An Optimist's Guide to Heartbreak - Jennifer Hartmann - E-Book
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An Optimist's Guide to Heartbreak E-Book

Jennifer Hartmann

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Beschreibung

Wie Sonnenschein an einem verregneten Tag Lucy Hope ist eine echte Optimistin. Mit ihrer heiteren und aufgeschlossenen Art begegnet sie jeder dunklen Wolke mit einem Lächeln, selbst, wenn es sich dabei um ihren ehemals besten Freund Cal handelt. Nachdem ein traumatisches Ereignis die beiden vor Jahren auseinandergerissen hat, wünscht sich Lucy nichts sehnlicher, als die Freundschaft zwischen ihnen wieder aufleben zu lassen. In der Hoffnung, dass die Nähe sie wieder zusammenschweißt, bewirbt sich die junge Frau kurzerhand als Aushilfe in Cals Werkstatt. Doch wie kann sie den sturen Pessimisten davon überzeugen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und mit ihr in eine gemeinsame Zukunft zu blicken – auch wenn diese schneller zu Ende sein könnte, als beiden bewusst ist…

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Seitenzahl: 437

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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem TitelAn Optimist’s Guide To Heartbreak.

© Jennifer Hartmann 2023

Deutsche Erstausgabe

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe reverie in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Coveradaption von zero-media.net, München in Anlehnung an das Original Coverdesign von Hartmann Media Group, LLC

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783745704259

www.reverie.de

Widmung

Für Elizabeth und ihr tapferes Herz

Zitat

Schöne Dinge sind niemals von Dauer, deshalb flimmern die Glühwürmchen.

RON POPE

Prolog

PROLOG

Bei einem Nachnamen wie Hope – Hoffnung – würde man annehmen, dass ich das Äquivalent eines wandelnden, sprechenden Sonnenstrahls sei. Vollgepackt mit Optimismus und Fröhlichkeit. Ein Licht in der Dunkelheit, mit einem immerwährenden Lächeln, das zu einem solchen Namen passt.

Und ja, ich würde sagen, dass die Beschreibung zutrifft.

Selbst an meinen schlechten Tagen erfülle ich all diese Kriterien … sogar an meinen schlimmsten tue ich das.

Besonders an diesen.

Vielleicht ist das der Grund, wieso ich bei dem Haus, das als kleines rotes Immobiliensymbol in meiner Benachrichtigungsleiste aufblinkt, das Gefühl habe, einziehen zu müssen. Es ruft auf eine Weise nach mir, die ich nicht erklären kann.

Was ich jedoch weiß, ist: Ich brauche es, ich will es, ich muss es haben.

Ich verschlucke mich an meinem Muffin, während ich die vertrauten honiggelben Ziegelsteine anstarre. Meine Haut wird heiß und so rot wie die Warnflaggen, die vor meinem geistigen Auge zu wehen beginnen. Mein Bauch kribbelt vor Nervosität, meine Handflächen schwitzen, und mein Verstand dreht sich unaufhaltsam wie ein altes, klappriges Riesenrad.

Dennoch gewinnt ein anderes Gefühl die Oberhand. Etwas, das mächtiger ist. Es dringt durch die Ungewissheit, durch die schrecklichen Erinnerungen und übertönt die Stimme in meinem Kopf, die schreit, dass das Ganze zum Scheitern verurteilt ist.

Das Riesenrad bröckelt und zerfällt schließlich direkt vor meinen Füßen zu Schutt und Asche.

Die Wahrheit ist: Es ist mir egal.

Stattdessen sehe ich nur eins: eine Vergangenheit, die neu geschrieben werden muss.

Einen Neuanfang.

Eine aufrichtige Chance, Tragödie in Magie und Katastrophe in Hoffnung zu verwandeln.

Am Ende tu ich’s vermutlich deshalb.

Wegen der Hoffnung.

Fünf Minuten später telefoniere ich mit meiner Maklerin.

Einen Tag später wird ein Angebot gemacht.

Ein ganzes Leben später bitte, flehe und bete ich darum, dass dies nicht der größte Fehler meines Lebens sein möge.

Fehler oder nicht – ich tu’s trotzdem.

Ich finde den Weg zurück zu ihnen.

Die Hoffnung siegt.

Kapitel 1

KAPITEL 1

»Lucy! Dein Hund hat einen Dildo ausgekotzt!«

Ich setze mich auf. Auf Alyssas Stimme folgt das klackernde Geräusch zu langer Hundekrallen auf dem Parkettboden, dann fällt die Haustür ins Schloss.

Ich blinzle, als ihre Worte in mein Bewusstsein sickern. »Was?« Hastig rappele ich mich auf, laufe den Flur runter und treffe im Wohnzimmer auf meine beste Freundin. »Einen Dildo?«

Key Lime Pie und Lemon Meringue, meine beiden Welsh Corgis, sind noch damit beschäftigt, das neue Revier zu erkunden, während Alyssa sich sichtlich aufgebracht auf die Couch plumpsen lässt. »Es war nicht meiner.«

»Na ja, meiner war es auch nicht.«

»Ich weiß nicht, Lucy, aber es hörte sich an, als wäre Kiki auf dem Rücksitz exorziert worden. Nur, dass ihr statt eines Dämons ein Dildo ausgetrieben wurde.« Alyssa greift in ihre übergroße Handtasche und holt eine Plastiktüte mit dem Beweisstück hervor. Sie verrenkt sich theatralisch den Hals und gibt kunstreiche Würgegeräusche von sich, während sie mir die offene Tüte hinhält.

Voller Entsetzen mustere ich den zweifelhaften Inhalt. Dann ziehe ich die Augenbrauen zusammen, als ich erkenne, was es wirklich ist. »Lys, das ist ein Bananentresor.«

»Ein Bananen-was?« Sie reißt den Kopf zu mir herum und beäugt mich neugierig. »Das klingt obszön. Erzähl mir mehr.«

Ich muss lachen. »Ich benutze die Dose, damit meine Bananen nicht zerquetscht werden. Das ist kein Sexspielzeug.«

»Wie lame.«

Key Lime Pie, kurz Kiki, hoppelt auf ihren kurzen Beinchen zu mir herüber und lässt sich zu meinen Füßen fallen. Sie ist ein bisschen moppelig, weil Mom ihr im Laufe der Jahre immer wieder nicht-ganz-so-heimlich Leckerlis unter dem Tisch zugesteckt hat, während Lemon bei der Snackauswahl etwas anspruchsvoller ist und meist abgelehnt hat.

Alyssa hat die Hunde für mich ins neue Haus gebracht, während ich den Umzugswagen gefahren und mit meinem Onkel Dan die Möbel geschleppt habe. Beim Übergang in mein neues Leben war sie mir eine riesige Unterstützung.

»Das ist also dein neues Heim, ja?« Alyssa flufft ihren hellblonden Bob auf und lässt den Blick anerkennend durch den bescheidenen Raum schweifen. »Es ist perfekt für dich. Ich finde es zwar doof, dass du jetzt vierzig Minuten von mir entfernt wohnst, aber du wirst weiterhin freitags in der Weinbar spielen, oder?«

Ich setze mich neben sie auf das cremefarbene Sofa und nicke. »Ja. Solange ich einen Job finde, der sich mit meinem Zeitplan vereinbaren lässt.«

Der erste Teil war der Umzug.

Der zweite Teil besteht nun darin, einen Job zu finden, mit dem ich meine Rechnungen und Lebenshaltungskosten decken kann.

Das Haus habe ich dank der Erbschaft von Oma Mabel in bar bezahlen können, und mein Auto habe ich vor vier Jahren von meinen Eltern geschenkt bekommen. Dennoch sind da immer noch Steuern zu begleichen, und Benzin, Nebenkosten, Lebensmittel und all die anderen Dinge, die mit Freiheit und Unabhängigkeit einhergehen. Und obwohl ich noch etwas Geld von der Erbschaft übrig habe, möchte ich einen Job finden, bei dem ich jeden Monat ein wenig Geld sparen kann, um eines Tages aufs College gehen zu können.

Ein Schritt nach dem anderen.

»Das Haus ist wirklich toll«, wiederholt Alyssa begeistert. »Es gibt einen eingezäunten Garten für die Hunde und genug Platz für den unvermeidlichen Lebensgefährten. Und das Privileg einer angeschlossenen Garage sollte man ebenfalls nicht unterschätzen.«

Mein Magen zieht sich zusammen.

Die Garage wird als Lagerraum dienen.

Auf keinen Fall werde ich sie benutzen.

Ich räuspere mich, stehe von der Couch auf und fummle an meinen Haaren herum. »Ein Lebensgefährte. Du bist ja lustig.«

»Ein unvermeidlicher«, betont sie.

Ich kann nur den Kopf schütteln, um ihrem Fehlurteil zu widersprechen. Ich weiß, dass ich kein Troll bin.

Dennoch bin ich ein bisschen neurotisch.

Skurril, ein wenig seltsam und, wie manche sagen würden, zu quirlig.

Ich bin ein guter Mensch, ja, freundlich und großzügig – aber Männer wollen nicht unbedingt mit einer Durchgeknallten ins Bett gehen, die in einer Tour plappert. Das ist nicht sexy.

Auch das weiß ich und gebe es gerne zu.

Was diesen Bereich angeht, lebe ich ihn stellvertretend durch Alyssa, und das reicht mir schon.

Nachdem ich mit meiner Freundin eine ausführliche Runde durchs Haus gedreht habe, lassen wir uns mit einer Flasche Wein auf der Couch zwischen meinen überall verstreuten Möbeln nieder, die Hunde auf dem Schoß und ein Dauergrinsen auf den Lippen. Es ist eine schöne erste Nacht, die nur noch besser werden wird, wenn ich mich in eines der vertrauten Schlafzimmer zurückziehen und all die Erinnerungen freilegen kann, von denen ich weiß, dass sie dort auf mich warten.

Ein paar Stunden später verabschiede ich Alyssa und gehe den schmalen Flur hinunter zu einem Zimmer, das früher in Lavendel und Spitze gehüllt war. Jetzt ist es grau – grau und trist –, und ich kann es kaum erwarten, es mit viel Liebe und einem großen Pinsel in etwas Schöneres zu verwandeln.

Mit klopfendem Herzen setze ich mich im Schneidersitz auf den Boden neben das Bett.

Neben ihr Bett.

Bevor ich es mir zu bequem machen kann, pingt das Telefon in meiner Hosentasche. Als würde mich der Alarmton davor warnen wollen, die Vergangenheit besser ruhen zu lassen.

Auch wenn es dafür längst zu spät war.

Es war bereits in dem Moment zu spät, als ich die Telefonnummer wählte und meine Maklerin anrief, um ihr mitzuteilen, dass ich das Haus meiner Träume gefunden hatte. In manchen Nächten war es vielleicht auch eher das meiner Albträume, doch meistens verknüpfte ich diesen Ort mit positiveren Bildern.

Meine Maklerin war überrascht über meine Entscheidung, einfach, weil sie nicht wusste, wie sonderbar meine Entscheidung wirklich war. Ich habe ihr nicht erzählt, dass ich gleich nebenan auf der kornblumenblauen Ranch aufgewachsen bin. Ich habe nicht erwähnt, dass diese fünfzehnhundert Quadratmeter große Immobilie für acht unglaubliche Jahre praktisch mein zweites Zuhause gewesen war.

Und ich habe nie zugegeben, wie sehr ich darauf gespannt war, ob Emmas geheimes Versteck immer noch eine Fundgrube für längst verlorene Schätze sein würde.

Ich lenke meine Aufmerksamkeit weg von den Dielen, ziehe mein Handy heraus und werfe einen Blick auf das Display.

Es ist meine Mutter. Nicht wirklich schockierend.

Mom:

Lucille Anne Hope.

Ich:

Der vollständige Name ist in Textform weniger wirksam, Mom.

Mom:

Tu bitte einfach so, als könntest du den bedrohlichen Ton in meiner Stimme hören.

Ich:

Okay. Ich fühle mich zutiefst bedroht. Was gibt’s?

Mom:

Ich vermisse dich.

Ich lächle und schicke ihr einen Schwall Herzen und Emojis mit Tränen in den Augen, bevor ich mein Telefon auf einer Kiste neben mir ablege.

Im Alter von zweiundzwanzig Jahren bin ich aus dem Haus meiner Eltern ausgezogen.

Erst war es ein gesundheitliches Problem, das meine Pläne, die ruhigen Vororte von Milwaukee zu verlassen und in Berklee Songwriting zu studieren, zunichtegemacht hatte. Doch vor allem der darauffolgende Tod meines Vaters und die lähmenden Trauer und Einsamkeit, in die meine Mutter und ich versunken waren, haben mich davon abgehalten, mir einen Vollzeitjob zu suchen und fortzugehen. Irgendwann beschloss ich jedoch, mir ein Stück meiner Unabhängigkeit zurückzuergattern. Es war schwer, meine Mutter zurückzulassen, aber ich glaube, für sie war es noch schwerer. Wir haben uns immer sehr nahegestanden, erst recht nach Dads Tod. Aber wir haben beide gewusst, dass es für mich an der Zeit war, meine Flügel auszubreiten und aus dem Nest zu fliegen.

Ich hätte nur nie gedacht, dass mein Nest einmal hier an diesem Ort sein würde.

Direkt am Anfang.

Ein Seufzer entweicht mir, als ich mich auf meine Handflächen zurücklehne und an die Decke starre, an der früher Dutzende von Leuchtstickern und ein riesiges Poster von One Direction hingen. Es ist dieselbe Decke, unter der ich acht Jahre lang während unserer Übernachtungsabenteuer eingeschlafen bin. Wir haben uns mit Sour Patch Kids vollgestopft – ich hortete alle grünen Kaubonbons, Emma klaute die roten – und Songs geschrieben, die nie die Chance hatten, mehr zu werden als hoffnungsvolle Notizen auf Papier.

Ich atme tief ein, wobei der Wein, den ich vorhin mit Alyssa getrunken habe, den Rausch in meinem Blutkreislauf nur noch verstärkt, und setze mich wieder auf. Schließlich beuge ich mich entschlossen vor und beginne, die schäbigen Dielen wegzureißen. Nägel knacken, Splitter fliegen umher, genau wie der Rest meiner Vorbehalte.

Ich zittere am ganzen Körper, als ich hineinspähe.

Dann pflücke ich einen Gegenstand nach dem anderen heraus.

Emmas Tagebuch, dessen Vorderseite mit bunten Filzstiften bekritzelt und mit abblätternden Stickern verziert ist.

Lose Notenblätter.

Cals alte Klarinette.

Cal, Cal, mein Cal.

Mein Sichtfeld verschleiert sich beim Anblick des geliebten Instruments. Ich streiche mit den Fingerspitzen darüber und frage mich, wie es unter den Dielen gelandet ist und ob es noch funktioniert. Ich erkenne, dass ein Riss im Holz mit einem Klecks Leim geflickt wurde. Emma hatte also versucht, es wieder zum Leben zu erwecken.

Sie war immer der Klebstoff.

Sie war immer unser Klebstoff.

Ich greife nach dem Tagebuch, lasse es in meinen Händen zittern und kann nicht verhindern, dass Tränen meine Sicht vernebeln. Es ist zwar schon lange her, dass ich Emmas Stimme gehört habe, dennoch bin ich davon überzeugt, dass ich sie laut und deutlich werde hören können, sobald ich diese Einträge lese. Ich glaube, ich habe sie sogar gehört, als das kleine rote Immobiliensymbol auf meinem Telefon aufgeploppt ist und mein Leben in eine völlig neue Richtung gelenkt hat.

Ich beschließe, das Tagebuch vorerst beiseitezulegen, und stöbere weiter, bis ich inmitten der wertvollen Reliquien auf ein kleines Foto stoße.

Mir stockt der Atem.

Es ist ein Bild von uns, den Abenteurern, und es ist eins, das ich noch nie gesehen habe.

Emma, Cal und ich, die Arme umeinandergeschlungen, unsere Lächeln durchwebt von unantastbarer Freude. Die Nacht ist dunkel, die Glühwürmchen leuchten so hell wie das Licht, das in uns glüht und sich in unseren Gesichtern spiegelt. Ich schmiege mich in Cals Arm, mit dem er mich so fest an sich drückt, als wollte er mich nie wieder gehen lassen. Emma sitzt mir gegenüber und krümmt sich vor Lachen.

Ich erinnere mich an den Moment.

Cals und Emmas Vater rief: »Bereit?«

Waren wir nicht, aber er hat das Foto dennoch geknipst.

Dann fragte er uns noch einmal, und noch einmal, und noch einmal, bis wir, ein heilloses Durcheinander aus albernem Kichern und Schnauben, halb übereinanderfielen.

Wir waren niemals bereit.

Und gleichzeitig waren wir es schon immer gewesen.

Ich presse einen Finger auf das Foto und fahre die Gesichter nach, die seit fast einem Jahrzehnt nur in meiner Erinnerung leben.

Wo bist du, Callahan Bishop? Wohin bist du gegangen?

Vielleicht ist er jetzt ein ganz anderer Mensch. Jemand Neues, jemand, den ich kaum wiedererkennen würde. Dennoch klammere ich mich an die Hoffnung, dass der Junge, den ich geliebt habe, noch irgendwo da draußen ist.

Hoffnung.

Hoffnung ist der Grund, weshalb ich hier bin – sie liegt nicht nur in meinem Namen, sondern auch in meinem Blut.

Aber das Problem mit der Hoffnung ist wohl, dass sie nichts weiter ist als ein Gefühl, und Gefühle sind flüchtig.

So wie wir.

Ich weiß nicht viel über Cal Bishop. Alles, was ich weiß, ist, dass ich die mir verbleibende Zeit nutzen werde, um die verlorene aufzuholen.

Ich weiß es jetzt … ich muss ihn finden.

Ich muss meinen alten Freund finden.

Kapitel 2

KAPITEL 2

12.3.2013

„Trügerische Kadenz“

Eine trügerische Kadenz entsteht, wenn eine Akkordfolge scheinbar zu Ende geht, in Wirklichkeit aber fortläuft. Es ist ein musikalischer Trick, ein Werkzeug, das mit den Erwartungen des Zuhörers spielt und das ich ziemlich toll finde. Ich habe darüber nachgedacht, wie sich ein solcher Begriff auf Situationen im echten Leben anwenden lässt. Alltägliche Dinge. Man glaubt, man weiß, was kommt, dabei weiß man es nie wirklich. Und manchmal, wenn man denkt, dass etwas zu Ende geht, ist es eigentlich der Anfang von etwas Schönem.

Das ist so ähnlich wie damals, als die Nachbarn umgezogen sind. Ich war fünf und mochte ihre Katze so sehr, dass ich eine ganze Woche lang geweint und gedacht habe, das wäre das Ende der Welt. Aber dann passierte etwas ziemlich Cooles: Eine neue Familie zog in das Haus ein. Und sie hatten nicht nur eine Katze, sondern etwas noch viel Besseres.

Sie hatten Lucy.

Toodles,

Emma

* * *

Ich bin keine Stalkerin. Zumindest technisch gesehen nicht.

Nun, vielleicht doch auch technisch gesehen – dafür müsste ich die genaue Definition nachschlagen –, aber meine Absichten sind weit davon entfernt, boshaft zu sein, und das ist es, was zählt.

Das hoffe ich zumindest.

Neugierde durchströmt mich, als ich die Autotür mit dem Absatz meiner Sandale zudrücke und den abgenutzten Schriftzug des Autohausschildes vor mir betrachte.

Cal’s Corner.

Es ist ein kleiner Laden, der sich passenderweise in eine Ecke schmiegt. Die Straße, an der er liegt, ist nicht sehr befahren, sodass sich das Geschäft stark auf Mundpropaganda und eine treue Kundschaft verlassen muss. Am Tag zuvor habe ich mich auf die Suche nach Cal gemacht und den Streifzug erfolgreich abgeschlossen. Ausgestattet mit nichts als einem Namen und dem halb verschwommenen Gesicht eines fünfzehnjährigen Jungen, bin ich von Haus zu Haus geschlendert, als wäre ich eine Truppenführerin, die um Bestellungen für Pfadfinderkekse wirbt. Irgendwann hat ihn schließlich eine ältere Frau erkannt.

»Cal? Cal Bishop?«

Strahlend habe ich dies mit einem aufgeregten Kopfnicken bestätigt. »Ja. Sie kennen ihn?«

»Oh, sicher«, antwortete die Frau. »Ihm gehört die Autowerkstatt in der Stadt. Er wohnte früher die Straße runter, bis sich seine Mama mit ihm auf und davon gemacht hat, nachdem …« Sie senkte den Kopf und fummelte an ihrer Brille herum. »Na ja, nachdem sie ein paar familiäre Probleme hatten.«

Ich schluckte, in meinem Magen wurde es heiß. »Ich weiß. Ich hab früher direkt nebenan gewohnt. Wir haben über die Jahre den Kontakt verloren, und ich würde gern sehen, wie es ihm geht.«

»Es geht ihm gut, Liebes. In der Werkstatt wird hervorragende Arbeit geleistet – mein Mann Roy hat ständig Probleme mit seinem Auto, und Cal ist schnell und preiswert.«

»Das ist ja großartig.« Ich lächelte dankbar und voller Vorfreude, die es schaffte, den heißen Knoten in meinem Bauch zu vertreiben. »Danke für die Information.«

»Kommen Sie gern wieder vorbei und lassen Sie mich wissen, wie das Wiedersehen lief. Ich bin eine einsame alte Schachtel, die neuen Klatsch und Tratsch braucht.«

Mit einem Lachen verabschiedete ich mich und konnte in den darauffolgenden vierundzwanzig Stunden an nichts anderes als an ein Wiedersehen mit Cal denken.

Bewaffnet mit einem Teller frisch gebackenem Bananenbrot, meinem fragwürdigen Lebenslauf und einem nervösen Lächeln auf den Lippen, steuere ich auf die zinngrauen Ziegelsteine und die silbrige Tür zu, die mich an der Vorderseite des Gebäudes begrüßen. Ein Glöckchen bimmelt, als ich eintrete. Ich schaue auf und entdecke ein Paar Weihnachtsglocken, die mit rotem Band und Stechpalmen-Deko aus Plastik zusammengeschnürt worden sind. Es wäre mir vermutlich nicht aufgefallen, wenn wir nicht gerade August hätten, aber wer bin ich, um darüber zu urteilen. Ich liebe Weihnachten – nicht nur, weil es zufällig auch mein Geburtstag ist.

Mein Blick wandert durch den Empfangsbereich, als sich die Tür hinter mir schließt. Abgesehen von diesem Klecks von festlichem Flair ist die Gesamtästhetik kalt und wenig einladend. Zwei Klappstühle werden durch einen Holztisch getrennt, den sich wohl jemand bei einem Garagenverkauf in den Achtzigerjahren aus der Zu-verschenken-Tonne geschnappt haben muss. Darauf entdecke ich einen Stapel zerlesener Autozeitschriften. Ich rümpfe die Nase, als ich die Mischung aus Autogasen und Schweiß wahrnehme. Nichts, was man nicht mit ein paar Lufterfrischern oder einem Wachserhitzer leicht beheben könnte. An der gegenüberliegenden Wand steht ein verlassener Empfangstresen, der in Stapeln von Schnellheftern und zahlreichen Notizen ertrinkt. Ich kann mir denken, warum dieser kleine Laden Hilfe braucht.

Lächelnd lege ich meinen Lebenslauf und meinen Bananenbrot-Teller auf einem der Stühle ab und hoffe, dass ich die Gelegenheit haben werde, dem Geschäft meines alten Freundes neues Leben einzuhauchen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Eine tiefe, raue Stimme lässt mich herumwirbeln, und ich stehe einem hochgewachsenen Mann mit dunklem, leicht strubbeligem Haar gegenüber. Er wischt sich die Hände an einem Lappen ab, während er mich mit vorsichtiger Neugier mustert.

Als dieser beeindruckend groß gewachsene Typ auf mich zukommt, der zu gleichen Teilen mit Öl und Tinte beschmiert ist, bin ich überzeugt, dass es sich um einen von Cals mürrischen Mitarbeitern handeln muss.

»Hi!« Ich schenke ihm mein strahlendstes Lächeln.

Schweigen.

Er starrt mich einfach an, ohne zu blinzeln, und schafft es, alles im Umkreis von fünf Meilen einzuschüchtern, sogar die Orchidee auf dem Empfangstresen. Ich schwöre, sie verwelkt direkt vor meinen Augen.

Ich räuspere mich und beginne, an meinem Daumenring herumzuspielen. Ein paar Meter entfernt entdecke ich einen großen Ölfleck auf dem Boden und frage mich, ob er auch als schwarzes Loch dienen würde, in das ich hineinspringen könnte. »Ähm, also, mein Name ist Lucy. Lucy Hope. Ich bin mit Cal aufgewachsen, und ich hab mich gefragt …«

»Ich weiß, wer du bist.«

Meine Lippen formen ein O. »Wirklich? Cal hat mich erwähnt?« Das ist seltsam. Wir haben neun Jahre lang nicht miteinander gesprochen, und ich würde gerne glauben, dass ich nicht mehr wie eine schlaksige Dreizehnjährige aussehe mit Zahnspange und ungleichmäßigem Pony, den ich mir damals mit einer stumpfen Schere selbst geschnitten hatte.

Da ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, strecke ich meine Hand aus und schenke meinem Gegenübr ein Lächeln. »Schön, Sie kennenzulernen. Ist Cal da?«

Er betrachtet meine Hand, als sei die der infizierte Affe aus Outbreak. »Ja, ich geh ihn holen.«

Ein Seufzer der Erleichterung entweicht mir, als der Mann auf dem Absatz kehrtmacht und sich von mir entfernt.

Doch als er nach wenigen Schritten wieder zurückkommt, bin ich ehrlicherweise irritiert.

Die unglaublich muskulösen Arme über der Brust verschränkt, blickt er mit hellbraunen Augen erwartungsvoll auf mich herab. Es sind Augen, die in mir ein Kribbeln des Wiedererkennens auslösen. Ich blinzle, dann atme ich scharf ein, und mein Herz beginnt wie wild zu pochen, als ich begreife. »Cal«, hauche ich.

Ich spüre, wie sein undurchdringlicher Blick kleinste Risse bekommt, als sein Name meine Lippen verlässt, doch er erholt sich schnell wieder. »Was machst du hier?«

Anscheinend ist er nicht in der Lage, mehr als fünf Worte von sich zu geben. Was mich jedoch am meisten erstaunt, ist, dass ich nicht einmal ein einziges zustande bringe.

Ich bin wie in Trance.

Erinnerungen werden wach, als würde ich ein altes Lieblingslied hören, das seit Jahren nicht mehr gespielt wurde. Mein Körper summt vor Nostalgie. Ich kann nicht anders, als eine Million Momente in meinem Kopf durchzuspielen, vom Versteckspiel im Garten über geheime Burgen und Freundschaftspakte bis hin zu Übernachtungen mit Emma, die Cal immer mit dummen Streichen und Unfug zu torpedieren versucht hat.

Er sieht jetzt ganz anders aus. Der Junge, den ich kannte, strahlte Weichheit und Wärme aus, der fünfundzwanzigjährige Cal aber wirkt unnahbar und schroff. Hätte ich nicht noch den Klang seines Lachens im Ohr, hätte ich vielleicht Angst vor ihm.

Groß war er zwar schon immer, aber in seiner Jugend eher der schlaksige Typ. Sportlich, aber dünn. In seinem ersten Jahr an der Highschool war er ein Star-Basketballspieler, bevor …

Bevor sich alles änderte.

Trotz der Sleeve-Tattoos, die seine gebräunten Arme zieren, trotz der Bartstoppeln am Kinn und des beeindruckenden bulligen Körperbaus sind seine Augen die von früher. Leuchtend, hellbraun, fast kupferfarben. Wellen aus weichem, dunklem Haar fallen ihm über die Stirn; ein Anblick, der mir sehr bekannt vorkommt.

Er fährt sich durch die Strähnen und wirft den Lappen auf einen Beistelltisch neben sich.

Die Geste holt mich in die Realität zurück. Ich fummle am Ende meines Zopfes herum und atme tief ein. »Tut mir leid, dass ich dich nicht erkannt habe. Ist schon so lange her.«

In seinem Kiefer zuckt ein Muskel. Cal senkt den Blick, schaut dann wieder auf und mustert mich kurz. »Du siehst aus wie immer.«

Ich habe das Gefühl, dass das kein Kompliment ist, nicke aber trotzdem. Mein Haar hat sich im Laufe der Jahre von honigfarben zu hellbraun gewandelt, wie Kaffee mit extra viel Sahne. Es ist lang und dicht, oft in einem unordentlichen Dutt oder zu einem seitlichen Zopf gebunden, um es im Zaum zu halten. Meine Brüste wuchsen erst, als ich fast siebzehn war, also habe ich jetzt Kurven, die durch mein Wickelkleid noch betont werden.

Aber meine Augen sind immer noch von dem gleichen rauchigen Blauton.

Und mein Herz schlägt so wie damals.

Ich merke, dass ich seine Frage nicht beantwortet habe, als er eine Augenbraue hochzieht und abwartend den Kopf schief legt.

»Nun!«, zwitschere ich und kompensiere damit das lange Schweigen. »Jedenfalls bin ich hier, um mich nach der Stelle am Empfang zu erkundigen. Ich hatte gehofft, ich könnte mich bewerben.«

Denn ich bin fünfzehn Mal hier vorbeigefahren, seit ich in das Haus deiner Kindheit gezogen bin und gesehen habe, dass du jemanden einstellen willst.

Mein Lächeln wird immer breiter, es wirkt vermutlich ein bisschen verrückt.

Cal streicht sich mit dem Daumen über die Unterlippe, während er mich betrachtet und über meine Worte nachdenkt. Schließlich seufzt er und schaut zur Seite. »Ich suche niemanden.«

Nicht gerade unauffällig werfe ich einen Blick auf das riesige Schild mit der Aufschrift: Aushilfe gesucht. Als mein Blick wieder auf Cal fällt, sage ich: »Oh, ich muss mich verlesen haben.«

»Die Stelle ist bereits besetzt.«

Während ich meine Unterlippe zwischen die Zähne sauge, fällt mir der traurige, leere Empfangstresen mit der welken Orchidee auf. Überall in dieser Nische stapeln sich Quittungen und Dokumente, ein sicheres Zeichen dafür, dass dieser Ort von einem Haufen unorganisierter Mechaniker geführt wird.

Was bedeutet, dass er mich nicht einstellen will.

»Verstehe«, nicke ich und zwinge mich, mein Lächeln aufrechtzuerhalten, auch wenn Tränen meine Sicht verschleiern. »Tut mir leid, dass ich deine Zeit verschwendet habe.«

Er runzelt ein klein wenig die Stirn, dann zeigt er auf den Teller mit Bananenbrot hinter mir auf dem Stuhl. »Was ist das?«

»Bananenbrot. Das war mal dein Liebstes.«

Sein Blick verfinstert sich zusehends.

Anscheinend habe ich ihn irgendwie beleidigt.

Ich folge seiner Blickrichtung und schlucke. »Selbst gemacht. Keine Walnüsse. Die hast du immer rausgepickt, als wir Kinder waren.« Meine Wangen brennen, als das Schweigen andauert. Ich hasse zu langes Schweigen und denke mir oft lächerliche Dinge aus, um die schreckliche Leere zu füllen. Einmal habe ich angefangen, die Präsidenten unserer Nation in einer linearen Zeitleiste aufzuzählen, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.

Cal verschränkt die Arme vor der Brust, sein Bizeps spannt sich an. Ich gebe mein Bestes, um ihn nicht anzugaffen, und lenke meinen Blick schnell auf die unleserliche Miene, mit der er mich niederstarrt.

Sein Gesicht hat etwas Raues an sich, das nicht ganz ungeschliffen ist. Lange, geschwungene Wimpern und volle Lippen mildern die scharfen Kanten seines Kiefers und den zynischen Ausdruck in seinen Augen ab. Ich bemerke einen Ölfleck auf seinem Wangenknochen und würde ihn am liebsten mit dem Daumen wegwischen. Stattdessen spiele ich weiter mit meinem Haar.

Das Schweigen dauert so schmerzhaft lange, dass mir ein Redeschwall als der einzig mögliche Ausweg erscheint. »Also, ja«, fahre ich mit wackeliger Stimme fort. »Lass dir das Bananenbrot schmecken. Und hab einen tollen Tag, natürlich. Es war … wirklich schön, dich wiederzusehen, Cal. Vielleicht können wir …«

»Schön, dich wiedergetroffen zu haben, Lucy.«

Die Wahl seiner Worte ist zwar ganz nett, doch sein Ton ist distanziert. Dass er mich mitten im Satz unterbricht, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass ich abhauen soll.

Ich nicke ein halbes Dutzend Mal mit einem dahinwelkenden Lächeln und drehe mich zur Tür. Als ich sie aufstoße und hinausgehe, spüre ich seinen Blick in meinem Rücken, doch er sagt nichts weiter. Er hält mich nicht auf, und ich habe das Gefühl, dass die Glöckchen auf meinem Weg nach draußen weit weniger fröhlich klingen als beim Eintreten.

Niedergeschlagen schlurfe ich zu meinem Volkswagen, meine Sandalen klappern im Takt meines pochenden Herzens. Kraftlos lasse ich mich auf den Fahrersitz fallen, schließe die Tür und lehne meine Stirn gegen das Lenkrad.

Ich bin mir nicht sicher, was ich erwartet hatte, aber das war es nicht.

Nicht diese kalte, abweisende Version des süßen Jungen, mit dem ich aufgewachsen bin und von dem ich gedacht habe, dass ich ihn eines Tages heiraten würde. Das waren natürlich kindliche Fantasien, dennoch hatten sie damals ihre Berechtigung. Cal war liebenswert, freundlich und lustig und behandelte mich nie wie die lästige Nachbarin oder die nervige Freundin seiner kleinen Schwester.

Er war auch mein Freund.

Jetzt ist er ein Wildfremder – ich nehme an, das passiert, wenn man fast ein Jahrzehnt lang keinen Kontakt mehr zueinander hat. Dabei habe ich ja versucht, ihn zu finden. Seine Mutter hat nach dem, was passiert ist, sozusagen ihr Leben entwurzelt, ihr Haus zum Verkauf gestellt und ist innerhalb weniger Monate umgezogen. Kein Abschied, keine Kontaktinformationen. Im Laufe der Jahre habe ich mehrmals versucht, Cal über Social Media zu finden, ohne Erfolg. Manchmal frage ich mich, ob er vielleicht nur ein Geist gewesen ist. Ob Emma und Cal am Ende nur imaginäre Freunde gewesen sind, die ich mir ausgedacht habe, um jene Einsamkeit zu vertreiben, die damit einhergeht, wenn man als krankes Kind aufwächst.

Klatsch!

Ich stoße mir vor Schreck fast den Kopf an der Decke, als etwas gegen die Fensterscheibe neben mir knallt. Ich lege mir eine Hand auf die Brust, drehe den Kopf und entdecke meinen Lebenslauf, der gegen das Glas gepresst wird und mich verhöhnt. Als Cal ihn wegzieht und mit dem Finger in der Luft herumwirbelt – ein Zeichen für mich, das Fenster herunterzukurbeln –, hole ich tief Luft und gehorche.

Ich schwöre, dass er in der trüben Augustsonne noch furchteinflößender aussieht, aber das könnte auch daran liegen, dass ein riesiger Schatten sein Gesicht bedeckt.

Außerdem schaut er wirklich wütend drein.

»Was zum Teufel ist das?«, bellt Cal und fuchtelt mit dem Lebenslauf vor meinem Gesicht herum. Er stemmt seine andere Hand in die Hüfte, sein Blick ist anklagend.

»M-mein Lebenslauf«, stottere ich. »Ich weiß, dass meine Referenzen ein wenig zweifelhaft sind, aber ich verspreche, dass ich …«

»Nicht das.«

Ich blinzle und befeuchte meine Lippen. »Okay, also, Mr. Garrison ist nicht wirklich mein ehemaliger Chef. Er passt manchmal auf Key Lime Pie und Lemon Meringue für mich auf. Auf meine Hunde. Normalerweise nenne ich sie Kiki und Lemon, aber sie reagieren auch auf …«

»Nicht die verdammten Referenzen, Lucy. Die Adresse.«

Oh.

Ich schlucke, und meine Hände fangen sofort an zu zittern, während ich auf meinem Sitz herumrutsche und seinem Todesblick ausweiche. »Ach ja, richtig. Das hast du wohl bemerkt.«

»Ja, das habe ich«, sagt er, wobei seine Stimme so tief ist, dass sie beinahe dämonisch klingt. »Was hast du dir dabei gedacht?«

»Nichts. Ich meine, nichts Böses«, stottere ich. »Ich wollte mit meinem Erbe ein Haus kaufen, und alles andere hat sich irgendwie falsch und nicht nach einem Zuhause angefühlt. Und dann kam dein altes Haus auf den Markt, und ich hatte einfach dieses Gefühl – es rief nach mir, weißt du? Da war dieser … Sog. Ich wusste, dass es das richtige war.« Meine Lippe zittert erbärmlich, also beiße ich darauf. Dann füge ich mit einem Anflug von Hoffnung hinzu: »Du hast dir meinen Lebenslauf angesehen?«

Die Sehnen an seinem Hals spannen sich an, er kneift sich in den Nasenrücken. Obwohl ich hätte schwören können, dass er etwas sagen will, stößt er lediglich einen langen Seufzer aus, macht einen Schritt zurück und weigert sich, mich anzusehen. Mit einem letzten Blick auf den Lebenslauf dreht er sich zähneknirschend um und stiefelt davon.

Ich beobachte, wie sich seine Rückenmuskeln unter dem engen, ärmellosen Hemd zusammenziehen und seine Tätowierungen mit jedem wütenden Schritt bedrohlicher wirken. Als er hinter dem Gebäude verschwindet, atme ich tief durch und bleibe für eine Weile auf dem Parkplatz stehen.

Ich habe das Gefühl, in der Patsche zu sitzen.

Einem Mann, den ich seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen habe, zu sagen, dass ich sein altes Haus gekauft habe, während ich gleichzeitig sein Unternehmen ausfindig mache und mich dort um einen Job bewerbe, könnte ein paar rote Flaggen zum Wehen bringen.

Dabei habe ich es nur gut gemeint.

Cal hat keine Ahnung, wie es ist, in diesem Haus zu leben. Die Erinnerungen. Die Stimmung, die von denselben taupefarbenen Putzwänden ausgeht. Emmas Tagebucheinträge, die von einer wunderschönen Kindheit erzählen.

Eine Kindheit, die von ihm erfüllt ist.

Meinem Cal.

Als ich meine Wangen aufpuste und den Motor anlasse, dringen Stimmen von der Seite des Gebäudes zu mir herüber. Ich bemerke einen anderen, ebenso beeindruckend gebauten Typen, der an einem Auto schraubt.

»Wer war das? Der Mazda, an dem ich arbeite?«, fragt er unter einer Motorhaube hervor.

Laute Rockmusik mischt sich unter das Gespräch. Ich beobachte, wie Cal nach einer Zigarettenschachtel auf einem Regal greift, kurz zögert, sie dann wieder in das Fach zurückwirft und einen Kaugummi aus der Tasche zieht. »Nur jemand, der sich für die Stelle am Empfang beworben hat.«

»Hast du sie eingestellt? Sie war heiß.«

»Sie war unqualifiziert.«

Der Mitarbeiter taucht mit einer Art Schraubenschlüssel in der Hand auf. »Um Telefonate zu beantworten und Kreditkarten durchzuziehen? Scheiße, Cal, wir sind hier nicht im verdammten Ritz Carlton. Stell die heiße Schnitte ein.«

Cal schiebt sich den Kaugummi in den Mund. »Ich dachte, du wolltest, dass ich Edna zum Vorstellungsgespräch einlade.«

»Edna sieht nicht so aus. Vergiss, was ich gesagt habe.«

»Richte ihr aus, dass sie morgen um elf Uhr ein Vorstellungsgespräch hat.«

»Du bist ein Vollidiot.«

Cal zeigt dem Mann den Mittelfinger und stapft durch die Garage, während der Mechaniker kopfschüttelnd zu seiner Arbeit zurückkehrt.

Ich umklammere das Lenkrad so fest, dass meine Knöchel weiß hervortreten.

Unqualifiziert.

Vielleicht bin ich das auch, aber er hat nicht einmal einen Blick auf meinen Lebenslauf geworfen, bevor er mich weggeschickt hat, als wäre ich irgendjemand. Als hätten wir keine gemeinsame Vergangenheit, gespickt mit Erinnerungen an endlose Sommer, in denen wir Sterne zählten und Limonade und Bananenbrotstücke am Rande seiner Einfahrt verkauften. Als hätten wir keine bedeutende, kraftvolle Verbindung: seine Schwester.

Ich sage mir, dass es gut so ist, als ich die fünf Minuten nach Hause fahre und mein Heim betrete, umringt von fröhlich hechelnden Zungen und wackelnden Hundehintern.

Ich sage mir, dass es okay ist, während ich mir ein Honig-Cheddar-Sandwich zum Mittagessen zubereite und die Wassernäpfe der Hunde auffülle.

Ich sage mir, dass es egal ist, als ich zwischen den halb ausgepackten Kisten in Emmas altem Schlafzimmer umhertappe und mich auf den Boden setze, um unter dem losen Holzbrett ihr Tagebuch hervorzuziehen.

Aber die Lüge hält sich nicht aufrecht.

Als ich durch die zerknitterten Seiten ihres Tagebuchs blättere und ihre Worte zum Leben erwachen, kann ich nicht verhindern, dass mir die Tränen kommen, die wie durch einen gebrochenen Damm hervorschießen.

Leise weinend lasse ich mich zurücksinken, das Tagebuch an mein Herz gedrückt, und frage mich, warum sie mich verlassen hat.

Ich frage mich, warum sie mich beide verlassen haben.

Kapitel 3

KAPITEL 3

18.5.2013

„Herz und Seele“

Kennst du das Amateur-Klavierstück, das jeder Mensch auf diesem Planeten spielen kann? Es ist eines der einfachsten Lieder aller Zeiten, dabei heißt es „Heart and Soul“, Herz und Seele – die beiden komplexesten und außergewöhnlichsten Dinge, die es gibt.

Ist das nicht seltsam?

Jedenfalls kommt Lucy nach dem Abendessen zum Übernachten vorbei, und ich kann es kaum erwarten, unsere Sommerpläne zu besprechen. Ich will eine Band gründen. Cal und ich am Klavier, Lucy an der Gitarre, und wir können alle singen.

Ich frage mich, ob sie mir erlauben, die Band Deceptive Cadence – trügerische Kadenz – zu nennen?

Oder … vielleicht Heart and Soul.

Schließlich ist Lucy mein Herz und Cal meine Seele.

Toodles,

Emma

* * *

Durch das bodentiefe Fenster strömt das pfirsichfarbene Licht des Sonnenuntergangs herein und passt zu dem Gefühl, das in mir aufsteigt, als ich die letzten Töne meiner Interpretation von Losing My Religion von REM, begleitet von einem Tamburin, singe. Ich bin so vertieft in die Musik, dass ich nichts anderes mehr wahrnehme.

Ich bin süchtig nach diesem Gefühl.

Singen, auftreten, etwas erschaffen. Ich war noch nie wirklich verliebt, aber diese Empfindung ist die einzige, die meiner Vorstellung von Liebe nahe kommt. Es liegt eine gewisse Magie darin, etwas Tiefgründiges mit jemandem zu teilen. Es ist fast so, als würde man einen Abdruck in der Seele eines anderen hinterlassen.

Bei der letzten Note grinse ich breit und schüttle mein Tamburin, bis das Klirren mit dem Applaus verschmilzt. Die Menge tobt, und ich kehre in das Hier und Jetzt der Weinbar zurück. Direkt vor dem Fenster höre ich, wie jemand sein Motorrad startet.

Nash steht hinter der Bar und klatscht, ehe er mir ein Glas meines üblichen Nach-dem-Auftritt-Rieslings einschenkt. Alyssa pfeift so nachdrücklich von einem der hohen Bartische aus wie eine dieser begeisterten Mütter, die ihren Kindern nach einem Tanzauftritt zujubeln. Ich schenke ihr ein dankbares Lächeln, bevor ich mich vom Hocker erhebe.

Vertraute Gesichter strahlen mich an, als ich meine Gitarre von der Bühne nehme und sie in die Luft hebe, um mich ein letztes Mal zu verbeugen.

»Danke, dass ihr alle heute Abend gekommen seid«, sage ich ins Mikrofon. Meine Stimme klingt fest, als ich mich an das Publikum wende. So unbeholfen ich im Alltag auch wirke, auf der Bühne bin ich ein anderer Mensch – ruhig und gelassen. Musik hat mir schon immer Selbstvertrauen gegeben. »Wie üblich bin ich euch dankbar, hier sein zu dürfen. Mein Name ist Imogen und ich werde auch nächste Woche mit weiteren mittelmäßigen Coversongs und suboptimalen Originalen für euch zurückkommen. Gute Nacht allerseits.«

Imogen ist mein Künstlername. Ich habe ihn aus Wertschätzung für Emma und ihre Lieblingspianistin Imogen Cooper gewählt. Immer noch grinsend, beuge ich mich vor, um meine Instrumente einzusammeln, und Alyssa brüllt: »Arschgeil!«

Am liebsten würde ich ihr den Mittelfinger zeigen, wenn ich dazu in der Lage wäre. Solche Gesten sind mir noch nie leichtgefallen. Stattdessen schüttle ich den Kopf, während das Lachen aus mir herauspurzelt, sammle mein Trinkgeld ein und packe zusammen.

Ich brauche gut zwanzig Minuten, weil so viele Gäste auf mich zukommen, um sich für die Show zu bedanken, mir für meine gute Arbeit zu applaudieren und mir heimlich ein paar Extrascheine zuzustecken. Ich nehme mir die Zeit, mich mit jedem Einzelnen zu unterhalten. Anerkennung und Stolz erfüllen mich von Kopf bis zu den Zehenspitzen, und das Lächeln hat mein Gesicht den ganzen Abend nicht verlassen.

Die Bliss Wine Bar ist brechend voll. Es ist Freitagabend, an dem ich, wie jede Woche, um sieben Uhr angefangen habe, ein kleines Livekonzert zu geben. Je öfter ich spiele, desto mehr Publikum scheint sich für meine Musik zu interessieren.

Meine Musik, die sowohl ein Teilzeitjob als auch ein therapeutisches Ventil ist.

Sie ist Medizin. Sie ist heilend.

Sie erinnert mich an Emma.

Meine zwei langen Zöpfe fallen mir über die Schultern, während ich den Rock meines Sommerkleids nach unten ziehe und schließlich meine Hummingbird-Gitarre in ihrem Koffer verstaue. Als ich auf den Tisch zusteuere, an dem meine beste Freundin sitzt, wartet bereits ein Glas Wein auf mich. Es steht auf einer Serviette, die mit einer vertrauten Handschrift bekritzelt ist.

Alyssa wackelt mit den Augenbrauen, als ich näher komme. »Er ist offensichtlich engagiert und hat eine tolle Handschrift«, bemerkt sie, den Stiel ihres eigenen Glases zwischen den Fingern. »Alles, was wir im Moment wissen müssen, sind sein Enneagramm, seine Liebessprache, sein Sternzeichen und seine Kreditwürdigkeit.«

Lachend verdrehe ich die Augen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so ist wie Alyssa Akins. In der Highschool war sie die beliebte, pomponschwingende Ballkönigin, während ich die zurückhaltende Musikliebhaberin war, die ihre Freizeit mit Freiwilligenarbeit und karitativen Tätigkeiten verbrachte. Wer hätte gedacht, dass wir trotz unserer unterschiedlichen sozialen Stellungen so super zusammenpassen würden. Ich glaube, weil wir tief im Inneren gleich sind. Seelenschwestern. Während sie mühelos aus sich herausgehen kann und von allen bewundert wird, stellt sie sich nie über irgendwen.

Das fand ich heraus, als ich eines Nachmittags in der Nähe der Schule in einen kleinen Autounfall verwickelt wurde und Alyssa zufällig auf dem Weg zu ihrem Cheerleader-Probetraining vorbeifuhr. Sie bemerkte mich, wie ich zitternd und zu Tode erschrocken auf dem Bordstein saß, hielt an und blieb bei mir, bis meine Eltern auftauchten, wodurch sie die Hälfte ihres Trainings verpasste.

Aber das war ihr egal. Mir in einer Krise Trost zu spenden, war wichtiger.

Seitdem sind wir unzertrennlich.

Ich werfe Nash einen kurzen Blick zu und bekomme ein Zwinkern als Antwort. Mit warmen Wangen wende ich meine Aufmerksamkeit wieder Alyssa zu, die scheinbar verzweifelt seinen Namen in ihre Google-Suchleiste eingibt. »Er ist nett«, sage ich.

»Autsch. Der Todesstoß.«

»Er ist nicht wirklich mein Typ.«

Ihre Augen verengen sich. »Ich fange an zu glauben, dass dein Typ nur aus der vierbeinigen, flohgefährdeten Sorte besteht.«

Während sie das sagt, blicke ich hinunter auf die kurze Nachricht, die mit blauer Tinte auf meine Serviette geschrieben steht. Zufällig steht da: »Ich habe einen Hund.« Dazu gibt es eine ominöse Zeichnung eines Vierbeiners, der eher wie ein Lemur aussieht.

Okay, er kennt mich also ziemlich gut.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass das Lächeln breiter wird. Jede Woche hinterlässt mir Nash Nachrichten auf Barservietten, in denen er all seine besten Eigenschaften und Charakterzüge aufzählt, in der Hoffnung, dass ich mit ihm ausgehe. Sein Engagement ist bewundernswert, und dass ich seine Annäherungsversuche ablehne, hat mit ihm persönlich nichts zu tun.

Es ist aus einem anderen Grund notwendig.

»Vielleicht ist es mir einfach lieber, durch dich zu daten, Lys.« Ich zucke mit den Schultern und nippe an meinem Wein.

Sie zieht eine Grimasse. »Ich weiß ehrlich nicht, warum. Der letzte Typ, mit dem es mir ernst war, war verheiratet. Mit zwei verschiedenen Frauen.« Offensichtlich einer plötzlichen Eingebung folgend, greift sie wieder nach ihrem Telefon. »Nash … Meltzer … Ehefrauen …«, murmelt sie, während sie tippt.

»Er ist nicht verheiratet«, sage ich und schüttle den Kopf. »Er hat ehrliche Augen.«

»Ted Bundy hatte ehrliche Augen.«

Ich ziehe die Nase kraus. »Gutes Argument. Halt mich auf dem Laufenden.«

Während Alyssa Miss Marple spielt, ziehe ich mein eigenes Handy aus der Tasche und überfliege die Benachrichtigungen, plaudere zwischendurch mit einer Handvoll Stammgäste und erwidere das Lächeln und Winken, das mir geschenkt wird.

Als ich mich gerade von einem Bekannten verabschiede, kommt eine Nachricht rein.

Unbekannte Nummer:

Morgen früh. 9 Uhr.

Ich starre mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm, das Gespräch über Ted Bundy ist mir noch frisch im Gedächtnis.

Ich:

Wer ist da?

Woher haben Sie meine Nummer?

Unbekannte Nummer:

Von da, wo auch steht, dass du in 919 S. Maple Ave wohnst.

Mein Magen verknotet sich vor Schreck.

Ich bin erledigt.

Er ist zu tausend Prozent ein Mörder, und mein Todeszeitpunkt ist morgen früh um neun.

Meine Hand beginnt zu zittern, als ich eine Antwort tippe.

Ich:

Tun Sie nur meinen Hunden nicht weh.

Es vergehen einige Minuten, bis er antwortet.

Unbekannte Nummer:

Wovon zum Teufel redest du da?

Ich schürze die Lippen, starre auf das Display hinunter und stelle schließlich fest, dass ich wahrscheinlich voreilige Schlüsse gezogen habe. Ein echter Killer würde mir niemals eine Warnmeldung schicken.

Ich versuche, einen Rückzieher zu machen.

Ich:

Egal.

Wovon reden SIE?

Unbekannte Nummer:

Ein Vorstellungsgespräch, Lucy. Mein Gott.

Das Grauen verwandelt sich in ein flatteriges Kitzeln. Wie ein kränklicher Schmetterling, der wieder zu fliegen beginnt.

Ich:

Cal?

Ich speichere seine Nummer in meinen Kontakten ab, als er auch schon eine Antwort schickt.

Cal:

Komm nicht zu spät.

Alyssa blickt interessiert auf meine eifrig tippenden Daumen. »Wer ist das?« Sie schnappt nach Luft. »Ein Typ? Ist er der Grund, warum du Nash abblitzen lässt?«

»Ich lasse Nash nicht abblitzen. Wie sollte ich das auch machen?«, entgegne ich, während ich immer noch tippe und weitere Schmetterlinge in meinem Bauch herumflattern. »Er hat mich ja gar nicht um ein Date gebeten.«

Ich klicke auf Senden.

Ich:

Danke schön!

Und tut mir leid!

Wir sehen uns morgen!

:)

»Viel zu viele Ausrufezeichen!«, schreit mir Alyssa ins Gesicht.

Ich schrecke zurück und blinzle.

»Siehst du?«, sagt sie, und ihr langer, sonnenstrahlblonder Bob streift ihre Schultern.

»Verdammt. Ich klinge wirklich übermäßig koffeinlastig. Wie kann ich die Nachricht zurückholen?« Der Text zeigt fast augenblicklich »gelesen« an, also massiere ich mir mit den Fingerspitzen die Schläfen und hoffe, dass ich es nicht schon völlig vermasselt habe. »Er hat die Ausrufezeichen gesehen«, sage ich, mit einer Grimasse an meine beste Freundin gewandt.

»Na ja, vielleicht findet er sie charmant. Vielleicht wird er …«

Ich versuche bereits, den Schaden zu begrenzen, indem ich eine weitere Nachricht abschicke.

Ich:

Entschuldigung, ich war nur aufgeregt.

Ich weiß diese Gelegenheit wirklich zu schätzen.

Stirnrunzelnd starre ich auf das Display. »Jetzt sieht es so aus, als ob ich verärgert wäre. Ausrufezeichen zeigen Begeisterung.«

In Panik tippe ich weiter.

Ich:

Schönen Abend noch! :) :)

»Oh mein Gott, Lucy. Du machst es nur noch schlimmer.«

Alyssa reißt mir das Telefon aus der Hand und hält es als Geisel, bevor ich noch mehr vermasseln kann.

Ich greife nach dem Weinglas und trinke einen Schluck, wobei ich unruhig mit den Füßen auf der Sprosse des Hockers wippe. Ich nehme drei weitere, riesige Schlucke und atme tief ein. »Entschuldigung. Er ist mein potenzieller Chef, und diese Stelle bedeutet mir sehr viel. Ich hab nicht gedacht, dass ich eine Chance hätte, aber dann hat er mir jetzt aus heiterem Himmel eine Einladung zum Vorstellungsgespräch geschickt.«

»Ooh.« Sie schürzt die Lippen und beäugt mich neugierig. »Was ist das für ein Job?«

»Telefondienst in einer Autowerkstatt.«

»Das klingt schrecklich.«

»Na ja, ich hab ihn mal gekannt«, erkläre ich. »Er ist der Besitzer.«

»Also ist er heiß.«

Nervös beiße ich mir auf die Innenseite meiner Wange. »Das hab ich nicht gesagt.«

»Und dennoch ein klarer Fall«, sagt sie. »Niemand will unbedingt in einer Autowerkstatt arbeiten und sich mit wütenden Kunden herumschlagen, die ihr Auto zum Ölwechsel bringen, nur um dann eine Zweitausend-Dollar-Rechnung vor den Latz geknallt zu bekommen. Offensichtlich ist er heiß, und du willst ihn flachlegen.«

Die Sonne steht jetzt tiefer am Himmel, sodass nur ein schwaches, dunstiges Licht durch das Glas dringt, aber es könnte genauso gut ein glühender Feuerball sein. »Nein.«

»Wie sieht er aus?«

»Als wäre er so kurz davor gewesen, eine Rolle bei Sons of Anarchy zu bekommen«, sage ich und kneife Daumen und Zeigefinger zusammen. »Groß und muskulös, viele Tattoos. Unrasiert und rau. Ständiger finsterer Blick.«

Ihre Augen werden riesengroß. »Du hast gerade meinen zukünftigen Ehemann beschrieben. Name?« Alyssa – bereits im Recherchemodus – greift nach ihrem Telefon.

»Cal Bishop. Ihm gehört Cal’s Corner, die Autowerkstatt ein paar Meilen von meinem neuen Haus entfernt. Wir waren Kindheitsfreunde, und–«

»Heilige Scheiße, Lucy.«

Ein Telefondisplay wird mir vor die Nase gehalten, während ich mich zurücklehne, damit ich sehen kann, was sie mir zeigen will. Als der Artikel sichtbar wird, lese ich die Überschrift: Einheimischer kauft Autowerkstatt zurück, die ursprünglich seinem verstorbenen Vater gehörte.

Mein Herz schwillt an vor Stolz und Wehmut, während ein Lächeln meinen Mund umspielt. Ich wusste, dass Cals und Emmas Vater mit Autos zu tun hatte, aber nicht, dass er der vorherige Besitzer der Autowerkstatt war. Rührseligkeit lässt meine Augen brennen, ehe ich die Stirn runzle.

»Moment, wie hast du das rausgefunden? Ich hab seinen Namen schon hundertmal bei Google eingegeben.«

»Ich hab nach ›Cal’s Corner‹ gesucht und ein bisschen nach unten gescrollt«, sagt Alyssa und schüttelt das Telefon, als ob ich dadurch das Bild besser sehen würde. »Aber vergiss den Artikel. Sieh dir das Foto an. Dein neuer Chef. Er war dein Nachbar von nebenan, zu dem du den Kontakt verloren hast, richtig?«

»Genau, das ist er«, bestätige ich und schiebe ihren Arm weg. »›Neuer Chef‹ ist anmaßend, wenn man bedenkt, dass ich keine Ahnung habe, wie man richtig telefoniert. Hat er geantwortet?« Ich knete die Hände in meinem Schoß, dann greife ich nach dem Weinglas, das leider leer ist.

Alyssa wirft einen Blick auf mein Handy, das sie auf ihre Seite des Tisches gelegt hat. Mit einem Kopfschütteln überbringt sie mir die niederschmetternde Botschaft. »Nichts. Er hat die Nachricht gelesen, aber nicht geantwortet.«

»Gott, ich hab’s ruiniert.«

»Für mich sieht er nicht wie ein Vieltexter aus«, bemerkt sie, während sie immer noch das Foto von Cal anstarrt. Sie schürzt anerkennend ihre mattbeerenfarbenen Lippen. »Schweigsam, grüblerisch. Wahrscheinlich besitzt er ein Motorrad. Definitiv ein Tier im Schlafzimmer.«

Meine Haut überzieht sich mit Röte, und ich beginne reflexartig, mir mit der Speisekarte der Bar Luft zuzufächeln. »Er hat wahrscheinlich eine Freundin. Oder ein Dutzend.«

»Ja, das ist sehr gut möglich. Ich stelle mich aber gern mit in die Schlange.«

Als ich endlich mein Telefon wiederhabe und mich vergewissere, dass Cal tatsächlich nicht auf meine Nachrichten geantwortet hat, schlendert Nash mit zwei frischen Gläsern Weißwein an unseren Tisch. Dunkelgrüne Augen fangen das letzte flüchtige Tageslicht ein und funkeln mich an.

»Danke«, sage ich, nehme den Nachschub an und schenke ihm ein schüchternes Lächeln.

Er zwinkert. »Aber sicher doch.«

Nash ist gut aussehend. Lausbubenhaft niedlich, mit ausgeprägten Grübchen und dicken karamellblonden Locken, die an die Farbe von Honigwaben erinnern.

Diese Grübchen stechen gerade regelrecht hervor und wirken wie kleine Waffen, die direkt auf mich gerichtet sind.

»Ich mag deine Zeichnung.« Ich zeige mit dem kleinen Finger auf den Lemurenhund auf der Serviette. »Sehr niedlich.«

»Ja? Das ist Buttons. Ich werde das Kompliment weitergeben.«

»Großartig.« Unser Lächeln wird gleichzeitig breiter, und ich neige den Kopf.

Nash klopft mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und tritt einen Schritt zurück. »Gebt mir Bescheid, wenn ihr noch was braucht«, sagt er, sein Blick wandert zu Alyssa und dann wieder zu mir. Unsere Blicke bleiben noch einen Moment lang aneinander haften, bevor er sich abwendet und zurück zur Bar geht.

Alyssa seufzt und greift nach dem neuen Glas Wein. »Du solltest mit ihm schlafen.«

Meine Wangen brennen, als ich meinen Finger um einen meiner Zöpfe drehe. »Er ist wahrscheinlich ein Aufreißer. Ich habe ihn vor ein paar Minuten mit einem anderen Mädchen flirten sehen.«

»Okay, aber er hinterlässt ihr keine süßen kleinen Serviettenzettel. Ich sage, schnapp ihn dir.«

Ich zucke mit den Schultern, auch wenn ich weiß, dass ich ihn mir nicht »schnappen« werde.

Ich habe gesehen, was Beziehungen bewirken können. Aus Serviettennotizen werden Verabredungen, aus Verabredungen werden Küsse und dann Sex und dann Liebe und dann …

Und dann ist da Jessica.

Ich kann niemals Jessica sein.

»Jedenfalls«, sage ich zu Alyssa, springe vom Hocker und trinke noch einen Schluck Wein, bevor ich ihr den Rest überlasse, »muss ich jetzt los. Ich hab morgen ein Vorstellungsgespräch.«

»Viel Glück, Babe.« Sie umarmt mich fest, ihr nach Kaugummi duftendes Körperspray kitzelt in meiner Nase. »Berichte, wie es gelaufen ist.«

»Das werd ich. Wir sehen uns nächste Woche.« Ich hänge mir meinen Gitarrenkoffer über die Schulter, winke ihr zu und nehme Blickkontakt mit Nash auf, bevor ich zur Tür schlendere.

Er schenkt mir sein mit Grübchen garniertes Zwinkern, als mein Handy in der Tasche meines Kleides pingt. Ich fische es heraus und werfe einen Blick auf das Display.

Cals Name leuchtet auf.

Cal:

Dir auch

Diese beiden Worte bringen mich auf dem ganzen Heimweg zum Lächeln, während ich an ein kleines Mädchen denke, das ich so sehr vermisse.

Trügerische Kadenz: Wenn man glaubt, dass etwas zu Ende geht, ist es eigentlich der Anfang von etwas Schönem.

Kapitel 4

KAPITEL 4

Ich bin spät dran.

Es gibt nichts, was mir mehr Angst macht, als zu spät zu kommen. Ich habe es sogar in meinen Lebenslauf gepackt: PÜNKTLICHUNDFIX. In Großbuchstaben, um es noch mal zu betonen.

Und nun bin ich eine Lügnerin. Eine verspätete Lügnerin.

Zugegeben, den Stromausfall gestern Abend habe ich nicht vorhersehen können. Wir hatten nicht einmal schlechtes Wetter – es war eine dieser absurden Sachen, die wirklich niemand einplant.

Außer ich. Normalerweise plane ich immer verrückte Dinge ein. Ich fahre eine Stunde früher los, wenn der Weg auch nur fünf Minuten dauert – für den Fall, dass ein Zug liegen bleibt, eine neue Baustelle den gesamten Verkehr lahmlegt, ein Meteoritenschauer niedergeht oder ein unglücklicher Würfelwurf bei einer Partie Jumanji das ganze Universum aus den Fugen geraten lässt. Aber als ich gestern Abend mein Handy bei schwachen drei Prozent zum Aufladen einsteckte, konnte ich nicht ahnen, dass jemand mit seinem Auto einen Strommast rammen und die ganze Straße ohne Versorgung dastehen würde.

Also verendete der Akku meines Telefons, mein Wecker starb mit ihm und damit auch meine größte Hoffnung, eine Stelle als Empfangsdame bei Cal’s Corner zu bekommen.

Die Glöckchen bimmeln, als ich durch die Eingangstür haste, und machen jeden in Hörweite auf meine Verspätung aufmerksam.

»Du bist früh dran.«

Cal tritt aus einem Büro hinter dem Empfangstresen heraus, er trägt ein schlichtes weißes T-Shirt und eine schwarze Jeans. Sein espressobraunes Haar sieht noch dunkler aus, wahrscheinlich feucht von einer Dusche, die noch nicht lang her zu sein scheint. Es ist ungekämmt und steht in alle Richtungen ab, dennoch schafft Cal es, das irgendwie attraktiv aussehen zu lassen. Um seinen Hals hängt eine silberne Kette, die er in den Kragen seines Shirts gesteckt hat, die Form des Anhängers kann ich nicht ausmachen.

Warte mal.

Als seine Worte einsickern, erwischen sie mich kalt, und mein Blick wandert instinktiv zu der staubigen Wanduhr. Die zehn nach neun anzeigt.

»Ich hatte neun Uhr dreißig gesagt«, erklärt er, als er meine Verwirrung bemerkt.

Das Vorstellungsgespräch war auf jeden Fall für Punkt neun Uhr morgens angesetzt – ein Mädchen vergisst seine imaginäre Todeszeit nicht. Aber ich akzeptiere das kleine Wunder und wähle diesen Moment, um an eine höhere Macht zu glauben. »Richtig. So bin ich. Ich liebe es, früh dran zu sein.«

Ich sage es, als stünde es ganz oben auf meiner Interessenliste: Ich liebe einen gut gereiften Wein. Nasse Hundeküsse. Einen orangeroten Sonnenuntergang.

Zu früh dran sein!

Ich kratze mich am Schlüsselbein und fange an, an meinen Fingernägeln zu zupfen.

»Komm rein.« Cal nickt in Richtung des Büros hinter ihm und verschwindet darin.

Ich streiche mein Kleid glatt und folge ihm zu einem Schreibtisch, der mit Rechnungen und Ordnern übersät ist. Das Büro ist dunkel und muffig, ohne jeden Charakter oder persönliche Note. Keine Bilder, kein Schnickschnack. Nur ein schäbiger alter Schreibtisch, zwei Stühle und ein Aktenschrank in der Ecke des Raums, der mit Netzen einer Spinnenfamilie aus den 90er-Jahren verziert ist. Es juckt mich in den Fingern, die Jalousien zu öffnen und den Raum in natürliches Sonnenlicht zu tauchen, doch ich bleibe stehen und warte auf eine Anweisung.