Angekommen - Priyanka S. Ramdheen - E-Book

Angekommen E-Book

Priyanka S. Ramdheen

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Beschreibung

Angekommen: Eine Reise zu meiner Inneren Weiblichkeit. Aufgewachsen in Südafrika mit indischen Wurzeln, fest verankert in einer konservativen Gemeinschaft, großgezogen von einer alleinerziehenden Mutter, kämpft sich ein Mädchen ihren Weg zur Frau. Denn Priyanka weiß, dass der Körper, der ihrer ist und eben doch nicht, nicht zu ihrem Bewusstsein passt. Auf ihrem Weg zur radikalen Geschlechtsumwandlung begegnet sie Menschen, die sie und ihren Weg ablehnen, aber auch Menschen, die sie aufbauen und lieben werden. Es ist ein Weg der Extreme, ein Marathon der Ups und Downs. Eine Geschichte, die erzählt werden muss, damit die Menschen den Mut fassen, sich und andere so zu akzeptieren und anzunehmen, wie sie sind.

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To those who were, whose stories echo through time. To those who are, crafting their own chapters. To those who are yet to become – may this journey inspire your unwritten tales!

This book is dedicated to the ever-evolving tapestry of lives.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog: Der Spiegel (22)

Glitzernde Faszination (5)

Grannys kleines Mädchen (6)

Wer ist falsch? (7)

Seltener Besuch

Kleine Bardame

Unklare Identität (8)

Spott tut weh

Peinlicher Friseurbesuch

Mit den Mädchen

Mobbing (9)

Träumerei in der Disco

Erste Wut des Bruders (10)

Entsetzter Pageboy

Das Ende einer Freundschaft (12)

Voyeur

Meine zweite Familie

Ein Lied nur für mich

Sein Mädchen (13)

Emanzipation

Eine Mädchenfreundschaft

Was war nur mit mir? (14)

Zu Besuch bei meinem Großvater (15)

Genau dahin! (16)

Spielball der Liebe

Druck von allen Seiten

Nicht mehr zu ertragen

Ein weiterer Selbstmordversuch (17)

Eine andere Identität

Im geschützten Raum

Eine neue Welt in Johannesburg (19)

Romeo

Geschwister, so vertraut und fremd

Eine neue Welt

Die Hautfarbe wird zum Problem

Ich bin deine Schwester

Mein Geheimnis

Du kannst durchstarten

Im Kleid auf die Party

Stimmübungen (21)

Bunte Bekenntnisse

Wie ich leben wollte (22)

Wo ist mein Platz? (23)

Coming-out

Unverständnis

Angekommen bei Santanah (24)

Doppelleben

Brutaler Überfall (25)

Die Gefahr erkennen

Noch eine Schwester (26)

James

Rupaul (28)

Romeo stirbt

Ein wirklicher Freund (29)

Mein Vater ist tot

Der Mann in meinem Leben? (31)

Ich bin eine Tochter (38)

Eine Vertraute

Im Stich gelassen (40)

Der falsche Arzt

Ungewollte Veränderung

Der Weg zur Frau (41)

Die Transition geht weiter (42)

Die große OP

Meine Mutter

Telefonate ohne Austausch

Zurück als Frau

Neue Wahrhaftigkeit

Metamorphose

Abschied von der Vergangenheit

Verschiedene Reaktionen (43)

Kontext

Ausprobieren

Damian

Kein Respekt

Mein Traummann (45)

Andere haben auch dunkle Seiten

Mein Bruder

Unangenehme Erfahrungen (46)

Noch heute fühle ich die Erschütterung

Es gibt Unterschiede (47)

Reduziert (48)

Schwierige Offenheit

Als Frau unter Frauen (49)

Ein Exkurs

Zurück in Südafrika (51)

Ich helfe meiner Mutter

Die schwarze Schlange

Epilog: Mutter-Tochter-Gespräch

Vorwort

Dieses Buch erzählt als autobiografische Empfindungsreise die authentische Geschichte einer Frau, die schmerzlich erfuhr, dass es ebenso wichtig ist, sich in der eigenen Haut wohlzufühlen wie durchzuatmen. Es ist ein Buch darüber, sich selbst treu zu bleiben, in den Spiegel zu schauen und zu lieben, was man sieht. Es wird bei jedem Anklang finden, der seinen Weg allein gehen, Selbstzweifel, Geschlechtsidentitätskrisen und Mobbing bewältigen musste. Das Gefühl der Verlassenheit ist allgegenwärtig, wenn man erfährt und glaubt, ein sozialer Außenseiter zu sein.

„Werde, wie du gemeint bist“, ist ein Satz, der mich auf meinem Weg begleitet hat.

Dieses Buch kann Betroffene unterstützen, die Wahrheit ihres Wesens anzunehmen und sich selbst zu befähigen, sich mit Liebe und Frieden leidenschaftlich in Selbstachtung und Würde auszuleben. Es ist ein Buch, das besagt, dass es auf dieser Erde genug Platz gibt, damit wir alle angenehm leben und einander respektieren können, unabhängig davon wie wir uns der Welt präsentieren.

Noch eine Erfahrung möchte ich persönlich weitergeben. Durch die Unsicherheit angesichts der Tatsache, dass ich schon sehr früh merkte im falschen Körper gefangen zu sein, habe ich häufig meinen Wert als Frau, die ich in mir spürte, von der Validierung der Männer abhängig gemacht. Das geschah meist über körperliche Anziehungskraft. Eine Frau ist aber mehr als ihr Körper. Ich war immer mehr als meine rein körperliche Ausstrahlung. Ich war Frau im Denken, Fühlen und Handeln. Doch die Bestätigung als Frau habe ich meist durch meinen Körper erfahren. Das hat den Männern eine Macht über mich gegeben, die mich oftmals in ungute bis gefährliche Situationen gebracht hat und die sie sich nicht scheuten, schamlos auszunutzen. Es hat lange Jahre gedauert und viele schmerzliche Erfahrungen gekostet, bis ich mich davon befreien konnte.

Wenn meine Geschichte helfen kann, dass Menschen selbstbewusster und liebevoller mit sich selbst umgehen, lassen sich viele schmerzliche Erfahrungen verhindern, die ich noch machen musste zu einer ganz anderen Zeit und in einem ganz anderen Land.

Priyanka S. Ramdheen

Hinweis: Die Zahlen hinter den Überschriften auf den folgenden Seiten beziehen sich auf mein jeweiliges Alter.

Prolog: Der Spiegel (22)

Zuerst erschien es mir wie ein sich schnell wieder verflüchtigender Augenblick. Angezogen von einem Leuchten, denn mehr war es anfangs nicht, schaute ich noch einmal genauer hin und hielt diesmal ihrem, meinem Blick stand, verharrte, solange es ging, in diesem brüchigen Moment. Nun sah ich mich, eingefasst von dem rahmenlosen zwei Meter hohen Spiegel, der von einem verzierten goldenen Ständer gehalten wurde. Ein Adrenalinstoß durchzuckte mich vom Kopf bis in die großen Zehen und gleichzeitig kehrte Ruhe ein; eine tiefe innere Ruhe, wie ich sie noch nie empfunden hatte.

Es war mein freier Tag. Ich hatte ausgeschlafen, dann ein Brot mit Erdnussbutter gegessen und lümmelte mich nun mit einer Tasse Tee auf dem Bett, das ich mir – wie dieses Appartement in Johannesburg – mit Romeo, meinem acht Jahre älteren besten Freund, teilte. Wir hatten uns bei der Ausbildung in der Schule erst vor wenigen Monaten kennengelernt. Romeo war der Erste gewesen, der mich als Marc kennenlernte, mich ansah und mich sehen konnte, so wie ich wirklich war. Romeo war androgyn und bestärkte mich darin, am Wochenende in Frauenklamotten auf Partys zu gehen. Das gefiel mir. Allein hätte ich mich das nie getraut. Das waren die Momente, in denen ich mich Santanah nannte – nach dem Vorbild einer starken Frau, die ich einmal getroffen hatte.

An diesem Tag langweilte ich mich fürchterlich in dem kleinen Studio und hatte weder Lust, mich an die Hausaufgaben zu setzen, noch zu waschen oder gar die Wohnung zu putzen. Das Badezimmer um die Ecke war dreckig. In der Kochnische stapelte sich das schmutzige Geschirr. Das Bett war ungemacht. Es war kalt in der Wohnung und ich fröstelte ein wenig. Ich hatte nur eine kurze Hose und ein T-Shirt an und wollte mir einen Hoodie überstreifen. Barfuß schlurfte ich zum Schrank, der in der Ecke stand. Als ich die knarrende Tür öffnete, stach mir die goldene Schrift auf der schwarzen Tülle des Lippenstifts, der Romeo gehörte, ins Auge. Das ist nicht meine Farbe, dachte ich kurz, als sich auch schon meine Finger nach dem Lippenstift ausstreckten. Romeo stand dieses leuchtende Rot. Seiner dunklen Haut kamen wärmere Töne entgegen.

Die kühle Plastikhülle brannte in meiner Hand. Hier könnte ich mich trauen. Ich wäre geschützt in diesem schmuddeligen Raum in dem heruntergekommenen Betonkomplex, den wir unser Zuhause nannten. Keiner würde es sehen. Warum es also nicht wagen? Es wäre lustig. Ich betrachtete den Lippenstift und meine Hand. „Grazil“ hatte Romeo Tage zuvor meine Finger genannt. Die grazilen Finger einer eleganten Frau.

Ich näherte mich dem Spiegel und streifte eine freche Welle meines langsam wachsenden Haares aus dem Gesicht. Ich sah mir noch einmal in die Augen. Vorsichtig nahm ich die Kappe ab und drehte das Rot nach oben. Und schon bewegte sich meine Hand in Richtung meiner vollen Lippen. Langsam und erwartungsvoll öffnete ich den Mund, führte die cremige Stiftspitze entlang der Oberlippe hin und her, zog sorgfältig die Kontur nach, presste sodann die Lippen zusammen und rollte sie aufeinander ab. Als letztes zog ich die Unterlippe mit der roten Farbe nach.

Im Glanz meiner erstrahlten Augen sah ich SIE. Das erste Mal in meinem Leben erkannte ich mich selbst. Die Person im Spiegel war ich! Und ich wusste: Ich würde diese Frau sein.

Glitzernde Faszination (5)

Fünf Jahre alt zu sein, nicht viele Freunde zu haben und mit Mutter und Bruder in einem Zimmer zu leben, hinterlässt einen neugierigen Geist, mit dem es viel zu entdecken gibt, wenn die Zeit reif ist.

Mein fünfjähriges Ich suchte nicht nur nach Möglichkeiten, sich zu beschäftigen, sondern war auch verblüfft und verwirrt darüber, wie ich mich im Inneren fühlte.

Meine Mutter, mein Bruder und ich bewohnten zu dieser Zeit ein Zimmer bei einer sehr netten Familie. Die anderen erzählten und lachten unten. Mich jedoch langweilten die Gespräche der Erwachsenen und so fand ich mich schließlich in unserem Schlafzimmer wieder.

Was sollte ich tun? Zwischen dem Modeschmuck und Make-up meiner Mutter fiel mein Blick auf die oberste Schublade ihres Schminktischs. Da gab es bestimmt interessante Dinge zu entdecken!

Wenn Mutti, vorzugsweise an den Wochenenden, vor dem dreigeteilten Spiegel saß und sich langsam mit dem Mascara die Wimpern tuschte, die Haut mit Puder bedeckte, sorgfältig die Lippen mit dem von ihr favorisierten, hellen Ton nachzog und schließlich einen Tupfer Rouge über ihre Wangen verteilte, stand ich staunend neben ihr. Ich war fasziniert von ihrer Verwandlung und wollte Teil dieses Prozesses sein. Dann, wenn sie sich ganz fein machte, legte sie sich noch ihren Schmuck aus Glas, Plastik und Goldimitat an, als wären es Brillanten. Ganz andächtig streifte sie die billigen Armbänder über ihre Hände mit den sorgsam lackierten Fingernägeln, legte die Kette mit den schwarzen runden Perlen um ihren Hals und klippte die Ohrringe über ihre Ohrläppchen. Dann klappte sie die zwei Außenflügel des Spiegels in einem bestimmten Winkel zusammen, so dass sie sich prüfend von allen Seiten betrachten konnte.

An diesem Mittag stand die Schminkkommode aus dunkelbraunem Holz mit ihren zwei Schubladen oben, direkt auf dem Tisch vor dem Spiegel. Die obere Schublade erschien mir besonders verheißungsvoll, denn ich wusste, diese besondere Schublade barg all die Preziosen, die ich an meiner Mutter so bewunderte. Langsam näherte ich mich dieser geheimnisvollen Schublade, strich einmal langsam mit meinen Fingern über das anmutende, glatte Holz und zog sie vorsichtig auf. In der Mitte stach mir die pinkweiße Quality Street Blechdose ins Auge, in der sich keine Toffees mehr, sondern all die so kostbare Schmuckutensilien befanden. Achtsam öffnete ich die Dose und sah mir andächtig den glitzernden Inhalt an. Armbänder, Gold und Silber, bunte Ketten, Ketten aus gefärbtem Glas und Ohrringe verschiedener Größen: all diese Kostbarkeiten glitzerten mir in diesem kleinen blechernen Behältnis entgegen.

Nahezu eine Aufforderung für mich, etwas anzulegen. Etwa zuerst den grünen Ohrring links und den goldenen rechts? Dann griffen meine Finger immer mehr, einmal die schwarze Kette, im nächsten Moment die klirrenden Armbänder. Im Spiegel verfolgte ich meine Verwandlung und war begeistert.

Plötzlich entdeckte ich den Lippenstift. Die viel zu großen Armreifen klimperten melodisch, als ich meine Hand nach dem verheißungsvollen Zauberstift ausstreckte. Vorsichtig zog ich die Plastikhülle ab. Und schon im nächsten Moment strich ich ausgelassen mit dem cremigen Rot über meine Lippen. Es war ein richtiger Rausch: mein Bildnis im Spiegel, das kühle Gefühl des Schmucks auf meiner Haut und die tiefroten Lippen, die mich so aussehen ließen wie Mutti, wenn sie in den Spiegel sah. Das war ein Spaß!

Ich hatte sie vor lauter Aufregung gar nicht bemerkt. Aber im nächsten Moment stand meine Mutter lachend hinter mir. Sie fasste meine Schultern und ihr Kopf erschien neben meinem im Spiegel. Aus ihrem breiten vollen Mund kam ein fröhliches Glucksen. Mein kleiner Streich amüsierte sie: „Was machst du denn da, mein Lieber? Na, jetzt geh ins Bad, mach dich sauber und komm runter zum Essen.“

Grannys kleines Mädchen (6)

Im Nachbarhaus wohnte eine ältere Frau mit ihrem Sohn und ihrer Tochter, die ihre drei Kinder allein großzog. Wir nannten sie Granny, was Großmutter bedeutete. Granny mochte mich sehr und passte oft auf uns auf. Ich liebte sie, sie gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Sie sah, was mit mir war und beschützte mich, wo sie konnte. Wann immer es ging, suchte ich ihre Nähe. Granny war eine gutmütige Person. Sie trug immer ihren Sari und schnupfte Tabak. Für uns Kinder war sie die Größte.

Granny half meiner Mutter bei unserer Erziehung, mit einer Weitsicht, in einer Zeit, in der es für das, was mit mir war, nicht wirklich eine Begrifflichkeit gab. Ganz selbst-verständlich teilte sie meinen Bruder und mich wie Bruder und Schwester ein. Mein Bruder spielte meist im Garten. Mich hingegen nahm sie immer beschützend an ihre Seite. Sie verstand mich völlig selbstverständlich in meinem Sein, so wie ich war.

Bei ihr durfte ich ein kleines Mädchen sein. Sie bestärkte mich darin, indem sie mich drinnen Hausarbeit machen ließ und die Jungen zur Gartenarbeit nach draußen schickte. Ich fühlte mich so wohl an ihrer Seite.

Grannys Enkeltochter Molly behandelte mich wie eine Schwester. Wir beide hatten viel Spaß, tauschten Kleider und kümmerten uns gemeinsam um die Belange im Haus. Für sie war mein feminines Verhalten ganz natürlich. Sie akzeptierte mich als ihre Schwester.

Ganz anders verhielt sich Grannys Sohn. Er war ein Alkoholiker und kam selten nach Hause. War er aber da, so störte er sich an mir und daran, dass seine Mutter sich zu viel um mich kümmerte. Er war unsicher, stand seiner Mutter sehr nah und unsere Anwesenheit und die Aufmerksamkeit, die sie uns schenkte, verärgerten ihn sehr. Wenn er ins Haus kam, hatten wir zu gehen. Er teilte uns dann auf die eine oder andere charmante Weise mit, dass wir zu verschwinden hatten. Wir gehörten nicht zur Familie und würden das auch nie tun.

Wer ist falsch? (7)

Es war mein erstes Schuljahr. Ich war gerade sieben geworden und freute mich, zu entdecken wo mein Platz in der Welt war.

Eines Morgens, als ich gerade dabei war mich anzuziehen und mir mein Oberteil glattzustreichen, ging meine Mutti vor mir in die Hocke und sah mir fest in die Augen.

„Pravindra“, sagte meine Mutter mit fester Stimme, in der Ärger, aber auch Verunsicherung mitschwangen, „Pravindra, du gehst heute nicht in die Schule. Wir müssen zum Familiengericht. Dort wirst du auch deinen Vater treffen.“

Meinen Vater. Eine Mischung aus Aufregung und Verunsicherung überkam mich. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde. Weder hatte ich eine Vorstellung von dem Ort noch von ihm. Klar wusste ich, dass alle Kinder einen Vater hatten. Mein Vater war nur nie dagewesen. Ich kannte ihn nicht, hatte ihn nie gesehen. Mutti hatte immer nur verächtlich mit den Schultern gezuckt und die Augen verdreht, wenn von ihm die Rede war, was selten vorkam. Andere Kinder in der Schule lebten mit beiden Eltern zusammen oder besuchten ihre Väter an den Wochenenden und in den Ferien.

Ich hatte kaum Zeit darüber nachzudenken, da saßen wir auch schon in dem schmutzigen Bus auf dem Weg zu diesem Familiengericht. Die Fahrt dauerte sehr lang und in der Zeit dachte ich die ganze Zeit: Was sollte ich sagen? Wie wird er sein? Wird er sich freuen, mich zu sehen? Worum hat er mich nicht besucht? Wie er wohl aussieht?

Als der Bus in der Stadt ankam, liefen wir zehn Minuten, in denen mich meine Mutter wortlos an der Hand hinter sich herzog. „Ich sollte nicht so trödeln“, war das Einzige, was sie immer wieder sagte.

Wir erreichten ein mächtiges graues Gebäude mit schmuddeligem Stuck. Der Linoleumboden glänzte klinisch rein und scharfes Putzmittelgeruch brannte mir in der Nase, und ich musste blinzeln, weil sich meine Augen mit Wasser füllten. Jetzt nur nicht weinen, betete ich. Angst überkam mich, und ich merkte, wie ich mich an der Hand meiner Mutter festkrallte. Wie würde mein Vater sein? Wie sollte ich ihm begegnen? Ich fröstelte. Die hohen Decken und die langen Flure, mit ihren unzähligen mächtigen Türen, gaben mir das Gefühl, winzig und bedeutungslos zu sein. Dann kamen wir zu zwei blank polierten Holzbänken. Auf der einen saß ein grimmig zu Boden schauender Mann.

„Hi Toni, das ist dein Sohn“, sprach Mutti den unfreundlichen Mann an. Und zu mir gewandt: „Pravindra, sei brav und bleib hier, bis ich uns im Büro angemeldet habe.“

Ich setzte mich angespannt und in ängstlicher Erwartung, was mein Vater nun machen würde, auf die Bank und betrachtete ihn verstohlen. Das Holz fühlte sich kalt unter meinen nackten Beinen an. Meine Hände kamen mir ungelenk und überflüssig vor. Ich steckte sie unter meine Beine und heftete immer wieder kurz den Blick auf diese fremde Gestalt mir gegenüber. Alles an ihm war abweisend. Er machte keine Anstalten, sich mir zu nähern oder mich zu umarmen. Vielmehr schaute er mich noch nicht einmal an.

In meiner schmucken Schüleruniform, meinem weißem Hemdkragen, der unter dem blauen Pullover hervorlugte, wusste ich, dass mein Aussehen tadellos war. Daran konnte es nicht liegen, dass der mürrische Mann mir gegenüber so versteinert dasaß.

Er war mir so fremd und wirkte so unnahbar. Sein perfekter Haarschnitt mit einer eleganten Welle wurde mit viel Gel in Form gehalten, er trug gutsitzende Kleidung und ich fand, dass er wirklich gut aussah. Toni, so hatte meine Mutter ihn monotonlos und doch vertraulich genannt, vermied den Blick in meine Richtung, schaute aber von Zeit zu Zeit auf, wenn Menschen den Flur entlangliefen. Dabei sah ich, dass seine Augen blutunterlaufen und voller Zorn waren. Richtete sich sein Zorn gegen mich? Oder war er betrunken? Mutter hatte immer gesagt, dass mein Vater zu viel Alkohol trinken würde. Und er hätte noch nie bezahlt.

Warum freute dieser Mann sich nicht, mich, sein Kind, zu sehen? Hatte er schon bei unserer Ankunft erkannt, dass etwas mit seinem Sohn nicht stimmte? Wie die anderen Kinder in meiner Klasse, die Mädchen, die es merkwürdig fanden, wenn ich lieber mit ihnen spielen wollte? Oder die Jungen, die mich immer wieder feixend aufforderten, mit ihnen Ball zu spielen? Ich fand das furchtbar und ließ mir stetig neue Ausreden einfallen, nur um nicht mitmachen zu müssen. Ich gehörte nirgends dazu. Spürte mein Vater, dass ich anders war? Schämte er sich für mich? Hatte er sich einen richtigen Sohn gewünscht? Und stattdessen so etwas wie mich bekommen? War das der Grund für sein Desinteresse oder vielmehr noch die zornige Zurück-weisung in seiner Haltung?

Mein Vater, der auch Vater meines drei Jahre älteren Bruders war, hatte meine Mutter in der Schwangerschaft mit mir verlassen. Er wusste nur, dass er noch einen Sohn bekommen hatte und sah erst heute, wie ich wirklich war. Dass etwas ganz falsch an mir war. Ekelte er sich vor meinem Anblick? Ganz sicher war ich ihm peinlich und er fand mich abstoßend. Kein Vater wünschte sich so einen Sohn! Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken, durch die kalte Holzbank, unter den blanken Linoleum-boden, tief in die allertiefste Tiefe der Erde, nur weg von hier.

Seltener Besuch

Nachdem ich meinen Vater beim Familiengericht gesehen hatte, fragte ich mich häufig, ob er jemals eine Rolle in meinem Leben spielen würde, oder ob ich ihn wenigstens wiedersehen würde. Nach unserer ersten Begegnung an jenem Tag bei Gericht, dauerte es nicht lange, bis mein Vater beschloss, uns mit einem Besuch in unserem Haus in Gadwal Road zu überraschen.

Zu dieser Zeit wohnten meine Mutter, mein Bruder und ich dort in einer kleinen Garage, die zu einem großen Haus gehörte. Von der Zufahrtsstraße aus führte eine Steile Einfahrt zu unserer Eingangstür. Wir spielten mit den Nachbarskindern vor der Einfahrt, als ein Auto vorfuhr. Sofort erkannte ich meinen Vater, als er ausstieg. Mein Herz machte Sprünge. Alle Kinder hatten einen Vater und nun kam mein Vater zu mir.

Was machte er hier? Wie sollte ich mich verhalten? Er schien glücklich und unsicher, mich zu sehen. Vielleicht kam er, um zu bleiben? Akzeptierte er mich?

Ich erschrak über meine Gedanken, ich wusste, dass er meine Mutter sehr verletzt hatte, wie konnte ich ihn da in meinem Leben haben wollen?

Mein Vater sah mich mit einem unsicheren Lächeln an. Auch ich wusste nicht richtig, wie ich mich verhalten sollte. Ich war sieben Jahre alt und hatte ihn nur einmal davor gesehen. Er hatte in der einen Hand eine Plastiktasche voll Obst und Gemüse. Die andere streckte er zu mir aus. Ich nahm sie freudig, und wir gingen Hand in Hand runter zu Mutti.

Doch als diese uns sah, schrie sie wütend: „Was willst du hier? Weg mit dir! Nimm alles mit und hau bloß ab!“

Ich konnte es nicht fassen: Meine Mutter war so unglaublich wütend. So hatte ich sie noch nie gesehen. Mein Vater bekam Angst. Das sah ich. Er kehrte um und ging mit seiner Tüte und meiner Hoffnung den steilen Hang wieder hinauf. Ich war sehr enttäuscht. Das war meine große Chance auf einen Vater gewesen und meine Mutter schickte ihn weg.

Kleine Bardame

Wenn es damals noch darum ging, mit kindlicher Neugier die Kostbarkeiten von Mutti auszuprobieren, so veränderte sich meine Einstellung schon wenige Jahre später. Irgendwann begriff ich intuitiv, dass ich kein Mädchen war, auch wenn ich diese Tatsache in ihrer Tragweite überhaupt noch nicht verstanden hatte.

Ich spielte gerne mit Kevin, dem sechsjährigen Jungen unserer Vermieter. Kevin war schön und wirkte auf mich sehr männlich. Er kleidete sich lässig, hatte große Zähne und schön geschwungene Lippen. Seine Augenlider hingen tief über den Augen und gaben nicht viel preis, darüber fielen seine dicken vollen Haare. Wir sahen uns oft „The High Chaparral“, eine Fernsehserie, an.

An diesem Nachmittag saßen wir in der Küche auf den roten Stühlen und spielten eine Szene in einer Bar nach. Es war unser Lieblingsspiel und sehr geheim. Ein Cowboy, den Kevin darstellte, kam in die Bar, hinter deren Theke ich bediente. Für mich war es selbstverständlich, dass ich ein Barmädchen darstellte. Und so hantierte ich mit unseren Gläsern auf dem Tisch, um meinen Gast mit dem gewünschten Getränk zu versorgen.

Und wie Barmädchen es eben tun, setzte ich mich sodann mit übereinandergeschlagenen Beinen auf seinen Schoß. Dabei umarmte ich ihn ganz selbstverständlich. Kevin ließ die Nähe zu. Es schien für ihn völlig normal. Mein Gesicht war ganz nah vor seinem. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut und beugte mich vor, um ihn zu küssen. Unsere Szene zerfloss in einem leidenschaftlichen Kuss. Ganz leicht und doch so intensiv. Ich war Kevins Mädchen. Und Kevin küsste sein Mädchen. Das konnten wir beide fühlen. Wir genossen unsere Verwandlung in ein liebendes Paar ab diesem Tag so sehr, dass wir uns immer wieder im Keller diesem leidenschaftlichen Spiel hingaben. Eine Leidenschaft, die der Heimlichkeit bedurfte. Das spürte ich ganz genau.

Unklare Identität (8)

Als ich zwei Jahre an unsere Schule ging, bekamen wir einen neuen Mitschüler, und tatsächlich spielte ich sehr gerne mit ihm, und wir unternahmen nach der Schule viel gemeinsam. Er war sehr freundlich. Da ich länger in diese Schule ging, konnte ich ihm bei einigen Dingen helfen. Er hatte keine Mutter. Eines Tages sagte er, er wohne in der Nähe. Ich spürte, dass er seinem Vater den neuen Freund vorstellen wollte. So wurde ich von ihnen zum Essen eingeladen. Sein Vater musterte mich verwundert. Meine Kleidung war immer tadellos. Dann schaute er zu seinem Sohn, der im Kontrast recht schlampig anmutete und fragte: „Warum kannst du nicht so auf dich achten?“ Ich meinte zu fühlen, dass der Vater auf mein Anderssein anspielte.

Ansonsten entwickelte sich meine unklare Identität in der Schule für mich immer mehr zum Spießrutenlauf. Ich hatte das Gefühl, mich überall durchzumogeln, nirgendwo richtig hinzugehören.

So vieles war mir peinlich. Mein ganzes Outfit war das eines Jungen: mein Haarschnitt, meine Schulkleidung. Solche Kleidung zu tragen war mir zutiefst unangenehm, weil es nicht mir entsprach. Ich bedauerte sehr, nicht Mädchenkleider oder Ohrringe tragen zu können. Alles war sehr ambivalent. Bemerkte jemand, dass ich wie ein Mädchen ging, so konnte das ein Kompliment oder sehr verletzend sein. Je nachdem, wer es sagte und wie es betont wurde. Denn eigentlich empfand ich es als großes Lob, wenn ein anderer mich als Mädchen identifizierte. Das entsprach meinem Fühlen und Denken. Doch meist wurden mir solche Bemerkungen nachgerufen, um mich zu verletzten, mich vorzuführen oder auf meine Kosten Spaß zu haben.

Meinem Bruder wurde ich zusehends peinlicher. Er ignorierte mich, wenn wir uns in der Schule begegneten, obwohl alle wussten, dass er mein Bruder war. Je älter ich wurde, umso mehr begriff ich, dass er mich nicht unabsichtlich übersah.

Das verstand ich unmiss-verständlich, als wir kurz vor den Ferien wegen einer Demonstration früher Schulschluss hatten und ich meinem Bruder und seinen Freunden hinterherlief. Zuhause nahm er mich in den Arm und war mir ein großer Bruder, doch als ich hier vor seinen Freunden seine Hand nehmen wollte, schüttelte er sie ab und fuhr mich leise zischend an: „Lass mich los!“

Einer seiner Freunde zog ihn prompt auf: „Du musst netter sein. Das ist doch deine kleine Schwester.“

Mein Bruder lief rot an, warf mir einen frustrierten Blick zu. Ich sah, wie er schluckte. Er schickte mich nicht weg, aber er versuchte mich so gut es ging zu ignorieren. Zumindest sagten seine Freunde vorerst nichts mehr. Einer musterte mich von Kopf bis Fuß und zuckte mit den Schultern. Sie wussten einfach nicht, was sie mit mir anfangen sollten.

Sie sahen auch, dass ich etwas merkwürdig war. In dem Moment wurde mir klar, dass ich Rücksicht auf meinen großen Bruder nehmen musste. Das war nicht immer einfach, und es machte mich traurig.

Spott tut weh

Ich konnte es nicht gut verstecken, ich war ein Kind und bewegte mich, wie ich mich fühlte. Wenn ich spielte oder rannte, dachte ich nicht groß darüber nach. Und so fiel ich ungewollt auf. Mein Gang, meinen Bewegungen, meiner Gestik und meiner Mimik passten nicht zu dem Körper, in dem ich steckte.

Nicht lange nachdem wir in der Gadwal Road gewohnt hatten, zogen wir in den Badulla Drive um, wo wir im Nebengebäude einer sehr liebevollen Familie mit vier Kindern wohnten. Sehr schnell verstanden die Kinder der neuen Familie, bei der wir wohnten, dass ich irgendwie anders war. Sie gingen sehr unterschiedlich damit um.

Kelly, die älteste Tochter der Familie, war mit ihren fünfzehn Jahren schon recht weit entwickelt. Ich war acht und bewunderte sie von ganzem Herzen. Sie war sehr hübsch mit ihren dunklen Augen und den langen, glatten, braunen Haaren. Besonders auffallend war ihre Nase, die ein wenig aufmüpfig nach oben wies. Kelly war sehr feinfühlig und offenherzig, aber nicht sehr feminin. Sie konnte burschikos auftreten und verschaffte sich mühelos Respekt, wenn es die Situation erforderte. Ich fühlte mich sehr zu ihr hingezogen, sie war eine gute Freundin und gefühlvolle Zuhörerin. Oft leistete ich ihr Gesellschaft, wenn sie noch Hausarbeiten zu verrichten hatte. Bei ihr fühlte ich mich geborgen. Kelly begegnete mir mit großer Empathie. Ich versteckte mein Anderssein nicht. Kelly verstand mich und schützte mich, wo immer es nötig war.

Eines nachmittags bügelte Kelly gerade in der Küche des gegenüberliegenden Haupthauses. Ich konnte das von unserem Fenster aus sehen und beschloss, zu ihr zu gehen. Als ich die Tür zum Hof öffnete, sah ich schon den 12 jährigen Tom, ihren jüngeren Bruder, auf dem Asphalt mit seinen Murmeln spielen und ahnte nichts Gutes. Seine große dunkle Mähne warf einen Schatten auf die bunten Glaskugeln. Ich musste direkt an ihm vorbeigehen, wenn ich ins Haupthaus wollte. Und das gefiel mir gar nicht. Aus seiner Perspektive würde er genau auf meine Beine schauen. Seine spöttische Reaktion schien mir vorhersehbar.

Meine Beine waren mir bereits in diesen jungen Jahren sehr wichtig. Täglich verwendete ich Zeit mit der Pflege meiner Beine. Mit meinen kurzen Hosen, die ich in meiner Fantasie immer wie ein Kleid trug, fühlte ich mich den Mädchen am nächsten. Mein tänzelnder Gang akzentuierte meine zur Schau getragene weibliche Note. Meist hatte ich meinen Spaß dabei und dachte im ersten Moment, wenn ich die Reaktion in den Augen der anderen aufblitzen sah: Jetzt erst recht!

Doch an diesem Tag beschlich mich schon beim Hinaustreten aus dem sicheren Zuhause die Angst, was mich nun erwarten würde. In der Schule hatte ich Erfahrung mit der Verwunderung und der Ablehnung der Jungen. Hier in meinem Zuhause fühlte ich mich jedoch größtenteils geschützt. Tom war in dieser Hinsicht speziell. Immer wenn er sich unbeobachtete fühlte, feixte er mir nach. Wie würde es diesmal ausgehen? Sollte ich vielleicht lieber im Haus bleiben und meinen Besuch bei Kelly auf später verschieben? Nein, ich wollte jetzt zu ihr und ging beherzt aus der Tür.

Tom sah mich und Spott blitzte mir aus seinen Augen entgegen. Sofort sprang er auf und tänzelte unbeholfen auf der Stelle, um meinen Gang zu imitieren. Ich zögerte merklich, hin und her gerissen zwischen Verzweiflung und trotzigem Mut. Im gleichen Moment, als ich schon den Rückzug erwog, öffnete sich mit einem Schwung die Küchentür des Haupthauses und Kelly erschien mit erhobenen Armen wie eine Furie, so wütend war sie auf ihren Bruder: „Tom, du Idiot, hör sofort auf damit!“

Im nächsten Augenblick stand sie schon drohend neben ihm und knuffte ihm unsanft in die Rippen. „Du blöder Kerl, warum machst du das?“, schrie sie ihn an.

Dann drehte sie sich um und nahm mich in den Arm, um mich zum Haus zu führen. Hinter uns hörte ich Tom munter weiter feixen, was mich aber jetzt nicht mehr störte.

Peinlicher Friseurbesuch