Annäherung - Frank R. Hartmann - E-Book

Annäherung E-Book

Frank R. Hartmann

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Beschreibung

"Jürgen ist in der Wohnung, abends, allein. In ihr fühlt er sich sicher und geborgen. Als er gekommen ist, stand die Haustür einen Spalt offen." So beginnt die neue Erzählung von Frank R. Hartmann, die in klarer, subtil pointierter Sprache von nichts weniger handelt als den großen Fragen des Lebens, und von deren Alltäglichkeit: der Frage nach der Selbstverortung in der Welt, nach den Dingen, die wichtig sind, und nach der Beziehung zu Anderen - die möglicherweise nie über eine bloße Annäherung hinausgehen können.

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Personen und Handlung sind frei erfunden.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

1

Jürgen ist in der Wohnung, abends, allein. In ihr fühlt er sich sicher und geborgen. Als er gekommen ist, stand die Haustür einen Spalt offen. Sie war nicht ins Schloss gefallen. Vor dem Briefkasten im Hausflur ist ihm der Schlüssel aus der Hand gefallen. Wie schon seit einigen Tagen war es im Flur dunkel. Die kaputte Glühbirne ist noch nicht ausgewechselt worden. Wie immer hat er die zwei überregionalen Tageszeitungen vorgefunden, die er auszugsweise liest. Die Lokalzeitung hat er schon lange abbestellt. Er bringt aus dem Geschäft ein altes, illustriertes Manuskript mit. Ein Kunde hat es ihm angeboten, der es geerbt hat und zu Geld machen will. Jürgen har es sofort in Kommission genommen, ohne dem Chef davon zu berichten und ohne ein schlechtes Gewissen deswegen zu haben. Das Interesse an dem Objekt war für ihn einfach größer als irgendwelche Bedenken.

Karla, Buchhändlerin und Leiterin des Ortsverbandes, in der Jürgen Mitglied ist, ruft an. Er war gestern nicht beim Treffen im Kreisverbandsbüro. Jürgen freut sich über den Anruf, weil er Karla heimlich verehrt – obwohl sie, wie er weiß, einen Freund hat. Ihre Überlegungen zu gesellschaftlichen Vorgängen und ihre politischen Überzeugungen, die dabei zum Vorschein kommen, beeindrucken ihn immer wieder. Sie ist deswegen, aber auch durch die Art, wie sie sich anzieht, durch den Ton ihrer Stimme und ihre ganze Erscheinung, besonders attraktiv für ihn. Er erklärt, er habe sich unwohl gefühlt, eine leicht erhöhte Temperatur bei sich gemessen, aber es gehe ihm schon wieder gut, und er verspricht ihr, beim nächsten Termin in vier Wochen bestimmt zu kommen. Auch weil Wahlkampf bevorsteht. Sie zeigt sich erfreut, hatte schon Schlimmeres befürchtet. Als sie das Gespräch beendet, ist das für Jürgen fast schmerzlich. Widerwillig denkt er an etwas anderes.

Vor kurzem hat er sich entschlossen, zu einem Philosophietreffen zu gehen, von dem er erfahren hat, als er mit einem Kunden sprach. Die Gruppe treffe sich alle vierzehn Tage in der Cafeteria der hiesigen Bibliothek und diskutiere frei und kompetent. Er selbst könne aus zeitlichen Gründen nicht mehr mitmachen und bedaure es sehr. Jürgen überlegt kurz, was er morgen Abend dazu anziehen soll. Sakko oder Lederjacke. Dann geht er schlafen.

2

Am nächsten Tag geht er nach der Arbeit zu dem Treffen. Er hat sein neues Cordjackett angezogen. Als er ankommt, werden gerade Tische zusammengeschoben und Stühle gerückt. Ihm fällt gleich auf, dass er eine Teilnehmerin näher kennt. Er denkt sofort: »nur noch weg«, bleibt aber. Er hatte sich von der alten Bekannten vor längerer Zeit getrennt. Er wollte eine gewisse Distanz und sie Kinder. Beides schien damals nicht vereinbar.

Es ist für alle in der Gruppe ein Neubeginn nach einer Ferienpause. Der Leiter war eine Zeitlang verreist. Er stellt sich vor, spricht von offener Diskussion und regt an, dass sich alle wie bisher duzen, auch die neuen Teilnehmer. Alle stimmen zu und stellen sich vor.

Jürgen ist unkonzentriert, hört nicht hin, auch als sich Erika vorstellt. Der Leiter spricht über das neue Thema: Heidegger. Er erinnert an seine Interpretationen klassischer Texte der Philosophie von Aristoteles bis Schelling. Oder die Bedeutung seiner Humanismus-Kritik: Indem er den Menschen aus seiner Zentralposition verbannt habe, ihn abhängig machte von dem Ort, den er in der Welt einnehme, habe er einem ökologischen Denken den Weg geebnet. Er überlege noch, mit welchem Text des Philosophen er beginnen wolle. Jürgen ist froh, dass er geblieben ist. Aber er denkt die ganze Zeit an die alte Beziehung und bemerkt, dass auch sie immer wieder zu ihm sieht. Sollte er an der Arbeit der Gruppe teilnehmen, wäre ein Wiederaufleben der Begegnung mit Erika nicht zu vermeiden. Aber deswegen nicht bei der sich anbahnenden interessanten Diskussion mitzumachen, wäre doch lächerlich. Vielleicht wäre sogar ein Neubeginn möglich, weil sie jetzt anders über eine mögliche Freundschaft denken könnte. Ihre Ansprüche hätten sich möglicherweise geändert, wären nicht mehr so weitreichend wie damals. Als das Treffen vom Leiter beendet wird, geht er trotzdem fluchtartig, ohne Erika anzusprechen.

3

Morgens geht er wie immer vor dem Frühstück zum Joggen. An der Bushaltestelle trifft er einen älteren Mann, der im gleichen Haus wie er wohnt. Sie unterhalten sich über einen Diebstahl in ihrer Straße, bei dem der Wohnungseigentümer niedergeschlagen und stark verletzt wurde.

Auf der Fahrt ins Geschäft trifft er im Bus ein Mitglied der Partei. Es ist der Kassierer des Kreisverbandes. Der beschwert sich über ein anderes Mitglied, das ihn zum Rücktritt aufgefordert habe. Er sei nicht solidarisch mit der zunehmenden Zahl von Flüchtlingen, spreche von kultureller Überfremdung und rede von der Denationalisierung der Politik. Im Grunde ginge es dem aber um Gestaltungs- und Druckaufträge für Parteimaterialien, die er nicht bekommen habe. Jürgen findet den Kassierer sympathisch, hört ihm zu, nimmt aber dazu nicht weiter Stellung.

Zum Mittagessen geht er zum ersten Mal ins Café der Volkshochschule. Karla sitzt an einem Tisch, als ob sie ihn erwartet hätte. Jürgen freut sich. Sie sprechen über eine politisch gewagte Aktion von Abgeordneten aus dem Land. Diese haben ein Papier verfasst und verbreitet, in dem sie sich gegen die Ausrichtung des Kirchentages in der Hauptstadt wenden. Dies sei nicht von Nutzen für die Stadt und koste viele Millionen, die nur teilweise über Sponsoren, Spenden und Eintrittskarten wieder hereinkämen. Karla zeigt sich gut informiert, und er bewundert an ihr, wie sie überlegt freundlich spricht. Und denkt wieder an ihren Freund, den er einmal in deren Wohnung getroffen hat, als er Wahlkampfmaterial abholte. Über die Probleme des Kassierers reden sie nicht. Sie weiß sicher Bescheid und er will nicht indiskret sein.

Im Geschäft orientiert er sich mit Hilfe von sehr alten Verkaufskatalogen über den Wert des Manuskripts. Wahrscheinlich ist er beträchtlich. Sein heimlicher Besitz macht ihn glücklich.

Abends arbeitet er an einem Gedicht über das Gruppenverhalten von Tauben, die er in einem Park beobachtet hat, gibt ihm den Titel »Textur«. Das Bemühen an solchen Texten macht ihm Spaß. Außerdem liest er in einer Neuerscheinung. Es ist ein Kriminalroman über Korruption und Zusammenhänge zwischen Mafia, Justiz, Politik und Polizei in New York.

Er telefoniert noch mit Egon, einem langjährigen Freund. Hat er Interesse, gemeinsam Texte zu lesen? Der ist sofort einverstanden. Sie machen einen Termin in ihrem Stammlokal aus. Dann sieht Jürgen einen Film im Fernsehen an, zum Müdewerden. Als er merkt, dass er der Sendung nicht mehr folgen kann, weil ihm immer wieder die Augen zufallen, zwingt er sich, aus seinem Sessel aufzustehen und geht ins Bett.

4

Als Jürgen gerade mit einem Kunden spricht, kommt Erika in den Laden. Sie hat offensichtlich bei der Vorstellung in der Philosophiegruppe gut zugehört, als er über sich sprach. Er erinnert sich, dass er den Namen des Geschäfts erwähnt hat. Während sie sich auf Tischen ausgelegte Bücher ansieht, beobachtet Jürgen sie heimlich, beendet schnell die Unterhaltung mit dem Interessenten und wendet sich ihr zu. Sie fragt nach der gebundenen Ausgabe eines Philosophielexikons, das es neu nur noch als Taschenbuch gibt. Ohne darauf einzugehen, entschuldigt er sich sofort, dass er sie bei dem Treffen nicht begrüßt habe. Sie erzählt, dass es ihr gut gehe und erwähnt nebenbei, wie gerne sie allein lebe. Jürgen fängt an, von dem geplanten Treffen mit Egon zu reden, und sie zeigt sofort Interesse. Er lädt sie für das kommende Wochenende ein, und sie sagt zu. Ihren Suchwunsch notiert er umständlich und fragt sie noch, ob sie auch an alten Kinderbüchern interessiert sei, er arbeite gerade an einem Katalog darüber. Er würde ihn ihr, wenn er fertig sei, gerne zuschicken. Sie reagiert begeistert, und er notiert ihre neue Adresse.

Als sie gegangen ist, meldet sich in ihm eine alte Sehnsucht. Er hört im Radio, das im Büro oft läuft, das Lied vom »River of no return«.

5

Am Sonntag wacht er zeitig auf und schläft nicht wie sonst lange in den Vormittag hinein. Er hat auf einmal Sorgen wegen der Sicherheit seiner Wohnung. An der Tür ist nur ein ganz einfaches Schloss und keine Vorhängekette. Es könnte tagsüber eingebrochen werden und das Manuskript und andere wertvolle Bücher gestohlen werden. Außerdem besitzt er auch alte Städteansichten und Karten, deren Verlust für ihn schlimm wäre. Im Haus gab es auch schon einmal einen Einbruch, von dem er erst hinterher erfahren hatte, als die betroffene Bewohnerin einen Anschlag am Informationsbrett im Hausflur gemacht hatte. Aber er sagt sich, er dürfe seine Ängste nicht übertreiben. Am Besten wäre es, an diese mögliche Gefahr nicht mehr zu denken. Außerdem liege seine Wohnung im zweiten Stock und sei schon deshalb kaum gefährdet.

Am Nachmittag trifft er sich wie verabredet mit Egon und Erika in dem üblichen Lokal. Es liegt an einem zentralen Platz in der Innenstadt und bietet vor allem schwäbische Küche an. Sie sitzen in einer ruhigen Ecke, das Lokal ist um diese Zeit ziemlich leer. Erika beginnt von ihrem Beruf als Chefsekretärin in einem großen Industriebetrieb zu erzählen. Sie betont vor allem das gute Verhältnis und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Leiter des Geschäfts. Während Jürgen kaum zuhört, ist Egon sehr interessiert und erzählt selbst von seinem Frührentnerleben. Er war früher in einer Versicherung tätig. Jetzt habe er viel Zeit um zu lesen, was ihn interessiere, vor allem literarische Klassiker und spannende Neuerscheinungen. Außerdem gehe er regelmäßig zu Vorlesungen an der Uni und habe es sich angewöhnt, ausführlich Tagebuch zu schreiben.

Jürgen versucht Erika, während sie spricht, unauffällig zu betrachten. Ihre ausladende Figur zieht ihn an wie früher. Gemeinsam verabreden sie, über Verbrechen und Strafe von Dostojewski zu sprechen. Sie wollen die ersten zwanzig Seiten einer Taschenbuchausgabe zu Hause lesen. Sie einigen sich auf eine neue Übersetzung, die in den Medien sehr gelobt wird. Beim nächsten Mal wollen sie sich bei Egon treffen. Als sie sich vor dem Lokal trennen, glaubt Jürgen zu bemerken, dass Erika sich besonders herzlich von ihm verabschiedet.

6

Am Dienstag ist Ortsverbandstreffen. Jürgen geht direkt vom Geschäft zum Treffen in einem Bürgerzentrum. Unterwegs macht er Halt am Bahnhof bei einem Bäcker, trinkt einen Kaffee und isst etwas. Er beobachtet die Fußgänger, die vorbei eilen. Einige ziehen einen Koffer hinter sich her. Aus den Sprachfetzen, die er aufnimmt, wird ihm deutlich, wie viele von ihnen aus unterschiedlichen Ländern kommen. In gebrochenen Deutsch wird er angesprochen und um Auskunft gebeten. Als er von einer fremdländischen Frau mit einem Kind an der Hand angebettelt wird, mischt sich ein offensichtlich ziviler Ordner ein und schickt die Frau weg. Am Bahnhofsausgang trifft er sie wieder. Sie sitzt auf den Treppenstufen, die nach oben zur Straße führen, lächelt ihm zu und er erkennt, dass ihre Beharrlichkeit der Polizei und deren Helfern weit überlegen ist.

Im Versammlungsraum sind schon Tische und Stühle aufgestellt. Einzelne Gespräche werden im Stehen geführt. Jürgen setzt sich als Erster, wartet auf den Beginn. Kerstin hat wie immer Mineralwasser und ein paar belegte Brötchen mitgebracht und er bedient sich.

Karla kommt etwas verspätet. Sie reden über den kommenden Wahlkampf und über eine neue Partei, die bei ihrem Auftreten in anderen Bundesländern viele Wähler auch ihrer Partei zu sich gezogen hat. Es geht um Einwanderer, um das Verhalten von Jugendlichen, um Angst und Unsicherheit nachts in S- und U-Bahnen. Vor allem Kerstin spricht von berechtigten Anliegen der Bürger, die die neue Partei aufgreifen würde. Sie fühle sich in der Stadt im Dunkeln auch unsicher auf der Straße. Andere sprechen von Parolen wie »1000 Jahre Deutschland, 3000 Jahre Europa« mit denen die Nazis imitiert würden. Diese Partei sei, wie bekannt, in einem Bundesland