An den Ufern des Araxes - Kurt Aram - E-Book

An den Ufern des Araxes E-Book

Kurt Aram

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Beschreibung

Liebe und Abenteuer, der Kampf der Armenier gegen die Kurden, gegen die Türken sind Gegenstand dieses Romans. Spannende Unterhaltung auf geschichtlicher Grundlage. Der Roman beginnt in Russland und endet dort. Kurt Aram ist ein Pseudonym von Hans Fischer.

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Kurt Aram

An den Ufern des Araxes

Ein deutscher Roman aus Persien

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

I.

Es war Mitternacht, und es regnete. Trotzdem ging der junge Herr mit seiner Handtasche aus hellem Leder nicht in den Wartesaal, sondern schritt unablässig, ungeduldig an dem Bahngleise auf und nieder. Einen Augenblick blieb er stehen, sah unschlüssig nach dem von ein paar trübseligen Petroleumlampen erhellten Bahngebäude und setzte sich dann gleich wieder in Bewegung. Im Wartesaal roch es nach altem Leder und schlechtem Petroleum. Gelüftet hatte man wohl schon seit Monaten nicht. Er stellte die Handtasche ab, da ihn sein linker Arm schmerzte, ging weiter, kehrte aber nach wenigen Schritten wieder um, nahm die Tasche in die Rechte und wanderte weiter.

Der junge Herr schritt strammer aus, denn auf dem Bahnsteig tauchten drei verlumpte Gestalten auf, die verdächtig genug aussahen und sich ihm langsam näherten. Sie redeten ihn an, er faßte sein Gepäckstück fester. Sie sprachen eifrig auf ihn ein, er nickte nur abweisend, denn er verstand kein Wort. Da hörte er das Geräusch des nahenden Zuges und atmete erleichtert auf.

Aus allen Räumen quollen Menschen, der Schnellzug lief ein. »Minsk! Minsk!« schrien die Schaffner, und kaum stand der Zug, stürzten die Leute aus den Waggons, um sich am Büfett zu erfrischen. Mühsam drängte sich der Herr mit der Handtasche zu einem Abteil. Aber es war besetzt. Er eilte durch die Waggons, nirgends ein Platz. Alles war belegt mit Gepäckstücken, Überziehern, Schirmen, Schachteln, Eßwaren oder ruhig schlummernden Menschen. Nur ab und zu blickte einmal einer auf und sah dem eilfertigen, hübschen jungen Mann, der so stumm durch die Waggons lief, erstaunt nach. Hatte der Ärmste die Sprache verloren, war er taubstumm? Dann fielen die Lider wieder müde über die dunkel umschatteten, übernächtigten Augen.

Halb verzweifelt stand der junge Mann bald wieder auf dem Bahnsteig. Was sollte er tun? Er wollte diesen Zug nicht versäumen. Unter keinen Umständen! Da kam ihm ein rettender Gedanke. Eilfertig ging er wieder von Abteil zu Abteil und rief hinein: »Spricht hier vielleicht jemand deutsch?«

Endlich antwortete eine tiefe Stimme: »Aber gewiß, was wünschen Sie?« Und in einer Ecke richtete sich ein langer, hagerer Herr auf.

»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle. Viktor von Gandern.«

Der Angeredete stutzte einen Augenblick und musterte den jungen Herrn aus scharfen, grauen Augen. Dann erwiderte er leichthin unter einer förmlichen Verbeugung: »Müller. Das ist zwar kein italienischer Name, dafür aber um so mehr deutsch.« Nun stutzte Viktor von Gandern. Der Herr sieht eigentlich anders aus, gar nicht, als wenn er Müller hieße, schoß es ihm durch den Sinn. Aber dann nahm ihn wieder seine eigene Sorge gefangen, und er sagte: »Ich bitte Sie, Herr Müller, möchten Sie mir wohl behilflich sein? Ich spreche nämlich nicht russisch.« Viktor von Gandern teilte Herrn Müller hastig mit, daß er seine Fahrkarte im Zug, der ihn von Wirballen hierher gebracht, müsse liegen gelassen oder verloren haben, daß er aber unbedingt noch mit diesem Zug nach Moskau müsse, er brauche also eine neue Karte.

»Machen wir, machen wir«, sagte Herr Müller, wickelte sich gemächlich aus seinen Hüllen und kam heraus. Die beiden schoben sich mühsam durch die den Abteilen wieder zuströmende Menge, denn es läutete eben zum erstenmal.

Der Schalter war schon geschlossen. Herr Müller klopfte energisch. Hinter der Scheibe sah man zwei Beamte sitzen, die aber auf das Klopfen nicht hörten. Herr Müller klopfte nochmals und zog zugleich einen Geldschein aus der Tasche, mit dem er durch die Scheibe winkte. Das half. Der eine Beamte näherte sich und sprach etwas, ohne aber die Scheibe zu öffnen.

»Es gibt keine Fahrkarten mehr«, wandte sich Herr Müller an Viktor von Gandern.

»Ja, aber mein Gott!«

»Nur ruhig«, beschwichtigte Herr Müller. »Geben Sie mir ein paar Rubelscheine.« Von Gandern reichte ihm fünf Rubel. »Sie werden sehen, das hilft«, sagte Herr Müller und legte das Geld auf das Schalterbrett. Die Scheibe öffnete sich, eine Hand griff nach den fünf Rubeln und schloß den Schalter wieder. Einen Augenblick warteten die beiden. Der Beamte hatte sich inzwischen wieder ruhig auf seinen Platz begeben, als wenn gar nichts geschehen wäre.

»Da hört sich doch Verschiedenes auf!« rief Herr Müller und trommelte energisch an die Scheibe. »Uns so zum besten zu halten!«

Die Beamten stellten sich taub. Als das Getrommel aber nicht aufhörte, sprang der, welcher das Geld genommen hatte, wütend auf, lief zum Schalter und schrie Herrn Müller etwas zu. Kaum war das geschehen, ließ er einen kleinen, schmutziggrünen Vorhang vor die Scheibe herunterschnurren, und nun konnte man die beiden hinter dem Vorhang nicht einmal mehr sehen. Herr Müller stand einen Augenblick ganz verdutzt, dann fing er laut an zu lachen.

»Dies Rußland, nein, dies Rußland!«

»Was hat er denn gesagt?« fragte von Gandern.

»Etwas sehr Nettes hat er gesagt, etwas reizend Liebenswürdiges. ›Bist du ein solcher Esel und weißt nicht, daß man sein Geld nicht offen hinlegt?‹ hat er mich angeschrien.«

»Ja, aber?«

»Nichts ja aber, Verehrtester. So was kommt hier vor. Er hat das Geld einfach eingesteckt. Warum waren wir auch so dumm, es ihm vor die Nase zu legen.«

»Was soll ich denn aber tun?« Draußen läutete die Glocke zum zweitenmal.

»Kommen Sie, kommen Sie!« rief Herr Müller. »Es ist die höchste Zeit, sonst bleiben wir beide in diesem Räubernest liegen, und der Zug fährt uns vor der Nase fort.«

Herr Müller zog Viktor von Gandern mit zu seinem Abteil.

»Ich habe doch keine Karte!«

»Schadet nichts!« rief Herr Müller. »Geben Sie dem Schaffner ein gutes Trinkgeld, dann nimmt er Sie so mit.«

Die Glocke läutete zum drittenmal, die Abteiltüren wurden zugeschlagen, und Viktor von Gandern stand ohne Karte neben Herrn Müller im überfüllten Abteil, ohne recht zu wissen, wie das so schnell gegangen. Der Zug setzte sich in Bewegung.

»Das ist ja Betrug«, sagte Viktor und griff nach der Tür, um wieder hinauszuspringen. Aber Herr Müller hielt ihn fest.

»Machen Sie keine Dummheiten und gebrauchen Sie nicht gleich so starke Worte. Das müssen Sie sich hier abgewöhnen, denn dagegen sind die Leute empfindlich. Oder wollen Sie sich vielleicht noch Unannehmlichkeiten aussetzen und bei der nächsten kleinen Station mit Schimpf und Schande an die Luft gesetzt werden?« Von Gandern schwieg.

»Wie Sie hier unterkommen, dafür müssen Sie selbst sorgen«, fuhr Herr Müller fort. »Aber wenn der Schaffner oder Zugführer kommt, will ich Ihnen schon helfen. Sie geben dem Mann fünf Rubel, und das Unglück hat sich wahrscheinlich behoben. Und erscheint vor Moskau noch ein anderer Beamten, geben Sie dem auch fünf Rubel, und die Geschichte ist erledigt.«

»Das ist ja schauderhaft!«

Herr Müller lächelte. »Das ist nur menschlich. Sähe man den Leuten in Deutschland nicht so scharf auf die Finger, wer weiß ...«

»Erlauben Sie!« brauste Viktor auf.

»Erinnern Sie sich nicht einiger Prozesse, in denen Veruntreuungen von Bahnbeamten eine Rolle gespielt? ... So was kommt überall vor.«

»Aber doch nicht so schamlos und offen.«

»Du lieber Himmel, das macht in der Sache doch keinen allzu großen Unterschied. Übrigens überall geht's wohl auch in Rußland nicht. Aber auf dieser Strecke, da sind die Leute durch die Fremden verdorben.«

Der Zugführer erschien, Herr Müller sprach leise ein paar Worte mit ihm, nickte von Gandern leicht zu, und dieser drückte dem Beamten, verlegen errötend, fünf Rubel in die Hand.

»So«, sagte Herr Müller. »Und nun überlasse ich Sie Ihrem Schicksal.« Er wickelte sich wieder in seine Hüllen und schloß die Augen.

Viktor legte seine Handtasche zu Herrn Müllers Sachen ins Netz und sah sich nach einem Platz um. Die Augen ringsum, die ihn die ganze Zeit feindselig als einen höchst unwillkommenen Eindringling fixiert hatten, schlossen sich, wenn er sie ansah, als wollte er fragen, ob man nicht noch ein wenig zusammenrücken könne. Die Leute taten sofort, als lägen sie in bleischwerem Schlaf, aus dem sie vor dem Jüngsten Gericht nicht wieder aufzuwachen gedächten. Viktor trat in den Mittelgang und schaute ins Nebenabteil. Wieder nur feindselige Blicke derer, die noch wachten. Niemand rührte sich, ihm Platz zu machen. Seufzend ließ von Gandern seinen Blick weiter schweifen, durch den ganzen Waggon. Wie sonderbar er aussah bei der spärlichen Beleuchtung. Fast wie auf einem Schlachtfeld, so wirr und mit merkwürdig verrenkten Gliedern lagen, saßen die Menschen. Hier einer mit hoch erhobenen Armen, die sich krampfhaft an dem Netz für die Gepäckstücke festhielten. Dort einer schon fast völlig vom Sitz auf die Erde gerutscht. Ein anderer saß vornübergebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, als grüble er über alle Rätsel des Lebens. Wieder andere hatten die Knie hochgezogen, die Arme fest darumgeschlungen. Andere hielten die Beine weit von sich gestreckt, den Oberkörper verkrümmt, bald nach rechts, bald nach links, bald weit hintenüber. Die Gesichter bleich und die Haare wirr, die Kleider verknittert, die Kragen unordentlich. Ein grotesker Anblick, so ein ganzer Wagen voll übermüdeter Menschen nach Mitternacht im Schnellzug. In der Tat, wie ein Schlachtfeld, dachte von Gandern wieder. Das erste, das ich sehe. Nur daß es nicht grausam ist, wenn so der Schlaf seine Opfer fordert. Plötzlich zuckte er leicht zusammen. Im Nachbarabteil an der linken Außenwand saß eine Dame, die ihm leicht zuwinkte. Oder hatte er sich getäuscht? Nein, sie winkte wirklich mit einer überaus anmutigen Bewegung. Er trat mit einer leichten Verbeugung näher. Sie zog ihre Füße schnell von dem Sitz gegenüber. Feines Schuhzeug, dachte Viktor erfreut.

»Monsieur, s'il vous plaît?«

»Mille pardons Madame, mais ...«

Die Dame winkte wieder. Wenn er nicht unfreundlich sein wollte, mußte er der liebenswürdigen Aufforderung Folge leisten. Unter wiederholten Verbeugungen nahm er Platz und wollte nochmals seinen Dank aussprechen. Aber die Dame schwieg. Nicht einmal ihr Gesicht konnte er erkennen, da ein dichter Schleier es verhüllte. Viktor von Gandern erhob sich, seine Handtasche zu holen. Als er wiederkam, hatte sich die Dame ein wenig bequemer zurechtgerückt. Aber sie sagte nichts mehr, sie ignorierte ihn. Schlief sie oder tat sie nur so?

Verstohlen blickte er hin und wieder auf die schöne Unbekannte, denn schön und jung mußte sie sein, wenn er auch ihr Gesicht nicht erkennen konnte ... Beim monotonen Surren der Räder schlief er bald ein.

Herr Müller im Nebenabteil erhob sich und schaute vorsichtig, leise nach Herrn von Gandern. Eine ganze Weile beobachtete er ihn. Dann wandte er sich leicht lächelnd zu der Dame und flüsterte: »O, diese glückliche, sorgenlose Jugend! Was meinen Sie, Manja, möchten Sie nicht auch so schlafen können?«

Die Dame reichte Herrn Müller die Hand und meinte: »Ich weiß, lieber Freund, daß das Ihr liebster Wunsch für mich wäre. Ich spüre auch sehr gut den leichten Vorwurf, den alten Vorwurf, den Sie nicht müde werden, mir bei jeder Gelegenheit immer zu wiederholen, ich bewundere auch Ihr Geschick, mit dem Sie es verstehen, jede Gelegenheit für diesen Vorwurf auszunutzen. Aber noch bin ich nicht kuriert, noch lange nicht. Ich handle recht, so wie ich handle.«

»Und wissen Sie auch, wer der Schläfer da drüben ist?« fragte Herr Müller leise.

Manja musterte Viktor wieder. Sie blickte fragend auf Herrn Müller. »Die Züge erinnern mich an meinen Stiefvater.«

»Es ist Viktor von Gandern«, flüsterte der andere.

»Wirklich?«

»Er stellte sich mir so vor.«

»Was halten Sie von dem Zufall?« fragte Manja leise und ganz verwirrt.

»Es gibt halt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ... Sie wissen schon.«

»Und nach Moskau will er?«

Herr Müller nickte.

»Sonderbar. Gerade jetzt, gerade mit diesem Zug.«

Der Schläfer bewegte sich. Sofort saß Manja wieder unbeweglich, und Herr Müller kehrte leise, schnell auf seinen Platz zurück.

Einen Augenblick sah Viktor auf. Ihm war, als hätte man sich neben ihm unterhalten, und zwar auf deutsch. Eine Frauenstimme glaubte er gehört zu haben, eine merkwürdig weiche, wohltuende Altstimme. Aber es war wohl nur ein Traum. Die Dame gegenüber schlief offenbar, die anderen auch, nichts hatte sich verändert, seitdem er vorhin die Augen geschlossen. Er sah auf die Uhr, es war erst eins. Mein Gott, dauerte die Nacht noch lange ... Er versuchte, wieder einzuschlafen. Aber es gelang nicht, eine merkwürdige Unruhe war plötzlich in ihm. Und die Gedanken, die ihn nun schon seit sechs Tagen unablässig beschäftigten, seitdem er von seinen alten Eltern in Wiesbaden Abschied genommen, nahmen ihn wieder gefangen. Wieder sah er den alten Freiherrn vor sich, wie ihn der Zorn schüttelte, als er den Sohn anfuhr: »Wie mein Bruder bist du, genau so eigensinnig. Der wollte auch immer anders wie alle anderen. Dafür hockt er jetzt auch in Rußland. Das hat er davon! Geh' doch auch nach Rußland. Vielleicht paßt du dahin!« hatte sein Vater schließlich im höchsten Zorn gerufen. »Warum nicht?« hatte Viktor kühl geantwortet. »Dem Onkel soll's ja recht gut gehn.« »Gut gehn?« hatte der alte Herr grimmig geschnaubt, »gut gehn? in Rußland? haha!« »Da leben auch Menschen!« erwiderte Viktor. »Nette Menschen, das muß ich schon sagen. Mit dir ist's ja weit gekommen, sehr weit.« Der alte Freiherr sank entsetzt in seinen Sessel. »Da haben wir's, Marie«, wandte er sich an seine Frau, die feuchten Auges schon längst sich niedergesetzt. »Nun ja, bei solchen Ideen, da nimmt mich ja auch all das andere weiter nicht wunder.« Der Freiherr machte eine weite Armbewegung, um dadurch die Fülle all des anderen gebührend anzudeuten. »Daß er Vater und Mutter nicht ehrt, ist ja nun ganz selbstverständlich«, grollte der Freiherr weiter. »Daß er ins Blinde Schulden macht wie ein Norddeutscher, ist nur natürlich, und daß er die Amanda nicht heiraten will, um aus der Misere zu kommen ... Haha, Unordnung und Lumpen, das paßt ihm gerade, er will ja nach Rußland!«

Viktor seufzte laut bei der Erinnerung an diese Szene, und ganz jämmerlich wurde ihm zu Sinn, wenn er an seine Mutter dachte, die bei dem allen nur weinen konnte. Viktor sprang auf, zündete sich eine Zigarette an und ging leise, aber aufgeregt, im Mittelgang hin und her. Er merkte nicht, daß ihm zwei dunkle Augen teilnahmsvoll nachsahen. Diese Amanda! Schrecklich. Sie war so gut und brav, saß jahrein, jahraus auf ihrem kleinen süddeutschen Schlößchen, kümmerte sich um den Haushalt, wußte fast nichts von der Welt und liebte ihn. Er konnte doch nichts dafür? Er hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er sie nicht liebe, daß sie ihm nur ein angenehmer Kamerad war, wenn er auf Urlaub zu Hause war. Freilich, Geld hatten die Bruneks, viel Geld, weit mehr als die Gandern. Und das Mädchen erbte einmal alles, denn Brüder waren nicht mehr da. Aber verkaufen ließ er sich nicht, unter keinen Umständen. Lieber ging er nach Rußland oder Australien, oder wo immer hin. Gewiß, leichtsinnig war er gewesen, schauderhaft leichtsinnig. Aber der Vater hatte ihm auch nie deutlich gesagt, wie es stand. Und wenn er einmal eine Andeutung fallen ließ, glaubte Viktor ihm nicht. Die Väter tun ja gern so, wenn sie flotte Söhne haben, als kosteten ihnen die paar tausend Mark Schulden gleich den Kopf. Daß sie selber auch einmal jung gewesen, hatten sie natürlich längst vergessen.

Viktor mußte sich eine zweite Zigarette anzünden, die erste war schon fertig.

»Fehlt Ihnen etwas, Baron?«

Viktor fuhr herum. Herr Müller hatte gefragt.

»Ah, Verzeihung, daß ich Sie störe«, meinte Viktor. »Ich vergaß, daß andere Leute schlafen wollen.«

»Durchaus nicht, Baron.«

Viktor stutzte. Woher wußte der, daß er Baron war? Er hatte sich doch nicht so vorgestellt.

»Sagen Sie, stammen Sie nicht aus Süddeutschland?«

»In der Tat, woher wissen Sie?«

»Bei Ihrem Namen erinnerte ich mich an einen älteren Freund Ihres Namens, Viktor Amadäus.«

»Mein Vater, woher kennen Sie ihn?« rief Viktor.

Herr Müller wurde einen Augenblick verlegen, faßte sich aber schnell. »Früher kam ich manchmal dorthin ... mit Pferden ... Ihr Herr Vater ...«

Viktor lachte. »Ach ja, freilich, das war seine größte Schwäche.«

Die Dame im Nebenabteil lächelte. Wie knabenhaft er lachen kann, dachte sie. So können nur die Deutschen lachen.

»Ich will's Ihnen nur gestehen,« hörte sie ihren Freund sagen, »ich bin selbst Süddeutscher, nenne mich auch nur für gewöhnlich Müller, von Geburt heiß' ich ein wenig anders.« Er schwieg. Viktor sah ihn interessiert an. Die scharfen grauen Augen blickten sinnend ins Weite, tauchten unter in vergangene, längst vergangene Zeiten. Dann fuhr eine schmale, nicht mehr ganz junge, aber schöne, wohlgepflegte Hand energisch über die grauen Augen, und sie blickten wieder wie immer. »Entschuldigen Sie, ich sah lange keinen Süddeutschen mehr,« meinte Herr Müller, »ich dachte lange nicht mehr an dort unten.« Plötzlich richtete er sich lebhaft auf und fragte: »Sagen Sie, Baron, kennen Sie die Bruneks?«

»Gewiß!« Viktor schaute etwas befangen darein.

Herr Müller merkte es wohl und lächelte leicht. »Ich entsinne mich noch so dunkel, bei den Bruneks, Ihren Nachbarn, gab's ein kleines Mädchen.« Herr Müller lächelte wieder. »Etwas hausbacken war sie schon als Kind, aber sehr brav. Wie hieß sie nur?«

»Amanda. Meinen Sie die?«

»Richtig, Amanda. Fast hatte ich`s vergessen. Sagen Sie, was ist aus der geworden?«

Viktor, der dem Mädchen gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, pries sie aus allen Kräften und vergaß keine all ihrer vielen Tugenden.

»Ist sie denn hübsch?« warf Herr Müller dazwischen.

»Das nun eigentlich nicht«, erwiderte Herr von Gandern. »Wenigstens ich finde es nicht, wissen Sie, doch das ist ja Geschmackssache«, stammelte er.

»Aber gewiß«, sagte Herr Müller ruhig. »Ich hätte auch nie erwartet, daß sie besonders hübsch werden würde.«

»Aber gut und nett ist sie«, verteidigte Viktor. »Sie war mir ein sehr lieber Kamerad.«

»Noch nicht verheiratet also?«

»Nein.«

»Und soviel ich weiß, einen Bruder hat sie nicht?«

»Er ist verschollen.«

»Ich entsinne mich, es soll ein rechter Bruder Liederlich gewesen sein.«

»Man sagt so«, meinte Viktor ruhig. »Aber das heißt ja bei uns da unten nicht viel.«

»Wie geht es denn Amandas Eltern?« fragte Herr Müller.

»Die Mutter starb kürzlich.«

»Wie?« rief Herr Müller erschrocken und richtete sich auf. Doch er besann sich schnell, nahm seine gewohnte Stellung ein und schwieg. Nur die scharfen, grauen Augen sahen wieder so merkwürdig ins Weite, ins Leere, in längst vergangene Zeit. Wie blaß er aussieht, dachte Viktor und wartete einen Augenblick, um weiter zu plaudern. Aber die Augen schlossen sich, Herr Müller schien wieder eingeschlafen zu sein.

Da begab sich der junge Baron zurück auf seinen Platz. Sofort erinnerte er sich wieder seines schönen Visavis. Sie schlief immer noch. Mein Gott, wer doch auch so gut schlafen könnte, muß die ein ruhiges Gewissen haben, dachte Viktor, während er sich aufs neue zum Schlafen zurechtsetzte. Aber immer noch blieb er wach. Nun hatte der Herr nebenan, der sich Gott weiß aus welchem Grunde Müller nannte, vollends alles aufgewühlt, was er in diesen ersten Tagen wenigstens recht gerne vergessen hätte ... Immer mehr hatten sich damals Vater und Sohn in Zorn geredet, so sehr auch die Mutter zu vermitteln suchte. Sie besaßen beide gar harte Schädel. »Geh' doch auch nach Rußland!« wiederholte der Vater immer wieder, um den Sohn zu ärgern. »Und ich gehe auch nach Rußland!« entgegnete Viktor immer gereizter. So wuchs sich dies Wort, das im ersten Zorn hingeworfen worden, bei Viktor bald zu einem unerschütterlichen Entschluß aus. Die Baronin Gandern warnte oft ihren Gatten, doch davon abzulassen. »Ach was, der Junge wird schon zur Vernunft kommen. Er denkt gar nicht im Ernst daran, nach Rußland zu gehen!« meinte der Freiherr. Als Viktor aber allen Ernstes darauf bestand, grämte sich sein Vater innerlich zwar nicht wenig, aber um keinen Preis würde er das gezeigt haben. Mag er doch gehen, grollte er vor sich hin. Ich werde nicht lange zu warten brauchen, bis er wieder hier ist. Haha, im Schnee und Eis würde das Söhnchen sich schon bald wieder nach Hause sehnen, bald erkennen, wieviel besser es doch zu Hause war. Vielleicht war ihm diese Kur sogar ganz gesund und heilsam. Wenn er dann wiederkäme, würden ihm die Mucken wohl vergangen sein, da würde er die Amanda, dies tüchtige, wackere Mädchen, mit Handkuß heiraten. Und so kam es denn schließlich zum großen Schmerz der Mutter wirklich dazu, daß Viktor abreiste. Sogar aus seinem Regiment wollte Viktor austreten. Aber das gab der Vater nicht zu. Er erwirkte ihm einen halbjährigen Urlaub. »Bis dahin wirst du froh sein, wenn du wieder hier sein darfst.« Viktor lächelte dünn. Abwarten, dachte er, ohne aber dem alten Herrn laut zu widersprechen. Er freute sich jetzt auf die große Reise, auf andere Länder und Völker. Nun kam er doch endlich einmal heraus aus der »kleinen Garnison«. Und wie ihn seine Kameraden beneideten, als es bekannt wurde, daß er ins Ausland verreise! Die Jüngeren hatten sich einen Baedeker erstanden, aus dem sie Viktor im Kasino Wunderdinge von Rußland berichteten. Schließlich dedizierten sie ihm sogar das Buch. »Weißt du denn auch, was aus deinem Onkel geworden ist?« hatte der Freiherr am letzten Abend gefragt. »Ein Krämer, ein ganz gewöhnlicher Krämer. Ich glaube, Leder verkauft er und Tee und so was. Denke dir, ein Gandern.« – »Immer noch besser als Kellner oder Stiefelputzer in Amerika«, hatte Viktor geantwortet. Da aber war die Mutter ernstlich böse geworden. »Nun laßt wenigstens am letzten Abend den Zank«, hatte sie gebeten.

Jetzt ist's aber genug, sagte Viktor halblaut zu sich selbst und schloß die Augen. Jetzt muß geschlafen werden. Leise fing er an, das Einmaleins herzusagen. Ganz langsam, dann unwillkürlich im Rhythmus des sausenden Zuges ... Er schlief und wachte erst wieder auf, als es Tag war und der Zug an einer kleinen Station hielt, um Kohlen zu nehmen. Er verließ den Wagen, um sich ein wenig die Füße zu vertreten. Die meisten Reisenden stiegen aus, um zu frühstücken. Viktor folgte ihnen. Auch Herr Müller erschien und begrüßte ihn. Auch die Dame, seine Nachbarin, tauchte auf und nahm eine Tasse Tee. Einen Augenblick sah Viktor ihr weiches, rundes Kinn, den Ansatz der Wange und einen kleinen roten, ja purpurnen Mund. Weshalb sie nur nicht den Schleier ganz ablegte? Er machte Herrn Müller auf die Dame aufmerksam und fragte halb scherzend, ob Rußland denn schon so tief im Orient liege, daß sich die Dame nicht entschleiern dürfe? Herr Müller lächelte ein wenig. Für solch Verschleiern gäbe es ja auch andere Gründe! Zum Beispiel Häßlichkeit.

»Die häßlich? Da wett' ich meinen Kopf!«

»Schau, schau«, lächelte Herr Müller. »Nicht gleich so hitzig. Übrigens, die Dame ist allerdings nicht häßlich, ich kenne sie ganz gut.«

»Ach! Möchten Sie nicht die Güte haben, mich vorzustellen?« fragte Viktor eifrig.

»Nein.« Herr Müller legte Viktor, als er auffahren wollte, beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Nicht böse sein über meine schroffe Ablehnung. Es geht nur im Augenblick nicht anders. Später werden Sie sie gewiß noch kennenlernen«, fügte er nach einem Augenblick hinzu, und ein Lächeln glitt über sein Gesicht.

»Aber warum lassen Sie die Dame allein, warum sind Sie ihr nicht behilflich? In Rußland soll man doch so zuvorkommend sein?«

Wieder huschte ein leichtes Lächeln über Herrn Müllers Gesicht. »Auch das hat seine Gründe, die ich Ihnen nur auch momentan nicht nennen darf. Vielleicht begreifen Sie später auch das.«

»Sie sprechen in Rätseln«, meinte Viktor und sah seinen Nachbar etwas mißtrauisch an. Was sollte das alles?

»Sie werden noch manches Rätselhafte, Merkwürdige sehen, wir sind ja in Rußland, vergessen Sie das nicht.«

»Ich werde wahrhaftig neugierig.«

»Das glaube ich Ihnen gerne.« Mit auffallendem Ernste fügte er noch hinzu: »Ich war ein Freund Ihres Vaters, wenn auch ein gar junger, und Sie sind ein Ehrenmann. Es kann bald ein Augenblick kommen, wo Sie mir einen Dienst erweisen können. Aber kaltblütig müssen Sie sein. Kann ich dann auf Sie rechnen?«

Betroffen blickte Viktor den Sprecher an.

»Es handelt sich natürlich um nichts Unehrenhaftes.«

»Verzeihen Sie, das ist ja selbstverständlich. Ich zögerte nur, weil mich ihr plötzlicher Ernst beschäftigte. Droht Ihnen eine Schwierigkeit, eine Gefahr?«

»Hier drohen immer Gefahren«, erwiderte Herr Müller ruhig, schüttelte Viktor die Hand und verließ dann eilig den Wartesaal. Die Dame hatte ihn nämlich auch verlassen und schritt langsam gerade an zwei Fußgendarmen vorbei, die alle Passanten eifrig musterten und bei dem Anblick der verschleierten, hohen Gestalt einen Augenblick stutzten. Sie näherten sich einander, beide sahen gleichzeitig der Dame nach, die sich ruhig, langsam entfernte in der Richtung des Zuges. Viktor sah, wie Herr Müller auf beide zutrat, kordial sein Zigarettenetui zog und ihnen seinen Inhalt anbot. Dabei sprach er lebhaft auf sie ein, scherzte mit den beiden, denn sie begannen zu lachen, und zog sie dann mit zum Büfett, wo er die Gendarmen mit Schnaps bewirtete. Viktor trat interessiert näher. Aber Herr Müller sah ihn scharf an, und da gerade die beiden Gendarmen den zweiten Schnaps zum Munde führten, zischelte er: »Sie kennen mich nicht, gehen Sie bitte!« Das klang so energisch, daß Viktor, ohne sich erst zu besinnen, ging. Und da es gerade zum zweitenmal läutete, stieg er wieder ins Abteil. Sonderbar, sehr sonderbar, dachte er, was soll dies geheimnisvolle Getue wohl heißen? Unwillkürlich suchte er die verschleierte Dame. Sie saß wieder auf ihrem alten Platz, regungslos, den Kopf leicht dem Fenster zugewandt, als interessierte sie die Landschaft und das kleine russische Dorf da draußen. Am Ende habe ich es mit Nihilisten zu tun, schoß es Gandern durch den Kopf. Aber Herr Müller ist offenbar ein Deutscher aus guter Familie. Und diese schöne junge Dame da. Ach was. Unter Nihilisten stellte er sich verhungerte, elende, abgetriebene, verkommene, ungebildete Menschen und bestenfalls verbummelte Studenten vor. Zum drittenmal läutete die Glocke, die Abteiltür wurde schon geschlossen, da sprang im letzten Augenblick noch Herr Müller in den Wagen. Er setzte sich und lachte leise vor sich hin.

»Würden Sie mir wohl einen Augenblick Ihren Platz abtreten?« wandte er sich bittend an Herrn von Gandern.

»Wenn auch nicht mit dem größten Vergnügen, so doch, wenn's sein muß«, lautete die Antwort, die scherzhaft klingen sollte. Aber man sah dem Sprecher an, daß ihm dieses Disponieren über seine Person nicht behagte, daß ihn nur seine Wohlerzogenheit hinderte, sich darüber zu äußern.

»Sie verfügen gar zu unbesorgt über ihn«, meinte Manja zu Herrn Müller, als Gandern sich an das andere Ende des Abteils begab, wo er sich an ein Fenster lehnte und scheinbar interessiert auf die öde, steppenartige Landschaft sah, die endlos, melancholisch, menschenleer sich vor ihm ausbreitete.

»Er ist jung, von guten Manieren, ich weit älter als er. Da pariert er vorläufig noch«, meinte Herr Müller.

»Verlassen Sie sich nicht zu sehr darauf. Sie kennen ja die Ganderns.«

»Und ob ich sie kenne.« Herr Müller seufzte. »Wenigstens die russischen.«

Manja lächelte, als sie ihren Schleier zurückschlug.

»Aber ich bitte Sie, wie unvorsichtig. Verhüllen Sie schnell Ihr Gesicht!«

»Nein, lieber Freund. Ich werde melancholisch unter dem schwarzen Gespinst. Wenigstens eine Stunde lang will ich mir's schenken. Wir sind ja sowieso ziemlich allein. Alles ist zum Toilettemachen hinausgegangen.«

Herr Müller sah sich um. Manja hatte recht.

»Na, dann meinetwegen. Aber wenn jemand kommt, bitte. Sie haben selbst den beiden Gendarmen vorhin angemerkt, daß ihnen jemand avisiert ist, denn sonst hätten sie im Warmen gesessen und wären betrunken gewesen – wie gewöhnlich.«

»Ich vertraue meinem Stern und meiner guten Sache«, erwiderte Manja ruhig und sah Herrn Müller mit ihren großen dunklen Augen fest an.

»Sie sind wahrhaftig ganz verrußt«, brummte Herr Müller ärgerlich. »Eines schönen Tags wird der Stern fallen, und dann haben wir die Bescherung.«

»So überlassen Sie mich doch meinem Schicksal.«

Herr Müller sah sie unwillig an.

»Im Ernst, lieber Freund, Sie wissen selbst, die Situation wird immer gefährlicher, und es ist doch unnütz, daß sich zwei opfern. Und darunter sogar einer, der es nicht einmal für die Sache tut.«

»Ich habe Olga versprochen, Sie zu finden, über Sie zu wachen. Und was ich verspreche, halte ich.«

»Die arme Olga wird sich schön um Sie ängstigen«, meinte Manja, ohne ein leichtes Lächeln unterdrücken zu können.

»Und um Sie?« Wie vorwurfsvoll das klang. »Und Ihre Mutter?!«

Sie reichte ihm die Hand. »Lassen wir das jetzt lieber, wo wir klaren Kopf behalten müssen.«

»Die Moskauer Freunde sind benachrichtigt. Wenigstens hoffe ich, daß Petrow rechtzeitig hinkam. Ist wirklich eine ernsthafte Gefahr in Verzug, werden sie zur Stelle, sein.«

»Sie sehen schwarz, lieber Freund. Was ficht Sie an?«

»Man hat solche Stunden. Der junge Gandern ist mit schuld daran.« Er schwieg einen Augenblick, dann sah er still zu Manja auf: »Wissen Sie, daß meine Mutter gestorben ist?«

»Woher?«

»Der junge Gandern sagte es.«

»Armer Freund!« Sie hielt ihm teilnahmsvoll beide Hände hin, die er leicht drückte.

»Da fallen einem alte Zeiten ein und alle alten Sünden«, flüsterte er. »Hofft' ich doch immer noch, sie wiederzusehen, ihr auf ihre alten Tage noch ein wenig Sonne und Freude zu bringen. Olga ...« Wieder schwieg er lange Zeit. »Sehen Sie, mir fiel ein Stern, einer der wenigen, die noch an meinem Himmel leuchteten.«

»Mut, Mut, lieber Freund. Der andere steht hell und klar, und« – sie lächelte wieder – »ich will Ihnen etwas verraten, wenn er fällt, fällt er in Ihre Arme.«

»Woher wissen Sie?« Herr Müller war aufgesprungen, und eine helle Röte schoß über sein Gesicht.

»Ich glaube es bestimmt zu wissen ... Ich kenne doch Olga. Verlassen Sie sich auf mich. Sie sträubt sich noch. Auch daß Ihr Vater nicht will, verstärkt dies Sträuben, denn sie ist ein weicher, anschmiegsamer Mensch. Aber Sie werden sehen, daß ich recht behalte.«

»Ich wage nicht, es zu glauben«, erwiderte Herr Müller trübselig. »Wie könnte sie mich auch lieben, mich?« Er sah verächtlich an sich herunter.

Manja lachte laut und hell. »Wenn Sie sich eben gesehen hätten. So schlimm ist es wirklich nicht, lieber Freund. Ich verstehe mich doch auch ein wenig auf Menschen. Ich begreife es sehr gut, daß Olga Sie liebt, der Efeu den Eichbaum. Sie sehen, ich mache Ihnen nicht einmal übermäßige Komplimente, denn der Eichbaum ist knorrig, zäh. Das weitere können Sie sich selbst nach Belieben ausmalen.«

Herr Müller lächelte fast wider Willen. »Sie haben wirklich eine eigne Art, Ihre Liebenswürdigkeiten einzukleiden.«

»Im Ernst, lieber Freund. Schon im Interesse Olgas möchte ich, daß Sie sich nicht unnötigerweise Gefahren aussetzen. Und wir wissen beide, daß sie jetzt, wo wir in Warschau Glück hatten, mehr drohen denn je. Nur noch die eine Sache in Moskau, dann werde ich freiwillig auf einige Zeit der russischen Polizei aus dem Wege gehen.«

»Machen Sie mir doch nichts vor, ich weiß ganz gut, weshalb Sie dann nach Tiflis und Täbris wollen. Sie brauchen sich wirklich in meinen Augen nicht zu verkleinern. Es hilft Ihnen außerdem doch nichts.«

»Aber Sie sollten nun wirklich von Moskau an mich meinem Schicksal überlassen.«

»Ich habe versprochen, daß ich Ihnen folgen würde wie Ihr Schatten, wenn ich Sie fände. Ich fand Sie und weiche nicht.« Er sah sie ernst an. »Übrigens verzeihen Sie, aber ich stelle Sie viel zu hoch und habe Sie so bewundern gelernt, daß ich Sie nicht eher verlasse, als bis ...«

»Als bis? Bis wann?« Sie blitzte ihn an.

»Bis Sie von Ihrem Wahn kuriert sind.«

»Das hätten Sie nicht sagen sollen.«

»Ich muß es Ihnen als ehrlicher Mensch sagen.«

»Dann werden Sie noch lange mein Schatten sein.«

»Ich habe Zeit.«

»Arme Olga!«

Beide schwiegen.

»Ich könnte übrigens Olga eine Nachricht geben.«

Herr Müller sah sie fragend an.

Manja nestelte an ihrem Mantel, brachte einen Papierblock und einen Bleistift hervor und schrieb ein paar Zeilen. »Wollen Sie nicht auch schreiben?«

Herr Müller stutzte einen Augenblick, dann schüttelte er energisch ablehnend den Kopf.

»Die Bruneks scheinen auch harte Köpfe zu haben«, sagte sie leise.

Er lachte: »O ja!«

Manja erhob sich, griff nach ihrer kleinen Tasche, holte einen Umschlag heraus und schloß den Brief.

»Doch wie wollen Sie? ...«

»Sehr einfach«, erwiderte Manja. »Ich versenke das Briefchen in Herrn von Ganderns Überziehertasche. Oder glauben Sie, daß es so sein Ziel verfehlt?«

»Nein, nein, es ist ...«

»Ja, sehen Sie, lieber Freund, von uns Frauen kann man immer noch etwas lernen.« Das Briefchen war schon in der Brusttasche von Viktors Überzieher verschwunden.

Manja saß wieder regungslos auf ihrem Platz und machte ein ganz ernstes Gesicht, denn Viktor näherte sich.

Herr Müller erhob sich, winkte Manja zu, sie solle ihren Schleier wieder herablassen. Sie tat es aber nicht. Und da Herr von Gandern schon im Nebenabteil stand, mußte er ihn wohl vorstellen, um nicht gar zu unhöflich zu sein. Er wandte sich ihm zu, schwieg aber betroffen über den Anblick, den Herr von Gandern bot. Er stand ganz stumm und starr und blickte auf Manja. Ganz versunken war er in ihr Gesicht und hatte alles andere über dem Anblick vergessen. Kurt von Brunek sah Manja an. Gewiß, es war schön, dies Gesicht, sogar auffallend schön, zumal für einen, der es zum erstenmal sah. Edel, vornehm, etwas bleich, mit den großen dunklen Augen, die von den Wimpern förmlich überschattet wurden und das ganze Gesicht beherrschten.

»Entschuldigen Sie«, stammelte Viktor schließlich verlegen und kam näher.

Herr Müller stellte vor: »Meine Schwester!«

»Herr!« fuhr Viktor auf, und dunkle Zornesröte stieg ihm in die Augen.

Herr Müller lachte. »Jetzt muß ich mich entschuldigen. Schon wieder, Herr Baron. Und gleich für alle noch vorkommenden Fälle. Ich darf Ihnen nämlich den Namen der Dame wirklich nicht sagen. Es könnte Unannehmlichkeiten für Sie haben. Jetzt wenigstens noch nicht. Wir sind in Rußland, nicht wahr? Nehmen Sie es mir deshalb bitte nicht übel, wenn ich dabei verbleibe, es vorläufig dabei bewenden zu lassen, indem ich Sie zugleich beglückwünsche zu dem Scharfsinn, mit dem Sie so energisch gegen die Zumutung reagierten, es sei meine Schwester.«

»Es ist wirklich besser, Herr Baron,« fiel Manja ein, »wenn wir's zunächst dabei lassen. Verzeihen Sie diese kleine Notlüge, denn es liegt ja schließlich auch nicht viel daran, wie ich heiße, ob so oder anders.«

Mit einem Seitenblick auf Herrn Müller: »Jedenfalls entgehe ich doch nicht dem Verhängnis, über kurz oder lang diesem Herrn so gut oder so schlecht wie eine Schwester zu werden. Bitte, setzen Sie sich einen Augenblick zu uns.«

»Ja, aber Sie sprechen ja deutsch!« stotterte Viktor und ließ sich nieder.

»Gewiß, denn in meinem Elternhaus wurde viel deutsch gesprochen ...« Manja griff wieder zu ihrer Handtasche. »Wenn Sie nicht zu große Ansprüche stellen, Herr Baron, so darf ich Sie wohl bitten, mit uns zu frühstücken?«

»Nein, ich danke, ich danke vielmals, ich habe keinen Appetit, nicht den geringsten. Das heißt, eine Kleinigkeit aus Ihrer Hand.« Viktor errötete. »Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, aber nicht wahr, Sie sehen, ich bin etwas betroffen. Dies Deutsch hier mitten in Rußland, und dann ...«

»Gewiß, Herr Baron,« unterbrach ihn Manja schnell, »ganz wie Sie wünschen.«

Es erschienen andere Mitreisende, Manja zog ihren Schleier wieder vor und begann den Inhalt ihrer Handtasche auf ihrem Schoß auszubreiten. Während die Dame und ihr Freund es sich schmecken ließen, hatte Viktor Zeit, sich zu sammeln, sich zu erholen von dem Anblick, der ihm geworden. Daß es so schöne Gesichter gab! Amanda fiel ihm ein, und er mußte unwillkürlich lächeln, wenn er sie mit der Dame vor ihm verglich, die so graziös ihr Frühstück zu Munde führte.

»Woran dachten Sie eben?« fragte sein Gegenüber.

Er mußte noch deutlicher lächeln. »Verzeihen Sie, das darf ich Ihnen auch nicht sagen. Auch ich habe meine Geheimnisse.«

»Ei, ei, Herr von Gandern«, fiel Herr Müller ein. »Sie lernen schnell, sehr schnell.«

»Sie dachten gewiß an die Heimat?« meinte Manja.

»Fast haben Sie es erraten.«

»Erzählen Sie uns doch etwas aus Ihrer Heimat. Ich höre so gern einen Deutschen von Deutschland reden«, meinte Manja. »Das heißt nur, wenn er im Ausland ist, sonst nörgelt er mir zu viel. Aber wenn die Deutschen in der Fremde sind, wenn sie sehen, wie vieles bei ihnen zu Haus doch besser ist als anderswo, und wenn so ein bißchen Heimweh ihnen alles in noch wärmeren Farben malt, dann höre ich sehr gerne zu.«

Viktor sah sie an. Wie anders sie sich ausdrückte als andere Mädchen ihres Alters. Halt, wie alt mochte sie denn sein? Wieder betrachtete er sie aufmerksam. Jung war sie unzweifelhaft, zwanzig oder so. Gewiß nicht älter.

»Wahrhaftig,« wandte sich Herr Müller an seine Nachbarin, »er träumt schon, er ist schon ganz versunken in liebe Erinnerungen. O, diese Deutschen!«

Viktor sah ihn ärgerlich an.

»Nicht wieder aufbrausen, Herr Baron«, beschwichtigte eilig Herr Müller. »Ich bin ja selbst ein Deutscher. Da darf ich schon einmal so von Ihnen sprechen.«

»Zumal er selbst oft ganz krank ist nach Deutschland«, warf Manja ein.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil ich sehende Augen habe, die sich nichts vormachen lassen, lieber Freund.«

Viktor ging es wie ein Stich durchs Herz. Freund nannte sie diesen Herrn Müller, oder wie er sonst heißen mochte. Mißtrauisch blickte er von einem zum anderen. Du wirst doch nicht jetzt schon eifersüchtig? ging es ihm durch den Kopf, und er erschrak ein wenig vor sich selbst. Eifersüchtig auf diese Dame, die er in diesem Zug zum erstenmal gesehen, die er kaum kannte, deren Namen er nicht wußte, deren Verhältnisse gewiß recht undeutsche waren, denn sonst führe sie sicher nicht so allein durch die Welt. Und doch, sein Herz schlug schneller, er war neidisch auf diesen Herrn Müller, der sie wohl schon lange kannte, der gewiß viel um sie war, den sie Freund nannte, der ihr also etwas bedeutete. Dieser Herr Müller begann ihn auf einmal zu interessieren. Zum erstenmal sah er ihn ein wenig genauer an. Ein interessanter Kopf, schmal, lang, durchgearbeitete Züge, eine merkwürdig klare, helle Stirn. Gute Rasse, dachte Viktor. Und je mehr er ihn ansah, um so mehr erinnerte ihn der Kopf, der ganze Habitus, diese langen, schmalen Glieder, diese vornehmen, gemessenen Gesten an jemand, den er kannte. Wer war das nur? Wieder wurde er aus seinem Grübeln aufgescheucht durch Manjas Bitte, ihnen doch aus seiner Heimat zu erzählen. Er fuhr sich energisch über die Stirn, wie um alle diese sonderbaren Gedanken, die ihn beunruhigten, fortzuwischen, und erzählte. Erst zurückhaltend, allgemein, dann wurde er wärmer und persönlicher und merkte erst, wie lange er gesprochen, als der Zug plötzlich langsamer zu fahren begann, weil er sich Moskau näherte.

»Entschuldigen Sie bitte, daß ich so viel von mir sprach, es ist sonst nicht meine Art.« Er zog seine Uhr. »Wahrhaftig, ich habe mich arg verplaudert.« Da die beiden schwiegen, sah er sie an. Wie merkwürdig die dreinblickten. So bewegt. Sonderbar!

»Wir danken Ihnen sehr, Herr Baron«, sagte Manja leise und reichte ihm die Rechte. Viktor ergriff sie, hielt sie, aber die Hand wurde ihm schnell wieder entzogen. Wie gern hätte er sie noch in der seinen gefühlt.

»Weiß der Teufel, dies Deutschland, wie es wieder lebendig wird.« Herr Müller schüttelte sich, die grauen Augen, die eben noch so weich gewesen, wurden wieder scharf und durchdringend wie gewöhnlich, und um den starken, kurz gehaltenen Schnurrbart zuckte es in leichter Selbstironie. »Wir bleiben halt unser Lebtag Narren, wir Deutsche. Es ist uns für ewig in die Haut gebrannt, da ist nichts zu machen, gar nichts.« Er seufzte und reckte sich energisch. Er sah zum Fenster hinaus und stutzte. Dann blickte er Manja bedeutungsvoll an. Sie lächelte und sagte:

»Sie merkten gar nicht, wie die Zeit vergeht, Sie Deutscher!«

»Ich bitte Sie, wir sind ja schon in Moskau.« Wie erregt das Herr Müller sagte. Viktor blickte zum Fenster hinaus. Grüne Dächer, goldene Kuppeln, Zinnen, Kirchen, Paläste, zwischendurch wieder ganz unscheinbare, kleine, arme Häuser. Er wandte sich um, Herrn Müller nach Einzelheiten zu fragen. Aber der war wieder auf seinen alten Platz gegangen und legte sein Gepäck zusammen. Die Dame ihm gegenüber tat dasselbe. Aber die Bewegungen der beiden hatten so etwas unnatürlich Hastiges. Viktor sah, wie Herr Müller dann eilig das Fenster öffnete und eifrig hinaussah. Sein Gesicht war bleicher als gewöhnlich, die Augen schienen alles durchbohren zu wollen. Er war der Dame behilflich, ihren schweren Pelz anzulegen. Er fühlte, wie ein Beben durch ihre Glieder ging. Auch Viktors bemächtigte sich nun eine sonderbare Unruhe, für die er keinen Grund wußte. Was war denn los? Was sollte das? fragte er sich immer wieder. Der Zug fuhr ganz langsam. Plötzlich zog Herr Müller schnell das Fenster wieder hoch, überblickte prüfend, durchdringend den ganzen Waggon. Die Reisenden waren alle mit sich beschäftigt und packten ihre Siebensachen zusammen. Keiner kümmerte sich um den anderen, jeder dachte nur an sich und sein Gepäck. Herr Müller, dessen Züge aufs höchste gespannt, erregt waren, trat eilig auf Manja zu und sprach hastig, leise auf sie ein. Viktor verstand kein Wort, da auch Manja ebenso hastig und russisch antwortete. Wieder öffnete Herr Müller das Fenster. Der Zug bewegte sich kaum noch. Er wandte sich um und sagte leise, aber deutlich zu Manja, die sich ihm ein wenig genähert hatte: »Er ist's«.

»Ruhig, lieber Freund«, erwiderte Manja ebenso leise, ohne aber alle Erregung aus ihrer Stimme bannen zu können, wie Viktor wohl bemerkte.

»Ich baue auf meinen Stern.«

»Petrow und die anderen sind mir sicherer«, hörte er Herrn Müller leise erwidern, während er aufs neue zum Fenster hinausblickte.

»Ah, da bist du ja, Petrow!« rief Herr Müller plötzlich deutsch und laut zum Fenster hinaus.

»Es sind alle da«, hörte Viktor eine tiefe Stimme laut und deutlich antworten. Ein leichter Seufzer der Erleichterung löste sich von Manjas Lippen, wie Viktor vernahm, dessen sich eine immer größere Erregung bemächtigte.

»Als was?« fragte Herr Müller.

»Gepäckträger und Gendarmen.«

»Gut!« tönte die Antwort vom Fenster. »Haltet euch nur dicht am Abteil.« Herr Müller drehte sich um, griff nach Viktor, zog ihn zum Fenster und flüsterte erregt: »Sehen Sie dort den kleinen älteren Herrn?«

Viktor blickte hinaus und sah zunächst nichts als ein Dutzend Gepäckträger und Gendarmen, die neben dem Abteil hergingen. »Ich bitte Sie,« flüsterte Viktor erregt, »ich sehe Gendarmen, wenigstens sind die Leute da genau gekleidet wie die Gendarmen an der Grenze und in Minsk. Haben Sie sie aus irgendeinem Grunde zu fürchten? Seien Sie offen, ich weiß ja, daß es sich um nichts Unedles handeln kann, ich weiß, in Rußland ...«

»Seien Sie ohne Sorge«, antwortete Herr Müller leise, »diese Leute sind meine Freunde, sie haben sich der Sicherheit wegen nur so verkleidet. Dort den kleinen Mann sehen Sie an, sehen Sie ihn?«

Viktor nickte, denn jetzt erblickte er ihn und sah auch, wie er eifrig den Zug entlang spähte, hinter sich, um sich eine ganze Menge Soldaten, Gendarmen.

»Bleiben Sie am Fenster,« flüsterte Herr Müller, »und achten Sie genau, auf welcher Seite er in unseren Waggon steigt. Wissen Sie das, dann winken Sie mir mit der Hand. Kommt er von dort,« Herr Müller zeigte nach der Waggontür links, »dann deuten Sie dorthin,« er wies nach rechts, »kommt er von der anderen Seite, winken Sie dorthin.« Er wies mit der Hand nach links. »Und wenn er hier ist, halten Sie den Mann einen Augenblick auf, stellen Sie sich ihm in den Weg, fragen Sie ihn nach einem Gepäckträger oder dergleichen, kurz, halten Sie ihn unter allen Umständen ein, zwei Minuten hin. Länger ist nicht nötig. Es gilt die Freiheit dieser Dame!«

Herr Müller deutete auf Manja, die hinter ihm stand und leise nickte.

Viktor errötete vor Freude, der Dame dienlich sein zu können, und lehnte sich zum Fenster hinaus. Der Zug hielt. Die Gepäckträger vor dem Abteil boten schreiend ihre Dienste an, Reisende winkten aus allen Fenstern, aber die Gepäckträger schrien nur, ohne sich um die winkenden Reisenden zu bemühen, während die Gendarmen stumm an dem Abteil Posto faßten. Viktor sah den kleinen älteren Herrn langsam, leise näher kommen, hinter sich einen ganzen Schwarm von Polizisten und Soldaten. Wie unruhig seine Augen sind, wie merkwürdig er geht, wie ein Marder, der Tauben beschleicht, dachte Viktor. Jetzt stand er vor seinem Wagen und äugte schnell an ihm hin. Die Gendarmen vor Viktors Abteil salutierten. Der kleine Herr musterte sie einen Moment, trat dann auf sie zu und fragte offenbar. Der Betreffende antwortete ruhig, gemessen, immer die Hand am Helm. Ehe Viktor es gedacht, huschte der kleine Herr plötzlich auf das Trittbrett. Viktor drehte sich blitzschnell herum und winkte nach links. Sofort eilten die Dame und Herr Müller, der plötzlich einen Vollbart trug, wie Viktor mit Verwunderung sah, zu der linken Ausgangstür. Viktor sprang zu seinem Platz, warf seinen kleinen Handkoffer in den Gang, und da er gar zu klein war, riß er einem anderen Reisenden wie zufällig seinen Koffer zur Erde. Der schimpfte, andere Reisende drängten nach, verloren kleinere Gepäckstücke in dem Gedränge, das plötzlich entstand durch das Gepäck, das mitten im Gang lag. Viktor schwang scheinbar dienstwillig einen ziemlich schweren Koffer aus dem nächsten Netz zur Erde. Kurz, als der kleine Herr ins Abteil trat, konnte er nicht weiter, da die Passage völlig versperrt war. Er schimpfte, die Reisenden wetterten und fluchten, schoben sich, stolperten, verloren Handtaschen, bückten sich, sie wieder aufzuheben, stießen mit anderen zusammen. Es war ein großes Durcheinander, und der kleine Herr, der schnell weiter wollte, schimpfte am lautesten. Bis endlich wieder etwas Ordnung herrschte, waren schon mehrere Minuten vergangen, und als Viktor sich zum Fenster hinausbeugte, sah er gerade noch, wie die Dame und Herr Müller, umringt von lärmenden Gepäckträgern und Gendarmen, die wütend auf die Gepäckträger losgestikulierten, am anderen Ende des Bahnsteigs verschwanden.

»Viktor von Gandern!« hörte er draußen laut eine Stimme rufen. Es war ein stämmiger untersetzter Herr in grauem Vollbart, der so rief.

»Onkel! Onkel!« Der andere stutzte, dann legte sich ein helles Lächeln über sein verbranntes Gesicht.

»Grüß Gott, Junge! Weshalb steckst du denn immer noch in dem Kasten, hast du noch nicht genug davon?«

»Gleich, gleich, Onkel!« rief Viktor und verschwand vom Fenster, weil er sehr rot wurde, ergriff seine Handtasche, und ehe er sich dessen versah, lag er schon in den Armen seines Onkels, der ihn herzhaft auf beide Wangen und auf die Stirn küßte. Viktor schoß es feucht in die Augen: Nach all den Erlebnissen der letzten Minuten tat ihm diese warme Begrüßung unsagbar wohl, zumal er das nicht gewöhnt war, denn bei ihm zu Hause begrüßte man sich nicht mit einem Kuß. Onkel Philipp hing sich fest in den Arm seines Neffen, den er freundlich drückte.

»Wie gut und lieb du bist«, sagte Viktor, der aus dem Erstaunen über diesen Bruder seines Vaters nicht herauskam.

»Bengel, du weißt ja gar nicht, wie riesig wir uns freuen, einmal einen von euch bei uns zu sehen!« rief der lebhafte Onkel. Plötzlich blieb er stehen, sah zornig auf einen Herrn vor sich und zischte: »Schurke, elender!«

Viktor erkannte den kleinen älteren Herrn, auf den Herr Müller ihn aufmerksam gemacht. »Wer ist das?« fragte er.

»Das? Das ist mir der widerlichste Mensch im weiten russischen Reich!« rief Onkel Philipp. »Der geriebenste Detektiv der politischen Polizei. Schau dich nur um, da siehst du gleich das Ärgste von Rußland!« Onkel Philipp deutete auf all die Gendarmen und Soldaten. Er lachte grimmig. »Alle sind sie beisammen, es galt offenbar einem großen Fang. Aber es scheint, die Beute ist ihnen entwischt, man sieht's den Gesichtern an. Haha, das gönn' ich ihnen. Gott verdamme die Schurken, denen es nur gelingt, anständige Leute unglücklich zu machen, während die wahren Verbrecher frei ausgehen!«