An den Nachtfeuern der Fantasie - Erich Reißig - E-Book

An den Nachtfeuern der Fantasie E-Book

Erich Reißig

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Beschreibung

Die Tage sind rauher geworden in der kleinen Stadt. Pandemie und Kriege verändern das Miteinander der Menschen. Aus dem Kriminal-und Schelmenstück um wirkliche und erfundene Welt wird eine Orientierungssuche in neuer Zeit.

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Das Buch ist ein Werk der Fiktion. Personen und Handlung sind erfunden.

Ansichten und Aussagen zu politischen Zuständen, historischen Ereignissen und Personen der Öffentlichkeit sind den Charakteren des Buches zuzuschreiben. Es kann nicht Aufgabe des Autors sein diese zu zensieren, bildet die Literatur doch den einzigen Hort, an dem Meinung frei geäußert werden kann.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Die Bücher von Erich Reißig

1. Kapitel

Als Altdorfer erwacht, hat sich die Welt drastisch verändert. Und es sind nicht Sturm und Regen, die gegen Mauern und Fenster peitschen, Straßen und Gassen in reißende Flüsse verwandeln, Häuser, selbst Bäume zusammenstürzen lassen und hinaustragen ins brodelnde Meer vor der Stadt. Das Gesindel in Medien und Politik hat den letzten Rest von Verstand verloren, die Wirtschaft tobt und taumelt, getrieben von armseliger Gier nach höherem Profit zwischen Höhenflug und Niedergang, desto verzweifelter Produzenten, Manager und Investoren ihre segnende Hand über Land und Leute zu recken versuchen. Die Menschen überdrüssig des schönen Scheins und verloren im Nirgendwo stürmen die Supermärkte, selbst die winzigsten Boutiquen in den verwinkelten Gassen. Sie raffen die Regale leer, schleudern ihre Barschaft in die Kassen und kippen draußen vor der Tür ihre Einkaufskörbe in bereitstehende Müllcontainer. Befreit von der betörenden Last streben sie tanzend und singend den Pappschachteln zu, in denen sie ihr Dasein fristen, nachdem Häuser und Wohnungen unerschwinglich und von den Genderideologen salbungsvoll als umweltschädlich für Hinz und Kunz verteufelt wurden.

Apokalyptische Reiter brechen aus den Wolkengebirgen hervor. Zügeln ihre Rösser und verharren, bestürzt über das tolle Spiel des Wahns, dem sie keinen Einhalt gebieten können. Im prasselnden Regen jagen sie ihre Sporen in das geduldige Fleisch und galoppieren in die Wolken zurück. Ein Adler kreuzt die Bahn der düsteren Schar, deren Botschaft erloschen und leer.

Altdorfer reibt sich den Schlaf aus den Augen, langt nach der Wasserflasche, trinkt und atmet tief. Er tastet nach der neben ihm still schlafenden Frau. Will fort aus diesem wüsten Traum.

Drei Tage schon dauert das Inferno. Ohne Aussicht auf Veränderung. Der Blick aus dem Fenster zeigt ihm, sie haben die alten Pestkarren aus den tiefen Depots im Schlossberg geholt. Schwarzvermummte Gestalten schleppen dürrbleiche Körper aus den Hauseingängen und werfen sie auf die Ladeflächen, umzingelt von struppigen Kötern, die nach überhängenden Armen und Beinen schnappen. Die Glocke der Stadtkirche schlägt grollend die Stundenzahl. Drei Weiber treten auf den Balkon im Nachbarhaus, falten ihre Hände zum Gebet. Wächter der Hölle. Altdorfer schließt das Fenster, lässt die Rollläden herab und geht in den Schlafraum zurück. Er legt sich wieder zu der träumenden Frau. Will erwachen an einem besseren Tag.

Er blinzelt, sieht dürre Beine auf sich zukommen.

„Mami, da liegt einer.“

„Lass! Geh da weg!“

„Vielleicht braucht er Hilfe.“

„Das ist ein Obdachloser, der seinen Rausch ausschläft. Dem können wir nicht helfen. Komm weiter, wir sind in Eile!“

Sein Gesichtsfeld wird leer. Er hört noch, wie der Bub sich beklagt.

„Aber du hast doch gesagt....“

„Solche Leute wollen sich nicht helfen lassen. Sie haben diese Art von Leben selbst gewählt.“

Dann entfernen sich die Schritte. Brunner versucht sich aufzurichten. Braucht ein paar Anläufe, dann kann er sich auf die Bank hochziehen und setzen. Er tastet Hals, Brust und Bauch ab. Der Russe hat nicht zugestochen! Hat ihm sein Leben geschenkt! Sein Krächzen: „Bitte nicht ins Herz!“ hat Wirkung gezeigt.

Die beiden verschwinden unten um die Ecke. Er ist allein in der Schlucht. Allein und immer noch auf der Welt. Aufstehen? Ein Schwall von Scham drückt ihn zurück. Was ist, wenn Linna ihn hier sähe? Mühsam stemmt er sich hoch. Muss wieder laufen lernen. Drüben die Treppe, der Steg in den Garten und danach der Spazierweg hinüber zum Schloss. Vertraute, gemeinsame Orte. Wann zerfraß die Eifersucht sein Herz? Zerriss seine Tage? Da war der Anblick, als sie aus dem Hohlweg kam. Sie daheim unter der Dusche stand und ihm leichthin berichtete, es sei ein heftiger Tag gewesen mit unruhigen Pferden und Zöglingen, die sie nicht bändigen konnten. Und er wusste doch nach dem Anruf im Gestüt, dass die Nachmittagsstunden ausgefallen waren. Da hätte er nachfragen sollen. Schluckte ihre Worte in sich hinein und erstickte an ihrem Gift. Langsam über die Wochen. Bis er ihr schließlich nachzuspüren begann und auf den Russen traf, dem er auf dem schmalen Weg nicht ausweichen konnte und anzischte, er werde ihm das Handwerk legen. Unversehens lag er unter ihm, sah den blitzenden Dolch und glaubte, dass alles vorüber wäre.

Altdorfer schaut auf die Straße hinab. Über ein Jahr sind sie hier gefangen. Bis wieder der Frühling kam und allmählich die höher steigende Sonne das Dunkel brach. Noch nicht ganz will es gelingen, doch die Anzeichen mehren sich. Drüben am Eissalon stauen sich die Kunden. Nicht alle tragen Masken. Streifen sie aber über, sobald sie an der Reihe sind. Damals, als die Meldungen lauter wurden und man von einer Pandemie zu sprechen begann, beeilten sich Ärzte, Virologen und solche, die sich rasch zu Experten aufschwangen, zu behaupten, ein Mund- und Nasenschutz sei völlig nutzlos. Es genüge Abstand zu halten, sich die Hände zu waschen, wenn nötig zu desinfizieren, und ansonsten zu hoffen, dass man nicht angesteckt werde. Masken seien Ausdruck fremder Kultur in Asien und anderswo und nicht notwendig auf den Straßen des Westens. Dass in China, dem Ursprungsland der Pandemie, Städte abgeriegelt, die Menschen ihre Häuser nicht verlassen durften und Wohnungen, Gebäude und ganze Straßenzüge desinfiziert wurden, nahm man hin als Auswuchs totalitärer Macht. Erst als das Grauen nach Italien kam, die Friedhöfe nicht mehr ausreichten die Toten zu begraben, wachte man in Europa auf. Begann hektisch zu agieren und stellte fest, dass man in keiner Weise vorbereitet war auf solch ein Ereignis.

Altdorfer lässt seinen Blick über die Dächer schweifen. Hinauf in die Ferne. Er wird Olga fragen, ob sie um den Stausee wandern wollen. Er muss seine Grübeleien beenden, die trüben Gedanken verscheuchen. Kraft tanken für eine bessere Zeit.

Frische Luft und der mächtige Himmel, hinter dessen Blau sich Sterne und Galaxien verbergen, bringen die innere Ruhe zurück. Es genügt, die Schritte zu setzen und Enten und ein paar Möwen auf dem leise schaukelnden Meer zu betrachten. Fünf Wildgänse stolzieren futtersuchend über das nahe Feld. Wochentags sind kaum Spaziergänger unterwegs. Ab und an fahren Einheimische auf Fahrrädern vorbei. Die Äste der Bäume am Uferstreifen beugen sich knorrig und schief zum Wasser hinab. Der Wind steht gut, so dass der Verkehr auf der nahen Landstraße nur zu erahnen ist.

„Meine Bilder werden niemals die Schönheit der Natur erreichen. Weder ihre Vielfalt, noch ihre Tiefe. Dennoch male ich sie.“

„Trotz alledem und alledem. Das war ein Wahlspruch von uns, als wir vor vielen Jahren aufbrachen die Welt zu verändern.“

„Auch: Macht kaputt, was euch kaputt macht?“

„Nicht meiner! Zerstören ist leicht. Etwas erschaffen verwegen und kühn.“

„Wenn dieses Unheil vorüber ist, möchte ich auf die Krim reisen. Mein Großvater hat dort seine Kindheit verbracht.“

„In Tschechows Kirschgarten? Einem Eiland inmitten von Elend und Not.“

„Es war eine andere Zeit. Anders! Nicht schlechter oder besser als heute.“

„Die Menschen sind zum Leben erwacht.“

„Arm und reich gibt es immer noch. Man soll sich nicht täuschen lassen vom Überfluss. Tand ist das Gebilde aus Menschenhand!“

„Auch Tolstoi ist gescheitert mit seinem Traum.“

Er bleibt stehen. Fasst sie am Arm.

„Lass uns umkehren!“

„Bist du toll? Wir sind kaum losgelaufen.“

Er zeigt nach vorne zu dem Traktor auf dem Feld.

„Siehst du den Bauern dort?“

„Er besprüht seine Pflanzen, damit sie gedeihen.“

„Fragt sich mit was. Ich habe keine Lust so nahe an ihm vorbeizugehen, traue den Herrschaften nicht.“

„Wir alle malträtieren die Schöpfung. Wissen es und fahren damit fort.“

Sie drehen um und laufen die Strecke zum Auto zurück. In Gedanken versunken. Olga bricht wieder das Schweigen.

„Weißt du, die meisten von uns haben den Glauben verloren. Wir müssen neu Sehen und Zuhören lernen. Lauschen, was die Stimme der Felder uns zuraunt. Die Wiesen, das Wassers, die Sträucher und Bäume im verwehten Glockenklang der Dorfkirchen im Tal und auf den Höhen. Abseits der Metropolen, fern von den Wegen ihrer Eile und ihrem immerwährenden Lichterschein, der keine Dunkelheit mehr erlaubt, können wir die Träume der Legenden und Sagen mit uns nehmen. Uns hineintragen lassen in eine Welt der Schönheit und Poesie.“

„Dein Schauen und Empfinden gelingt mir nicht ganz. Als Jurist habe ich gelernt die Welt ein wenig nüchterner zu betrachten.“

Sie lacht.

„Und deshalb hast du dich mit Blue Bird eingelassen? Soweit ich verstanden habe, habt ihr da Seltsames vor.“

Er nickt, lacht auch.

„So ganz von der Hand zu weisen ist dein Einwand nicht, und anfangs war ich auch unsicher. Aber nach all den Berichten in den Medien und den zahlreichen Verschwörungstheorien, die vielen Leuten durch die Köpfe geistern, gefällt mir unser geplantes Spiel. Warum soll man nicht einmal Kriminalgeschichten wortwörtlich nehmen und Fiktion Wirklichkeit werden lassen? Das geplante Spektakel hat durchaus aufklärerische Züge. Es will die Menschen aufrütteln. Verhalten und Denkmuster aufbrechen. Das Cogito, ergo sum braucht neuen Anstoß.“

„Sagst du nicht immer die Fantasie laufe der Wirklichkeit hinterher? Ich will gar nicht wissen, was in der Welt an Untat und Verbrechen alltäglich geschieht. Kein Mensch kann das ertragen.“

„Nicht Täter und ihre Taten stehen im Mittelpunkt dieses Spiels, sondern jene, die sie verfolgen. Blue Bird will Mut machen und aufzeigen, dass trotz Allübermacht des Bösen aufrechter und redlicher Lebensgang möglich ist.“

„So nörgelst du also fortan nicht mehr, sondern willst in die Zukunft schauen?“

„Nörgeln werde ich weiterhin. Aber das verändert nichts, wie ich weiß.“

Der Hotelgasthof, an dem sie den Wagen abgestellt haben, wirkt verlassen. Noch herrscht Beherbergungsverbot. Vor ein paar Jahren haben sie hier mit der Tochter ihr Abitur gefeiert. Inzwischen wohnt sie mit ihrem Freund in der Fremde. Nomaden sind die meisten Heutigen geworden. Kaum jemand verweilt am Ort der Geburt und wenige nur bleiben in der Bindung der Familien, erworbener Freundschaften und auch der Liebe. Lebensabschnittgefährten nennen die Jungen jene, die sie begleiten. Freiheit und Freizeit sind ihre Parolen. Paradies now ist ihr Begehren und statt Karriere suchen sie Vergessen. Ihr Tanz in den Discos im Rausch von Drogen ist kein Tanz um das goldene Kalb, den jene anderen aufführen, sondern Ausdruck von Kindbleibenwollen und der Furcht vor dem Erwachsenenwerden, dem Ausgesetztsein in feindlicher Umwelt. Sie sind einsam geworden im Trubel der Zeit.

Kommissar Brunner ruht auf dem alten Sofa in der Ecke seiner Bibliothek. Umgeben von den Botschaften aus vergangenen Tagen des Seins. Linna ist fort zur Arbeit im Gestüt. Sie hat ihm Tee hingestellt auf den Schemel neben seinem Lager. Im Buch über die schwarzen Lolo, der Erzählung einer 1939 erfolgten Reise zu dem legendären und kriegerischen Volk in der Bergregion zwischen Tibet und China, stolpert er gleich auf den Anfangsseiten über einen Bericht über Teelastenträger. Weil die Tibeter chinesischen Tee vorzogen, war seit Menschengedenken Tee der Hauptausfuhrartikel von China nach Tibet. Und vom Endpunkt der Lastwagenstrecke trugen vorwiegend Szechuan-Chinesen in schlangengleicher Prozession ihre Teeziegel aus groben Blättern, Ästchen, Zweigen und Teestaub in hölzernen Tragen an ihren Bestimmungsort.

„Merkwürdige Geschöpfe“, wie der Autor schrieb. „Mitleiderregend, und fast nicht mehr menschlich aussehend, nur mit Lumpen bekleidet, durch die man teilweise ihren abgezehrten Körper sah, mit bläulich-gelben, verhutzelten Gesichtern, leerem Blick und ausgemergelten Leibern wie wandernde Leichen. Ihre ganze Energie für diese Sisyphusarbeit entnahmen sie dem Opium, ohne das sie nicht leben konnten. Sobald sie ihren gewohnten Halteplatz erreichten, aßen sie ihre Mahlzeit. Dann zogen sie sich in ein Hinterzimmer zurück, wo sie auf schmutzigen Matten liegend ihre Pfeife hervorzogen. Immer hörte ich diesen regelmäßigen Saugton aus den dunklen Zimmern der Gasthöfe dringen, der von einem süßlichen Harzgeruch begleitet war. Dann lagen sie gelöst, dem Vergessen hingegeben, da und ihre pergamentenen Gesichter glänzten in der Dunkelheit. Hierauf zogen sie weiter, bei Mondenschein sogar nachts. Das Klack-Klack ihrer kurzen, dicken Wanderstöcke widerhallte in der stillen Luft.“

Auch ein Verbrechen, das nie gesühnt worden ist, geht ihm durch den Sinn, während er den Band weglegt und aus dem Fenster starrt. Auch er wird den Burschen entkommen lassen, soviel ist ihm in den letzten Tagen klar geworden. Brunner ist sich sicher, dass er den Antiquar ermordet hat. Warum auch immer. Doch sie haben keine verwertbaren Beweise gefunden und auch der Angriff auf ihn ist nicht zu beweisen. Keiner wird glauben, dass er ihn niederrang, zu erstechen drohte, ihn dann unversehrt liegen ließ und davonging. Nicht einmal Linna hat er davon erzählt, die er wider Erwarten daheim antraf, was ihn beinahe mehr beschäftigte, als der Überfall. Die verfluchte Eifersucht, in die er sich hineingeritten hat. Das seltsam vergangene Jahr hat mehr an seinen Nerven gezehrt, als er wahrhaben will. Und ein Ende ist immer noch nicht absehbar, wie die steigenden Infektionszahlen zeigen. Müde ist er, wie alle anderen, und mit schwindendem Vertrauen verfolgt er die Maßnahmen, die Politik und Behörden setzen. An jeder Ecke seines Grübelns stößt er auf Ungereimtheiten. Ein wenig Schnee ist heute gefallen, der Baum draußen vorm Fenster trägt Weiß auf seinen Ästen. Zumindest die Natur hat sich in diesem Jahr von ihrer besten Seite gezeigt. Einem schönen Frühling folgte ein prächtiger Sommer. Der Herbst präsentierte seine Farben und der Winter brachte Schnee, wie schon lange nicht mehr. Welche Lehre wird man aus dem Geschehen ziehen? Vermutlich keine, wenn die Tage vergangen sind und die Ängste vergehen. Zu Beginn der Pandemie, als Anklagen gegen China durch die Medien hallten, es sei für den Ausbruch verantwortlich, und allen voran der bizarre Präsident der USA verächtlich seine Stimme erhob, fiel ihm ein, wie die einstige Großmacht England im achtzehnten Jahrhundert mit dem Reich der Mitte verfuhr. In zwei Kriegen erzwangen geschäftstüchtige Händler ihr Recht Opium aus den indischen Anbaugebieten in das Kaiserreich einzuführen um damit ihre Teekäufe zu bezahlen, die sich nicht nur auf der heimatlichen Insel sondern auch in den gesamten zusammengerafften Kolonien wachsender Beliebtheit erfreuten. Immer größere Mengen brachten ihre Schiffe ins Land und vergifteten Körper und Seelen der Bevölkerung in dem ohnmächtigen Riesenreich.

Nur wenige Stimmen erhoben sich daheim gegen diesen Frevel. Die hohe Moral der viktorianischen Epoche galt nur für die englische Herrenrasse und die Pracht ihres wachsenden Reichtums ermunterte die Wohlhabenden in den anderen europäischen Staaten es ihnen gleich zu tun.

Als er heranwuchs, beflügelten die Beatles, Rolling Stones, Who und zahllose andere englische Rockbands Brunners Fantasie. Er ließ sich die Haare wachsen, träumte davon selbst ein Rockstar zu werden. Oder, weil seine Versuche auf der alten Gitarre des Vaters, die er auf dem Speicher entdeckte, recht kläglich ausfielen, zumindest Poet. Ed Sanders und Tuli Kupferberg wollte er gleichen, die im legendären Cafe Wha im fernen New York mit ihrer Band „The Fugs“ auftraten und „Supergirl“ zum Besten gaben. Es hieß, auch Allen Ginsburgs stand zuweilen mit den Fugs auf der Bühne. Brunner kaufte seinen Gedichtband „Howl“ und raffte die Texte der anderen Autoren der Beat Generation aus den Regalen der Buchhandlungen.

Verschlang aber auch das „Alexandria Quartett“ von Alexander Durrell und die heiteren Erzählungen seines Bruders Gerald. Er ging mit Cook auf Entdeckungsreise, liebte die Geschichten über Captain Hornblower, begleitete den Piraten Francis Drake auf Kaperfahrt und war erleichtert über den Untergang der spanischen Armada, die der britischen Vormachtstellung auf den Meeren ein Ende setzen wollte. Zwar korrigierten die Romane von Charles Dickens sein Bild, doch blieb die Bewunderung für dieses Land und seine Bewohner, die ein Weltreich geschaffen und einen Lebensstil geprägt hatten, der nicht nur der Metropole London Glanz verlieh, sondern auch in ländlichen Regionen in Schlössern, Herrensitzen, schmucken Kleinstädten und Dörfern Ausdruck fand.

Erst, als Brunner über die Opiumkriege las, führte dies zu einer Bruchstelle in seiner Weltwahrnehmung. Es dauerte, bis er begriff, dass es auch die düstere Seite kolonialer Welteroberung gab und der Wohlstand und die von ihm bewunderte Lebensart mit Hochmut und auch Verbrechen erkauft worden waren. Denn was war es anders als ein Verbrechen, wenn ein Volk unter Drogen gesetzt und gefügig gemacht wurde, damit die eigenen Geschäfte florierten? Dies änderte sich erst nach dem Boxeraufstand um die Jahrhundertwende. Zwar brachten alliierte Interventionstruppen unter britischer Führung dem Kaiserreich eine empfindliche Niederlage bei, doch erwachte China allmählich aus seiner Lethargie.

Kommissar Brunner richtet sich auf. Trinkt seinen Tee. Danach erhebt er sich von seinem Lager und geht auf den Balkon. Er stellt sich an die Brüstung, blickt hinab und hinüber zum Gestüt, wo er Linna weiß. Unterdrückt die züngelnde Eifersucht. Vor ein paar Tagen wartete er im Supermarkt an der Kasse, bis die junge Frau vor ihm endlich ihren Einkauf auf das Laufband gelegt hatte. Wollte schon aufbrausen, als er bemerkte, dass ihre Bewegungen ungelenk waren, ihre Finger leicht verkrümmt und schämte sich seiner Ungeduld. Schaute zu, wie sie die Geheimzahl eintippte und anschließend ihre Waren geschickt im Rucksack verstaute, diesen über die Schultern streifte und ging. Wieder einmal fühlte er sich zurechtgewiesen und ermahnt. Wie einfältig die eigenen Sorgen sind, wie gering manchmal sein Lebensmut! Draußen vor der Tür begegnete er ihr wiederum. Sie hatte wohl beim Bäcker noch Brot gekauft und lief an ihm vorbei. Zielstrebig, sicher in ihrem Sein, während er Chimären jagte und das Wesentliche vergaß.

Am Ende seiner Gymnasialzeit schien sein Ziel hell und klar vor ihm zu liegen. Während seine Klassenkameraden Arzt, Ingenieur oder auch Wissenschaftler werden wollten, würde er zur Polizei gehen und später als Kriminalbeamter dafür sorgen den Alltag ein wenig sicherer zu machen. Damals glaubte er, wenn das Miteinander im Kleinen besser würde, könnte dies auch im Großen gelingen und Verbrechen und Krieg würden allmählich aus der Welt verschwinden.

Noch während der Ausbildung tauchten zwar Zweifel auf und verstärkten sich im Dienst, doch gelang es ihm irgendwie seinen heimlichen Traum zu bewahren. Nun scheint er abhanden gekommen. Dies sich einzugestehen widerspricht seinem Streben nach Harmonie. Seiner Scheu Schlüsse zu ziehen aus dem, was er weiß. Einem kleinem Kinde gleich schließt er zuweilen die Augen und glaubt, Unrecht, Leid und die Folgen falschen Handelns existierten nicht mehr. Nagt dennoch und stärker der Zweifel wieder, sucht er ihn ironisch zu bannen, mit humorvollen Sprüchen manchmal, damit er sich nicht festkrallen kann in seinem Kopf. Der Mensch ist gut. Diesen Glauben will er sich nicht verderben lassen. Trotz dem und alledem.

Ihm fröstelt und er geht in das Zimmer zurück. Nimmt den Band von der Ablage und stellt ihn wieder ins Regal, in dem die vielen Reiseberichte und Weltbeschreibungen von Forschern und Wissenschaftlern aufgereiht sind. Seine Lektüre, nachdem er Biografien und Geschichtswerke beiseite gelegt hat.

An der Niederschlagung des Boxeraufstandes beteiligten sich neben England auch die aufstrebende USA, Russland, Japan, Frankreich und andere Staaten. Dieser Krieg wurde freilich nach damaligem Verständnis von Völkerrecht nicht als Krieg betrachtet, sondern scheinheilig als Strafexpedition und Kolonialauseinandersetzung gegen nicht staatlich organisierte ethnische Truppen bezeichnet, obgleich die Aufständischen schließlich auch vom chinesischen Kaiserreich unterstützt wurden. Auch das deutsche Kaiserreich mischte mit und bei der Verabschiedung der Truppe in Bremerhaven polterte Wilhelm II.

„Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“

In jüngster Zeit schlendert er zufrieden zum Solarpark und lauscht auf das Summen der Kollektoren. Die Sonnenstrahlen werden hier eingefangen, wie früher in dem Kinderbuch, das ihm die Mutter vor dem Schlafengehen vorlas, bringen sie Frohsinn und Wärme in kalte Wintertage. Bald wird er Maximilian diese Geschichte vorlesen können. Schon fast ein Jahr lang ist er bei ihnen. Ostermeiers Leben hat einen Wandel erfahren. Er ist ein verheirateter Mann und ist Vater geworden. Die Makarow hat er in der Schublade vergraben. Er braucht sie nicht mehr. Nie hätte er geglaubt, dass sich Renates Pläne so rasch verwirklichen ließen. Zwar schieben sie einen mächtigen Schuldenberg vor sich her, doch schon im ausklingenden Herbst, als die Anlage in Betrieb ging, und selbst in milderen Wintertagen minderte sich der Betrag. Sie werden es schaffen. Das scheint ihm gewiss. Jetzt, wo der Frühling kommt, wird er mit dem Vater den Obstgarten in Angriff nehmen. Wenn alles gut geht, werden sie im Spätsommer bereits erste Äpfel und Birnen pflücken können. Das kleine Erdbeerfeld hat die Mutter auch hergerichtet. So viel hat sich hier verändert, dass er zuweilen recht widerwillig in die Stadt zur Arbeit fährt. Eden ist kein Schlafplatz mehr. Es ist ihm zum Heim geworden, in dem er mit seiner Familie lebt. Ganz selten nur kommen ihm die Tage mit Karin in dem Sinn. Wie es ihr ergangen sein mag in den schrecklichen Tagen von Bergamo und anderswo, als die Toten kaum noch zu zählen waren? Vergessen sind die in den Medien und bei den zahlreichen Leuten, die danach gieren im Land hinter den Bergen wieder ihren Urlaub verbringen zu können. Und nicht nur dort. Auch in Griechenland, der Türkei, in Spanien auf den Inseln im atlantischen Meer und noch weiter fort im Indischen Ozean. Sie scheren sich nicht um die Gefühle der Einheimischen dort, die den Fesseln der Touristikbranche ohnmächtig ausgeliefert sind. Ostermeier versteht die Zurückhaltung der Kollegen, die auf Streife geschickt werden um die Einhaltung der Maskenpflicht oder der Abstandsregeln zu überwachen, denn sobald sie einschreiten, gefährden sie nicht bloß die eigene Gesundheit, sondern werden angepöbelt, bespuckt und angegriffen. Greifen sie heftiger durch, ist rasch von Polizeigewalt die Rede und Anwälte, Presse und die von ihr behauptete Öffentlichkeit verlangen die Bestrafung der Beamten, während Anlass und Umstände ihres Handelns heruntergespielt werden. Natürlich versteht und akzeptiert er, dass Übergriffe und Vergehen im Dienst verfolgt werden müssen. Doch verlangt er Lebenserfahrung und Augenmaß, denn immer mehr Delinquenten sind kaltschnäuzig und dreist geworden. Einsicht und Unrechtsbewusstsein sind kaum noch vorhanden. Wie auch? Kriminelle Umtriebe in Politik und Wirtschaft lehren sie, was zählt und wie man ein besseres Leben sich schafft. Eine verkehrte Welt ist das.

Gestern saßen alle am Kaffeetisch im Elternhaus und feierten die erste Impfung des Vaters. Mit dem besseren Impfstoff, den er mit Renates Hilfe erkämpft hatte, nachdem er zunächst mit jenem skandalträchtigen geimpft werden sollte. Die Rede kam, wie überall in den Familien, auf das unerträgliche Hin und Her bei den Versuchen die Pandemie einzudämmen. Renate hatte die Bundestagsdebatte verfolgt und machte ihrem Ärger Luft, weil viele nicht einsehen wollten, dass eine nächtliche Ausgangssperre notwendig sei.

„Die haben immer noch nicht kapiert, dass es nicht darum geht nächtliches Herumspazieren zu verhindern, was eh keiner macht, sondern darum Zusammenkünfte und Treffen zu verhindern, zumindest zu erschweren, denn diese bilden gefährliche Infektionsherde. Und der Gipfel ist, dass dieser populistische Schwätzer der Fünfprozentpartei von gesetzwidriger Einschränkung der Freiheit redet und vors Verfassungsgericht ziehen will, und die rechte Frontfrau bei dem beabsichtigten Bundesgesetz gar über einen Grundgesetzbruch klagt. Ausgerechnet die, deren Partei sich darum nun wahrlich nicht schert.“

Der Vater, sonst eigentlich maulfaul bei dergleichen Diskussionen, pflichtete ihr bei und meinte: „Vom Wort her mag es ein Gesetzesbruch sein und ich bin sicher, dass viele zum Gericht rennen und gegen das Vorhaben klagen werden. Aber ich finde, Gesetze sind für die Menschen da und nicht die Menschen für die Gesetze. Wenn Richter die Einschränkungen von Freiheit außer Kraft setzen, weil sie in diesem Fall zudem im Widerspruch zum vereinbarten Grundgesetz stehen, ungedenk der Todeszahlen, die auch hier sich allmählich der Hunderttausender Marke nähern, wünsche ich mir, ich weiß nicht, wie ich das nennen soll, Weisheit vielleicht. Denn schon ein Menschenleben ist eines zu viel.“

Ostermeier lacht still in sich hinein: „Du forderst Weisheit ein? Seit wann bestimmt die denn irgendjemadens Handeln? Gibt es dieses Wort überhaupt noch?“

„Halt den Rand! Davon verstehst du nichts!“

Der Alte will Streit, doch den Gefallen tut er ihm nicht und sagt nur: „Wenn ich mal die Zeitung aufschlage oder Nachrichten im Fernsehen verfolge, dann lese und höre ich, dass die Bevölkerung der Einschränkungen überdrüssig ist. Genauso wie ich.“

„Das wird behauptet und gleichzeitig veröffentlichen sie Zahlen, dass die Mehrheit für eine Verschärfung der Maßnahmen plädiert. Ich habe letztlich deinen Chef getroffen und der hat ziemlich deutlich geredet.“

„Der Brunner hat sich ziemlich seltsam verändert in letzter Zeit und ist kaum noch wiederzuerkennen.“

„Ich rede vom Stegner, du weißt, dass der Alois bei mir im Briefmarkenclub ist. Er hat sich wegen unserer Anlage erkundigt, weil er sich was aufs Dach stellen will. Wir haben auch über die vermaledeite Lage geredet und er meinte, die ganze juristische Diskussion erinnere ihn an die Filbingeraffäre seinerzeit, damals hast du noch nicht mal in den Windeln gelegen. Dieser feine Richter hat sich während des Dritten Reiches brav an das Gesetz gehalten und auch Todesurteile gefällt. Und als die Sache während seiner Ministerpräsidentenzeit ruchbar wurde und er schließlich sogar zurücktreten musste, soll er sinngemäß gesagt haben: „Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Den Satz hat er zwar bestritten, aber sein Handeln lässt sich so deuten.“

„Der traut sich was, mein Herr Präsident! So kenne ich ihn gar nicht.“

„Wieso? Dass sich die deutsche Justiz nur zögerlich mit der Rolle der Richter im Dritten Reich beschäftigte, die zahlreich und noch lange in der neuen Bundesrepublik im Amt blieben, ist so neu nicht. Außerdem, der Rosendorfer hat das auf den Punkt gebracht und geschrieben: „Beim Gericht gibt es keine Gerechtigkeit, sondern ein Urteil“. Und wenn man Glück hat, wie die schillernde Chefin der EZB, dann wird man zwar verurteilt, doch verzichteten die Pariser Richter seinerzeit auf eine Strafe für die damalige Ministerin und begründeten dies mit ihrer Persönlichkeit und dem internationalem Ansehen der Dame. Solche Aussagen kann man sich auf der Zunge zergehen lassen.“

Der Vater erhebt sich von seinem Platz, geht zur Vitrine, holt Obstler und Gläser und sagt: „Ich lass mir den jetzt auf der Zunge zergehen. Wem darf ich noch einschenken?“

Ein Schelm ist er geblieben. Doch hat sich einiges geändert in der Familie und überhaupt. Oder auch nicht und Ostermeier nimmt es nur anders wahr. Er lässt sich ein Glas einschenken, während die Mutter den Tisch abzuräumen beginnt und Renate aufsteht und im Wagen nach dem Kleinen schaut, der aus seinem Nachmittagsschlaf erwacht. Sie nimmt ihn auf den Arm und prüft, ob sie ihn frisch wickeln muss. Offensichtlich ist dies der Fall: „Ich geh dann mal nach drüben,“ sagt sie. Und zu dem Kleinen: „Gell und durstig bist du auch, mein Schatz.“ Sie legt ihn zurück und verlässt den Raum.

Als sie gegangen ist, sagt der Vater: „Da hast du wenigstens mal was Vernünftiges zustandegebracht.“

Ostermeier grinst.

„Und ganz ohne deine Hilfe. Schenk noch mal ein! Ich muss mich von der Anstrengung erholen!“

Als er später nach drüben kommt, sich in seinen Sessel setzt und zuschaut wie sie den Winzling füttert, fragt sie: „Na hat sich dein alter Herr wieder beruhigt?“

„Wie man‘s nimmt. Zunächst hat er mir noch einen Vortrag gehalten über die Maskengeschäfte diverser Politiker, dass er sie am liebsten zum Teufel schicken würde und danach ist er zu seiner Stereoanlage geschlurft und hat eine Platte aufgelegt. Da bin ich gegangen. So kenne ich ihn gar nicht. Irgendwie hat da die Pandemie zugeschlagen.“

„Uns hat das ja auch aufgeregt.“

„So ist es halt in der freien Marktwirtschaft. Ich glaub Kapitalismus nennt man die jetzt inzwischen wieder.“

„Red nicht so albern. Ich mach mir durchaus Gedanken über das Virus und das Leid so vieler Menschen und irgendwie finde ich es schamlos damit Geld zu verdienen. Und dann sind die auch noch so bescheuert und lassen sich erwischen.“

„Aber nicht alle. Und denk mal drüber nach: die Masken sind das eine, aber viel mehr lässt sich bei der Herstellung und der Vermittlung von Impfstoff verdienen. Da toben vermutlich tolle Verteilungskämpfe. Vielleicht sind die auch eine Ursache für das Chaos, das überall herrscht.“

„Du bist ja noch schlimmer als dein Vater. Allmählich mach ich mir Gedanken, ob es richtig war, dich zu heiraten.“

Sie beugt sich lachend zu dem Kleinen: „Gell Maxl, das müssen wir uns überlegen.“

„Deine Bedenken kommen zu spät. Und außerdem habe ich zwei Gläser getrunken. Wenn ich wieder nüchtern bin, red ich nie wieder über Politik und Geschäfte und den ganzen Kram, sondern erfülle meine Vaterpflichten und jene als Ehemann.“

So ganz stimmt das nicht. Der Vater hat zwei Mal nachgeschenkt und von seinem Traum, jenen geheimen Einheiten anzugehören, ob sie nun „Blauvogel“ heißen oder anderswie, Hauptsache sie ermitteln unabhängiger und effektiver als der normale Polizeiapparat, erzählt er ihr nichts.

Das Fernsehprogramm am Vormittag ist nicht sonderlich erbaulich. Amüsiert hat ihn lediglich ein Bericht über eine Butlerschule und die Aussage, dass die dort Ausgebildeten nicht nur in englischen Adelshäusern Anstellung finden, sondern sich auch auf dem Kontinent zunehmender Beliebtheit erfreuen. So stellt er sich vor, wie die stillen Wesen den Alltag der Reichen und Schönen bereichern und bei ihren Festen das Begehren mancher Gäste erwecken sich gleichfalls mit ihnen zu schmücken. Bodyguard und der nicht immer mögliche Austausch der verblühten Begleiterin gegen eine Jüngere, die neue Lebensfreude schenkt, finden so eine würdige Ergänzung.

Er muss sich zur Ordnung rufen. Zu leicht lässt sich alles in Frage stellen. Auch das eigene Leben. Noch ein paar Stunden, bis Linna wiederkehrt. Wenn sie denn wiederkehrt.

Brunner geht in die Küche und macht die Gemüsesuppe warm, die sie für ihn vorgekocht hat. Es ist nicht nur der Mord an Kolberg, der ihn aus der Bahn geworfen hat. Der Misserfolg bei der Aufklärung. Das eigene Versagen. Er glaubt den Täter zu kennen und kann seiner nicht habhaft werden. Nun hat der Russe ihm das Leben geschenkt und ihn in Banden gelegt. Der Redliche wird sechs Mal niedergetreten und erhebt sich zum siebten Mal. Wenn das so einfach wär! Das vergangene Jahr hat nicht nur ihm Grenzen aufgezeigt. Stegner hat angedeutet, dass er ihn nach seiner Pensionierung als Nachfolger vorschlagen werde. Ein toller Plan, der nicht funktionieren wird. Sie werden einen anderen von draußen holen und den zum Präsidenten ernennen. Und wenn er ehrlich ist, dann muss er sich eingestehen, dass dies vernünftig ist. Ein Generationswechsel ist geboten.

Zu viel hat sich verändert. Die alten Methoden und die erworbenen Fähigkeiten sind nicht mehr zeitgemäß und verlieren an Gewicht im Computerzeitalter. Huber2 hat Recht, wenn er seine chinesischen Träume einer Totalüberwachung der gesamten Bevölkerung spinnt. Wenn überall Kameras zur Verfügung gestanden hätten, wäre der Fall längst aufgeklärt. So stochern sie weiter im Nebel herum und finden keine Zeugen und keine Beweise. Vielleicht geschah der Mord, als die Maklerin Winterstein und ihr russischer Begleiter den Antiquar aufsuchten. Im heftigen Streit um dessen Vermittlung einer Wohnung im Auftrag einer Kundin, mit deren Sohn die Winterstein einen Vertrag abgeschlossen hatte, mag der Russe den Mann erstochen haben. Brunner neigt zu diesem Verdacht. Bestärkt durch den Selbstmord eines früheren Angestellten der Winterstein bei einer Donaufahrt, an der auch die Maklerin teilnahm. Dieser wohnte im Haus gegenüber und könnte etwas beobachtet, es notiert und sie möglicherweise damit erpresst haben, aus Rache und Ärger, weil sie ihn entlassen hatte. Doch irgendwelche Notizen und sogar die Festplatte seines Computers fehlten. Wurden von jemanden entwendet, der nachts in die Wohnung eingedrungen war, wovon eine Nachbarin berichtete, die allerdings annahm, der Inhaber sei heimgekommen. Mysteriös das alles und unerfreulich! Der Fall ist kalt geworden, eiskalt, auch wenn er in Brunners Herzen weiter glüht.

Er nimmt den Topf vom Herd und füllt seinen Teller. Aus der Kammer holt er sich eine Flasche Bier. Mag keinen weiteren Tee. In den Wintermonaten ist er zum Sundowner geworden und trinkt Alkohol eigentlich erst nach Sonnenuntergang. Manchmal ein paar Gläser Wein, wenn sie abends beim Lesen sitzen oder einen Film anschauen. Er vermisst die abendlichen Restaurantbesuche nicht und ins Kino oder Theater sind sie ewig nicht mehr gegangen. Hier in der Stadt fand die Vernichtung der Kultur schon lange vor dem Lockdown statt. Die Verbannung des Theaters in das zugige und hellhörige Zelt in der Wüste wird so lange andauern, bis keiner mehr weiß, dass es einmal ein Haus dafür gab und Besucher, die festlich gekleidet in die Vorstellungen strömten. Irgendwo ist er in einem Buch auf die Frage gestossen, warum Autoren, Regisseure und Schauspieler so fantasielos seien, sie könnten doch ihre Spielstätte im Freien vor den immer perfekteren stationären Kameras der Städte einrichten. Darauf seien selbst die Chinesen, die sonst doch recht gewitzt agierten, nachdem sie ihre eigene Form des Kapitalismus entwickelt hätten und dort auch weit mehr Kameras zur Verfügung stünden, noch nicht gekommen. Das ist der Haken am chinesischen Wirtschaftserfolg, sie brauchen stets irgendwie und irgendwo auf der Welt erst etwas, das sie erfindungsreich kopieren können. Eigenes Genie geht ihnen zuweilen immer noch ab.

Allerdings ist es ihnen offensichtlich gelungen, drastisch und rigoros die Pandemie in den Griff zu kriegen. Und auch einen zweiten Erfolg können sie verzeichnen: ihre Wirtschaftsleistung wächst und wächst und der Verkehr auf der neuen Seidenstraße nimmt zu. Freilich, und hier sehen einige Kritiker der Globalisierung ihre Warnungen bestätigt und manche verweisen sogar auf das unrühmliche Ende des Ostblocks seinerzeit, denn dieser zerbrach rascher als gedacht, nachdem einige Länder ausscherten und die übrigen dumm aus der Wäsche schauten, weil zahlreiche Güter, die nach Plan für den ganzen Wirtschaftsraum allein dort hergestellt wurden, nicht mehr geliefert wurden. Ganz ähnliche Erfahrung machten westliche Verbraucher schon gleich bei Beginn der Pandemie, als es auf einmal Engpässe bei Medikamenten gab und auch bei Gesichtsschutzmasken, von deren Nutzen man sich schließlich hatte überzeugen lassen. Weil letztere in China oder anderswo in Billiglohnländern nicht rasch genug produziert und verschickt werden konnten, griffen einheimische Frauen resolut zu Stoff, Schere, Nadel und Faden und nähten selbst welche. Es sind immer die Frauen, die zupacken, während die Herren der Schöpfung erst einmal nörgeln.

Für Brunner war dies ein Hoffnungsschimmer, der ihn in seinem Glauben bestärkte, noch sei nicht alles verloren, auch wenn Linna sich weigerte daran Teil zu haben und behauptete, für Näharbeiten habe sie kein Talent.

Auch ein zweiter positiver Aspekt lässt sich seiner Meinung nach in der Pandemie erkennen, trotz allem Leid, Elend und Tod, die sie mit sich bringt. Denn die erzwungene Ruhe durch Ausgangsbeschränkungen, Reiseverbote und andere Maßnahmen, zerreißen die Fesseln ständigen Hetzens nach Kitzel und Sensationen und bremsen die hemmungslosen Angebote von Konsum und Freizeitindustrie aus, die zufriedenes und selbstbestimmtes Leben einschränken, wenn nicht gar gänzlich verstellen.

Er will hoffen, diese Einsicht möge von Dauer sein, ahnt freilich und spürt es an eigener Ungeduld, dass Rastlosigkeit zum modernen Leben gehört. Selbst Geld darf nicht mehr still auf einem herkömmlichen Sparbuch liegen und seinen Wert behalten, sondern muss in Fonds oder Aktien investiert und dem tollwütigen Spiel der Börsen überlassen werden. Aus Sparstrümpfen sind Sneakers geworden, Schleicher und Kriecher, oder patriotisch übersetzt Füßlinge. Brunner grinst und fragt sich, ob Blaustrümpfe einen ähnlichen Wandel erleben werden.

Altdorfer schaut auf und ihn an, dann bricht es aus ihm heraus.

„Du bist ein Narr! Die Leute kiffen, schnupfen, spritzen, was das Zeug hält – Marihuana, Kokain, Heroin, Chrystal Meth. Ich liebe die Tschechen, dass sie nach Semtex auch dieses Teufelszeug in die Welt gebracht haben. Aber jeder nach seinen Möglichkeiten. Doch es lohnt nicht, nur auf sie zu zeigen. Es ist ein internationales Phänomen. Wie kaputt und korrupt muss eine Gesellschaft sein, deren Bürger Drogen brauchen um ihrer Wirklichkeit standzuhalten und dafür Mord und Totschlag in Kauf nehmen. Und wessen Handeln ist verwerflicher? Jenes der Produzenten, der Händler oder der Käufer, die sich in allen Schichten der Bevölkerung finden? Keine Party ohne Dope und keine Managerrunde, ohne dass eine Linie gezogen wird? Es sind nicht allein die kleinen Dealer, die auf Parkbänken hocken und nach Kunden Ausschau halten und ihre Wächter, die warnen, wenn eine Streife naht, die uns klar machen sollten, dass hier etwas schief läuft.“

„Eben deshalb brauchen wir neue und bessere Einheiten, die dem Einhalt gebieten.“

Ostermeier blickt verstockt zu ihm hin, wie er hochmütig in seinem Sessel hockt.

„Ich bin sicher, dass es sie gibt. Und ich will Teil davon sein.“

„Das willst du nicht! Kannst du nicht wollen. Erst recht nicht, nachdem du, wie du mir stolz erzählt hast, dabei bist dich in deinem neuen Leben einzurichten. Mit deiner Frau und deinem kleinen Sohn. Vergiss es!“

„Was du nicht sagst.“

„Natürlich gibt es auch geheime Einheiten neben jenen, die sich offiziell und sehr erfolgreich mit Drogenkriminalität befassen. Doch deren Geschäft ist Massenmord. Spannend aufbereitet in zahllosen Hollywoodfilmen. Blockbuster nennt man dergleichen heutzutage. Ich habe nie verstanden, wie man sich für einen Nichtsnutz wie James Bond begeistern kann. Lediglich der schwedische Autor Jan Guiliou hat solch eine Existenz verstanden und seinen Hamilton erkennen lassen, dass er nichts anderes und besseres ist als ein Mörder und hat ihn seinen Job an den Nagel hängen und das Weite suchen lassen, nachdem Ekel und Albtraum ihn nicht mehr schlafen ließen.“

„Nie von dem gehört.“

„Macht nichts“, Altdorfer grinst. „Ich habe einmal einem Redakteur von ihm erzählt, der eine Dokumentarfilmreihe vorbereitet hat über Krimihelden, und dem jungen Mann vorgeschwärmt, Hamilton sei eine prima Figur mit einer interessanten Biografie noch dazu. Eigentlich sei er ein Graf, wolle aber mit dem Adel nicht mehr zu tun haben und habe auf den Titel verzichtet. Sehr zum Ärger seiner Verwandtschaft und dem Rest des Adels bis hinauf zum Königshaus. Ich hab geredet und geredet und mein Gegenüber versteinerte immer mehr. Als er dann gegangen war, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, dass der Bursche ja „von Irgendwie“ hieß, „von Süß“ oder „von Herb“, was auch immer, und offensichtlich doch sehr an seinem „Von“ hing. Die Reihe ist irgendwann gelaufen. Guiliou war nicht dabei.“

„Diese Geschichte bringt mich auch nicht weiter. Warum hast du mich eigentlich herbestellt?“

„Mich treibt das schlechte Gewissen. Nachdem ich dich lange genug an der Nase herumgeführt habe, will ich dich vom Saulus zum Paulus bekehren und dir ein Angebot unterbreiten.“

Ostermeier lehnt sich zurück.

„Ich habe übrigens meinen Colt, mit dem ich seinerzeit mein abgasmanipuliertes Auto niedergestreckt habe, zurückbekommen. Hab mir in der Zwischenzeit mit einer Makarow behelfen müssen. Beide liegen jetzt gut verwahrt daheim. Also, sei vorsichtig!“

Altdorfer steht auf und läuft in den Raum, an den vollgestopften Regalen entlang, fängt an zu reden, geht wieter und wandelt hin und her, den antiken Philosophen gleich, wenn sie ihre Schüler belehrten.

„Also, wie ich schon gesagt habe. Nicht ist so, wie es scheint. Und andererseits könnte es doch so sein. Und gerade damit will auch Bluebird spielen, und da kann ich, können wir beide etwas beitragen. Wenn du verstehst.“

Ostermeier betrachtet ihn aufmerksam: dem Burschen ist nicht zu trauen! Als Wiedergutmachung sozusagen will er ihn in die Vorbereitung zu dem großen Event einbinden, den Blue Bird in der Stadt plane. Er erinnere sich sicher daran, dass er ihm davon schon erzählt habe. Die Herrschaften hätten das vergangene Jahr gut genutzt, der äußere Rahmen konkretisiere sich. Zu den wichtigsten Autoren und Ermittlern weltweit habe man Kontakt aufgenommen und Zusagen erhalten. Im Herbst dieses Jahres, spätestens aber im Frühjahr des nächsten, werde das Ereignis stattfinden.

Ostermeier unterbricht den Redeschwall.

„Und, ist Rebus dabei? Ich konnte ihn bei meiner Hochzeit in Schottland nicht treffen, denn, als wir nach der Trauung in Gretna Green am Abend nach Edinburgh zurückkehrten, bestanden Collin und sein Freund auf ein Aftermath, dessen Nachwirkungen noch andauerten, als wir am nächsten Vormittag den Rückflug antraten.“

Altdorfer nickt.

„Soweit ich gelesen habe, ist er in Pension gegangen, beschäftigt sich aber noch mit ungelösten, alten Fällen und berät seine Tochter manchmal, die inzwischen auch bei der Polizei arbeitet. Er hat zugesagt und freut sich darauf seine alten Kollegen wieder zu sehen, die er bei einem internationalen Kongress seinerzeit in Edinburgh kennen gelernt hat.“

Collin hat ihm davon erzählt und von dem wunderbaren Besäufnissen in Rebus’ Lieblingspub. Also ist zumindest Rebus doch kein Hirngespinst, wie ihm Altdorfer bei ihrem letzten Treffen weißmachen wollte.

„Zwei Fragen habe ich noch: wieso glauben die Leute, ihr Event könne stattfinden, wenn die Landshuter Hochzeit andauernd verschoben wird? Selbst das Münchner Oktoberfest ist erneut abgesagt. Als Ersatz sind Oktoberfeste in diversen Weltgegenden geplant, was ein Humbug ist. Obgleich, falls Bier und Hendl dort billiger sind, rechnet sich eine Flugreise vielleicht. Und dann: was soll ich eigentlich machen?“

„Der Event findet statt. Da kennst du Bluebird schlecht. Und soviel darf ich verraten. Ein Teil der Veranstaltungen wird im Deimler-Tunnel stattfinden und in den unterirdischen Sälen dort. Der Tunnel wird vier Wochen lang gesperrt. Es kann also regnen und schneien. Nichts steht dem Fest im Wege. Die Behörden der Stadt zeigen sich dem Vorhaben geneigt und haben zugestimmt, wenn auch noch nichts öffentlich verlautbaren lassen, aber das kennt man ja auch bei anderen Entscheidungen. Und deine Rolle? Nun, es sollen auch Lokalgrößen teilnehmen. Wie du weißt, tauchen seit einigen Jahren allerorten irgendwelche Kriminalbeamten, Polizisten und auch Privatermittler auf, männliche und weibliche, und was es halt inzwischen alles gibt, damit ich mich korrekt ausdrücke, die fortwährend Fälle zu lösen haben. Manche tüchtig, gewitzt und schlau, andere ein wenig einfältig, dem angeblichen Wesen der Bewohner der jeweiligen Region angepasst. Auf jeden Fall, man gewinnt den Eindruck, die heimische Welt sei grottenschlecht und an jeder Ecke laure das Verbrechen in seinen vielfältigen Formen. Deine Aufgabe wird sein durchs Land zu reisen, geeignete Kandidaten aufzustöbern und ihren Hintergrund auszuleuchten. Ich habe bereits eine Liste zusammengestellt. Du kannst dich jederzeit in dein Auto schwingen und loslegen.“

Altdorfer setzt sich wieder, kramt in dem Zettelstapel auf seinem Tisch und reicht ihm ein paar Blätter. Ostermeier zögert.

„Das hast du dir schlau ausgedacht. Aber erstens habe ich einen Beruf, zudem eine Familie und nicht sonderlich viel Freizeit um im Land herumzukutschieren.“

Altdorfer winkt ab.

„Du vergisst die horrenden Schulden, die du am Hals hast mit eurer waghalsigen Solaranlage. Da gibt es einige Unwägbarkeiten, über die deine Kreditgeber vermutlich nicht so laut geredet haben. Und ob die Niedrigzinspolitik der Banken ewig so weitergeht, steht auch in den Sternen. Bluebird zahlt gut.“

Ostermeier neigt zu einem Wutausbruch.

„Du hast dich ja bestens informiert. Kennst aber meine Frau nicht. Die weiß, was sie macht. Und warum soll ich dir jetzt auf einmal trauen.“

„Beruhige dich! Beruhige dich! Sobald du zustimmst, wird eine erste, erkleckliche Summe überwiesen. Die vertreibt deine Bedenken und lindert die Sorgen.“

Altdorfer schaut ihn eindringlich an.

„Und außerdem wirst du bezahlt mit offenem Ergebnis. Falls sich herausstellen sollte, dass deine Recherche erfolglos ist, wird das nicht dein Schaden sein. Auf meine Vorarbeit kannst du dich verlassen und ich habe ein paar gute Ansätze gefunden. Da gibt es zum Beispiel einen interessanten Typen im Mangfalltal. Dort steht auch ein Wirtshaus herum, das du unbedingt aufsuchen musst, denn der Wirt und die Gäste haben gewiss einiges zu erzählen. Wenn du sie zum Reden bringst. Das ist klar. Aber das traue ich dir zu.“

„Die Wirtshäuser sind derzeit geschlossen. Du erinnerst dich vielleicht, wir haben da so eine Pandemie.“

„Papperlapapp! Unseren Medien und freiheitsliebenden Politikern wird es über kurz oder lang gelingen Öffnungen durchzusetzen. Die paar Toten, die das zusätzlich kosten wird, zählen nicht. Solange man nicht selbst betroffen ist, ist ihnen das egal.“

„Du bist mir bisher nicht als Zyniker aufgefallen.“

„Bin ich auch nicht. Aber ich weiß, wie das Spiel gespielt wird. Und der Event von Bluebird soll, soweit ich verstanden habe, auch ein paar Akzente des Nachdenkens setzen.“

„Da bin ich aber gespannt.“

„Überleg dir das Angebot und gib mir Bescheid. Bald! Sonst muss ich mir was anderes ausdenken.“