Anjas Lernjahre oder die fünf Stufen zur Amoral - Clifford Chatterley - E-Book

Anjas Lernjahre oder die fünf Stufen zur Amoral E-Book

Clifford Chatterley

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Beschreibung

Nach dem Unfalltod ihrer Mutter ist Anja, eine talentierte junge Pianistin, von einem Tag auf den anderen auf sich allein gestellt. Nach Ansicht ihres Klavierlehrers hat sie genug Talent, es ganz an die Spitze zu schaffen. Doch als sie sich entschließt, diesen Weg zu gehen und dafür alles einzusetzen, weiß sie noch nicht, was der Preis ist, den sie dafür zu zahlen hat. Sie muss sich nicht nur der Vergangenheit ihrer Mutter stellen, die ihre Schatten in ihr junges Leben wirft, sondern auch sich selbst. Ist sie bereit, die Grenzen bürgerlicher Moral zu überschreiten und den Weg konsequent zu gehen, der sie an die Spitze führen wird? Begleiten sie die junge Anja, ihre intime Freundin Susi und ihren Klavierlehrer Kai auf ihrem Weg nach oben, über die fünf Stufen zur Amoral.

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Clifford Chatterley

Anjas

Lernjahre

oder

Die fünf Stufen zur Amoral

Inhalt

Vorwort

Prolog: Allein zu Hause

Stufe 1: Unschuld

Formalitäten

Beim Klavierlehrer

Ein Montagmorgen

Entscheidungen

Bei der Frauenärztin

Stufe 2: Erweckung

Vom Mädchen zur Frau

Von Frau zu Frau

Beim Notar

Erste Erfüllung

In der Klavierstunde

Hinter den Spiegel schauen

Stufe 3: Lust

Die Reifeprüfung

Allein zu Hause

Eine Party der anderen Art

Der Klavierwettbewerb

An der Rinne

Mit Bernd ...

… und Anita

Stufe 4: Versuchung

Die Probe aufs Exempel

Im Club

Bei Kai

Verlust der Unschuld

Der Preis

Stufe 5: Erfolg

Das Klavier

Probeaufnahmen in Hamburg

Die Villa in Blankenese

Anjas Initiation

Der Morgen danach

Paul

Epilog

Impressum

Vorwort

Nach dem Unfalltod ihrer Mutter ist Anja, eine talentierte junge Pianistin, von einem Tag auf den anderen auf sich allein gestellt. Nach Ansicht ihres Klavierlehrers hat sie genug Talent, es ganz an die Spitze zu schaffen. Doch als sie sich entschließt, diesen Weg zu gehen und dafür alles einzusetzen, weiß sie noch nicht, was der Preis ist, den sie dafür zu zahlen hat. Sie muss sich nicht nur der Vergangenheit ihrer Mutter stellen, die ihre Schatten in ihr junges Leben wirft, sondern auch sich selbst. Ist sie bereit, die Grenzen bürgerlicher Moral zu überschreiten und den Weg konsequent zu gehen, der sie an die Spitze führen wird?

Begleiten sie die junge Anja, ihre intime Freundin Susi und ihren Klavierlehrer Kai auf ihrem Weg nach oben, über die fünf Stufen zur Amoral.

Prolog: Allein zu Hause

Anja stand schon eine Weile vor dem Spiegel und betrachtete ihr Abbild. Das schwarze Kleid, das sie trug, ließ ihr leicht überschminktes Gesicht im fahlen Licht der Neonröhre noch blasser und fragiler erscheinen, Ihr blondes schulterlanges Haar, das für den Anlass zu einem strengen Knoten aufgebunden war, lugte unter dem Pillbox-Hut hervor, an dem vorne ein kleiner schwarzer Schleier festgesteckt war. Eine schwarze Stola über die Schultern, schwarze Strümpfe steckten in hohen ebenso schwarzen Pumps. In der Wohnung war es absolut still.

Anja mochte vielleicht eine halbe Stunde regungslos so dagestanden haben. Dann ließ sie als Erstes die schwarze Stola von ihren Schultern auf den Boden gleiten. Sie wandte sich ab, ging in den Vorraum der Wohnung zurück und kickte die Schuhe achtlos in zwei verschiedene Ecken. Nur in Strümpfen ging sie ins Wohnzimmer weiter, nahm den Hut vom Kopf und warf ihn auf das helle Sofa. Sie wartete. Sie ging zum Kühlschrank, nahm eine Dose Coca-Cola heraus, öffnete sie, setzte sie direkt an ihren Mund und nahm einen großen Schluck. Immer noch Stille.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer stellte sie die halbvolle Dose auf den niedrigen Couchtisch, streifte das kurze Kleid über ihren Kopf und warf es über die Lehne eines der Stühle, die am Esstisch standen. Sie wartete wieder, hakte dann routiniert ihren schwarzen BH auf und ließ ihn zu Boden fallen. Sie setzte sich dann auf das helle Sofa und legte ihre langen schlanken Beine auf den davor stehenden Couchtisch, griff nach der Packung Zigaretten, die sie in einer Ritze der Polsterung versteckt hatte, schüttelte eine davon und das Feuerzeug heraus und rauchte sich in aller Ruhe eine an. Nach ein paar tiefen Zügen nahm sie die halbvolle Coladose zur Hand und streifte die Zigarette an der Öffnung ab. Das Zischen der heißen Asche in der Limonade war das einzige Geräusch. Sonst Stille.

Sie rauchte die Zigarette fertig und steckte den Stummel in die Getränkedose. Dann begann sie, den Strumpf an ihrem linken Bein hinunterzurollen. Sie zog das Bein an sich, rollte den Strumpf über ihre Zehen und warf ihn mitten auf den handgeknüpften Teppich, der die Mitte des großen Wohnzimmers beherrschte. In aller Seelenruhe zog sie sich dann den zweiten Strumpf vom rechten Bein, ihre Fingernägel rissen dabei ein Loch in das hauchzarte Gewebe. Sie beachtete es nicht, als sie den Strumpf vor dem Sofa zu Boden fallen ließ. Sie wartete, starrte zur Decke des Zimmers. Stille.

Zwei weitere Zigaretten später stand sie auf, sie trug nur noch einen hauchzarten schwarzen String. Auf dem Weg zurück in ihr Zimmer streifte sie auch den Slip ab, ließ ihn über ihre schlanken Beine zu Boden gleiten und stieg einfach heraus. Schließlich stand sie wieder vor dem Spiegel im harten Neon-Licht. Sie betrachtete lange ihren nackten mageren Körper, die hervorstehenden Hüftknochen, die Rippen, die sich unter ihren kleinen festen Brüsten deutlich abzeichneten. Sie entfernte als letztes die Spange aus dem Knoten, der ihr Haar hochgesteckt hielt, schüttelte ihren Kopf, bis es weich auf ihre Schulten fiel und ihr mageres, aber hübsches Gesicht einrahmte.

In der Wohnung herrschte immer noch Stille. Langsam begann sie zu begreifen: Die schneidende Stimme, die sie jeden Augenblick angstvoll erwartete, würde sie nie wieder peinigen.

Die 17-jährige Anja war gerade vom Begräbnis ihrer Mutter in die Wohnung zurückgekommen, die sie mit dieser gemeinsam bewohnt hatte.

*

Schließlich brachen sich all die aufgestauten Emotionen des Tages Bahn. Sie warf sich auf ihr Bett und ließ ihren Tränen eine Weile freien Lauf. Während der Verabschiedung in der Aufbahrungshalle hatte sie nahezu mühelos die von ihrer Mutter anerzogene Härte aufgebracht, ihre Rolle als nächste trauernde Anverwandte perfekt zu spielen. Blass geschminkt, aber gefasst, hatte sie die Beileidskundgebungen all der Menschen aus dem beruflichen Umfeld ihrer Mutter über sich ergehen lassen, mit denen sie nach ihrem Unfalltod so plötzlich konfrontiert war. Anja wusste natürlich, dass ihre Mutter „in der Nachtgastronomie“ arbeitete, sie hatte sich aber Anja gegenüber nie auf Details dieser Arbeit eingelassen. So war es für das Mädchen ein ziemlicher Schock gewesen, dass ihre Mutter es als „Cosima“ in einem Wiener Nobelbordell zu einiger Bekanntheit gebracht hatte und auch mächtige Männer zu ihren Stammkunden gezählt hatte, die ansonsten sehr darauf bedacht waren, sich in der Öffentlichkeit das Image eines untadeligen Lebenswandels zu geben.

Ihren Vater hatte Anja nie kennengelernt, Fragen nach ihm war ihre Mutter Doris, wie sie mit bürgerlichem Namen hieß, stets ausgewichen. „Er lebt im Ausland, wir haben keinen Kontakt“ war alles, was Anja ihr entlocken hatte können. So war die Abwesenheit des Vaters für sie mit der Zeit zur unveränderlichen Normalität geworden. Doch jetzt, nach dem Tod ihrer Mutter, drängte sich ein anderes unabänderliches Faktum mehr und mehr in ihr Bewusstsein: Sie war jetzt Vollwaise und vollkommen auf sich selbst gestellt. Es würde jetzt ganz allein an ihr liegen, etwas aus ihrem Leben zu machen.

*

Es war dunkel. Immer noch nackt saß Anja jetzt schon über eine Stunde an ihrem Klavier. Sie musste dazu nichts sehen, sie starrte mit unfokussierten Augen ins Leere, während sie improvisierte. Das Klavierspiel war ihre zweite Natur, seit über 12 Jahren absolvierte sie neben der Schule eine anspruchsvolle Ausbildung, die sie eines Tages für die staatliche Abschlussprüfung qualifizieren würde. Es war ebenfalls Anjas Mutter zu verdanken, dass sie durch die Jahre der Pubertät dabei geblieben war, obwohl sie mehr als einmal drauf und dran war, den fordernden Unterricht und das tägliche mehrstündige Üben hinzuschmeißen. Doch mittlerweile beherrschte sie das Instrument gut genug und entwickelte selbst Freude und Ehrgeiz darin, sich immer mehr zu vervollkommnen. Die Platzierungen bei einigen Nachwuchswettbewerben waren vielversprechend genug gewesen, dass auch Kai, ihr Klavierlehrer, sie darin ernsthaft ermutigte, den Weg einer professionellen Karriere als Konzertpianistin in Erwägung zu ziehen. Natürlich hatte die strenge Mutter darauf bestanden, dass daneben der schulische Erfolg am Gymnasium und später an der Handelsakademie nicht leiden durfte, und so war ihr Alltag immer schon von strengem Zeitmanagement, Härte zu sich selbst und Disziplin geprägt gewesen. Für die Freizeitbeschäftigungen, denen ihre Freundinnen nachgingen, für Ausgehen, Tanzen, Kino und Flirts, war da so gut wie keine Zeit geblieben.

*

Anja hatte Hunger. Ein Blick in den Kühlschrank zeigte vor allem gähnende Leere, die Vorräte an dem, was ihre Mutter als „vernünftige Ernährung“ bezeichnet hatte, waren trotz ihrer Appetitlosigkeit mittlerweile so gut wie aufgebraucht. Und sie hatte jetzt keine Lust, sich damit näher zu befassen. Sie griff also zum Telefon und wählte eine Nummer, die ihre Mutter auf einem Notizblock mit dem Wort „Pizza“ notiert hatte. „Ja, eine Pizza Rusticana, und ein Bier bitte.“ - „Ja, zwei Euro Zustellgebühr geht in Ordnung.“ - „Ja, Doris W., Adresse haben Sie?“

Zwanzig Minuten später öffnete sie dem Pizzaboten, nur in einem kurzen Morgenmantel bekleidet. Die Art, wie der junge Mann sie ansah, brachte ihr schlagartig einen lange verdrängten Aspekt ihres Daseins an die Oberfläche ihres Bewusstseins: Sie war eine junge attraktive Frau, und ob sie es wollte oder nicht: Ihre bloße Präsenz wirkte auf Männer. Eine gefühlte Ewigkeit lang – wohl in Wirklichkeit nicht mehr als eine halbe Minute – ließ sie sich auf das Spiel der Blicke ein, genoss ein wenig das Prickeln, das das unverhohlene Begehren des Studenten in ihr auslöste, bevor ihr Verstand wieder die Kontrolle übernahm. „Danke, sehr nett, das ist für Dich“, sagte sie zu ihm, drückte ihm eine Zwei-Euro-Münze in die Hand und schloss die Türe vor seinem verdatterten Gesicht.

„Nicht so“, sagte sie zu sich selbst, stellte die Pizza im Karton auf den Couchtisch, ploppte die Bierdose auf, schaltete mit der Fernbedienung dem Fernseher ein, legte die Beine wieder auf den Tisch, stellte sich den Pizzakarton auf die Oberschenkel und begann ungeniert mit den bloßen Händen zu essen.

Stufe 1: Unschuld

Formalitäten

Die nächsten Wochen waren für Anja neben der Schule ausgefüllt mit den zahllosen Formalitäten, die der Tod ihrer Mutter und die Abhandlung der Verlassenschaft mit sich brachte. Die Situation wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass sie noch nicht volljährig war, aber kein naher Verwandter für die Übernahme der Obsorge zur Verfügung stand. So wurde sie nach einigen Tagen auf das zuständige Bezirksgericht bestellt, wo ein Rechtspfleger und eine Dame der Jugendwohlfahrt sie in Empfang nahmen.

„Frau Anja W., geboren 24.11.2001, Tochter der verstorbenen Doris W., Vater unbekannt, keine weiteren nahen Verwandten“, eröffnete der Rechtspfleger die Verhandlung. „Haben Sie vielleicht einen Ausweis dabei?“ Anja reichte ihm ohne äußere Regung ihren Personalausweis. „Danke, Frau W.“ Der Richter notierte die Ausweisnummer und reichte das Dokument zurück. „Gibt es in Ihrem oder dem Umfeld Ihrer Mutter irgendwelche Personen, die Ihnen besonders nahe stehen?“ Anja dachte nach, außer Kai, ihren Klavierlehrer, hätte sie niemanden nennen können. „Nein, das Umfeld meiner Mutter, wie Sie das nennen, habe ich erst anlässlich der Beerdigung kennengelernt, sie hat ihren wahren Beruf vor mir geheim gehalten. Und ich selbst bin mit Schule und Klavierausbildung ziemlich ausgelastet.“ Der Rechtspfleger nickte und tauschte Blicke mit der Beamtin der Jugendwohlfahrt aus. „Es sind noch – einen Moment“ … „ein Monat und ein paar Tage bis zu Ihrem 18. Geburtstag.“ Er schwieg eine Weile und tauschte wieder Blicke mit der Wohlfahrtsbeamtin aus, die sich bis jetzt noch nicht geäußert hatte. „Wenn Sie uns bitte einen Augenblick allein lassen, ich rufe Sie dann wieder herein.“

Anja wartete also ergeben auf dem schmucklosen Flur des Gerichtsgebäudes, nach 10 Minuten wurde sie wieder in das Richterzimmer gerufen. Diesmal war es die Wohlfahrtsbeamtin, die das Wort ergriff: „Also, mit dem Ableben Ihrer Frau Mama, zu dem ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid ausdrücken möchte, geht Ihre gesetzliche Vertretung zunächst von Amts wegen auf uns über, bis eine neue obsorgeberechtigte Person gefunden ist. In Ihrem Fall“ – sie schwieg eine Weile, Anja wartete ruhig ab. „In Ihrem Fall wird das Verfahren wohl einige Monate in Anspruch nehmen, weil wir gesetzlich verpflichtet sind, Nachforschungen zu Ihrem Vater vorzunehmen.“ Anja zuckte zusammen, was bedeutete das nun wieder?

„Aber keine Angst, dieses Verfahren wird mit Erreichen Ihrer Volljährigkeit automatisch eingestellt. Und in Ihrem speziellen Fall“ – sie schaute dabei den Rechtspfleger an – „denke ich, dass nicht zu erwarten ist, dass bis dahin schon Ergebnisse vorliegen. Allein der Aktenrückstau …“ Anja unterdrückte ein Gähnen und wünschte sich nur, sie würde endlich zur Sache kommen.  „Das Verlassenschaftsverfahren, insbesondere die Einantwortung der Eigentumswohnung, wird durch dieses Verfahren gehemmt. Aber als Ihre gesetzliche Vertretung beantrage ich hiermit bei diesem Gericht, Ihnen das vorläufige Wohnrecht sowie einen angemessenen monatlichen Vorgriff auf das nicht unbeträchtliche Vermögen Ihrer Frau Mutter zu bewilligen, um Ihnen ein selbständiges Leben in Ihrer Wohnung zu ermöglichen. Darüber hinaus bitte ich Sie, diesen Antrag auf Waisenrente zu unterschreiben, wir werden ihn für Sie dem zuständigen Sozialversicherungsträger vorlegen.“

Anja schwieg eine Weile. „Und das bedeutet für mich jetzt genau – was?“, fragte sie schließlich. Es war der Rechtspfleger, der antwortete. „In einfachen Worten bedeutet das, Sie können in der Wohnung wohnen bleiben, erhalten Zugriff auf ausreichende Mittel, um Ihr Leben bestreiten zu können, und nach Ihrem 18. Geburtstag wird das Verlassenschaftsverfahren mit Ihnen als eigenberechtigte Beteiligte abgewickelt. Und die Sache mit Ihrem Vater ist mehr eine Formalität, wenn ich richtig orientiert bin, ist der Aktenrückstau in diesen Verfahren ein beträchtlicher …“

Anja ließ die Worte eine Weile auf sich wirken. Wenn sie ihr Gefühl nicht trügte, versuchten die beiden, ihr die Bestellung eines Vormundes für die paar Wochen zu ersparen. Aber konnte sie ihnen vertrauen? „Habe ich Alternativen zu der vorgeschlagenen Vorgangsweise?“, fragte sie vorsichtig nach. „Oder teilen Sie mir hier ohnehin nur mit, was Sie zu tun gedenken?“ Es war der Rechtspfleger, der antwortete: „Ich denke, Sie können Frau B. In dieser Sache uneingeschränkt vertrauen. Die Jugendwohlfahrt ist ausschließlich als Interessenvertretung von Personen eingerichtet, die die eigene Geschäftsfähigkeit noch nicht erreicht haben. Und überdies“ – er machte wieder eine Pause – „würde es mir als Vertreter des Pflegschaftsgerichtes ohnehin schwerfallen, eine nicht verwandte Person zu akzeptieren, die Sie namhaft machen würden. Schon deswegen, weil sich für Sie dadurch keinerlei erkennbarer Vorteil ergibt. Es sei denn, Sie wollten die Wohnung in den nächsten Wochen veräußern.“ „Nein, nein“, beeilte sich Anja zu sagen, „mein nächstes Ziel ist es, die Reifeprüfung abzulegen, ich glaube nicht, dass mich da ein Wohnungsverkauf weiterbringen würde.“

„Sehr vernünftig“, kam es von Frau B.. „Leider gibt es nach geltender Rechtslage keine vorzeitige Volljährigkeit mehr, aber ich denke, dass das, was wir hier vorschlagen, dem faktisch sehr nahe kommt. Sie haben, was Geschäfte des täglichen Lebens betrifft, keine Einschränkungen. Eine Einschränkung bestünde allerdings, wenn Sie beabsichtigen, beruflich in die Fußstapfen …“ Der Rechtspfleger unterbrach sie unwillig. „Ich habe keinen Hinweis, dass dies in der Absicht von Frau W. läge. Ich denke, wir können, die Verhandlung an dieser Stelle schließen. Sie erhalten draußen im Sekretariat gleich die nötigen Unterlagen, um auf das laufende Konto Ihrer verstorbenen Frau Mutter Zugriff zu erhalten. Gehen Sie am besten gleich zur Bank, es ist wichtig, die laufenden Zahlungen zu regeln. Und nochmals auch von mir das aufrichtigste Beileid und alles Gute für Ihre Zukunft.“ „Ich habe zu danken“, antwortete Anja kühl und stand auf. „Wo finde ich das Sekretariat?“

Beim Klavierlehrer

„Hervorragend, ganz hervorragend, es ist, als ob du ein ganz anderer Mensch wärst. Keine Spur mehr von der Zurückhaltung, gegen die wir die letzten Monate so vergeblich angekämpft haben.“ Anja hatte soeben den dritten Satz von Beethovens Mondscheinsonate furios hingelegt. Und es war tatsächlich so: In ihrer eigenen Empfindung war sie unfokussiert gewesen, unkontrolliert, viel zu risikobereit, sie hatte eigentlich mit einem strengen Tadel ihres Klavierlehrers Kai gerechnet, eines großen hageren Mannes, er mochte vielleicht Mitte 30 sein.

Doch statt sich über das Lob zu freuen, brach sie am Klavier unvermittelt in Tränen aus. Doch Kai war offenbar nicht überrascht, er schien fast mit dieser Reaktion gerechnet zu haben. Er zündete eine Zigarette an, setzte sich auf das breite Sofa in dem geräumigen Salon der riesigen Wiener Altbauwohnung, den er zum Unterrichten verwendete, und hielt sie hoch. „Komm, reden. Am Klavier kommen wir heute nicht mehr weiter.“ Anja blickte ihn durch den Schleier ihrer Tränen erstaunt an, doch in den Jahren des intensiven Unterrichts bei ihm hatte sie gelernt, ihm zu vertrauen und auf seinen unkonventionellen, manchmal schwer nachvollziehbaren Wegen ohne Widerrede zu folgen. Sie stand also auf, wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch aus den Augen, nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und setzte sich zu ihm.

Kai war eine der ungewöhnlichsten Erscheinungen in der Wiener Klavierszene. Selbst ein gefeierter, wenngleich rarer Pianist, hatte er bereits wiederholt Angebote angelehnt, an den renommierten Ausbildungsstätten der Stadt eine Professur anzunehmen. Er unterrichtete ausschließlich privat, was man ihm so lange als Arroganz und Marotte auslegte, bis man auch in der konservativen Musikstadt Wien nicht mehr umhin konnte anzuerkennen, dass seine Schülerinnen – er unterrichtete ausschließlich junge Frauen – bei Auswahlspielen und Nachwuchswettbewerben zu gut waren, um dort ignoriert zu werden. Schließlich hatte man den Widerstand gegen ihn aufgegeben, diesen eigenwilligen Charakter in die Szene integriert und ließ ihm und seinen Schülerinnen den Anteil an medial beachteten Erfolgen zukommen, der ihnen zustand. Man munkelte zwar immer wieder, dass er zu seinen Schülerinnen ein nahes, ja allzu nahes Verhältnis habe – was zwar stimmte, aber nicht auf die Weise, wie sich das die neidischen Verbreiter der diesbezüglichen Gerüchte vorstellten. Er war unkonventionell, bisweilen distanzlos, aber tatsächlich hatte er mehr damit zu tun, die Avancen der jungen Damen abzuwehren, von denen in der Pubertät viele begannen, in ihm mehr zu sehen als nur ihren Klavierlehrer.

„Was ist heute anders? Wie hat es sich angefühlt? Rede darüber, wie es dir ergangen ist, jetzt, beim letzten Mal.“ Anja schaute ihn hilflos an, sie hasste diese Situation. Es war jedes mal, aus müsste sie ihr innerstes nach außen kehren, viel schlimmer, als wenn sie einfach nackt vor ihm hätte stehen müssen. Und doch … sie wusste auch aus Erfahrung, dass es diese Gespräche waren, die sie wirklich weiterbrachten, weil sie dabei gezwungen war, sich mit sich selbst zu konfrontieren, ihre innersten Ängste, Wünsche und Sorgen zu artikulieren, sich bewusst zu machen und damit auf neue Weise umgehen zu lernen. Sie schluckte also ein paar Mal: „Unfokussiert, unkonzentriert, wild, viel zu risikobereit.“ „Ja, alles richtig“, gab er zurück, „aber ich will ein stärkeres Bild. Wie fühlte es sich an? Was war anders? Denk nicht nach, beschreibe spontan die Bilder, die du siehst. Jetzt.“ „Wie ein Fohlen auf der Weide“, kam sofort die Antwort, „das zum ersten Mal von der Mutter weg galoppiert. Das zum ersten Mal spürt, wohin es seine eigenen Hufe, seine eigenen Beine tragen können. Keine Gedanken, nur Gefühl, der Rausch der Geschwindigkeit, der Wind um die aufgestellten Ohren, vertrauen auf die Intuition, keine Angst vor dem Stolpern und Hinfallen. Pure Lust am Leben.“

Kai schwieg eine lange Weile. Es brauchte keine Worte, er musste nur abwarten, bis sie sich der Implikationen dessen selbst bewusst wurde, was sie da soeben gesagt hatte. Es dauerte nicht lange, und ihre Reaktion war heftig, heftiger als er sie erwartet hatte. „Fuck!“ Anja war aufgestanden, hatte die Zigarette achtlos auf den Boden geworfen und stampfte jetzt durch den Raum wie ein Raubtier in einem zu kleinen Käfig. „Fuck! Sagst du mir jetzt, dass es damit zu tun hat, dass meine Mutter seit ein paar Wochen draußen am Friedhof unter der Erde liegt? Sag, dass das nicht wahr ist!“

Kai schwieg weiter, ließ Anja Zeit, den Tsunami von Gefühlen herauszulassen, er hob nur die brennende Zigarette auf, bevor sie ein Loch in den handgeknüpften Teppich brennen konnte, der auf dem Boden des Salons ausgebreitet lag. Er beobachtete fasziniert, wie sie sich plötzlich wieder ans Klavier setzte, erst nur furios die Tasten bearbeitete, unspezifischer Zorn. Doch nach einer Weile machte der Zorn etwas Anderem Platz: Sie begann genauso wild, aber kontrolliert zu improvisieren, wie sie das die letzten Tage immer wieder daheim gemacht hatte, statt zu üben. Er ließ sie eine lange Weile gewähren, hörte einfach zu. Sie war in diesem Augenblick gut, unglaublich gut, aber was wichtiger war: Sie war in diesem Augenblick auch ganz sie selbst, ihre technische Routine erlaubte es ihr, ihre Gefühle direkt über die Tastatur des Instruments auszudrücken, ohne Umweg über den Verstand, ohne Beschränkungen der manuellen Geschicklichkeit, die so viele daran hinderten, genau das zu tun. Er war schon kurz davor, zu unterbrechen, da hörte sie plötzlich von selbst auf. Der Schleier über ihren Augen war plötzlich weg, ihr Ausdruck war hart, und bestimmt, aber gleichzeitig auch rein und klar. Er wartete immer noch.

„Fuck“, sagte sie ein letztes Mal. Sie setzte sich wieder auf das Sofa, ihr Atem ging noch schnell, doch sie beruhigte sich zusehends. Er zündete die Zigarette nicht an, die er schon in Händen gehalten hatte – sie brauchte das jetzt nicht, sie brauchte jetzt Klarheit. „Scheiße, Kai, musst du mir immer alles auf diese brutale Weise beibringen?“ Er lächelte und schüttelte dann bedächtig den Kopf. „Denk noch mal nach Anja. Aber bitte nicht hier. Komm wieder, wenn du weißt, wer dir heute etwas beigebracht hat. Und noch eins …“, er wartete eine Weile, doch entschied sich dann dafür, ihr noch einen kleinen Schubs zu geben. „Komm nicht mehr in diesem lächerlichen schwarzen Fummel. Kleide dich so, wie du dich fühlst, in diesem Korsett bürgerlicher Anständigkeit kann doch niemand an sich selbst arbeiten.“

Er bezweifelte, dass sie seine letzten Worte noch gehört hatte, als er die Wohnungstür heftig ins Schloss fallen hörte. Doch er war zuversichtlich, sie würde wiederkommen.

Ein Montagmorgen

Die dunkelhaarige dralle junge Frau mit dem offenen schwarzen Haar lag lang ausgestreckt in dem breiten Doppelbett. Die Sonne schien bereits hell in das geräumige Schlafzimmer der Altbauwohnung. Ihr nackter Körper glänzte noch vor Schweiß, sie rauchte müßig eine Zigarette. Kai, der Klavierlehrer, war kurz aus dem Zimmer gegangen, die Frau spürte den Nachwirkungen des Ficks nach, den sie gerade in seinen Armen genossen hatte. Sie mochte vielleicht 20 Jahre alt sein, eine Tochter aus wohlhabendem Haus, die es, wenn man vom Sammeln amouröser Erfahrungen absah, mit dem Erwachsenwerden nicht sonderlich eilig hatte.