Anderswo leuchten die Straßen - Isabel Kobus - E-Book

Anderswo leuchten die Straßen E-Book

Isabel Kobus

4,9

Beschreibung

Eine trockene Alkoholikerin sucht die Erleuchtung. Ein alter Mann will einer Ausreißerin helfen und lernt wieder zu fühlen. Das Feuerzeug eines Fremden lindert den Schmerz einer liebeskranken Frau. Die Storys von Isabel Kobus handeln von Sehnsucht und den Dämonen der Liebe, von Einsamkeit und der Suche nach Glück - und von der leuchtenden Schönheit des Augenblicks.

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Seitenzahl: 80

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Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung.

Novalis

Well I'm at the station

And I can't get on the train.

Tom Waits, "Blind Love"

Inhalt

Erleuchtung

Lena

Eisblumen

Ein schöner Abend am Kanal

Das Haus

Dreams & Ashes

Katzenkopf

All die sanften Sterne

Der Jesus-Typ

Romy

Erleuchtung

Seit ich nicht mehr trinke, sauge ich den Anblick fremder Männer in mich ein. Dieser hier hat wirres Haar und einen stoppeligen Bart wie ein kiffender Hippie. Aber seine blauen Augen sind klar. Es ist das zehnte oder elfte Meeting der Selbsthilfegruppe. Er scheint schon länger dabei zu sein, war aber in den letzten Wochen in Kambodscha oder so unterwegs. Ist auf einem Boot den Mekong entlang gefahren und rundherum wurden die Regenwälder abgeholzt. Das erzählt er, ohne eine Miene zu verziehen. Als die Sitzung vorbei ist, steht er an der Tür und sieht mich an.

„Hast du die Gruppe vermisst, als du unterwegs warst?“

Wir laufen durch ein heruntergekommenes Wohngebiet.

„Nein“, sagt er und zupft an seinem Bart.

„Bist du öfter auf Reisen?“

Er nickt. Kein großer Redner. Vor einem dreistöckigen Altbau bleibt er stehen und kramt seinen Schlüssel hervor.

„Ich heiße Casper“, sagt er, „willst du mit hochkommen?“

Seine Wohnung ist noch unaufgeräumter als meine in den schlimmsten Zeiten. Durch die angegrauten Rollos fällt kaum Licht. Der einzige Stuhl ist mit Klamotten bedeckt. Ich setze mich auf die Matratze, die auf dem Boden liegt. Casper setzt sich neben mich und küsst mich. Er riecht nach Räucherstäbchen. Ein großer Küsser ist er auch nicht, aber seine Hand auf meinem Rücken fühlt sich warm an und irgendwie richtig.

Am Fußende der Matratze steht eine nasenlose Buddha-Statue. Daneben lehnt ein Karton an der Wand, auf dem mit gelber Tusche geschrieben ist: „You are right here right now“. Ich tippe auf Caspers nackte Schulter und frage: „Ist das da dein Motto?“

Er schweigt eine Weile und sagt dann: „Naja, ich versuch’s halt. Achtsam sein und so. Nur im gegenwärtigen Augenblick fühlt man sich mit allem verbunden.“

„Ich hab mich so gefühlt, wenn ich ’nen Liter Wein intus hatte“, sage ich.

„Na toll“, sagt er, „warum hast du dann aufgehört?“

„Kannst du dir denken“, sage ich, „die Scheiße geht ja nicht weg. Hast du getrunken oder was anderes?“

„Lass uns nicht über alten Mist reden.“

„Ach so, du bist ja in der Gegenwart.“

Er streicht mir durchs Haar, ohne mein Grinsen zu erwidern.

„Das ist das, was zählt“, sagt er.

Während ich mich anziehe, kramt er in einer Bücherkiste und drückt mir ein zerfleddertes Taschenbuch in die Hand.

„Hier“, sagt er, „der weiß, wie’s geht. Kannst du behalten“

Das Buch ist von einem Typen, der, dem Umschlagfoto nach zu urteilen, nicht mit übermäßigem Sex-Appeal gesegnet ist. Ich stecke es in meine Tasche. Mir hat schon lange keiner mehr was geschenkt.

Zu Hause dusche ich erstmal und checke meine E-Mails. Stefan hat sich nach drei Wochen wieder überlegt, dass er mich treffen will. Gleich sehe ich ihn vor mir, fühle seine Hände, seine Küsse. Ich mache ein paar Sit-ups. Bloß nicht anrufen. Männer wie ihn muss man zappeln lassen, das hab ich inzwischen verstanden. Ich hole das Buch aus der Tasche und blättere darin. Der Typ hat offenbar den Durchblick, wie man durch permanentes Gegenwärtigsein so richtig glücklich wird. Das erste Kapitel handelt davon, wie man sich selbst beobachtet. Als ich damit durch bin, beobachte ich bei mir das Bedürfnis, mir ein oder zwei Fläschchen kühlen Pinot Grigio einzuverleiben. Ich schließe das Buch und versuche, an Casper zu denken. Komischer Typ. Eine Ablenkung, immerhin. Man muss nehmen, was kommt.

In der Woche habe ich eine Menge im Büro zu tun und falle abends todmüde ins Bett. Nach drei Tagen kann ich nicht mehr widerstehen und rufe Stefan an. Er redet am Telefon eine halbe Stunde lang von den Konzerten, die er diesen Monat noch spielen muss. „Die letzten Tage hätte ich Zeit gehabt“, sagt er, „aber du hast dich ja nicht gemeldet.“

„Na dann viel Spaß mit deinen Groupies“, sage ich und lege auf.

Jedes Mal, wenn ich mit ihm rede, bekomme ich Durst. Ich laufe durch die Wohnung, immer hin und her, so wie der Tiger im Zoo, neulich im Fernsehen. Schließlich packe ich mir Schminke ins Gesicht und gehe tanzen. Es sind nur die üblichen traurigen Gestalten im Club. Der Typ mit der Elvis-Tolle fragt mich, ob ich mit ihm nach Hause gehe. Aber dazu kann ich mich nicht aufraffen. Ich stelle fest, dass ich mich aufs nächste Meeting freue. Nein, eigentlich auf Casper.

„Hast du das Buch gelesen?“, fragt er.

Wir liegen auf Caspers Matratze und gucken aus dem Fenster in die langsam vorübergleitenden Wolken.

„Dieser Typ hatte doch ein Erweckungserlebnis“, sage ich, „der war doch irgendwie erleuchtet. Wie kann man sowas Leuten beibringen wollen?“

„Du musst es versuchen“, sagt Casper, „das ist alles. Immer wieder versuchen.“

„Versuchst du es immer wieder?“

„Ja“, sagt er und küsst mich. Er kriegt’s schon besser hin als am Anfang.

Ich lese das zweite Kapitel und versuche, meine Gefühle zu beobachten. Sie sehen aus wie Schlingpflanzen. Immer öfter verabrede ich mich mit Casper. Sein Körper ist warm und irgendwie stabil. Mit der Zeit wird er redseliger, erzählt stundenlang von irgendwelchem Achtsamkeitszeug, während ich auf seiner Bettdecke liege, die von Woche zu Woche schmuddeliger wird.

„Immerhin hilft es gegen den Durst, dieses Im-Jetzt-Sein“, sage ich. Unter seinem Bart breitet sich ein Lächeln aus.

An einem Donnerstagabend klingelt es an meiner Tür. Stefan drängelt sich an mir vorbei ins Zimmer. Seine schwarzen Locken hängen offen auf die Schultern. Er trägt sein rotes Rockstar-T-Shirt.

„Scheiße“, sagt er, „die hat mich sowas von reingelegt, die blöde Kuh.“

Offenbar hatte er zwischendurch was mit einer anderen. Das ist nichts Neues, aber sie ist jetzt schwanger. „Nicht von mir“, sagt er, „ich glaub nicht, dass das von mir ist.“

Ich beschließe nichts zu sagen. Er drückt mich gegen den Küchenschrank und küsst mich. Wie jedes Mal fließt dieses heiße Gefühl durch meinen Körper wie ein Meer aus Whisky.

„Du bist die einzige, mit der ich klar komme“, sagt er.

Beim nächsten Meeting erzähle ich nicht viel, weil ich nicht drauf komme, wie ich mich eigentlich fühle. Das sage ich Casper, als wir danach auf seiner Matratze liegen. Dass ich dauernd an Stefan denken muss, sage ich ihm natürlich nicht.

„Nimm’s einfach an wie es ist“, sagt Casper, „das steht doch auch in dem Buch.“

„Ich glaub, ich hab keinen Bock mehr auf diesen spirituellen Kram.“

„Warum?“, fragt Casper.

„Vielleicht brauche ich keine Erleuchtung.“

„Im Leben bekommst du immer das, was du brauchst.“

Ich nehme seine Hand und lege sie zwischen meine Beine.

Zu Hause lese ich das nächste Kapitel. Hab ja nichts anderes zu tun. Da geht’s um etwas, das Schmerzkörper heißt und bei mir ziemlich ausgeprägt zu sein scheint. Ein wütendes Biest, das immer etwas anderes will als ich. Was trinken zum Beispiel. Oder bei Stefan sein. Ich lege mich aufs Bett und versuche, in mich reinzusehen und den Schmerzkörper zu erkennen. Ich glaube, er hat Haare. Oder Stacheln. Mir wird kalt, und ich rufe Casper an.

„Glaubst du an Seelenwanderung?“, frage ich ihn.

Er hat sein Bein über meine Hüfte gelegt und wir blicken uns in die Augen.

„Wenn ich was glauben kann, dann am ehesten daran“, sagt er.

„Was ist denn die Seele?“, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. „Fühlst du das nicht? Ich meine, wenn du ganz gegenwärtig bist, fühlst du dann nicht deine Seele?“

„Ich weiß nicht“, sage ich.

„Du musst es versuchen“, sagt er. Seine Fingerspitzen streichen über meine Wirbelsäule und ich presse mich an ihn.

„Ich fühle meine Seele manchmal auch nicht“, sagt er, „dann hab ich Albträume, dass sie weg ist. Einfach weg.“

Stefan kommt wieder unangemeldet vorbei.

„Das mit dem Baby hat sich erledigt“, sagt er und fängt an mich auszuziehen. Wir haben Sex in der Küche und dann nochmal im Bett. Er bleibt über Nacht. Als ich am Morgen die Kaffeemaschine befülle, umfasst er mich von hinten.

„Wir könnten mal zusammen ins Kino gehen“, sagt er.

„Klar“, sage ich.

„Ich will gern öfter mit dir zusammen sein“, sagt er.

Ich schließe die Augen und verschütte Kaffeepulver.

„Was ist denn aus dem Baby geworden?“, frage ich.

„Ach lass doch den alten Scheiß“, sagt er.

In den nächsten zwei, drei Wochen gehe ich zweimal mit Stefan ins Kino, einmal kochen wir zusammen, sehen fern und schlafen danach zusammen ein wie ein altes Ehepaar. Ich beginne zu begreifen, wie das mit der Gegenwärtigkeit läuft: Man muss einfach nur den Moment auskosten. Manchmal denke ich, dass ich vielleicht sogar eine Seele habe. Das Display des Telefons zeigt ein paar Mal Caspers Nummer an. Ich rufe nicht zurück.

Der Sommer neigt sich schon dem Ende zu. Ich gehe wieder zum Meeting. Caspers Bart sieht zauseliger aus als vorher, seine Augen sind gerötet. Er bleibt kurz an der Tür stehen, als ich rausgehe.

„Ich hab ’ne Menge um die Ohren“, sage ich.

Er wendet seinen Blick ab.

„Verstehe“, sagt er, „pass auf dich auf.“

Regen prasselt ans Fenster. Stefan liegt auf dem Rücken neben mir, mein Kopf an seiner Schulter.

„Hör mal“, sagt er, „ich will eine Tour mit der Band machen.“

„Prima“, sage ich schläfrig.

„Naja, das ist ein Haufen Arbeit“, sagt er, „ich bin ja gar nicht mehr richtig zum Üben gekommen, weil wir dauernd zusammen sind.“

Dauernd, das scheint mir zwar übertrieben, aber ich sage: „Dann sehen wir uns halt seltener.“