Anatolische Hirtenerzählungen - Elsa Sophia von Kamphoevener - E-Book

Anatolische Hirtenerzählungen E-Book

Elsa Sophia von Kamphoevener

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Beschreibung

Als Jüngling verkleidet, erlauschte Baronin von Kamphoevener an den Lagerfeuern türkischer Hirten orientalische Geschichten, die aus dem ewigen Märchenvorrat der Menschheit zu stammen scheinen. Trotz strikten Verbots schrieb sie das Gehörte auf, aus Verpflichtung einem kostbaren Besitz gegenüber. Heitere und listige, erotische und melancholische Geschichten mit dem ganzen Zauber und der Weisheit orientalischen Fabulierens.

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Elsa Sophia von Kamphoevener

Anatolische Hirtenerzählungen

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Über dieses Buch

Als Jüngling verkleidet, erlauschte Baronin von Kamphoevener an den Lagerfeuern türkischer Hirten orientalische Geschichten, die aus dem ewigen Märchenvorrat der Menschheit zu stammen scheinen. Trotz strikten Verbots schrieb sie das Gehörte auf, aus Verpflichtung einem kostbaren Besitz gegenüber. Heitere und listige, erotische und melancholische Geschichten mit dem ganzen Zauber und der Weisheit orientalischen Fabulierens.

Über Elsa Sophia von Kamphoevener

Elsa Sophia von Kamphoevener, geboren 1878 in Hameln, lebte über vierzig Jahre in der Türkei. Ihr Vater war dort deutscher Botschafter. Nach ihrer Rückkehr arbeitete sie als freie Schriftstellerin und Journalistin, so für die «Vossische Zeitung» und den Rundfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen ferner ihre erfolgreichen Geschichtenbände «An Nachtfeuern der Karawan-Serail» (3 Bände, 1975) und «Von Allahs Tieren – Am alten Brunnen des Bedesten» (1978).

Inhaltsübersicht

VorwortGülbeg, Gülül und das Lamm DjanumDer Fischer und des Fisches grüner SteinDer Traum des Kara Ali Baba imdatliDas Mädchen Aymineh und die harten SchuppenDer vertrocknete RosenstrauchMustafa Vekil, der StellvertreterDas Reich der WasserDie neun DünnbärteDer schwarze Ziegen-ZauberDie Freiheit des BergfalkenWorterklärungen

Vorwort

Die Stimme der Erzählerin ist wohl jedem noch im Gedächtnis, der sie einmal hörte. Es sind Tausende, die Elsa Sophia von Kamphoevener in Rundfunksendungen zuhörten, und wer Glück hatte, erlebte sie in großem oder kleinem Kreis, wie sie die Geschichten und Märchen aus dem alten Orient einem Publikum erzählte, das – dem Zuhören längst entwöhnt – unfehlbar zu einer in beinah kindlicher Aufmerksamkeit lauschenden Hörerschaft wurde. Vielen ging es so wie jenem Hamburger Zuhörer, der an die Erzählerin schrieb, er sei durch die Stadt gegangen und habe die Ankündigung eines Vortrags türkischer Nomadenmärchen gelesen, habe sich in einen Vortragssaal gesetzt, einen Raum wie viele andere, und gewartet. Schließlich sei auf dem Podium eine alte, dunkel gekleidete Dame erschienen und habe mit dem Friedensgruß gegrüßt. Dann aber sei alles um ihn verschwunden, er habe an den nächtlichen Lagerfeuern der Hirten gesessen und er habe gelauscht. Ob er eine ganze Nacht gelauscht habe oder nur für die kurze Dauer zweier Vortragsstunden – er wisse es nicht.

Die Wirkung dieses Erzählens, dieses Erzähltons läßt sich gewiß zum größten Teil darauf zurückführen, daß jede Geschichte, jedes Märchen im Moment des Erzählens neu entstand.

Elsa Sophia von Kamphoevener wußte genau, wie wichtig diese Unmittelbarkeit war, noch mehr: die Wiedergeburt der Erzählung aus der Erzählung war ihr teuer wie ein Vermächtnis oder sogar teurer als ein Vermächtnis. Nichts konnte ihren Zorn so rasch aufflammen lassen wie die Bemerkung, sie habe im Rundfunk ja wieder so schön gelesen – und sie konnte zornig sein; wer sie kannte, zieht noch heute beim Gedanken daran den Kopf ein wie vor einem plötzlich einsetzenden Ungewitter, und sie konnte ausgelassen, auch noch im hohen Alter, sich kindlich freuen an den schönen Dingen dieser Welt, aber vor allem an sprachlichem Witz, an sprachlicher List. Ihre Freude an schöpferischer Verwandlung brachte es mit sich, daß beinahe niemand, mit dem sie einen etwas näheren Kontakt hatte, seinen Namen behielt, sie taufte alle um, meist durch eine Geschichte, die sie mit diesen Menschen erlebte oder die sie erfand. Was hätte für sie nähergelegen?

Wie sie ihre Geschichten gefunden hat, erzählte sie gern; und wieder ist es, als hörten wir eine Geschichte vom Lagerfeuer der Hirten Anatoliens. Höhepunkte waren dann jedesmal die Worte des berühmten Märchenerzählers Fehim Bey, der zu dem hochgewachsenen jungen Bey aus dem Westen sagte: «Bey, du kennst ja alle meine Märchen, erzähl du weiter, ich will ein wenig schlafen.»

Der junge Bey aus dem Westen war natürlich niemand anders als die Erzählerin selbst, die, als Jüngling verkleidet, durch Anatolien ritt und die Nächte in den Lagerplätzen der Hirten und Nomaden verbrachte.

Wie die 1878 in Hameln geborene junge Dame in die Türkei kam, beschrieb sie so: «Im reifen Alter von vier Jahren faßte ich den Entschluß, zusammen mit meiner Mutter meinem Vater nachzureisen, der schon längere Zeit am Hofe des Sultans Abdul Hamid in Konstantinopel als Reorganisator des türkischen Heeres tätig war; dorthin, zusammen mit drei anderen deutschen Offizieren, entsandt durch S.M. Kaiser Wilhelm I., der aus der Jugendzeit ein Freund des Sultans war.»

So wuchs Elsa Sophia von Kamphoevener in der Türkei auf und lernte die Kunst des Märchenerzählens, sie kam etwa um die Jahrhundertwende nach Deutschland zurück; im Ersten Weltkrieg arbeitete sie an der Seite ihres Mannes in dessen zum Lazarett umgewandelter Klinik, im Zweiten Weltkrieg begann sie wieder, Märchen und Geschichten zu erzählen und zwar den Soldaten in entlegenen Zonen dieses Krieges. «Kamerad Märchen», das war ein Ehrentitel nach ihrem Herzen. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Marquartstein in Oberbayern oder auf Reisen an der Seite der im wahrsten Sinne des Wortes nimmermüden Freundin Ilse Wilbrandt, der wir biographische Aufzeichnungen verdanken und auch diese Geschichte vom Abenteuer der verkleideten jungen Erzählerin in der alten Türkei:

«Wenn man in der Nähe eines Dorfes über Nacht bleiben und seine Zelte aufschlagen wollte, mußte man bei dem Kameikan, dem Bürgermeister würden wir sagen, die Erlaubnis dafür einholen. Die wurde natürlich erteilt, und dann wurden aus dem Dorf große Kupferplatten gebracht mit allen herrlichen Speisen, die man auftischen konnte. Auch – ein Mädchen für den Bey wurde mitgesendet, wie das üblich war. Was tun, nachdem der Bey gar kein Bey war? Das Mädchen unberührt zurückzuschicken, wäre schwerste Beleidigung gewesen. Doch der älteste Diener wußte auch da Rat. Er ließ dem Kameikan sagen, sein Bey habe ein Gelübde getan, keine Frau anzurühren, ehe er nicht eine Pilgerfahrt nach Mekka gemacht habe. Das wurde anerkannt. Ein paar Jahre später wurde wieder in der Nähe desselben Dorfes ein Lager aufgeschlagen, und dasselbe wiederholte sich. Da kam der Kameikan wütend selbst heraus in das Zeltlager und in ganz unorientalischer Erregung fuhr er den Bey an: ‹Wann gehst du denn endlich nach Mekka?! So ein schöner junger Bey und rührt keine Frau an! Eine Schande ist das!› – ‹Nie wieder›, sagte Elsa Sophia, ‹sind wir in die Nähe dieses Dorfes geritten›».

In der ersten Geschichte dieses Bandes sagt die Erzählerin, daß der größte Schatz dieser Hirten die Wolle ihrer Tiere gewesen ist, den größeren Schatz hat sie uns herübergerettet mit den Erzählungen, die sie dann doch niederschrieb, trotz des Vermächtnisses des alten Fehim Bey. Sie tat es unter dem Eindruck, daß auch in den Bergen Anatoliens das natürliche Gedächtnis der Menschen verlorengehe und damit die Geschichten der Hirten.

Hirten sehen mehr als gewöhnliche Menschen. Diese ja nicht zuletzt biblisch zu begründende Ansicht hat sich Elsa Sophia von Kamphoevener ganz zu eigen gemacht. Ihre Hirtengeschichten haben auch in der schriftlichen Fassung den geheimnisvollen Zauber, die Buntheit, die Unmittelbarkeit behalten. Ihre Sprache blieb die der mündlichen Überlieferung – und so nehmen wir dankbar entgegen, was uns der Orient aus vielhundertjähriger Erzähltradition durch den Mund einer Dichterin überliefert hat.

Hans A. Neunzig

Gülbeg, Gülül und das Lamm Djanum

Viel Sinn hat es nicht, sie getrennt zu nennen, aber es geschehe der Ordnung halber, die besonders unter den Hirten sehr notwendig ist. Denn wohin käme ein Hirte, wenn er nicht wüßte, welches seiner Lämmer gedeckt werden muß, welches noch nicht? Er muß in seinem Kopf, der nicht von Gedanken an Schreibzeug und ähnliches belastet ist, eine gute Berechnung für alle diese Erfordernisse seiner Herde besitzen. Und somit wußte der Hirte Mirmin, zu dessen Herde sie alle drei gehörten, sie – Gülbeg, Gülül und das Lamm –, daß für das Lamm nunmehr die Zeit des Deckens gekommen sei. Genauso, wie es Mirmin wußte, war es aber auch Gülbeg und Gülül bekannt, und sie, die seit ihrer Geburt keinen getrennten Gedanken gehabt hatten, dachten auch jetzt das gleiche. Es möge nicht vergessen werden, daß auf den Bergen Anatoliens das langhaarige Schaf daheim ist, das sogenannte Angoraschaf (alter Name für Ankara). Die Wolle dieses Tieres bedeutet den eigentlichen Reichtum der Hirten, nicht aber seine Milch oder Nachkommenschaft. Solange das Schaf jungfräulich ist, bleibt die Wolle besonders glatt und wertwoll. Hat es Junge gehabt, verliert sie an Glätte und Wert, weshalb mit dem Decken dieser Tiere oft sehr lange Zeit gewartet wird.

Man muß wissen, daß der Knabe Gülbeg und das Mädchen Gülül Zwillinge waren. Sie wußten von ihrer Mutter nichts, denn sie war bei ihrer Geburt gestorben. Von ihrem Vater wußten sie nichts, denn er war zu jener Zeit, als ihre Mutter starb, von einem fremden Stamme getötet worden, weil er im Verdacht stand, er habe einen Bock gestohlen, um seine Herde aufzubessern. Alle diese Dinge aber sind nicht von besonderer Bedeutung, denn ob eine Mutter stirbt innerhalb der Hirtenvölker, ob nicht, ob ein Vater ermordet wird, ob nicht, das ist so sehr wichtig nicht. Im Stamm eines Hirtenvolkes sind Mutter und Vater vorhanden, ganz gleich wie ihr Name laute. Da ist immer eine Frau, die gerade ein Junges gebar, und sie gibt dann mit einer Brust dem eigenen Kinde Lebensmilch und mit der anderen dem fremden. Da ist immer ein Mann vorhanden, dem gerade der Berg in seiner Wildheit den Knaben raubte und der bereit ist, das fremde Gewächs als seines zu betrachten, hoffend, einen guten Hirten aus ihm zu machen mit der Zeit.

So eben geschah es bei Gülbeg und Gülül, die niemals an Verlassenheit litten. Doch ist zu bedenken, daß sie nicht nur Bruder und Schwester waren, sondern Zwillinge. Das will besagen: Gleichheit der Gesichtszüge, der Haltung, des Verlangens nach Freiheit, des Sehnens nach der Höhe und der Kraft, die sie überwindet – ja, auch Gleichheit der Träume, jenes geheimnisvollen Lebens des scheinbar Unwirklichen, das in Wahrheit wirklicher ist als das Greifbare, alles dieses war ihnen gemeinsam. Ihnen ja. Doch es besteht noch eine Sitte bei den Hirten, und das ist diese: ein Lamm, das am selben Tage geboren wird wie ein Mensch, gehört dem Geborenen, wenn es genau zur selben Stunde geworfen wird, in der die Menschenmutter ihrer Last ledig wird. Und so begab es sich, daß Gülbeg und Gülül seit ihrem ersten Luftschrei bereits ein Besitztum hatten, davon sie noch nichts wußten, das ihnen aber unveräußerlich zu eigen war, im Leben und im Sterben: das Lamm Djanum.

Nun weiß ja jeder, daß Djanum heißt «meine Seele» und der Ruf ist, den wir ausstoßen in Freude, in Kummer, in Erstaunen, ja, wann immer eben jenes Etwas, das man Seele nennt, angerührt wird. So nannten sie später das Lamm «Djanum», denn es war wie die Seele, die einem ja auch ungerufen beschieden wird, ob man sie nun begehre, ob nicht. Und mittlerweile, da wir anheben, all dieses zu berichten, waren sie alle drei, der Bedeutung und der Reihe nach zu benennen, Gülbeg, Gülül und das Lamm, fünf Jahre alt geworden. Es war zu diesem Zeitpunkt, daß der Oberhirte des gesamten Herdenbetriebes sich zu Gülbeg, Gülül und dem Lamm begab, das seine Ruhestatt immer bei ihnen zu haben pflegte – womit gesagt sein soll, daß sie alle drei zusammen schliefen, die Zwillinge und das Lamm, ein jeder des anderen Hauptes weiches Ruhelager. Der Oberhirte begann zu sprechen, tat es in aller Höflichkeit, obgleich er nur mit Kindern im Alter von fünf Jahren sprach, die aber seiner Ansicht nach Besitzer waren eines Tieres, das einmal Stammutter gesunder und edler Jungtiere werden konnte, welche dann allen heute nur Fünfjährigen gehören würden. Also sagte der Oberhirte, während Gülbeg und Gülül, tief zur Erde gebeugt, ehrfurchtsvoll lauschten: «Meine teuren und geliebten Kinder, unseres Stammes Stolz und Hoffnung, nunmehr beginnt eure Zugehörigkeit zum Stamm der Benscharabin vom Gandhar Dagh Wahrheit und Tat zu werden. Euer Lamm, das ihr Djanum nennt, ist zum Decken reif, und es wird euch, meine Kinder, mit der Zeit Reichtum und Ruhm einbringen. In der Nacht, da der Mond über dem Gipfel des Gandhar Dagh heraufkommt zur Stunde des Abend-Azan und sein junges, leuchtendes Horn den Gipfel zu berühren scheint – zu dieser Stunde, meine Kinder, wird euer jungfräuliches Lamm Djanum gedeckt werden von unserem stärksten Bock, und alles, was es hervorbringt jetzt oder später, wird euch gehören, wie ihr uns gehört, meine geliebten Kinder.»

Der Oberhirte schwieg, denn seines Wissens war in dieser Angelegenheit nichts weiter zu sagen. Er aber, der doch gewohnt war, den Zug der Wolken zu erkennen und den Ruf der Gipfel-Schwalben zu deuten, er bemerkte nicht den Blick dieser beiden zutiefst verbundenen Geschöpfe Allahs, der wie ein Lichtstrahl zwischen Auge und Auge daherzuckte. Was galt es ihnen, ob sie Mitinhaber der Herde sein würden durch jene Wesen, die aus dem Decken ihres Lammes hervorgingen? Ihnen gehörte dieses Lamm Djanum, ihnen allein, und so sollte es auch bleiben, mochte ein Mondhorn den Gipfel des Gandhar Dagh berühren, wann immer es ihm beliebte. Und so geschah es, daß zum erstenmal in dieser stürmischen Nacht am Fuße des Gandhar Dagh die Stätte leer blieb, die drei junge Geschöpfe Allahs seit ihrem ersten Schrei beherbergt hatte, denn Gülbeg, Gülül und das Lamm Djanum waren auf und davon, um das Mondhorn am Gipfel des Gandhar Dhag zu begrüßen. Es hatte zur Ausführung dieses tollkühnen Unternehmens weiter keiner Worte zwischen den Zwillingen bedurft. Gülbeg hatte nur gesagt: «Du denkst auch so, Gülül?» Worauf sie nur genickt hatte, und daß Djanum gleicher Ansicht sein würde, das stand ihnen außer Zweifel. Denn was begehrt ein junges Lamm mehr, als sich in Freiheit auf Bergpfaden zu tummeln, stets wissend, daß ein noch so leiser Ruf der Unsicherheit Helfer herbeibringt?

Also waren sie alle drei schon im Abenddämmern bereit zum Aufbruch, wissend, daß in die verborgenen Winkel, wo sie zu nächtigen pflegten, niemand jemals spähen kam. Denn wozu? Diese drei Geschöpfe Allahs waren ineinander, aneinander geborgen. Gülbeg – man darf nicht vergessen, daß ein anatolischer Hüterbube von fünf Jahren einem Knaben der Ebene von neun Jahren gleicht – schritt voran. An dem Zipfel seines Turbantuches hielt sich Gülül fest, die hinter sich her Djanum zog. Sie alle drei waren so glücklich, wie man es nur einmal im Leben ist, denn sie befanden sich auf dem Gipfel der Vollendung. Und jetzt sahen sie das Mondhorn, wie es sich am spitzen Gipfel des Gandhar Dagh anzuklammern schien – und es leuchtete, leuchtete! Man muß nämlich wissen, daß das Horn des aufgehenden Mondes dafür da ist, alle Wünsche des Menschenvolkes angehängt zu bekommen. Ein jeder weiß, daß das Horn des absinkenden Mondes für die Verehrung der Fahne des Propheten geschaffen wurde – aber jenes eben entstand aus der gewaltigen Schöpferkraft «Mitleid» und besagt: «Nun also, ihr Kleinen und Beklagenswerten, nun seht, ich gab euch einen Haken, daran aufzuhängen euer Wünschen und Hoffen. Sucht ihn zu erhaschen, diesen Haken aus Glanz und Macht, und möge er eurer Ohnmacht und Machtlosigkeit dienlich sein!»

Das – man weiß es, ist das Horn des aufgehenden Mondes, wie es heute sichtbar wurde am Gipfelzelt des Gandhar Dagh. Und dorthin strebten die drei, die es wagen wollten, des Gesetzes der Hirtenvölker zu lachen, des ältesten Gesetzes, das die Welt kennt. Eines zwar wußte von all dem nichts: das Lamm Djanum, das nicht ahnte, welchen Namen es trug. Aber es wurde getragen von Menschenwärme, die auch nicht ihres Weges Ende kannte. Es war wunderbar, solcherart dem Licht der Nacht entgegenzuschreiten. Weiß es ja ein jeder, daß zu dieser Stunde des Wechsels vom Tag zur Nacht, von der Helligkeit zum Dunkel alles, was aus des Berges Brust hervorwächst, am süßesten, am stärksten duftet. Da sind die vielen kleinen Kräuter der Berge, da sind die wilden Veilchen, dunkler und holder als alles, was der Mensch zu züchten vermag, da sind die gelben Vergißmeinnicht, die nur auf höchsten Höhen sichtbar werden, und ferner kleine Blüten, deren Arten in der Ebene groß werden, hier oben aber zart und klein bleiben, süß duftend und stark duftend, nicht wie gezüchtet. Man nennt sie herkaf meneksé, was auf deutsch Stiefmütterchen bedeuten würde – und weiß man auch, warum sie so genannt werden? Weil sie zwei große bunte Blütenblätter haben, darauf die eigenen Kinder sitzen, während die fremden, die Stiefkinder, sich mit einem einzigen Sitz gemeinsam begnügen müssen. Schöner sehen sie aus, viel schöner als die Bevorzugten.

Nun, wie dem auch sei, durch all dieses duftende Blühen suchten die jungen Füße ihren Weg; das Lamm zappelte immer wilder in Gülüls Arm, und Gülbeg verspürte ein Ziehen an seinem Turbanzipfel, wandte sich um, zuckte fragend die Achseln und bekam als Antwort einen stummen Hinweis auf das sich wild gebärdende Lamm. Hat es einen Zweck zu sprechen, wenn zweie sich vollkommen verstehen? Noch dazu auf der Bergeshöhe, wo jeder Atemzug lebenswert ist? So wies Gülbeg nur auf den duftenden Bergboden, und im gleichen Augenblick schon ließen die haltenden Arme los, lief Djanum schnüffelnd und suchend frei herum. Eine Handbewegung von Gülül wies auf das ferne Mondhorn hin, und auch sie zuckte fragend die Achseln. Da zeigte sich zum erstenmal in diesem Leben tiefster Gemeinsamkeit die Verschiedenheit des Geschlechts, denn ein Hochweisen des Armes mit einer Bewegung des Besitznehmens, ja, ein Hochschleudern ließ den zur Höhe strebenden männlichen Geist erkennen wie auch den zögernden weiblichen. Aber im seltsamen Lichte jenes Mondhornes, einem nahezu rötlichen Lichte unbekannter Sterne, riß das junge Männliche das werdende Weibliche mit sich hinauf. Ein Spruch unserer Heimat sagt so: «Du Zarte, du dem Duft des Bodens Zugehörige, o Weib, Schwester, Teure, halte mich, daß nicht die Höhe mich zerschmettere!»

Gewiß dachte es so nicht der junge Knabe Gülbeg, doch ebenso gewiß lebte es in seinem noch verborgenen Manneswissen, das aus Urzeiten kommt. Jene Gebärde des Hochreißens bewies es. Und das junge Weibkind folgte dem aus Urzeiten kommenden Befehl. Sie stiegen, sie stiegen. Das Lamm spielte um sie her. Oben aber stand am Gipfel des Gandhar Dagh noch jenes Mondhorn, und das lockte, lockte die Jugend! Es war die erste sich ihrer Kraft ganz bewußt werdende Jugend, in der das Erbgut vieler bergsteigender Hirten-Vorväter sich regte, eine Jugend, für die der Berg immer höchste Lockung bedeuten würde. Da war nun aber das Ziehen am Turbantuch, jenes zarte Mahnen des Weiblichen an das werdende Männliche: hab acht, ich bin da, nimm mich mit! Seltsam war es, was Gülbeg jetzt tat, war es eine Antwort, sollte sie es sein? Er riß sich den Fes mit dem Turbantuch vom Kopf und schwenkte das Tuch in der Luft, stieß dabei einen Laut des Jubels aus. Gülül lachte, verstummte aber dann – woran sich nun halten? Ja, woran, Gülül?

Wenn er es auch weder wußte noch wollte, so trennte sich hier doch Knabe vom Mädchen und jubelte der Freiheit zu, die in unserer Heimat dem Manne gehört. Gülül aber lachte nur freudig auf, denn auch sie wußte nicht, was ihr geschehen war – wie wir alle niemals um das wissen, was uns beschieden wird, da es sich stets nur ganz geheim ankündigt. Hier aber kam nun noch ein äußeres Zeichen hinzu, denn es ist verständlich, daß sich jenes Mondhorn nicht immer weiter am Gipfel-Fels des Gandhar Dagh anklammern konnte, hatte es doch noch einen weiten Weg zu durchziehen in den Wolken, die ihm Heimat waren. Und da es scheinbar plötzlich vor den Augen der Kinder versank, um hinter dem Berggipfel weiterzuwandern, entstand um die drei jungen Wesen eine unerwartete Finsternis, die als erstes das Lamm erschreckte. Es stieß einen Ruf aus, der kläglich um Hilfe bettelte und dem Gülül sogleich gehorchte, während Gülbeg noch für eines Atemzuges Dauer horchend stand, ob er wohl solcherart erkennen könne, wo sich Djanum befinde – auch dieses verschiedene Wesenheit anzeigend, da das weibliche Kind nur dem Gefühl folgte, das männliche aber dem Gedanken. Gülül beschattete die Augen, um in der plötzlichen Dunkelheit besser unterscheiden zu können, beugte sich vor und sah alsbald unter sich, offenbar in einer Felsspalte, das Lamm liegen. Sie lief und lockte es, aber es gehorchte zum ersten Male der vertrauten Stimme nicht. Gülül wandte sich um, rief: «Gülbeg, Djanum muß verletzt sein, es rührt sich nicht!»

Schon stand der Bruder hinter ihr, sagte ruhig: «Nimm das Turbantuch und halte es fest! Ich werde mich daran hinablassen und Djanum holen. An diesen Fels hier werde ich das Tuch knoten, und du halte es auch noch, so wirst du uns heraufziehen können, Gülül! Du hast keine Angst allein zu bleiben, nein?» Sie lachte nur, wie sie es bei seinem Jubelruf getan hatte, und so verknotete er sorgfältig das Tuch am nächsten Fels, ein Hirte, der die Berge kennt, auch wenn er erst fünf Jahre zählt. Gülül saß und sah ihm nach, wie er jede Felsspalte als Fußhalt nutzte, wie er wußte, was zu geschehen habe, und sie hielt in ihren wenn auch kleinen, doch kräftigen Händen das alte Turbantuch gepackt. Da durchfuhr sie ein eisiger Schreck, denn sie spürte, wie die Seide leise, ganz leise zu reißen begann, und was das bedeutete, begriff Gülül. Sie beugte sich weit, ganz weit vor, schrie mit aller Kraft ihres Herzens: «Gülbeg, halte dich, es reißt!» Aber gerade in diesem Augenblicke war der Aufschlag von Geröll für des Knaben Ohr hörbar, und er verstand der Schwester Worte nicht. Doch gleich danach begriff er, denn der Halt ließ nach, und es war ihm, als flöge er, war ihm, als brause die Luft gewaltig auf, und sein Gedanke war: «So wie ein Bergfalke!» Dann war es schon vorbei, und einmal noch konnte das Lamm Djanum seinem jungen Freund und Herrn eine weiche Lagerstatt sein.

Droben, Gülül, wußte nicht, was tun, erkannte nur eines: zu Gülbeg, zu Djanum, alles andere erschien ihr sinnlos. So begann sie denn hinabzuklettern, tat es vorsichtig, konnte sich auch mit den Zehen, die fest in Fellschuhen steckten, jungem Getier gleich, an manchem Stein festhalten, rief immer wieder, sich nach rückwärts umschauend, den Namen, der ihres Herzens zweites Ich war. Und wieder tat sie es, vermochte sich dabei an einem Gesträuch festzuhalten – doch ach –: hier war die Stunde, die eine, die unabänderliche Stunde auch für dieses junge Leben gekommen, und so riß der Strauch, blieb in Gülüls Hand, und auch sie trat den Flug an, den des Bergfalken. Keine Zeit blieb mehr für Schreck oder Bangen. Denn plötzlich – was weiß man, ob in noch menschlich erkennbarer Zeit – stand Gülül auf der Höhe eines weit in das Land schauenden Berges, und vor ihr stand ein Hirte, einer, den sie noch niemals erblickt hatte, der hielt Gülbeg an der Hand, und als sie ihn sah, beugte er sich eben nieder, um das Lamm Djanum zu liebkosen, das sich solches Tun auch gefallen ließ, obgleich es sich sonst gegen fremde Hände sträubte.

Der Hirte, der ein schönes und freies Lächeln hatte, war gekleidet wie jeder Hirte der Berge, will sagen, er hatte ein Bocksfell über der einen Schulter, während der Steigarm frei blieb, und einen Gurt aus Bocksleder um die Mitte. Sein reiches dunkles Haar über seiner hohen Stirn war gelockt, und er stand frei und aufrecht. Gülbeg sah ihn fragend an, während der Hirte Gülül die andere Hand gab, und der Knabe entsann sich plötzlich, wie sie, die Hirten, wenn er heimlich herbeigekrochen kam, sich in einem Winkel zu verbergen, während sie berichteten von des Tages Ereignissen, immer wieder gesagt hatten: «Ganz schön und gut, was da geschah, aber wie wäre es geworden, wenn nicht der Sohn der Hazret Miryam geholfen hätte – er, der Hirte aller Hirten?»

Dieser Worte entsann sich Gülbeg jetzt, und da an dem Hirten, dessen Hand ihn hielt, etwas war, das Freude und Vertrauen eingab, fragte er ohne Scheu: «Bist du der Sohn der Hazret Miryam, o Hirte aller Hirten?» Der Hirte lächelte, und Gülül sah ihn erstaunt an, da sie noch niemals etwas so Schönes erblickt hatte, und er gab zur Antwort: «Du sagst es, kleiner Bruder, ich bin so gesegnet, der Sohn der Hazret Miryam zu sein. Und jetzt gehen wir zusammen, sie suchen – wollt ihr?» Gülül reckte sich ein wenig an der Hand des Hirten hoch und fragte erstaunt: «Gehen wir denn nicht zurück, zu Mirmin und unserer Herde?» Der Hirte ließ Gülbeg los, der sich erschrocken nahe an ihn schmiegte, hob Gülül auf den Arm, was ein wunderschönes Gefühl war und ein ganz neues dazu, und sagte überredend: «Aber warum denn zurückgehen? Vorwärts ist schöner, kleine Gülül – und sieh nur, welch herrliche Straße wir vor uns haben, sieh nur, wie alles an ihr in Blüte steht! Ist es nicht schön, dort weiterzugehen, kleine Gülül?»

Völlig in seliges Erstaunen versunken, sah Gülül, daß sie nicht mehr auf einem steinigen Berge standen, vielmehr sich vor ihnen der Weg in einen blühenden Garten breitete, desgleichen sie noch niemals erblickt hatte, dieses Kind der herben Berge. Sie drückte sich an den Hirten aller Hirten und jubelte: «Oh, Blumen! Sieh nur, Gülbeg, Blumen! Aber Djanum soll sie nicht fressen, nein, Sohn der Miryam?» Der ließ sie wieder zu Boden gleiten, und sie fühlte jauchzende Freude in sich. Der Hirte packte ihrer beider Hände fester, während das Lamm voranlief, nach Art junger Tiere sich überschlagend vor Lebenslust, und er sagte im Schreiten auf dem Blumenweg: «Es ist nicht nur meine Mutter, Miryam die Gepriesene, die auf euch wartet – auch eure Mutter harrt eurer voll Freude. Heute erst, als der Mond versank, fragte sie nach euch, sagte traurig: wie lange noch, Herr? Nun, ich lachte, und sie war getröstet. Freut ihr euch, Kinder der liebenden Sehnsucht?» Gülbeg und Gülül sahen zum Hirten aller Hirten auf und sagten wie aus einem Munde, einer Seele: «Bei dir bleiben, Herr.» Er lächelte auf sie herab, und der Blumenweg nahm kein Ende. Dann aber sahen sie Hazret Miryam. Sie stand mit ausgebreiteten Armen dort und lächelte. Dieses Lächeln rief die heimatlosen Kinder, die von dergleichen nie gewußt hatten. Sie stürzten vorwärts und wurden an dieses göttliche Herz geschlossen. – Hier aber ist heiliger Boden, und uns bleibt nur, in Ehrfurcht zu schweigen.

Der Fischer und des Fisches grüner Stein

Es war ein Fischer, der hatte sich müde gearbeitet einen ganzen Tag lang und nichts erreicht. Endlich, da es schon dämmerte, zog er sein Netz ein und fand darin einen einzigen ganz kleinen Fisch. Er nahm ihn heraus, hielt ihn zornig in der Hand und sagte: «Ist das für einen ganzen Tag? Du elendes Ding, ich werfe dich zurück!» Noch aber hielt er ihn in der Hand und betrachtete ihn erstaunt, denn es schien, als habe der Fisch drei Augen. Als er näher zuschaute, sah er, daß das, was er für ein drittes Auge in der Mitte zwischen den beiden anderen gehalten hatte, in Wahrheit ein grüner Stein war, der glänzte, wie die letzte Meerestiefe leuchtet, wenn die Fischer ihre Lichter hineinsenken, um die Fische zu erschrecken. Der Fischer hielt den kleinen Fisch eine Weile, ihn erstaunt betrachtend, in der Hand, wobei er leise prüfend mit den Fingerspitzen den grünen, leuchtenden Stein berührte. Kaum war das geschehen, so schien es ihm, als höre er den Fisch sprechen. Einer Torheit solcher Annahme war er sich nicht mehr bewußt, denn er hörte die Worte innerlich in sich, und es waren diese: «Schau dich um, dort auf der Höhe steht ein Serail! Siehst du es?»

Der Fischer schaute sich um. Er kannte seine Heimat wohl, und da war niemals auf der Höhe ein Serail gewesen; ja, es war kaum eine Höhe irgendwo. Aber als er sich jetzt umschaute, war wirklich eine Höhe da und prunkte ein Serail auf dieser Höhe, das strahlte und war von einer Macht und Herrlichkeit, wie es kaum vorstellbar schien.

«In dieses Serail, das du dort oben siehst, gehe hinein!» hörte der Fischer in sich die Stimme, während die Finger auf dem grünen Stein ruhten. «Und am ersten Tor wirst du deinen Freund finden, ihn, den die Wellen dir raubten. Er wird dich bitten zu bleiben. ‹Bleibe›, wird er sagen, ‹verlasse mich nicht, endlich sind Freunde wieder vereint!› – Du höre nicht auf ihn, gehe hindurch, durch das erste Tor hindurch! Am zweiten Tor dann wirst du deine Liebe finden, das Mädchen, das du vergeblich als Weib ersehntest und das von Räubern in die Berge entführt wurde. Sie wird dich anflehen: ‹Bleibe! Endlich sind Liebende vereint!› wird sie sagen; – du höre nicht auf sie, gehe durch das zweite Tor hindurch! Am dritten Tor – und hier ist deine schwerste Aufgabe – wirst du deine Mutter finden, sie, die vor so vielen Jahren verstarb. Und sie wird glückselig auf dich zukommen und sagen: ‹Bleibe bei mir, mein Sohn, endlich sind wir wieder vereint!› – Du höre nicht auf sie, gehe auch durch das dritte Tor! Dann wirst du in einer Riesenhalle stehen inmitten dieses Serails, und was dann geschieht, das wirst du sehen und erfahren.»

Dem Fischer zitterten die Hände – und so ließ er die Fingerspitzen von dem grünen Stein und hörte nichts mehr. Aber er behielt den Fisch in der Hand und ging auf dieses seltsame Serail zu, das vorher niemals dagewesen war, ging und ging – und wirklich, am ersten Tor, am gewaltigen Tor stand sein Freund. Wie schön, wie herrlich, dieses geliebte Gesicht wiederzusehen! Denn gibt es Größeres und Schöneres für einen Mann als die Freundschaft eines Mannes? Der Fischer schritt hindurch, und der Freund – ach, seine Stimme nur wieder zu hören! – bat und sagte: «Endlich, mein Freund, sehen wir uns wieder! Bleibe bei mir! Wie schön und wie gesegnet, zusammen zu sein!»

Der Fischer wollte stehenbleiben, da biß ihn der Fisch ganz fest in seinen Finger. Und da erinnerte er sich: Ich darf nicht stehenbleiben! Er ging hindurch, und das Erinnerungsbild des Freundes verblich, wie auch das Schattenbild des Tores schwand. – Der Fischer kam zum zweiten Tor.

Da stand sie, die er so heiß ersehnt hatte, stand dort in aller Lieblichkeit, halb verhüllt von Schleiern; doch ihre dunklen Augen sahen ihn an, und durch den Schleier sah er das Leuchten ihrer roten Lippen, und die Lippen sprachen: «Endlich, mein Geliebter, bin ich wieder bei dir! Oh, laß uns nun für immer zusammenbleiben!» – Die Füße schienen ihm im Boden zu wurzeln, er wollte die Arme nach ihr ausstrecken, – da biß ihn wieder der Fisch. Aman, er durfte nicht! Warum, wußte er zwar nicht, aber er durfte nicht! Als er den Fuß vorsetzte, um an ihr vorbeizugehen, war sie wie ein Wolkenbild verschwunden, und er schritt durch ein Schattentor, das hinter ihm verblich.

Jetzt aber kam das Schwerste – denn schon sah er sie, die Mutter, die verehrungswürdige Mutter, sie, vor der jeder in Ehrfurcht versinkt! Die Hände streckte sie ihm entgegen, und er hörte die Stimme, die seine Jugend behütet hatte, sagen: «Bleib bei mir, mein Sohn, da wir uns endlich wiederfanden!» An ihr vorbei trugen ihn die Füße nicht mehr. Da wand sich in seiner Hand der Fisch hin und her und her und hin, und seine Handfläche brannte wie Feuer, und er entsann sich: Es ist gesagt, du sollst weitergehen. So schritt er auch hier durch dieses qualvollste aller Tore hindurch, und das Bild der Mutter schwand dahin, wie die andern geschwunden waren, einem Nebelstreifen gleich. Hinter ihm war nichts, vor ihm eine riesenhafte Halle, in deren Mitte ungezählte Menschen versammelt waren, die viele wehende Banner trugen. Da war das vertraute Banner des Propheten, die große grüne Fahne, die heilige – aber die anderen? Siehe dort: weiße Banner, in deren Mitte wie Licht, das morgens strahlt, das Zeichen des Kreuzes leuchtete. Dabei standen Männer in silberleuchtenden Rüstungen, und die anderen, die das Banner des Propheten hielten, trugen dunkle Panzerhemden, geflochten nach der Art, wie sie in Arabistan hergestellt wurden.

Alle, die da waren, aber schauten auf ihn, den armen Fischer, in dessen Hand sich nun kühl und weich der Fisch schmiegte. In der Mitte aber stand einer, der rief: «Fischer, komm herbei, ich liebe die Fischer!» «Das war Ischahs Stimme!» sagte der Fischer bei sich und kam eilends herbei.

Aber in der Mitte derer, die das grüne Banner hielten, stand einer – oh, wie vertraut war dieses Bild: ein großer schöner Mensch mit dem so wohlbekannten Bart; der lächelte und sagte: «Mein Sohn, mein Freund, komm herbei, wir gehen zusammen!»

«Mohammed, es ist Mohammed!» rief der Fischer. «Oh, Allah, was geschieht mir?» Nahe Ischah stand er, nahe Mohammed auch und sah nun plötzlich die Banner wehen, mehr Banner noch, vieler Farben, und die Männer, die sie hielten, trugen Helme, wie er solche noch niemals gesehen hatte. Hinter diesen nun erhob sich einer ganz gewaltig, gekleidet in ein weißes Gewand, und er trug einen großen wallenden Bart, und er rief: «Komm auch zu mir, du Sohn des Propheten!»

Leise in sich, fast zweifelnd noch, sagte der Fischer: «Dieser muß Moischi sein.» Und da fühlte er in seiner Hand wieder des Fisches Brennen, und aus seinen Händen schlug eine Flamme empor, die warf sich vorwärts und hatte Gestalt dieses Fisches mit dem grünen Stein, war rötlich und klein, wurde größer, dehnte sich, bildete aus sich eine Brücke, schlank und leuchtend wie ein Fisch. Die Brücke schwang sich über einen gewaltigen Abgrund, und es setzten sich alle, die dort unter den Bannern standen, in Bewegung.

Als erster schritt über diesen Brücken-Abgrund fort Moischi und hinter ihm die Seinen. Danach kam Mohammed, und sie folgten ihm und riefen: «Yah, Mohammed! Yah, Mohammed!» Schweigend aber durch sie alle hindurch glitt Ischah. Und wo er vorbeiglitt, leuchteten die Rüstungen, leuchteten die Helme, und er wandte sich zurück zu dem Fischer, der reglos stand, und sagte: «Kommst du nicht mit uns, mein Bruder?» Dieser Stimme nicht zu folgen, war unmöglich; so ging der Fischer. Sie schritten über die unendlich weite Brücke, über unendliche Fernen in eine ewige Weite hinein, und es war, als singe unter ihnen jeder ihrer Fußtritte.

Am Abend dieses Tages fanden die Fischer dieser Küste einen Toten. Der lächelte und hatte die Hände über der Brust gefaltet. «Yah, Mohammed», sagten die Fischer ehrfürchtig. «Seht nur, seine Hände glänzen, als hielte er ein verborgenes grünes Licht – Yah, Mohammed!»

Der Traum des Kara Ali Baba imdatli

Vorbemerkung: Es ist bei dem nun folgenden Stoff folgendes zu bedenken und sich in das Gedächtnis zurückzurufen: Helena (griechisch Eleni), die Mutter des Kaisers Constantin von Byzanz (Kosename Costa), war die Tochter eines Gastwirts vom bythinischen Olymp. Im Jahre 306 kam der Tribun Constantius Chloros (der Bleiche), der in Diensten des Kaisers Maxinian stand, mit seinem Heer nach Bythinien und pflegte in der Schenke des Vaters der Eleni den Abendtrunk zu nehmen. Er liebte das Mädchen, das er von ihrem Vater verlangte, der aber wollte sie ihm nur als Eheweib geben, und so nahm der Tribun sie als sein Weib mit. Sie lebten glücklich und hatten den einen Sohn Constantin, den die Mutter, wie üblich, Costa rief. Nach einigen Jahren bot Maxinian dem Chloros an, sein Mitkaiser zu werden, wenn er seine Tochter ehelichen und die Schankwirtstochter verbannen würde. Eleni wollte der Erhebung des Constantius nicht im Wege stehen und ging im Jahre 310 freiwillig in die Verbannung, wurde aber zu gleicher Zeit Christin. Sie pilgerte nach Jerusalem, und die Legende will, daß sie dort unter dem auf Golgatha erbauten Venustempel ein Stück vom Kreuz des Herrn fand, das sie in mühevoller Reise zu ihrem Sohn brachte, der inzwischen Kaiser geworden war. Constantin erhob seine Mutter dann sogleich zur «Augusta», und als solche lebt sie weiter, die byzantinische Kaiserin, die Heilige Eleni.

Dieses ist der legendenhafte Hintergrund jenes Traumes vom Schnee des Olymp und den Rosen darin.

 

Kara Ali Baba war Einsiedler, münsevi. Er hatte sich in einer der Höhlen des Gandhar Dagh seine kleine Welt irdischer Art geschaffen, aber seine Gefährten waren die Bergfalken und eine Ziege, die sich vor langer Zeit dorthin verstiegen hatte und von Kara Ali als willkommene Milchquelle angesehen und behandelt wurde. Die Ziege teilte seine Höhle mit ihm, vermittelte ihm oft in besonders kalten Nächten Wärme und gab ihm zugleich das Gefühl der Geborgenheit, wie auch er der keçi. Kara Ali stieg nur dann tiefer hinab, wenn die keçi Futter brauchte. Aus den zähen Wurzeln der Bergheide hatte sich Ali eine Art Korb geflochten, und in diesem Behältnis brachte er seiner Ziege das würzige Grünzeug der Berge herauf. Sie wäre ohne ihn verhungert, denn damals hatte sie sich einen ihrer zierlichen Füße gebrochen und vermochte sich deshalb nicht mehr frei im Gestein zu bewegen.

Alles dieses war ja nun nichts Ungewöhnliches, denn solche als heilig angesehenen Männer hat es in unseren Bergen immer gegeben, und sie werden wohl auch – Inschallah – niemals aussterben. Das Besondere an Kara Ali Baba aber war, daß er Träume hatte, seltsame und fremdartige Träume, die ihn weit fortführten bis hin an die Ufer fremder Meere, die er noch niemals erblickt hatte, und zu Bergeshöhen, welche ihm unbekannt waren. Er lag dann völlig steif und regungslos auf seinem harten Lager und wurde in dieses Leben der sichtbaren und fühlbaren Dinge immer wieder nur durch seine keçi zurückgerufen, deren harte warme Zunge ihm das Gesicht leckte. Kara Ali, der ein kluger Kopf war, bereitete dieses Erwachen dadurch vor, daß er sich das Gesicht mit Salz einrieb, um solcherart der keçi die Lockung für ihre Lebenserweckung zu geben.

Um die ganze Wahrheit zu sagen, lag dem Ali so sehr viel nicht daran, aus seinem Traumland, dem weiten und unbegrenzten, wieder in die Enge des Körperlichen zurückzukehren, aber er fand, das Kismet habe ihm so viele Gnaden geschenkt, indem es ihm dieses Wandern des Geistes gewährte, daß er verpflichtet sei, sich dafür dankbar zu erweisen durch die Hilfe, die er den jungen Hirten gewährte, wenn sie heraufkamen, um ihn zu befragen über dieses und jenes, das ihnen Sorgen bereitete. Zwar erschien alles, was ihm vorgebracht wurde, dem Ali sehr bedeutungslos, aber ihm genügte das Wissen, helfen zu können. Da es sich zudem meist um verstiegene Herdentiere handelte, vermochte Ali den jungen Hirten des öfteren Felsspalten und Höhlungen zu zeigen, welche sie dann mehrfach mit Erfolg durchsuchten. Auf diese Art glaubte Ali dem Kismet zurückzuzahlen, was es ihm an Freiheit und jener herrlichen Gabe der Bergeinsamkeit schenkte. Kara Ali Baba war ein glücklicher Mensch und blieb es auch bis zum letzten bewußten Gedanken seines irdischen Lebens, bis der Traum begann.

Das war so: an diesem Tage hatte von früh bis Abend ein heftiger Sturm um die Felsen des Gandhar Dagh getobt, und es wurde sehr kalt. Kara Ali Baba hatte sich in seine verschiedenen Felle gewickelt und die keçi zu sich herangezogen, um sich und sie zu wärmen. Er rieb sich das Gesicht nicht mit Salz ein, weil er sicher war, in solcher Kälte nicht zu träumen, und schlief bald ein. Unmittelbar bevor ihm der Schlummer alles Denken auslöschte, schoß dieses eine ihm noch durch den Sinn, fast wörtlich solcherart: «Sie sagen, auf dem Olymp bei Burssa gäbe es immer Schnee – ob das wohl wahr ist? Kälter als hier kann es dort auch nicht sein.» Und dann schlief er ein. Aber er fror, oh, wie er fror! Denn er stand im Schnee und rief mit starker Stimme: «Wo bin ich?» Antwort kam sogleich – oder war es der Sturm vom Gandhar Dagh, der die Antwort heulte? «Olympos! Olympos!» klang es um Ali in allen Tonarten des Bergsturmes. «So bin ich auf dem Olymp Bythiniens?» glaubte Ali vor sich hin zu flüstern, aber er mußte wohl lauter gesprochen haben, als er annahm, denn eine dunkle Frauenstimme sagte deutlich: «Ja, auf dem Olympos von Bythinien bist du, gekommen, mir zu helfen, o Eremitos.»

Seltsam nun war es, daß Ali, der nicht das Griechische verstand, wußte, diese Frau dort, die wie aus dem Schnee erstanden war, spräche Griechisch zu ihm und er verstände doch jedes ihrer Worte. Er dachte auch gar nicht darüber nach, ob sie wohl sein Türkisch verstehen werde, vielmehr schien es ganz natürlich, daß sie sich verstanden, er und diese unverschleierte Frau, deren Züge voll von Ruhe und Kraft waren. Sie hatte das Wort «helfen» ausgesprochen, und eben dieses war es, was Ali, mit dem Beinamen imdatli, der Helfende, sogleich packte. «Dir helfen?» sagte er eifrig. «Nenne mir, was ich tun kann, und es ist auch schon geschehen!» Sie wies auf den Schnee zu ihren Füßen, und da erst bemerkte Ali, daß in all das Weiße eingebettet etwas Bräunliches sichtbar wurde. Die Frau sagte: «Das Holz, siehst du, Eremitos, das muß ich zu meinem Sohn Costa in seine Stadt bringen, denn er bedarf dieses Holzes, um darauf seinen Thron zu bauen, der noch nicht ganz fest steht. Ich habe das Holz bis hierher gebracht, wo ich geboren bin, denn du mußt wissen, daß ich Eleni bin, die Tochter des Gastwirts dort unten, wo es keinen Schnee mehr gibt. Aber es ist mir aufgegeben, dieses Holz über den Berg hier durch den Schnee zu bringen, hinunter bis zum Meer, und von dort kann es dann schwimmen. Denn Einer ist, der wird die Strömung solcherart leiten, daß es richtig hingelangt zu Costa, meinem Sohne.» – «Und soll ich dir dieses dein Kismet ein kleines Stück weitertragen helfen, o Herrin Eleni? Ich tue es gerne, wolle es mir glauben.» Sie stand im Schnee und sah ihn an, blickte ihm in die Augen, schien ihm hinunterzusehen bis in das heiße Herz des Helfers. «So ist es. Das eben wurde dir bestimmt. Wir nennen es Tychi, aber wie man es auch bezeichne, es ist das gleiche und kommt immer aus der Hand des Ewigen, einem Strome gleich, und fließt von da in die Herzen der Menschen. Darum, Eremitos, kamst du heute hierher zu mir.»

Ali beugte sich tief und hob das Stück Holz aus dem Schnee auf. Es sah nicht besonders schwer aus, dennoch brauchte er seine ganze Kraft, um es bewegen zu können, und der Schweiß tropfte ihm von der Stirn, als er es endlich auf die Schulter hob. Kaum aber lag es dort, wo er schon Steinbrocken getragen hatte, als es zu drücken begann, immer stärker zu drücken, so daß Ali sich nur keuchend den Weg durch den Schnee erkämpfte. Er sagte zwischen mühsamen Atemzügen: «Wie aber, Herrin Eleni, konntest du auf deinen zarten Schultern diese gewaltige Last tragen?» Sie lächelte, und Ali wurde es seltsam zumute, als er das vertrauende Lächeln eines Kindes auf diesem reifen und edlen Antlitz sah. «Ich hatte Hilfe», sagte sie geheimnisvoll, halb flüsternd. Wie er so mühsam unter seiner Last dahinschritt, die immer schwerer zu werden schien, blickte er sich einmal nach der Frau um, die ihm langsam folgte. Da erschrak er tödlich, denn er sah, daß die Spur seiner Füße sich mit Blut füllte, das von dem Holz herabtropfte. Er schrie auf und ließ das Holz fallen, schrie: «Kan-aman, aman-kan!» Elenis Lächeln vertiefte sich, und sie sagte heiter: «Wo siehst du denn Blut, Eremitos? Rosen sind es, schaue nur hin, es sind Rosen! Habe ich nicht recht?» Und sie ließ sich im Schnee nieder, sammelte die Rosen zusammen, band einen Kranz davon, den sie mit einem ihrer langen Haare befestigte, und hängte ihn an dem Holz auf. Das Holz aber schien jetzt federleicht geworden zu sein, denn es hob sich ihrer Hand entgegen, als wolle es den Rosenkranz begrüßen. «Nimm es auf, Eremitos, es wird dich nicht mehr drücken, nun es mit Rosen geschmückt wurde.»

Ali hob das Wunderholz, dem Befehl gehorchend, wieder hoch, und es lag auf seiner Schulter, als sitze eine Taube dort oben. Eleni ging jetzt neben ihm, und in unglaublich kurzer Zeit langten sie am Meeresufer an, so als würden sie getragen. Da wagte Ali die Frau zu fragen: «Dieser dein Sohn Costa, von dem du sprachst, wo befindet er sich! Und warum bedarf er dieser Thronstütze, Herrin Eleni?» Sie sagte, wie halb aus einem Schlummer sprechend: «Er befindet sich jetzt schon nicht mehr unter denen, die wir lebend nennen, aber sein Thron steht nur noch für kurze Zeit, und er muß gestützt werden. Danach kommen dann deine Freunde, Eremitos, und werfen ihn nieder, den schönen Thron von Costa – aber den anderen Thron, den können sie niemals niederwerfen, denn der ist im Erdmittelpunkt gegründet. Wirf nun das Holz in das Meer, Eremitos – du wirst sehen, es schwimmt!» Ali tat, wie ihm geheißen wurde, und dann schwamm das geheimnisvolle Holz dahin, aufgerichtet, so daß der Rosenkranz über den Wellen schwebte.

Ali aber, der Eremit, wachte aus diesem Traum nicht mehr auf, sank vielmehr in den großen tiefen Traum, den manche «Tod» nennen, der jedoch nur eine andere Art des Lebens ist, eine unvergänglichere. Da er ein Helfender gewesen war, ein Reiner und ein Starker, durfte er, als die Engel an der Brücke, die von Messerschärfe ist, ihn befragten nach seinem Leben, weitergehen in das große Licht, darin nur die nicht geblendet werden, deren Augen durch Tränen des Mitleids mit dem Menschenleid geweiht sind. Auf seiner Schulter aber war ein tiefes Mal eingebrannt, und es geschah, daß es manchmal leuchtete, wenn ein Gerechter wieder über die Schwertbrücke schritt.

Er wußte nun auch, wer jene Eleni gewesen war und wer ihr Sohn Costa, obgleich er ihn unter den Beglückten vergeblich suchte, unter jenen, die Allahs Nähe genießen und dadurch ewig jung bleiben. Auch wußte er von dem Rosenkranz und dem blutenden Holz – wußte alles, denn denen, die in Allahs Nähe sind, bleibt nichts mehr verborgen. Doch da er ein Helfer war, es immer blieb und nichts anderes zu sein anstrebte, war ihm noch ein geringer kleiner Menschenschmerz geblieben, der ihn peinigte und nicht ganz glückselig sein ließ. Als einmal ein Engel an ihm vorbeistrebte, einer jener Vielbeschäftigten, die zwischen den Menschen und Allah Botschaften zu vermitteln haben, packte Ali ihn an einem Zipfel seines lichten Gewandes und hielt fest, ehe der Engel sich wieder losmachen konnte. Ärgerlich, aufgehalten worden zu sein, fragte der Engel: «Was willst du denn noch? Hast du nicht schon alles?» Ganz bescheiden, wie es sich großen Herren gegenüber zu sprechen gebührt, sagte Ali: «Ich schon, Erhabener – aber meine keçi nicht!» Tief betroffen vergaß der Engel seine Eile, denn dieses war etwas ganz Neues: um einer Ziege willen aufgehalten zu werden – «Djanum! Was ist es denn mit deiner keçi, du Anspruchsvoller?» Ali besann sich, dachte, diesem mußt du es jetzt ganz beweglich darstellen, sagte ernsthaft: «Es ist dieses, Erhabener, wolle Geduld haben mit deinem Diener! Meine keçi und ich, wir lebten zusammen in einer Höhle des Gandhar Dagh, und sie gab mir Wärme wie auch Milch, ich ihr Futter. Nun ich nicht mehr da bin, muß die Arme verhungern. Ist das gerecht, Erhabener? Auch sie ist ein Geschöpf Allahs, ein treues und bescheidenes, begehrte nichts als Bergkräuter – und soll nun verhungern! Was, Erhabener, hältst du davon?»

Es ist hier zu bemerken, daß jetzt nicht nur jener so eilige Engel den Worten Alis lauschte, sondern eine größere Menge von anderen Engeln, die ebenfalls eifrig zuhörten. Man darf nicht vergessen, daß die Engel meist sehr schwierige Aufgaben zu erledigen haben und daß es für sie eine wahrhafte Erholung bedeutet, einmal um das Schicksal einer Ziege befragt zu werden. So ergab es sich dann, daß unter den verschiedenen Engeln, deren Beschäftigungsart sich aus den Farben ihrer Gewänder erkennen ließ und die nun deshalb einen schönen, blumengleich bunten Haufen bildeten, ein lebhaftes Hin und Her begann, bei dem Ali gar nichts mehr zu sagen hatte. Um die ganze Wahrheit zu sagen: die Engel langweilten sich meist, auch dann, wenn sie es scheinbar eilig hatten, denn die Beschwernisse der Menschen, die sie schon seit Jahrmillionen nicht mehr verstanden, waren ihnen eben ganz einfach langweilig. Hier aber gab es endlich einmal etwas Neues, nämlich eine Ziege. Viele von ihnen sahen sich zum erstenmal diesen Ali an, der ihnen solcherart die Langeweile vertrieb, und fast jeder schenkte ihm ein Lächeln, was immerhin Jahrtausende frohen Lebens bedeutet. Aber keiner befragte ihn mehr um die keçi, dazu waren sie viel zu beschäftigt mit ihrer beglückenden Beratung. Der eilige Engel – war er doch der erste, der diese schöne Luftblase ergriffen hatte im Vorbeifallen – sagte ernsthaft: «Was glaubt ihr, meine Brüder, sollen wir die keçi hier heraufholen und uns allen ewig und ewig Milch der Bergkräuter geben lassen oder sollen wir sie dort unten füttern mit Bergkräutern und sie so lange, lange am Leben erhalten? Was meint ihr, was geschehen sollte?»

Die Engel überlegten lange hin und her und vergaßen dabei Ali noch mehr als zu Beginn dieser ganzen Angelegenheit. Er aber meldete sich zum Wort einfach dadurch, daß er wieder den Eiligen am Gewand zupfte. Der wischte ihn ärgerlich beiseite, merkte dann erst, wer es war, der sich in Erinnerung brachte, und sagte herablassend: «Nun, was hast du vorzuschlagen, Ali münsevi?» Ali räusperte sich, was man auch im Paradies vor einer längeren Ansprache zu tun gezwungen ist, und brachte bescheiden vor: «Die Erhabenen verkennen das Wesen einer Ziege, vermutlich, weil die Erhabenen kaum noch jemals mit ihr in Berührung kamen – habe ich recht? Sie gehört nicht zu den Obliegenheiten der Erhabenen – oder irre ich?» Ihm wurde völlige Zustimmung und zugleich die Aufforderung zuteil, allen Wissensmangel der Engel durch seinen menschlichen Wissensreichtum auszugleichen. Hier erweist es sich nun, was es bedeutet, ein Engel zu sein. Denn diese vielfarbigen Engel, arbeitend im Auftrage der höchsten Weisheit, zeigten sich bereit, dem zu lauschen, was Ali vorzubringen hatte aus seinem Wissen um die Ziege, sowohl als Wesen an sich wie auch als Teil der allgemeinen Schöpfung Allahs. Es bleibt tief bedauerlich, daß von diesem Ziegenvortrag Alis nichts erhalten ist, denn wie vieles wäre für die Hirtenwelt daraus zu lernen gewesen! Ist es nicht so?

Hier bleibt uns nur zu berichten, daß die keçi Alis, die arme, verlassene, hungernde und klagende, sich urplätzlich von einer vielfarbigen Wolke umfangen fühlte, die bunter war als der leuchtendste Sonnenuntergang auf Bergeshöhen, und dann innerhalb dieser Wolke lange schwebte, sehr lange, sich dann aber urplötzlich auf einer Weide befand, dergleichen sie noch niemals gekostet hatte. Es ist verständlich, daß in einem Paradies, in dem die Quellen ewig fließen, die Blumen ewig blühen, sich auch die Geschöpfe Allahs befinden, die ewig lieben, ewig singen und sich vermehren. Da sind die Pferde, die edlen, die Hunde, die treuen, und die prächtigen Adler der Berge sowie alle Vögel. Aber eine keçi, eine bescheidene milchgebende Bergziege, war noch niemals dort gewesen. Als nun die Engel in jener farbenreichen Wolke Alis Ziege heraufgeholt hatten, geschah es, daß sie vor Schreck eine Zeitlang keine Milch hergab, was die Engel schwer enttäuschte und wofür sie Ali mit Vorwürfen überschütteten. Er aber ließ es sich nahezu lachend gefallen und vertröstete sie, indem er mahnte, dem erschreckten Tier einige Jahrtausende Zeit zu lassen – und alles würde bald sein, als habe die keçi immer hier oben gelebt. Einer der Engel wurde daraufhin als Beobachter der Ziege beigeordnet, und genau wie Ali gesagt hatte, geschah es. Der Engel kam in höchster Aufregung herbeigeflattert und verkündete glückselig: «Süd, süd werior – keçi süd werior!» Hierauf fanden sich alle Engel zusammen, um dieses Wunder nahe zu betrachten, und holten Ali herbei, er solle die kostbare Milch in einer Schale aus Bergkristall sammeln, was er bereitwillig tat.

Alle Engel tranken aus der gleich dem Morgenlicht strahlenden Schale, und jetzt ereignete es sich, daß von den jüngeren Engeln einige nicht warten wollten, bis die Reihe an sie kam, sondern die Schale den anderen aus den Händen rissen. Als der eilige Engel, jener, der wohl eine Vormachtstellung irgendwelcher Art hatte, dieses Verhalten bemerkte, ging ein so strahlendes Leuchten über seine Züge, daß Ali, bei seiner keçi hockend, davon fast geblendet wurde. Es war nämlich geschehen, daß die Engel sich nicht vollkommen benommen hatten, nicht so, wie es als vollkommen angesehen wurde, und wenn das möglich war, dann konnte die Langeweile, welche der Vollkommenheit Begleiterin ist, nie mehr im Paradiese ihre Herrschaft ausüben, wie sie das bisher getan hatte.

Es gab von nun an nichts mehr, was sich Ali hätte wünschen können, das ihm der Eilige nicht zu Gefallen getan hätte – alles, aber auch alles konnte er haben, der imdatli Ali. Wie es nun aber so ist, wenn einem das erhabenste Kismet auch noch dieses gewährt, sich einen Engel zu verpflichten – dann, ja, dann ergibt es sich, daß man leider wunschlos ist! Ali hatte seine keçi, und trotz des Aufenthaltes im Garten des Paradieses roch sie immer noch wie eine Bergziege, brachte sie Ali die geliebten Berge wieder näher. So sagte er einmal vor sich hin: «Oh, den Ruf eines Bergfalken zu hören, statt des Singens der Vögel – welch ein Glück wäre das!» Da nun die Engel auch die Gedanken zu hören vermögen, ward dem Eiligen Alis Wunsch mitgeteilt, und noch am selben Abend – zeitlich gerechnet nach Menschenart –, als ein Falke von einem Pfeil getroffen niedersank, holte ihn ein ganz junger Engel herauf. Ali hörte – ja, hörte er recht? Es war der Ruf des freiesten Vogels der Berge – und nun blieb nicht einmal mehr eine Sehnsucht für Alis Herz zurück! Ist das Glück? Es ist das Paradies – aber Glück der Menschenseele? Nicht fragen, niemals zu viel fragen! Allah preisen und nicht fragen!

Das Mädchen Aymineh und die harten Schuppen

Das Mädchen Aymineh war von tiefster Verlassenheit. Es besaß nicht Vater noch Mutter, wußte nichts von einem Heim oder Geschwistern, und alles, was es von Freundlichkeit und Güte kannte, bestand in der leckenden Zunge der Schäferhündin, die sie von klein auf beschützte und vor allen Angriffen bewahrte. Das war hoch oben in den Karstbergen von Anadolu, wo die großen weißen Schäferhunde daheim sind, vor denen sich alle Talbewohner fürchten. Die Hündin rief ihre Herrin «Vefa», das heißt Treue, und den Namen verdiente sie wahrhaft, doch hätte auch Aymineh so genannt werden können, denn als ein Steinwurf derer, die in Furcht lebten, die Hündin Vefa erblinden ließ, da war es Aymineh, die sie hegte und pflegte, auch späterhin führte. Doch darf nicht vergessen werden, daß eines Tieres Blindheit nicht der des Menschen gleicht, denn Allah hat seinen Tieren Sinne gegeben, die Er den Menschen vorenthielt, und Vefa konnte Aymineh noch immer vor möglichen Gefahren hüten, die in den Bergen, wenn es dunkelt, stets drohen. Vor einer Gefahr aber vermochte Vefa nicht zu behüten, das war die des Menschenblickes. Es geschah, daß Aymineh und Vefa sich zu nahe zu dem großen Nomaden-Han hinwagten, und hier sah ein Herdenführer das Mädchen, das nun in seinem zwölften Jahre stehen mochte und wie ein Ifrit der Berge anzuschauen war. Bekleidet war Aymineh mit einigen Schaffellen, die sie mit den langen Dornen des Judasbaumes zusammengesteckt hatte. In gleicher Weise war auch ihr langes Haar am Kopf befestigt, und zwar so, daß es ihr nicht über die Augen falle und die Sicht hindere, was eine Gefahr bedeutete für den Bergsteiger. Sie war braungebrannt an allen Teilen ihres Körpers, die trotz der Felle sichtbar blieben, und jeder mochte sie für einen Hirtenbuben der Berge halten, die wild sind und ungezähmt, ihren gefürchteten Hunden gleich.

Dieser große Herdenführer sah auf das Mädchen nun aber nicht etwa mit Begehren, ja, er glaubte sogar, es mit einem Buben zu tun zu haben, da der schreckenerregend große weiße Hund mit den blutgetränkten blinden Augen sich dicht an der Seite des jungen Wesens hielt. Nein, diesem großen Herdenführer ging es um etwas ganz anderes. Er litt Pein, tiefe, furchtbare Pein, denn er stand unter einem Fluch. Zwar war er der Reichste weit und breit, und das Gebiet, das er beherrschte, vermochte auch der schnellste Reiter nicht zwischen Sonnenauf- und -untergang zu durchreiten, aber all dieses war wie Asche auf seiner Zunge, denn der Fluch, unter dem er stand, war das Schreckbild seines Sohnes. Dieser Knabe, nein, dieses schreckliche Wesen, hatte bei der Geburt den armen Leib der Mutter, die ihn gebar, in blutige Fetzen gerissen und war dann, noch mit diesem Mutterblut befleckt, im Zelt herumgekrochen, anzuschauen wie eine riesenhafte Eidechse. Der große Herdenführer, der sein junges Weib geliebt hatte, wollte das Grausen töten mit einem Schlage seiner kleinen Axt, mit welcher er räuberische Wölfe vernichtete, da klang urplötzlich in seinem Inneren eine starke Stimme, die nur er vernahm, die sagte: «Osman, mein Diener, töte nicht deinen Sohn, warte und harre! An ihm hat sich deines Reichtums Fluch erwiesen, der einem eklen Tiere gleich auf dem Boden kriecht, mit Blut besudelt. Doch wenn du einen Knaben siehst mit einem blinden Hund, dann nimm sie beide mit dir, und du wirst sehen, was du sehen wirst. Gehorche, mein Diener, und lerne erkennen, wie reich Armut zu sein vermag!»

Osman hatte Gehorsam geleistet, wenn er auch niemals begriff, was da vom Reichtum und der Armut gesagt worden war, und hatte seitdem Ausschau gehalten nach dem verheißenen Knaben mit dem blinden Hunde. Und jetzt – Allah Kerim – standen sie vor ihm, diese zwei ihm Verheißenen! Er vermochte nur mühsam seine Freude zu verbergen, eilte zu Aymineh heran, wich aber vor dem wilden Knurren des blinden Hundes sogleich wieder zurück. Aus einiger Entfernung sprach er dann mit einer Stimme, die bebte vor Ergriffenheit: «Gesegneter Knabe, seit Jahren halten meine Augen Ausschau nach dir, und jetzt endlich ist die ersehnte Stunde gekommen. Sei der Augenblick vielfach gesegnet, da dein Fuß diesen Boden betrat, und gib mir Antwort im Namen dessen, der mir dein Kommen verhieß: willst du mit mir kommen in mein Zeltlager, drei Tagereisen von hier, und ein unglückliches Geschöpf pflegen, das nicht Tier ist, nicht Mensch, und das anzurühren sich niemand getraut?»

Wenn dieser Osman jahrelang nachgedacht hätte, um einen Weg zu ersinnen, wie er das Herz der jungen Aymineh rühren könne, er würde sich nichts Besseres haben ersinnen können. Sie trat näher zu Osman heran, und als Vefa knurrte, beugte sie sich nieder, legte ihren Kopf auf den der Hündin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Hündin drehte den Kopf, leckte Ayminehs Hand, die an ihrer Seite hing, und verhielt sich von da an ruhig, stand aber, eng an Ayminehs Beine geschmiegt, neben ihr. Sie fragte eifrig mit der rauhen Stimme jener, die bei allen Wettern in den Bergen nächtigen: «Du sagtest, Herr, es sei ein unglückliches Geschöpf, das sich niemand anzurühren getraue?» Osman sah in die Augen, die zu ihm aufgeschlagen waren und in denen ein tiefes Fragen stand zugleich mit dem, was er nur als Mitleid zu deuten vermochte. Augen, dachte der unglückliche reiche Mann, die dem Bergwasser glichen in ihrer klaren Tiefe. «So ist es, Knabe, niemand will es anrühren, das arme Wesen.» Aymineh sah ihn an, und dabei streichelte sie unbewußt den großen weißen, struppigen Hund, was die Hirten, die im Zelt herumsaßen, mit Erstaunen betrachteten, da sie noch niemals gesehen hatten, daß sich einer der gefürchteten Hunde berühren ließ. Es war dieses der Grund, warum von nun an das junge Wesen, das als Hüterbube angesehen wurde, von allen Hirten mit einer Art abergläubischer Furcht betrachtet wurde: ein Waldmensch, ein Bergmensch, ein Ifrit!

Aymineh fragte Osman halblaut: «Warum will niemand das arme Wesen anrühren, Herr?» Die Antwort rang sich qualvoll aus dem Herzen des reichen Mannes. Er senkte den Kopf und sagte kaum vernehmlich: «Weil es Schuppen hat, harte, schneidende Schuppen, und wenn eine Menschenhand sich ihm nähert, stellt es die Schuppen hoch, und die schneiden.» Aymineh nickte verstehend, sagte: «Weil es merkt, wie sie sich fürchten. Alle Tiere wissen, wenn ein Mensch sich fürchtet, und sind dann böse, weil die Angst ihnen schlecht riecht.» Sie sprach den Dialekt der Bergleute, und die Hirten redeten in gleicher Art mir ihr, wie nicht verwunderlich, da ihr Geschäft sie immer mit dem Bergvolk zusammenführte. Als sie von der Angst sprach, die den Tieren schlecht riecht, erhob sich ein alter Hirte vom Boden, kam herbei und fragte: «Wird dein Hund, o Knabe, mir erlauben, ihn zu berühren, da ich noch niemals vor einem Tiere Angst hatte?» Aymineh sah sich den alten Hirten an, und von Blick zu Blick ging eine Botschaft verwandter Art. Sie lächelte dem Hirten zu und sagte ruhig: «Warte einen kleinen Augenblick, Babadjim, ich will es ihm sagen, weil er oft vor einer Berührung erschrickt in seiner Blindheit, wenn er nicht gewarnt wird.»