögel, die in Paaren neben der Schlange der Tiere herflogen. Die Tiere waren in das Holz eingraviert. Anastasia rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Ach“, sagte sie voller Bewunderung, „das sieht ja aus wie bei der Arche Noah.“ Melina lachte leise und sagte: „Willkommen im Andachtsraum, auch genannt Arche! Das hier ist etwas ganz Besonderes!“ Sie flüsterte fast: „Das Lämpchen leuchtet rot. Das bedeutet, dass jemand drin ist. Entweder wir gehen später rein oder ganz, ganz leise.“ Eine Entscheidung wurde den beiden abgenommen, denn die Tür ging auf und eine Frau kam heraus. „Ah“, sagte Melina, „Magdalena, darf ich dir Anastasia vorstellen, sie ist auch heute angekommen. Und sie ist auch Lehrerin!“ Das sagte Melina fast schon verschwörerisch. Magdalena gab Anastasia die Hand, murmelte ein „Herzlich Willkommen!“ und dass sie müde sei und man ja am nächsten Tag noch miteinander plaudern könne. Magdalena unterdrückte ein Gähnen und drückte sich an den beiden Frauen vorbei.
„Komm!“, sagte Melina und hielt Anastasia die Tür der Arche auf. Hinter der außergewöhnlichen Holztür wölbte sich gleich ein dunkelblauer Samtvorhang und Anastasia dachte automatisch an Wasser, Meeresrauschen und assoziierte einen König in einem Boot. Dann standen die beiden Frauen in einer Kapelle, genannt Arche und Anastasia staunte wieder. Es war absolut still. Die Stille hüllte sich wohltuend um Anastasias Kopf und Schultern. Anastasia schaute sich in der Arche um. Der Andachtsraum war in ein warmes rötliches Licht getaucht, das sanft aus der Holzvertäfelung an den Seitenwänden hervor schien. Die Arche war gerade so groß, dass ein paar kleine Holzschemel und ein Tisch mit einer Kerze und einer Bibel Platz fanden. Hinter dem Tisch an der Wand hing eine riesige kreisrunde goldene Scheibe mit einer Figur in der Mitte. Anastasia dachte, dass diese Figur nur Jesus sein konnte. Die Jesusfigur hatte die Arme wie zu einem Kreuz ausgestreckt, die Handflächen zum Betrachter, das Gesicht bedeckt mit Haaren, die Füße überkreuzt und seine Lenden waren mit einem roten Tuch umgürtet. Um den oberen Teil der Scheibe erstreckte sich ein auf die Wand gemalter Regenbogen. Unwillkürlich ging Anastasia ein paar Schritte auf dieses Bild zu. Da erklang leise, zart gedämpfte Musik. Melina hatte die Stereoanlage angeschaltet. Die sanfte Musik fügte sich harmonisch ins Licht und Anastasia setzte sich auf einen der Schemel und schloss die Augen. Melina hockte sich dazu. In einmütigem Schweigen verharrten die beiden Frauen ein paar Minuten. Vor Anastasias geistigem Auge erschien ein riesiges Holzschiff und Noah mit seiner Familie und Tiere über Tiere. Alle standen sie Schlange, um in die Arche zu gehen und dort Zuflucht zu finden. Und auch sie, Anastasia, stand an und wartete geduldig auf Einlass. Gerade als sie die Arche betreten wollte, wurde sie aus ihrem Traum aufgeschreckt. Sie öffnete die Augen und hörte Melina sagen: „Bereit für den sportlichen Teil?“ Anastasia seufzte unhörbar und nickte zögernd. Als sie die Arche verließen, ging das rote Lämpchen über der wunderschönen Archentür aus.
Anastasia folgte Melina in die entgegengesetzte Richtung des Kellerganges. „Jetzt werfen wir erst einmal einen kurzen Blick in den Wanderraum“, sagte Melina und führte Anastasia vom Hauptgang ab in einen recht großen Raum mit einer Tür nach draußen. „Wanderraum?“, fragte Anastasia ein wenig belustigt, rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf. „Ein Raum, in dem gewandert wird? Hier wird doch nicht gewandert?“ „Ja und nein“, lachte Melina, „aber du weißt ja, wie das mit Namen so ist. Plötzlich sagt mal einer einen Namen und dann bleibt es dabei. Also dies hier ist der Raum, von dem aus die Wanderungen starten, dreimal die Woche morgens um 9.00 Uhr. Immer dienstags, donnerstags und freitags. Vielleicht bist du ja morgen früh dabei“, sagte Melina. „Mmh“, erwiderte Anastasia, rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf, „Ich habe keine Ahnung. Aber der Raum hier ist echt praktisch.“ „Ja“, nickte Melina, „hier auf den niedrigen Schuhregalen kannst du deine Wanderschuhe und Gummistiefel deponieren bzw. deine Hausschuhe legen, wenn du deine Wanderschuhe oder Gummistiefel anziehst. Und hier hängen manche Patienten ihre Walking- oder Wanderstöcke auf, wenn sie wollen. Ja und hier an die Haken kannst du deine Wanderjacke, Mütze oder ähnliches hinhängen, dann brauchst du das nicht immer mit dir zu schleppen. Und in diesem Schränkchen findest du Boulekugeln, Frisbeescheiben, Bälle für draußen, usw.“
Dann öffnete Melina mit ihrer Schließtransponderkarte die Tür nach draußen. „Und das ist der Park. Den schauen wir uns jetzt nicht an. Aber in der Regel geht die Wanderung ab hier und durch den Park. Dort gibt es dann noch den Bouleplatz und das Tennisfeld, ein Gartenhäuschen, Bänke, usw.“ Anastasia, rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf und fragte sich, was „und so weiter“ in diesem Fall wohl bedeuten würde und wofür man Gummistiefel benutzen sollte. Aber sie beschloss, dass sie ja nicht am ersten Abend bereits alles wissen musste und dass es ihr eigentlich jetzt schon zu viel war.
Dann führte Melina sie zurück zum Hauptgang des Kellers. Melina öffnete zwei weitere Türen und die Damen befanden sich im Schwimmbadbereich, der sich in einem gedimmten Licht zeigte und im römischen Stil gehalten war. Es gab ein Schwimmbecken, drei Duschen, eine Sauna für ca. fünf Personen und einige Liegen. Neben dem Schwimmbadbereich gab es einen Fitnessraum mit diversen Geräten, wie z. B. einigen Ergometern, und einen riesigen roten Boxsack. In einem weiteren kleinen Raum befand sich ein Solarium. „Wow“, sagte Anastasia, die sich plötzlich munterer fühlte, „ich hätte Lust heute Abend noch ins Wasser zu springen! Meinst du, das ginge?“ Melina zögerte und sagte dann: „Grundsätzlich ist das möglich. Allerdings darf man nicht alleine in diesen sportlichen Bereich gehen.“ „Nicht alleine?“, fragte Anastasia nach und fuhr fort: „Aber ich bin nicht behindert und kann durchaus schon alleine schwimmen, und das sogar ziemlich gut…“ „Ja klar“, erwiderte Melina. „Das sind einfach die generellen Sicherheitsbestimmungen. Ich sag´s halt nur. Und….“ Sie zögerte und fügte dann ein wenig geheimnisvoll hinzu: „Vieles passiert hier paarweise…. Du wirst schon sehen….“ Und bevor Anastasia etwas sagen konnte, fügte Melina, die bereits auf Anastasias Gesicht eine Mischung aus Enttäuschung und Verwirrung sah, hinzu: „Weißt du was? Ich komme einfach mit dir!“ „Ehrlich?“, sagte Anastasia fragend und ihr Gesicht hellte sich merklich auf.
Zurück in ihrem Zimmer schickte Anastasia ihrem Gatten eine kurze SMS, dass sie gut angekommen war. Das musste für den Moment reichen. Dann begab sie sich im Badeanzug und Bademantel wieder in den Schwimmbadbereich. Melina wartete schon dort mit einer Illustrierten und nickte Anastasia freundlich zu. Während Anastasia nicht schnell genug ins Wasser gelangen konnte, setzte sich Melina geduldig auf eine Liege und vertiefte sich in ihre Lektüre.
Anastasia tauchte unter. Das angenehm temperierte Wasser ließ alle Probleme, Kopfschmerzen und überhitzte Gedanken über der Wasseroberfläche zurück. Das Wasser umschmeichelte ihren Körper weich und Anastasia schwamm mit kräftigen Zügen einige kurze Bahnen. Das Becken war nicht besonders groß. Anastasia konnte die Längsseite mühelos tauchend bewältigen. Draußen war es dunkel und im Schwimmbad erzeugte das dämmrige, warme Licht eine gemütliche und heimelige Atmosphäre. Nach einigen Minuten und vielen kräftigen Zügen ließ Anastasia sich einfach auf der Wasseroberfläche treiben. Sie fühlte sich schon erheblich wohler. Sie winkte Melina zu, die ihr beteuerte, sie könne ruhig noch weiter schwimmen. Anastasia nahm dieses Angebot auch gleich wahr und tauchte noch einmal ab. Das Wasser ließ sie all ihre Sorgen vergessen. Ihre Schmerzen ließen für den Moment nach.
Später auf ihrem Zimmer richtete Anastasia sich ein. Sie packte ihre Sachen in die diversen Schränke. Ihr Zimmer war klein, aber das Bett breit, der Sessel neben dem Bett gemütlich, der Kleiderschrank sehr geräumig, der Schreibtisch enthielt einen Kühlschrank wie in einem Hotel und auf einem Beistellschränkchen stand ein kleiner altmodischer Fernseher. Das Zimmer besaß einen Zugang zu einem Balkon, der riesige Ausmaße hatte und nur von ihrem Zimmer aus betreten werden konnte. Das Badezimmer war behindertengerecht und verfügte über eine Fußbodenheizung. Auch im Badezimmer breitete sich Anastasia großzügig aus.
Nachdem sie alle ihre Habseligkeiten verstaut hatte, ging Anastasia sogleich ins Bett. Doch an Schlaf war so schnell nicht zu denken. Ihre Gedanken kreisten und ließen ihr keine Ruhe: Wo war sie hier eigentlich gelandet und warum? Was tat sie hier eigentlich? Sollte sie nicht zu Hause sein, bei ihrer Familie, an ihrem Arbeitsplatz? Stattdessen diese Klinik. Keine Familie. Keine Arbeit.
Sie sagte sich selbst, dass sie doch froh war, hier zu sein, rief sich das Desaster der letzten Monate in Erinnerung, um dann schnell besser nicht daran zu denken. Besser gar nicht denken. Das Denken machte sie verrückt. Sie wollte nicht und nichts mehr denken. Die Albträume waren wieder ganz heftig geworden. Ständig brannte irgendetwas in ihrem Kopf, flogen brennende Gegenstände durch die Luft. Es war ihr, als flögen brennende Menschen durch die Luft. Sie wollte sie auffangen. Das gelang nicht. Die Kopfschmerzen waren teilweise nicht mehr auszuhalten, der Druck auf den Ohren, das Pfeifen… Wenn sie darüber nachdachte, wurde alles noch schlimmer. Nein, sie wollte versuchen nicht mehr zu denken, nein, nicht denken, bloß nicht denken. Auch das Denken hatte nicht mehr funktioniert. Die Worte kamen nicht mehr so wie sie sollten. Sie dachte „ja“ und sagte „nein“. Sie dachte „Tisch“ und sagte „Schrank“. Sie dachte „schön“ und sagte „hässlich“. Und all das merkte sie erst beim Anblick ihres Gegenübers, das sie stutzend und stirnrunzelnd anschaute. Nein, damit war nichts anzufangen. So konnte sie nicht arbeiten, so wurde jegliche Arbeit zur Farce. Sie war der Lächerlichkeit preisgegeben. Nur nicht denken. Sie wollte schlafen, schlafen und am liebsten gar nicht mehr aufwachen. Es hatte doch alles keinen Sinn mehr. Nur schlafen. So wälzte Anastasia sich von einer Seite auf die andere, stand auf, weil sie auf die Toilette musste, legte sich wieder ins Bett, wälzte sich erneut, stand wieder auf, weil die Straßenlaterne sie blendete und der Vorhang nicht komplett zugezogen war. Sie schloss den Vorhang, legte sich wieder hin, wälzte sich, stand auf, weil die Dunkelheit nicht auszuhalten war, ging wieder ins Bett, wälzte sich, stand wieder auf, weil der Wasserhahn im Bad tropfte und ihr auf die Nerven ging, legte sich wieder hin, wälzte sich, stand auf, weil sie schon wieder auf die Toilette musste, legte sich wieder hin, versuchte Bilder ihrer Arbeit zu verscheuchen und konnte es nicht. Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte von Schülern, die auf Tischen tanzten oder sich unter Tischen verkrochen, die Tee kochten und sich an kochendem Wasser verbrühten, die Holz sägten, das sich in hölzerne Finger der Schüler verwandelte, sah Blut tropfen, hörte eine Explosion und dann markerschütternde Schreie, die sich mit andauernden Heulen einer Sirene mischten. Und immer wieder das Feuer, das sich in alles einmischte. Feuer überall. Feuer in fast jeder Situation. Wie konnte es nur so viel Feuer geben?
Ein penetrantes Klingeln weckte Anastasia. Sie war in Schweiß gebadet und todmüde. So war es die letzten Monate fast jeden Morgen gewesen. Statt nachts Erholung zu bekommen war sie morgens todmüde aufgestanden, so als hätte sie in der Nacht einen schweren Kampf gekämpft. Einen Kampf auf Leben und Tod. Einen Kampf mit viel Feuer. Die Nächte waren furchtbar heiß. Der Schweiß lief nur so.
Es war noch dunkel und sie wusste erst nicht, wo sie sich befand. Sie schlug auf den Wecker, wendete ihre Decke, um sich Kühlung zu verschaffen, wälzte sich auf die andere Seite. Doch nicht lange danach läutete der Wecker wieder. Erneut drückte Anastasia die Weckunterbrechung und wälzte sich auf die andere Seite. Dieses Spielchen wiederholte sie noch ein paar Mal, bis sie genervt und hundemüde das Bett verließ und ins Badezimmer torkelte und sich ein paar Hände voll Wasser ins Gesicht warf. Sie zog sich bequeme Kleidung an, dachte im letzten Moment noch an den Schließtransponder und verließ ihr Zimmer.
Frühstückszeit war ab 7.30 Uhr und Anastasia begab sich in den Speisesaal. Ihr war etwas mulmig zumute. Sie fühlte sich von vielen unbekannten Menschen angestarrt, murmelte einen guten Morgen in den Saal, suchte ein bekanntes Gesicht, fand keins und setzte sich auf einen noch unbesetzten Platz an den hintersten Tisch.
Einige Patienten gaben ihr freundlich die Hand und stellten sich mit Namen vor, andere schienen Anastasia gar nicht zu beachten. Ein junges Mädchen Anastasia schräg gegenüber aß ihr Müsli und löste dabei ein Sudoko. Sie blickte gar nicht auf. Eine ältere Patientin strickte an einem Schal mit vielen großen Luftmaschen und erschien ansonsten wie abwesend. Sie blickte unaufhörlich auf ihre Maschen und den Schal und schien in einer anderen Welt zu leben. Sie war von kleiner Gestalt und hatte ihr silbergraues Haar zu einem Dutt gesteckt. Ihr rundes Gesicht machte einen freundlichen Eindruck. Ihr Alter war schwer zu schätzen, vielleicht zwischen 60 und 70 Jahre. Ab und an fasst sie sich mit der rechten Hand an ihren Hinterkopf und befühlte ihren Dutt.
Andere Patienten waren in Gespräche vertieft und schienen an dem Neuankömmling kein Interesse zu haben. Ein junger Mann stellte sich Anastasia mit Albert vor und deutete auf ein junges Mädchen ihm gegenüber. Sie sei Mia. Aber besagte Mia nahm diese Vorstellung kaum wahr. Anastasia rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf und beschloss, sich über nichts zu wundern. Was hatte sie schon mit den anderen zu schaffen? Sie hatte reichlich mit sich selbst zu tun. Und da sie sich beruflich überwiegend um andere Leute kümmerte, hatte sie jetzt auch das Recht, sich einmal mit sich selbst zu beschäftigen. Sollten sie doch alle schweigen! Hauptsache man ließ sie in Ruhe!
Anastasia bediente sich an dem reichhaltigen Frühstücksbuffet mit Obst, Joghurt, Müsli, Saft und Rühreiern, verzichtete auf Brötchen und diverse Belegarten. Alles sah sehr gesund aus. Am Tisch schenkte sie sich Kaffee ein, aß ihr Frühstück langsam und dachte an ihren ersten Termin beim Internisten Dr. Anton Schark um 8.00 Uhr. Die 30 Minuten Frühstückszeit erschienen ihr wie eine Ewigkeit. Sie schaute sich im Speisesaal näher um. Unauffällig natürlich, so als wenn sie selbst dadurch unsichtbar bliebe. Auf den sieben Tischen waren je zwei kleine Vasen mit je zwei gelben Tulpen gestellt. Tulpen im Februar, und dazu noch echte. Erstaunlich. Passend zur Tulpenfarbe gab es gelbe Servietten, in die das Besteck eingehüllt war und eine Tasse für jeden Patienten. Kaffeekannen standen auf den Tischen, wer wollte, ließ sich Tee extra kommen. Eine Servicekraft eilte zwischen den Tischen hin und her, half, wo es nötig war und rollte den mit gebrauchtem Geschirr voll beladenen Servierwagen in die Küche, um einen leeren gleich wieder zurückzufahren. Sie schien alle Hände voll zu tun zu haben.
Die Patienten sahen auf den ersten Blick ganz normal aus. Die Mehrzahl war weiblich. Alle Altersstufen von ca. 16 bis etwa Mitte 70 oder vielleicht sogar Anfang 80 waren vertreten. Manche Patienten unterhielten sich angeregt, besonders die an den ersten beiden Tischen. Manche Patienten lachten, manche schwiegen, manche schienen abwesend. Erstaunt stellte Anastasia erneut für sich fest, dass alles möglich war.
Anastasia sah Melina gut gelaunt den Speisesaal betreten und wendete sich intuitiv ab. Doch Melina entdeckte sie und steuerte gleich auf Anastasia zu.
„Nun, guten Morgen, Anastasia, wie hast du geschlafen?“, fragte Melina freundlich grinsend. Anastasia freute sich zwar einerseits ein bekanntes Gesicht zu sehen, konnte aber diese Fröhlichkeit kaum aushalten. Sie winkte ab, rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf und murmelte ein „ Es geht so“ und dass sie jetzt gleich um 8.00 Uhr einen Arzttermin habe und gehen müsse. Damit ließ sie Melina etwas verdutzt stehen. Aber als Anastasia ihr Geschirr auf den Servierwagen geräumt hatte, sah sie, dass Melina bereits mit anderen Patienten in lebhaften Gesprächen verwickelt war. Anastasias Schroffheit ließ Melina unbeeindruckt.
Dr. Schark fragte sie als erstes nach ihrem Geburtsjahr. Er hatte die Unterlagen vor sich liegen. Anastasia sah ihn an und sagte: „Sie wissen, wann ich geboren bin.“ „Ja“, nickte Dr. Schark. „Ich weiß es, aber wissen Sie es?“ Anastasia merkte, wie sie ein wenig rot wurde. Da fiel es ihr wieder ein, dass sie gestern Abend nicht gewusst hatte, wie alt sie war. Sie beeilte sich zu sagen: „1964“. Dr. Schark nickte fast schon erleichtert: „Gut. Das hätten wir dann…“ Anastasia überlegte kurz, was er denn damit wohl meinen könnte. Allerdings hatte sie zum Nachdenken nicht wirklich Zeit, denn es ging weiter mit Blutdruck messen, Blut abnehmen, Reflexe überprüfen. Sie musste Fragen nach Medikamenten, Operationen, Allergien und Diabetes beantworten. Er war liebenswürdig wie am Abend zuvor und trug wieder eine verwaschene Jeans, vielleicht ja die gleiche wie gestern. Sicher war für ihn das meiste reine Routine.
Anschließend erklomm Anastasia die Treppen zu ihrem nächsten Termin. Oberarzt Dr. Armin Hochstein hatte seinen Praxisraum in der 5. Etage. Er war zuständig für Neurologie und Psychiatrie und von hagerer und langer Statur mit schwarzen, etwas ausgedünnten Haaren, durch die er sich zeitweilig mit seiner rechten Hand fuhr. Er trug dunkelblaue Jeans und schwarze vorne spitz geschnittene Schuhe. Er begrüßte Anastasia ebenfalls, fragte nach der Einweisungsursache, schaute Anastasia von oben bis unten mit einem wachen Blick an und fragte: „Wie lautet doch gleich Ihr Geburtsjahr?“ Anastasia schaute ihn erstaunt an, wunderte sich, wie schnell gewisse Informationen sich in dieser Klinik verbreiten und sagte fast ohne nachzudenken „1964“. Das schien Dr. Hochstein fürs erste zu reichen.
Im Anschluss begab sich Anastasia gleich zu Dr. Novelle.
Dr. Alan Novelle hatte seinen Wirkungsbereich gleich neben Dr. Hochstein. Dr. Novelle thronte gemütlich hinter einem ziemlich großen Schreibtisch. Er war älteren Jahrgangs mit weißen, ordentlich zurückgekämmten Haaren, einem gut sitzenden Oberhemd mit Krawatte und Pullunder. Er hatte ein gütiges Lächeln und ein leichtes Schmunzeln um die Lippen, das sich durchaus in einen strengen und unnachsichtigen Blick verwandeln konnte. Er war ebenfalls Neurologe und Psychiater und Anastasias Bezugstherapeut.
Dr. Alan Novelle hielt sich nicht lange mit Begrüßung und Smalltalk auf, sondern drückte Anastasia gleich einen Stapel Fragebögen in die Hand, einen weißen DIN A-4 Zettel und einen grünen Pass gleichen Formats, genannt Amitola-Pass. Dieser grüne Amitola-Pass war Anastasias individueller medizinischer Stundenplan. Auf dem weißen Zettel waren auf der Vorderseite in chronologischer Reihenfolge alle Aktivitäten der Klinik von montags bis freitags und von morgens bis abends aufgelistet. Auf der Rückseite befanden sich Vorschläge für Wochenendaktivitäten. Für den Rest dieser Woche und für die kommende Woche legte Dr. Novelle Anastasias ersten Stundenplan fest. Weiterhin reichte er ihr einen Zettel mit dem Geheimcode für das Öffnen der Kliniktür. Dann drückte er ihr alle Zettel in die Hand. Anastasia blickte nicht so richtig durch den ganzen Zettelkram durch. Sie überlegte nachzufragen, beschloss aber, sich alles in Ruhe später anzuschauen. Sie wollte nicht schon wieder negativ auffallen.
„Für heute, Donnerstag, reichen erst mal zwei Aktivitäten, Madame“, meinte Dr. Novelle, „gehen Sie in die Wutgruppe und in die Depressionsgruppe.“ Anastasia schaute ihn etwas verwundert an: „Depressionsgruppe? Aber ich habe keine Depressionen. Ich habe Burnout.“ Dr. Novelle schaute sie an und erwiderte: „Mais oui, wir werden sehen. Gehen Sie einfach mal hin, Madame!“ Anastasia wollte noch ergänzen, dass sie auch keine Wut habe, schluckte den Gedanken jedoch hinunter, rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf. Dr. Novelle schaute sie freundlich lächelnd an und sagte voller Weisheit: „Möglicherweise denken Sie, dass Sie auch keine Wut haben. Das ist ganz normal, zumindest für den Moment. Lassen Sie sich einfach mal drauf ein! Wir werden sehen.“ Im Hinausgehen nahm Anastasia ungewöhnliche Gemälde vom Eiffelturm und von Sacre Coeur wahr und beschloss, bei der nächsten Sitzung sich die Gemälde etwas genauer anzusehen.
Mit Blick auf die Uhr begab sie sich zum Umziehen in ihr Zimmer. Die Wutgruppe stand als nächstes auf dem Stundenplan.
Gerhard Paulus öffnete am Donnerstag, den 20. Februar 2014 um kurz vor 10.00 Uhr die Sporthallentür und legte seinen grünen Amitola-Pass auf das Schränkchen mit den Sportutensilien.
Anastasia war schon da und sah ihn hereinkommen. Er lächelte und ging auf sie zu, stellte sich vor. Anastasia fand ihn überaus sympathisch und freute sich, seine Bekanntschaft zu machen. „Willkommen in der Wutgruppe“, sagte Gerhard. „Ich nehme an, du bist Lehrerin von Beruf?“ Anastasia nickte, rieb sich das Kinn mit der linken Hand, kratzte sich mit derselben am Hinterkopf und sagte ihren Namen und fragte: „Und du? Du bist nicht zufällig auch Lehrer?“ „Nein“, sagte Gerhard, „ich bin Pastor, Ehemann und Vater von fünf Kindern.“ Sie war überrascht. Einen Pastor als Patient hatte sie hier nicht erwartet und einen Vater von fünf Kindern auch nicht. Aber es blieb keine Zeit für weitere Gespräche. Gerhard zwinkerte ihr zu, was wohl so viel heißen sollte, dass sie später mal miteinander reden könnten.
Zwischenzeitlich waren noch einige weitere Teilnehmer gekommen und die Sporttherapeutin Frau Ullauny rief alle zusammen in einen Kreis. „Liebe Patienten und Patientinnen, vor allem die, die neu sind – Frau Altmann und Frau Dienstag“, und damit nickte sie zu Anastasia und Magdalena ´rüber – „darf ich ganz herzlich hier in der Wutgruppe begrüßen. Hier haben Sie die Gelegenheit Ihren Ärger, Ihre Wut, Ihren Frust einmal so richtig rauszulassen. Sie dürfen all das tun, was Sie sonst nicht dürfen. Hier dürfen Sie Meißner Porzellan zerdeppern, natürlich kein echtes, aber durchaus in Form von Bällen, großen und kleinen, ganz nach Belieben. Hier dürfen Sie so richtig schreien, laut und kreischend, hier dürfen Sie unflätige Wörter benutzen, hier dürfen Sie Dinge zerreißen, vielleicht nicht Ihren teuersten Anzug oder das beste Ballkleid, sondern wir nehmen dazu die Zeitung. Hier dürfen Sie einmal so richtig zuschlagen. Dazu nehmen wir die Zeitung und einen großen Ball. Also, Sie sind hier in einem geschützten Raum, wir ziehen auch die Vorhänge der Halle zu, damit niemand von draußen hereinschauen kann und Sie dürfen so richtig loslegen!“ Anastasia machte große Augen und schaute Gerhard verwundert an. Dieser grinste und nickte einfach nur. „Nehmen Sie sich alle einen großen Ball. Wir fangen an, in der Halle mit dem Ball zügig zu gehen und den Ball so feste wie möglich auf den Boden zu schmettern. Lassen Sie dann den Ball bis an die Decke hüpfen!“ Nach dieser Ansprache wurde es laut in der Halle und die Bälle sprangen nur so gegen die Decke. Nach ein paar Minuten ertönte die nächste Aufgabe: Bälle an die Wand werfen, so feste wie möglich, und dabei schreien!
Anastasia beobachtete Gerhard. Der schien nur auf so ein Kommando gewartet zu haben. Er warf und schrie, warf und schrie und schrie. Er nahm keine Rücksicht auf andere. „Du verdammtes Miststück!“ Ball an die Wand. „Denk doch an die Kinder!“ Ball an die Wand. „So eine verdammte Scheiße.“ Ball an die Wand. „Was denkst du dir eigentlich dabei?“ Ball an die Wand. Um ihn herum ähnliches Geschrei. In der Halle tobte der Lärm, doch das war Gerhard egal. Neben sich hörte Anastasia eine Patientin brüllen: „Nein!“ und „Mit mir nicht!“ und „Lasst mich in Ruhe!“ und „Aaaaahhhhh“ und „Oooohhhh“ und „Uuuuhhhhh“ und „Miststücke!“ Nach einigen Minuten waren alle am Keuchen und Frau Ullauny ließ einen Trillerpfiff los als Zeichen des Stopps. Eine Teilnehmerin verließ die Halle, weil sie den Lärm nicht mehr aushalten konnte. Dann kündigte Frau Ullauny die nächste Übung an: „Meine Damen und Herren, jeder nimmt sich jetzt eine Zeitung – sie deutete auf einen Stapel vor sich – und rollt sie zusammen. Dann hauen Sie mit der Zeitung, als wenn sie ein Holzstück wäre, feste auf den Gymnastikball. Stellen Sie sich vor, der Ball hätte etwas ganz Schlimmes getan und müsste ordentlich verprügelt werden. Auch dabei dürfen Sie schreien, wenn Sie wollen. Gerhard rollte eine Zeitung und drosch auf seinen Gymnastikball los, als ginge es um sein Leben. Anastasia fragte sich, wen Gerhard da wohl gerade gedanklich verprügelte. Der Ball wehrte sich nicht und Gerhard schlug und schlug und schlug. Dabei brüllte er wie am Spieß, schrie den Ball an und schrie und schrie und schrie. Seine Umgebung hatte er vergessen. Anastasia sah und hörte ihn sich gebärden wie einen Wahnsinnigen. Sie bewunderte Gerhard dafür, wie er aus sich herausgehen konnte. Er schien ein Ventil für seine Wut gefunden zu haben. Soweit würde sie auch gerne kommen. Noch verhielt sie sich eher zurückhaltend, traute sich noch nicht, so richtig loszulegen. Aber es war ja auch erst ihr zweiter Tag. Gerhard warf sich über den Ball und haute mit den restlichen Fetzen seiner Zeitung auf den Boden und schluchzte dabei wie ein kleines Kind.
Auf ein Zeichen von Frau Ullauny hielten die Patienten inne. In der Halle verteilten sich die Zeitungsfetzen und die Sporttherapeutin ließ die Teilnehmer die Schnipsel in Säcke packen. Dann versammelte sie alle in einen Kreis und ließ die Teilnehmer auf ihren Gymnastikbällen Platz nehmen. „Wie geht es Ihnen nach diesen Übungen?“, fragte sie die Teilnehmer. Die Teilnehmerin, die herausgegangen war, war zwischenzeitlich wieder hereingekommen und berichtete, dass ihr die überlauten Geräusche heftige Ohrenschmerzen verursachten und sie deswegen nicht in der Halle bleiben konnte. Gerhard sagte, dass es ihm gut täte, seine Wut, seine Enttäuschung und seinen Ärger rauszubrüllen. Anastasia schilderte, dass sie sich noch nicht getraut hätte, ihren Ärger voll rauszulassen und dass sie das mehr und mehr lernen wollte. Die anderen Teilnehmer erzählten etwas Ähnliches. Dann wurden die Bälle weggeräumt, Frau Ullauny unterschrieb die grünen Amitola-Teilnehmerpässe und die Stunde war vorbei. Gerhard war nass geschwitzt.
Anastasia verließ mit Gerhard zusammen die Halle. „Wie sieht dein weiterer Stundenplan aus?“, fragte er Anastasia. „Depressionsgruppe“, sagte Anastasia, rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf und fügte schnell hinzu: „Aber ich weiß gar nicht, was ich da soll. Dieser Dr. Novelle hat das einfach bestimmt. Also werde ich mal schauen, was es da so gibt.“ Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum ihr Bezugstherapeut sie in diese Gruppe schickte. Doch Gerhard lächelte sie wissend an und sagte nur: „Dann bis gleich. Ich bin auch dort.“
Die Depressionsgruppe fand um 11.00 Uhr im fünften Stock unter dem Dach der Klinik in einem kleinen Seminarraum statt. Der Seminarraum war ausgestattet mit ca. 15 Stühlen, die zu einem Kreis gestellt waren. Weiterhin gab es ein Flipchart, eine Stellwand, einen Fernseher, einen Beamer unter der Decke und ein Moderationstischchen in einer Ecke. Durch das Fenster hatte man einen wunderschönen Blick auf bewaldete Hügel mit der einen oder anderen Burgruine. Die Leitung der Depressionsgruppe hatte Frau Dr. Ramona Willandt, Fachärztin für psychosomatische Medizin. Frau Dr. Willandt war bereits anwesend, als die Teilnehmer eintrudelten. Diejenigen, die die Treppen benutzt hatten, um in den fünften Stock zu gelangen, schnauften teilweise ganz schön heftig.
Als Anastasia den Raum betrat, war Gerhard schon anwesend. Außerdem erkannte sie Melina und Magdalena. Erfreut, sich nicht mehr ganz so fremd zu fühlen, setzte Anastasia sich auf den freien Platz neben Melina. Auf Anastasias anderer Seite saß eine Frau mit feurig roten, streichholzkurzen Haaren. Anastasia fühlte sich irgendwie von diesem Rot berührt. Schnell schaute sie woanders hin.
Auch hier wurden die Amitola-Pässe abgegeben und von der Referentin abgezeichnet. Anscheinend konnte man ohne diesen grünen Zettel keine einzige Veranstaltung besuchen.
Anastasia, rieb sich das Kinn mit der linken Hand, kratzte sich mit derselben am Hinterkopf und betrachtete eine Dame mit Strickzeug. Sie war ziemlich kurz geraten und hatte einen kleinen Buckel. Sie saß auf einem Stuhl und ihre Beine reichten so gerade auf den Boden. Sie strickte noch ein paar Maschen und packte dann das Strickzeug zusammen und legte es hinter sich auf den Stuhl. Dann lehnte sie sich an die gepolsterte Stuhllehne und fasste sich an den Hinterkopf. Ihre Haare hatte sie zu einem Dutt frisiert. Sie hatte eine leicht gebogene Nase und schmale Lippen und trug dunkle, etwas altmodische Kleidung.
Frau Dr. Ramona Willandt, Fachärztin für psychosomatische Medizin, war hochgewachsen, um die 50, komplett in blau gekleidet mit einem knielangen Rock, der ihre schlanken Beine sehr vorteilhaft betonte. Ihre rötlichen Haare waren komplett zurückgekämmt und zu einem strengen Dutt gesteckt, der mit einem dicken blauen Band zusammengehalten wurde. Anastasia schaute sie fasziniert an.
„Ich begrüße Sie ganz herzlich in der Depressionsgruppe. Wer ist heute zum ersten Mal hier?“
Anastasia und Magdalena meldeten sich.
„Herzlich Willkommen, Frau Altmann und Frau Dienstag. Sie haben Glück. Wir fangen heute wieder mit der ersten Einheit dieser Reihe zum Thema Depression an. Man kann natürlich jederzeit einsteigen, muss nicht mit der ersten Sitzung beginnen. Heute beschäftigen wir uns mit dem Thema Beschwerden. Was denken Sie denn“, - und dabei schaute sie alle Anwesenden in der Runde an – „was es bei Depressionen für Beschwerden geben könnte?“, fragte Frau Dr. Willandt. Anastasia blickte auch in die Runde. Sie fühlte sich außen vor und überließ das Thema gerne den anderen Patienten und Patientinnen.
Frau Dr. Willandt schrieb auf das Flipchartpapier als Überschrift „Beschwerden“. Da anscheinend niemand sich traute etwas zu sagen, half die Referentin nach: „Nun, meine Damen und Herren, wir haben uns doch schon mal über die drei Bereiche, die einander bedingen unterhalten. Wissen Sie noch, welche das sind?“ Gerhard rettete die Situation. Er sagte in den Raum hinein: „Körper, Gedanken, Gefühle.“ Frau Dr. Willandt war hocherfreut: „Herr Paulus, vielen Dank!“ Und sie schrieb die drei Begriffe aufs Flipchart und ließ hinter jedem Wort noch reichlich Platz. „Nun, meine Damen und Herren“, sagte sie wieder an die Teilnehmer gewandt, „fangen wir mit dem Körper an. Welche körperlichen Beschwerden kann man denn in der Depression haben?“ Allmählich wurden die Patienten und Patientinnen munterer. Sie riefen der Referentin Begriffe zu wie:
Körper:
Schlafstörungenin Schweiß gebadetAppetit – zu viel oder zu wenigHeißhunger auf Süßesman fühle sich schwer, kraftlos, antriebslos, müde, gelähmt, sei erschöpftinnere Unruhe.Zum Bereich Gedanken schrieb sie dann auf Zuruf auf:
Gedanken:
negative Gedanken,vergangenheitsbezogene Gedanken,Fehlersuche,Selbstvorwürfe,Selbstzweifel,Sorgengedanken bis hin zum Selbstmord,Gedanken, die schwer, dunkel und sinnlos erscheinen.Frau Dr. Ramona Willandt schrieb mit unglaublicher Schnelligkeit, lobte dabei die Patienten und Patientinnen für ihre Beiträge. Die Gruppe war in Fahrt gekommen. Jeder versuchte jetzt etwas beizusteuern.
Da meldete sich eine Patientin, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte leise: „Darf ich einen Gedanken erzählen? Genauer gesagt ist es eher ein Bild, eine Art Gedankenbild sozusagen.“ Melina beugte sich zu Anastasia und flüsterte ihr ins Ohr: „Das ist Amanda. Du wirst sie noch kennenlernen.“ Anastasia nickte.
„Aber natürlich, Frau Grammaire, erzählen Sie!“, sagte jetzt Dr. Willandt und hielt in ihrem Schreibfluss inne. Sie und die Gruppe sahen die Dame, die Amanda hieß, interessiert an. „Also vielleicht sind es auch nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle. Ich kann das nicht so genau trennen.“ „Das macht nichts“, erwiderte Frau Dr. Willandt. „legen Sie einfach los, Frau Grammaire!“
„Also“, begann Amanda und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, „wenn ich Depressionen kriege, dann ist das so, als falle ich in einen tiefen Schacht. Ich sehe so einen runden Brunnenschacht, in dem ich immer tiefer und tiefer falle. Ich kann nichts dagegen tun. Ich weiß auch nicht, wann es passiert. Es passiert einfach. Ich versuche meinen Fall zu stoppen, ihn abzubremsen. Ich sehe eiserne Ringe in der Brunnenwand. Ich versuche sie zu ergreifen. Es gelingt mir nicht. Im Gegenteil ich verletze mich noch daran. Der Fall ist furchtbar. Ich kann dann meine reale Umgebung nicht mehr richtig wahrnehmen. Ich spreche dann auch nicht mehr. Ich kann nicht um Hilfe rufen. Irgendwann ist der Fall beendet. Dann liege ich auf dem Boden, fühle mich krank und überall verletzt. Alles tut mir weh. Ich kann mich nicht rühren. Ich liege da und muss mich erholen. Es ist grausam. Aber ich lebe noch. Ich bleibe einfach liegen, versuche an etwas Schönes zu denken. Und wenn mir etwas Gutes einfällt, das mich oben erwarten könnte, also sozusagen eine Art Belohnung, beginne ich den Aufstieg. Ich nehme die eisernen Ringe und gehe Schritt für Schritt nach oben. Das ist mühselig. Es ist auch mehr ein Hinaufziehen. Irgendwann bin ich oben, schiebe mich über den Brunnenrand und liege erschöpft neben dem Schacht. Dann brauche ich wieder eine Zeitlang, bis ich fähig bin mich in der realen Welt zu bewegen und die Dinge zu tun, die ich tun muss. Lange Zeit bin ich völlig erschöpft.“ Amanda stoppte. Sie atmete schwer und wischte sich erneut eine lockere Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Anastasia hatte das Gefühl, als hätte Amanda gerade so einen Schacht-Aufstieg hinter sich gebracht.
„Vielen Dank, Frau Grammaire“, sagte da Frau Dr. Willandt. Sie haben uns ein sehr anschauliches Beispiel für Depression gegeben. Wie fühlen Sie sich jetzt damit?“ Amanda überlegte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht: „Dass ich es mal sagen konnte, damit fühle ich mich gut. Irgendwie erleichtert. Während der Depression, also während des Fallens, sind die Gefühle eher negativ.“ „Damit haben Sie, Frau Grammaire, der Gruppe das Stichwort gegeben für den dritten Bereich, nämlich den Bereich der Gefühle.“
Zur Gruppe gewandt fragte Dr. Willandt dann: „Was denken Sie, lösen diese körperlichen und gedanklichen Beschwerden für Gefühle beim Menschen aus?“ Die Patienten und Patientinnen sprudelten nur so:
Gefühle:
SchuldgefühleSelbstunsicherheitMinderwertigkeitsgefühleTraurigkeitÜberforderungOhnmachtAngstPanikAusweglosigkeitEntfremdungHilflosigkeitSinnlosigkeitSchamman fühlt sich orientierungslos, gelähmt, motivationslos, hoffnungslos, unverstanden, schwer, dunkel, wie in einem tiefen Loch, aus dem man nicht mehr heraus komme.Dr. Willandt war begeistert und hatte fast das gesamte Flipchart vollgeschrieben.
Anastasia erstarrte und ihre Augen wurden immer größer. Sie sah niemanden. Gerhard schaute sie besorgt an.
Dr. Willandt schien all das zu ignorieren. Sie wollte Ergebnisse und sagte: „Nun, und wenn wir uns jetzt die Beschwerden des Körpers, die Gedanken und die Gefühle ansehen, die wir hier zusammengetragen haben, was folgern wir daraus?“ Und die Antworten kamen prompt:
Konsequenzen:
man resigniert,ist antriebslos,ist eingeschränkt,hat Kommunikationsstörungen,wird aggressiv,und zum Schluss kommt der Rückzug.Das Wort Rückzug kreiste Frau Dr. Willandt dick ein.
Damit war die Stunde herum. Frau Dr. Willandt schaute Amanda intensiv an: „Alles o. k.?“ Amanda nickte und strich sich erneut eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Sprechen Sie mit Ihrem Bezugstherapeuten über ihren persönlichen Brunnen, Frau Grammaire, und besonders über die Belohnungen, die sie erwähnt haben. Versprochen?“ Amanda nickte wieder und sagte gequält lächelnd: „Versprochen!“ Und mit den Worten „bis zum nächsten Mal“ war Frau Dr. Ramona Willandt fast sofort aus dem Raum verschwunden.
Anastasia saß völlig erschlagen auf ihrem Stuhl und rührte sich nicht. Gerhard näherte sich ihr vorsichtig. „Hey“, sagte er leise. „Alles o.k.?“ Anastasia rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf und schüttelte den Kopf. Nichts war o. k. Gar nichts war o.k. Sie schüttelte wieder den Kopf und brach in Tränen aus. Gerhard seufzte und setzte sich neben sie. „Was ist denn los?“, fragte er behutsam und reichte Anastasia ein Taschentuch. „Und jetzt?“, schluchzte sie fragend unter Tränen. „Und jetzt?“ „Was meinst du denn damit?“, fragte Gerhard geduldig nach. „Jetzt lässt sie uns einfach mit diesem Flipchart hier sitzen!“ rief Anastasia und machte eine weit ausholende Bewegung zum genannten Medium, als wenn das an allem schuld wäre. „Und diese Patientin mit ihrem Depressionsbild. Was macht sie jetzt damit? Man kann sie doch nicht einfach so gehen lassen! Wo bin ich hier bloß gelandet?“ Sie rang nach Worten und fand keine. Gerhard, der als Seelsorger in seiner Gemeinde durchaus einige Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht und mit schwierigen Situationen hatte, kam ihr zur Hilfe. „Vertrau darauf, dass Frau Dr. Willandt alles im Griff hat. Diese Patientin, sie heißt Amanda, kann jederzeit Hilfe bekommen, wenn sie die will. Sie hat einen Bezugstherapeuten, zu dem sie gehen kann. Und jetzt gerade verließ sie doch mit einigen Patientinnen zusammen den Raum hier. Möglicherweise gibt es da noch ein Nachgespräch. Mach dir um Amanda bloß keine Sorgen! Kümmere dich jetzt einfach mal um dich!“
Anastasia nickte, rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf. Dann wiederholte sie: „Trotzdem lässt Dr. Willandt uns, oder von mir aus auch nur mich, einfach mit diesem Flipchart und den aufgeschriebenen Sachen hier sitzen. Sie redet über Depressionen, als wenn wir über Kochrezepte oder über ein Fußballspiel reden würden. Aber hier geht es doch um Probleme, um richtig heftige Probleme, oder?“ Damit schaute sie Gerhard aus verweinten Augen an. „Du meinst“, bot er an, „du hättest jetzt gerne eine Lösung?“ „Lösung?“ rief Anastasia fragend aus, rieb sich hektisch das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf bis sie fast blutige Nägel hatte, „du verstehst das nicht. Ich dachte, ich hätte keine Depressionen, ich bin doch nicht wegen Depressionen hier, und dann das da!“ Sie heulte jetzt richtig drauf los. „Das…, das…, das ist bei mir auch so!“ stotterte sie, machte wieder eine Armbewegung durch die Luft und zum Flipchart hin und ließ den Tränen freien Lauf.
„Weißt du was“, sagte Gerhard, „komm´ hier erst mal ´raus aus dem Raum. Wir gehen in die Cafeteria. Es ist besser, wenn wir hier erst mal fortkommen.“ Damit stand er auf und wartete, bis Anastasia ebenfalls aufstand. Dann schob er sie mit leichtem Druck aus dem Raum und ging mit ihr die Treppen herunter in die Cafeteria. Er setzte sie in eins der bequemen Sesselchen und betrachtete Anastasia, die nur noch ein Häufchen Elend war und sich ständig am Kopf kratzte. Eigentlich hatte er ja mit sich selbst genug zu tun. Aber er konnte Anastasia unmöglich jetzt sich selbst überlassen. Sie musste wohl etwas Wichtiges für sich entdeckt haben. Als sie sich etwas beruhigt zu haben schien, sagte er: „Erzähl, was ist los?“ Und Anastasia sagte noch leicht schluchzend: „Ich dachte, ich wäre wegen Burnout hier. Aber vieles von dem, was da auf dem Flipchart steht, das ist bei mir auch so.“ „Was denn?“, fragte Gerhard nach. „Also, z. B. schlafe ich schlecht, bin müde, bin antriebslos, kriege meine Arbeit nicht mehr geregelt, bin unsicher geworden, bin motivationslos, nehme Situationen anders wahr als andere, rede manchmal Unsinn. Alles wird so schwer und dann die Kopfschmerzen, die Ohrenschmerzen. Das Piepen und das Stechen. Ich habe Albträume und wache morgens schweißgebadet auf. Und jetzt merke ich, dass ich wütend werde. Dabei dachte ich, ich wäre gar nicht wütend. Irgendwie ist alles verkehrt!“ Dabei schnäuzte sie sich die Nase und Gerhard wartete ab. „Ich glaub´“, sagte sie resümierend, „ich ticke nicht mehr richtig!“ „Tja“, sagte Gerhard, nicht im mindestens gerührt, „das geht uns allen hier so.“ „Wirklich?“, fragte Anastasia, die bisher nur sich selbst gesehen zu haben schien. Das Kratzen ließ etwas nach. „Aber ja doch“, entgegnete Gerhard. „Was meinst du denn, warum über 40 Patienten und Patientinnen hier sind? Wir haben alle unser Päckchen zu tragen und – um deine Worte zu nehmen – wir ticken im Moment alle nicht richtig. Deswegen sind wir hier! Du bist also in guter Gesellschaft.“ Dabei schaute er Anastasia voller Mitgefühl an. „Mir selbst ging es so, als ich ankam. Und den anderen wohl auch. Ich habe zwar nicht mit allen gesprochen, aber mit vielen. Wir halten uns alle für was besonders Negatives und denken, wir wären Einzelfälle. Du wirst schon sehen, du hast jede Menge Mitstreiter – und natürlich Mitstreiterinnen!“ Er lächelte sie aufmunternd an. Anastasia ging es gleich besser. „Danke!“, sagte sie schon etwas leichter. „Aber jetzt solltest du zum Mittagessen gehen. Es ist höchste Zeit. Ich komme später nach. Ich werde noch kurz etwas erledigen.“ Mit diesen Worten stand Gerhard auf und nickte Anastasia zu. Sie blickte ihm nachdenklich nach. Sie wurde aus ihm nicht schlau.
Anastasia begab sich in den Speisesaal. Sie war erschöpft und verwirrt. Die vielen Ereignisse ließen ihr jedoch nicht wirklich Muße zum Nachdenken. Sie ging von einem Termin zum nächsten. Sie setzte sich neben Magdalena und Melina an einen Tisch. Gemeinsam gingen die drei Damen zum Salatbuffet. Das Angebot an frischem Salat war sehr vielfältig und sah überaus lecker aus. Sie bedienten sich reichlich und setzten sich an ihren Platz. Der Tisch füllte sich rasch mit weiteren Patienten und Patientinnen. „Die meisten hier sind Lehrerinnen“, sagte da Magdalena. „Darf ich dir vorstellen, Anastasia, das ist Tatjana, Grundschullehrerin“, sagte Magdalena. Und besagte Tatjana, ca. Mitte 40, jugendliches Aussehen, blinzelte kurz und reichte Anastasia freundlich die Hand.
„Und das ist Amanda, Gymnasiallehrerin, Französisch und Englisch, du hast sie vorhin in der Depressionsgruppe gesehen“, stellte Magdalena weiter vor. „Sie hat einen interessanten Nachnamen“, sagte Magdalena. Amanda gab Anastasia freundlich die Hand und sagte lächelnd „Grammaire. Ich heiße Amanda Grammaire. Bonjour Madame.“ Anastasia, rieb sich das Kinn mit der linken Hand und kratzte sich mit derselben am Hinterkopf und betrachtete sich diese Amanda Grammaire genauer. Sie schien so um die 60 Jahre zu sein, hatte dünne, weiße Haare, die sie in einem einfachen Zopf am Hinterkopf mit einem einfachen Gummiband zusammenhielt. Sie war ein wenig rundlich, trug einfache und unauffällige Kleidung, vermittelte einen gemütlichen und intelligenten Eindruck und ihre blauen Augen schauten sehr lebhaft. Zwischendurch strich sie sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und steckte sie hinters Ohr.
„Und das hier ist Hedwig, Berufsschullehrerin aus der Pfalz, du hast vorhin neben ihr gesessen“, stellte Magdalena weiter vor. Hedwig, ca. Mitte 50, rot gefärbtes Haar, streichholzkurz geschoren, gab Anastasia freundlich die Hand und sagte korrigierend: „Nicht nur Berufsschule, sondern Lehrerin an berufsbildenden Schulen.“ „Ah ja“, sagte Magdalena, „klar doch, berufsbildende Schulen. Ich bin auch an einer berufsbildenden Schule, aber man sagt doch so leicht hin einfach Berufsschule.“ „Ja, da hast du recht“, nickte Hedwig und fuhr sich mit der rechten Hand durch ihr streichholzkurzes, feuerrotes Haar, „welche Schulform?“ „Nun“, sagte Magdalena, „ich unterrichte im Berufsvorbereitungsjahr, genannt BVJ, und in der Berufsfachschule I. Ich bin Lehrerin für Fachpraxis in der Hauswirtschaft.“
„Und welche Fächer in welchen Schulformen unterrichtest du?“, fragte Magdalena Hedwig. „Nun“, antwortete Hedwig, „ ich unterrichte Englisch und Betriebswirtschaftslehre, kurz BWL, in vielen Schulformen, auch in der Berufsfachschule wie Magdalena, dann im Wirtschaftsgymnasium und in der