Annas Blut - Annette Mertens - E-Book

Annas Blut E-Book

Annette Mertens

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Beschreibung

Was ist, wenn nur Alleinsein dein Leben retten kann? Anna, eine lebenslustige Wettermoderatorin, ist erfolgreich, beliebt und der Mittelpunkt jeder Party. Sie träumt von einer Segelreise mit ihrem Mann über den Atlantik. Als sie die Diagnose Blutkrebs erhält, muss sie wochenlang ins Krankenhaus, um eine lebensrettende Stammzelltransplantation zu erhalten. Anna überlebt die Transplantation, doch danach ist alles anders. Ihr zerstörtes Immunsystem zwingt sie dazu, sich von anderen Menschen zu isolieren. Sie kann nicht mehr arbeiten, und die geplante Segeltour findet nicht statt. Unerwartet stößt sie auf eine verletzte Hündin, Lola genannt, die sie bei sich aufnimmt. Mit jedem sanften Pfotenschlag des Tieres, der Annas Herz berührt, findet sie langsam wieder zurück ins Leben. Als sich ihr eine neue berufliche Chance bietet, steht Anna vor einer schwierigen Entscheidung für sich und Lola. Eine ergreifende Geschichte über den Mut zur Veränderung und die unerwartete Stärke, die das Leben uns in dunklen Stunden schenkt.

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Inhaltsverzeichnis

TEIL 1: DIE DIAGNOSE

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

TEIL 2: DIE NEUEN ZELLEN

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

TEIL 3: HEIMKEHR

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

TEIL 4: LICHT IM DUNKELN

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

TEIL 5: ALLEINSEIN

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

TEIL 6: EINE NEUE CHANCE

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 53

KAPITEL 54

KAPITEL 55

KAPITEL 56

EPILOG

DANKSAGUNG

ÜBER DIE AUTORIN

Impressum

TEIL 1: DIE DIAGNOSE

KAPITEL 1

Anna mochte Krankenhäuser. Sie wirkten beruhigend auf sie, mit dem sterilen Geruch ihrer frisch gebohnerten Böden. Sie schätzte die Experten in den weißen Kitteln, die geschäftig durch die Gänge eilten. Gerade heute wollte sie ihnen besonders vertrauen. Schließlich sollten sie ihre Schulter retten, die bei jeder Bewegung schmerzte.

„Guten Morgen“, rief sie fröhlich in den Warteraum der Orthopädie.

Es kam nur leises Gemurmel zurück. Offensichtlich sagte man sich in diesem Krankenhaus nicht guten Morgen. So freundlich die Stimmung auf dem Gang war, so ernst kam sie ihr in dem Wartezimmer vor. Vielleicht fehlte nur ein wenig Musik. So etwas wie „We are the champions“ von Queen. Wir sind Superhelden, dachte Anna, wusste aber nicht so genau, ob sie dabei die Patienten meinte oder den grauhaarigen Chefarzt, der soeben mit einem Gefolge von mindestens zehn eifrig nickenden Studenten über den Gang marschierte.

Sie setzte sich gleich vorn an den Ausgang und öffnete ihre Handtasche. Blitzschnell hatte sie per Handy ihre E-Mails erfasst, ihrem Chef einen Gruß und ihrer Tochter einen Einkaufszettel geschickt. Ein Blatt Papier mit den Wetterdaten von 14 Uhr fiel ihr in die Hände, und sie verschaffte sich einen kurzen Eindruck des Tiefdruckgebietes über der Biscaya – wichtig für ihre Vorhersage am kommenden Wochenende.

Eine Schwester in weißem Kittel steckte den Kopf herein: „Frau Wunderle, kommen Sie bitte. Ich brauche noch ein paar Daten von Ihnen, dann ist Dr. Conrad für Sie da.“

Anna nahm ihre vollgepackte Reisetasche und folgte ihr in das Behandlungszimmer.

„Name, Vorname, Geburtsdatum.“ Die Schwester hackte alle Angaben in Windeseile in den Computer. „Beruf?“

„Meteorologin.“

Die Angestellte sah erstaunt auf. Ein Lächeln zog sich über ihr Gesicht. „Stimmt – ich kenne Sie aus dem Fernsehen! Na, wird es morgen regnen, was meinen Sie?“ Anna grinste in sich hinein. Wie oft schon hatte sie das gehört.

„Verheiratet? Kinder? Adresse?“

Anna bejahte die erste Frage, erwähnte Ronja und ihren Wohnsitz in der Eifel.

„Dr. Conrad kommt sofort.“ Damit ließ die Schwester sie allein. Es war ein warmer Apriltag, und erste Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster. Thermisches Bodenhoch, wahrscheinlich für drei bis vier Tage. Ungewöhnlich für die Jahreszeit, aber passend für den Tag, an dem sie ins Krankenhaus ging. Alle würden das schöne Wetter genießen, und sie konnte an die Krankenhausdecke starren.

Ein hochgewachsener Mann mit schütterem Haar trat ein, er musste ungefähr in Annas Alter sein.

„Ah, die Dame mit der Oberarmkopffraktur“, begann er. „Sie sind auf die Schulter gefallen?“

Anna nickte und strich sich über den rechten Arm. Es war dumm

gewesen, die nasse Straße mit dem Fahrrad in der Dämmerung hinunterzurasen, um vor Ladenschluss ein Ostergeschenk für Ronja zu besorgen. Noch dümmer, kein Licht am Fahrrad zu haben und nicht mit dem von rechts kommenden Auto zu rechnen. Dr. Conrad bewegte Annas Arm langsam nach oben und schaute danach auf ein Röntgenbild, das an dem Leuchtbildschirm an der Wand hing. Sie verzog das Gesicht und unterdrückte einen leisen Schrei.

„Aha, Sie sind mit dem außenrotierten Arm auf die Schulter gestürzt. Das Röntgenbild zeigt deutlich eine Tuberculum-majus-Fraktur.“

Was auch immer das sein mag, dachte Anna. Sie wusste zwar genau, wie der Pascalsche Druck bei einer Westwetterlage berechnet wurde, doch medizinische Fachausdrücke waren ihr fremd. Ihr war lediglich bewusst, dass heute Nachmittag ihre rechte Schulter operiert würde. Der gebrochene Knochenvorsprung, der durch den Sturz verschoben war, würde mit einer Platte und Bohrdrähten wieder stabilisiert werden. Anna hatte wegen ihrer Schmerzen schon mehrere Orthopäden aufgesucht, von denen der erste ihr eine konservative Therapie empfahl, bei der die Schulter von selbst heilen sollte. Der zweite riet jedoch zur operativen Korrektur, da ihm der Bruch zu kompliziert erschien.

Nach mittlerweile zwei Wochen konnte Anna nicht mehr schlafen, weil sie als Seitenschläferin genau auf der kaputten Schulter lag. Sie musste sich beim Fernsehsender für die nächsten Wettervorhersagen krankmelden, denn die typische Anna-Wunderle-Armbewegung für den nordatlantischen Tiefausläufer konnte sie auf keinen Fall ausführen. So hatte sie sich endlich doch für eine Operation entschieden und war heute in der Eifelklinik in Simmerath gelandet. „Ein Routineeingriff“, hatte man ihr dort gesagt, „bei Dr. Conrad sind Sie in besten Händen!“

Nun war es also so weit. Sie hatte ein bisschen Angst. Wer lässt sich schon gerne Platten in die Schulter einsetzen.

„Wie lange wird die Operation dauern? Wird es schmerzhaft sein? Wann kann ich wieder nach Hause?“

Anstatt Annas Fragen zu beantworten, rief Dr. Conrad eine Krankenschwester und zog eine lange Spritze aus der sterilen Verpackung. Er desinfizierte Annas Arm und pikte mit der Nadel in die Vene hinein. Anna sah aus dem Fenster. Immer noch Sonne.

„So wenig, wie Sie das hier gemerkt haben, so wenig bekommen Sie von der Operation mit. Und hinterher gibt es natürlich Schmerzmittel. Genaues erklärt Ihnen die Schwester. Wir bereiten dann alles vor, Sie können bis dahin auf Ihr Zimmer.“

„Werden Sie mich operieren?“, fragte Anna charmant. Der Arzt war sympathisch, sie wollte noch nicht in ihr Zimmer. Er sollte doch bitte ein wenig weiter mit ihr plaudern.

Dr. Conrad schien ihre Frage nicht gehört zu haben. „Zwei Monate, dann sind sie schmerzfrei!“ Mit diesen Worten gab er ihr zum Abschied die Hand.

Ein Routine-Eingriff, dachte Anna, während sie der Schwester auf die Station folgte, fix erledigt. Knochen heilen schnell, das hatte Oliver gestern überzeugt gesagt, mit der medizinischen Halbbildung eines Juristen, der nie länger als einen halben Tag im Krankenhaus hatte verbringen müssen. „Im Sommer bist du wieder auf den Beinen, Engelchen, dann können wir die Segel hissen.“

Der Segeltörn. Seit Jahren sprachen sie davon. Diesen September sollte es wahr werden. Einmal über den Atlantik segeln. Einmal im Leben frei von Verpflichtungen, nur mit den weißen Wellen unter sich, auf ihrem Segelboot, der GRACE, die mit 42 Fuß Länge viel Komfort für die große Reise bot. Ein halbes Jahr lang das Wetter nicht beschreiben, sondern fühlen, auf der Haut, in den Haaren, die Nase angefüllt mit salziger Luft. Sie würden nicht allein sein, nein, sie planten, sich der ARC, der „Atlantic Rally for Cruisers“, einer großen Gruppe an Seglern anzuschließen, die gleichzeitig in Gran Canaria starten und gemeinsam im Laufe der folgenden vier Wochen in der Karibik ankommen wollten.

Anna gefiel die Idee sehr, neue Menschen kennenzulernen, die genauso abenteuerlustig waren wie sie.

Doch erst musste die Schulter wieder funktionieren. Nur noch diese kleine Hürde, dachte sie, und betrat mit der Schwester ihr Zimmer.

Nur ein einzelnes, in Plastikfolie verpacktes Bett. Enttäuscht blickte Anna sich in dem großen, kahlen Raum um.

„Kommt noch jemand?“, fragte sie. „Ich fände das schön, wissen Sie. Bei meiner Blinddarm-OP vor zwei Jahren hatte ich so eine nette Studentin im Zimmer, da ist es nie langweilig geworden. Und ein andermal, da war ich mit einer Perserin zusammen. Können Sie sich vorstellen, dass jemand morgens um 5 Uhr einen Teppich gen Osten ausrollt und betet?“

„Kann ich“, brummte die Schwester und entfernte die Plastikfolie. „Sie sind aber allein. Die meisten Patienten wünschen das so.“

Die Aussicht, mehrere Tage hier in der Eifelklinik allein zu verbringen, machte Anna nervös. Sie musste unbedingt ihre Freundinnen anrufen. Und Oliver sollte am besten noch heute Abend mit Ronja vorbeikommen. Sie warf ihre Handtasche auf das Bett und setzte sich dazu. Die Tasche kippte um und entleerte ihren Inhalt auf die Bettdecke. Portemonnaie, Lesebrille, Kalender, ihr Handy, das Kabel: Alles purzelte von der Bettdecke auf den Boden. Anna seufzte, hob die Einzelteile auf, um sie auf die Kommode, auf das Bett oder den Tisch zu schieben. In null Komma nichts hatte sie das sterile Krankenzimmer in ein typisches Anna - Zimmer verwandelt mit ihren persönlichen Dingen in jeder Ecke. Nachdem die Schwester ihr den rechten Oberarm mit einer orangeroten Paste eingestrichen hatte, war es so weit. Anna zog das grün gestreifte OP-Hemdchen an und nahm ihre Beruhigungstabletten.

Durch das halb geöffnete Fenster hörte sie das erste Vogelgezwitscher in diesem Jahr. An der weißen Wand gegenüber ihrem Bett hingen Bilder mit Sommerlandschaften, grünen Wiesen und glücklichen Kühen.

Ein letzter Blick auf den Arm, noch einmal heben, einmal senken, schon die geringste Bewegung tat weh. Anna wurde schwindelig, und sie legte sich flach auf das Bett. Dieser blöde Sturz … Operation … Sie würde es nicht mehr schaffen, Oliver eine Nachricht zu schreiben, Mist. Die Wand mit den vielen Bildern gegenüber begann zu schwanken, die pechschwarze Kuh drehte sich nach rechts, und dann nach links …

„Frau Wunderle, hören Sie mich?“ In Annas Ohren piepste es.

Natürlich hörte sie das, es war ja ziemlich laut. Doch ihre Lippen verweigerten ihr ihren Dienst. Weitere Stimmen schwirrten um sie herum, irgendwelche Geräte gaben Töne ab. Das Piepsen wurde lauter, höher. Anna wollte, dass es aufhörte, versuchte die Augen zu öffnen. Vergeblich. Ihre Lider waren bleischwer.

„Wie fühlen Sie sich?“

Anna erkannte Dr. Conrads Stimme. Ach ja, die Operation … Sie fröstelte, konnte nicht antworten. Wo war sie? Warum war das so laut hier? Mit aller Macht öffnete sie die Augen einen kleinen Spalt und identifizierte einen Infusionsständer neben dem Bett, auf dem sie immer noch in ihrem OP-Hemdchen lag.

Großartig, sie hatte es überstanden … Anna hob die Hand und spürte die Nadel in ihrer Armbeuge. Sie langte nach oben, doch anstelle eines dicken Verbandes war da – nichts.

„Wwwwwas ist passssssiert“, die Artikulation klarer Worte gelang ihr noch nicht.

„Frau Wunderle, wir haben Sie nicht operiert. Ihre Blutwerte sind nicht in Ordnung. Genauer gesagt, katastrophal. Sie haben zu wenig Leukozyten, und die Thrombozytenzahl weist auf eine Zytopenie hin.“

Anna konnte den Fachausdrücken nicht folgen. „Aber die Schulter …“

„Vergessen Sie die Operation. Mit diesen Blutwerten ist sie zu gefährlich. Wegen der Narkose müssen wir Sie über Nacht hierbehalten. Bitte besorgen Sie sich bald einen Termin bei diesem Hämatologen, der soll sich ihre Werte in Ruhe anschauen. Alles Gute!“ Er legte den Zettel mit den Blutwerten sowie eine Visitenkarte auf den Nachttisch und war verschwunden.

Anna sank erschöpft zurück. Sie drehte den Kopf umher und schaute sich nach ihren Habseligkeiten um; wo war nur das verfluchte Handy. Auch der Zettel, den der Arzt ihr gezeigt hatte, war nicht zu sehen. Sie vermutete, dass er in ihre Handtasche gerutscht war, die sie auf dem Stuhl neben sich sah. Doch das weiße Blatt, das sie dann griff, war der Bericht mit den Wetterdaten, nicht die Erythrozyten-Zahl. Anna runzelte die Stirn. So groß war ihr das Tiefdruck-Gebiet vor der Operation gar nicht vorgekommen.

KAPITEL 2

Oliver fuhr wie üblich zu schnell. Die Leitplanken sausten vorüber, und Anna versuchte, nicht auf die aufblinkenden Rücklichter des Renaults vor ihr zu achten. Sie senkte ihren Blick wieder in den Kalender. Zwischen seinen Seiten klemmten Rezepte für Schmerzmittel und Physiotherapie. Bis auf weiteres ihr Plan B. „Jetzt kann ich am ersten Maifeiertag doch beim Chorkonzert mitsingen!“, freute sie sich. „Vielleicht kann mich Mike sogar Montag wieder für die Wettervorhersage einteilen. Bis klar ist, wie es weitergeht.“

Oliver räusperte sich und schaute kurz zu ihr herüber. „Wie stellst du dir das vor? Du hast mir doch eben erzählt, dass du den rechten Arm kaum bewegen kannst.“

„Da habe ich mir etwas überlegt“, grinste Anna. „Ich stelle mich einfach auf die andere Seite. Sozusagen vor England. Dann kann ich die hohen Luftströmungen mit dem linken Arm zeigen, und der rechte kann unten bleiben.“ Wie immer – es gab für alles eine Lösung.

„Deine Schulter hat jetzt nur zweite Priorität. Du solltest die Geschichte mit deinen Blutwerten klären. Wer weiß, was dahintersteckt.“

„Ach, ich kann doch nächste Woche zum Arzt. Erstmal wieder unter Leute!“

Im Radio lief Ed Sheerans „Photograph“, und Anna summte leise mit. Sie blätterte weiter in ihrem hellblauen Kalender, auf dem kleine weiße Wölkchen aufgedruckt waren. „In zwei Wochen ist Ostern. Jetzt können wir doch noch zum Boot fahren!“

Oliver war zu sehr mit einem Überholmanöver beschäftigt, um direkt zu antworten. Der Mercedes, den er dabei schnitt, hupte wütend hinter ihm her.

„Was willst du denn auf dem Boot? Du gehst so bald wie möglich zum Arzt, Anna. Ich möchte wissen, warum du nicht operiert worden bist. Denk an unseren Segeltörn.“ Oliver, der seit der Kindheit segelte, hatte sich in den letzten drei Jahren in seiner Freizeit mit nichts anderem mehr beschäftigt.

Sonne, Wind und Meer – das Segeln hatte sich im Laufe ihrer langen Beziehung als große gemeinsame Leidenschaft herausgebildet. Das Boot hatte Oliver vor 15 Jahren gekauft, und Anna mit Tränen in den Augen vorgestellt. „Einmal mit dir über den Atlantik segeln, Anna, das wünsche ich mir“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. Anna, damals 27 Jahre alt, hatte große Lust auf Abenteuer gehabt. Die folgenden Jahre verbrachten sie ihren Urlaub nur noch auf der GRACE, und Anna zahlte viel Lehrgeld, bis sie von Olivers Gehilfin zur gleichberechtigten Segelpartnerin wurde. Dann kam Ronja. Als diese erwachsen war, griff Oliver die Idee wieder auf.

Während er von der Landstraße in Richtung Roetgen abfuhr, blätterte Anna weiter in ihrem Kalender. Sie hatte vor Weihnachten ein kleines Segelboot hinein gemalt, da war es jetzt zu sehen, am 16. September. Der Start der Tour! Die Reise würde mit der Überführung des Bootes von der niederländischen Küste nach Gran Canaria beginnen, ein Trip von mehreren Wochen um Europa herum. Viereinhalb Monate, nachdem Ronja in die USA flöge – der Beginn ihrer neuen Zweisamkeit mit Oliver. Anna hoffte insgeheim, dass es ihr mit ihrem Mann allein an Bord nicht zu langweilig werden würde.

Sie würde Ronja vermissen. Ihr Stipendium überschnitt sich leider um mehrere Wochen mit den Segeldaten. Ronja wollte das dritte und vierte Semester ihres Mikrobiologie-Studiums in Arizona verbringen. Anna war sehr stolz auf ihre Tochter.

Doch jetzt musste Anna als erstes fit und mobil werden. Morgen melde ich mich bei der Arbeit zurück, danach gehe ich zur Physiotherapie, und dann kommen die Ärzte dran, dachte sie, während sie weiter in ihrem Kalender blätterte. Für ihre Schulter wollte sie der konventionellen Therapie noch eine Chance geben. Kein Grund zur Aufregung.

Nach einer halben Stunde bogen sie in die Auffahrt ihres Einfamilienhauses in Roetgen ein. Roetgen, ein kleiner Ort am Rande der Eifel, dicht an Aachen, und vor allem nah zur Natur. Anna hatte nach dem Studium Oliver dazu überredete, in die Gemeinde zu ziehen, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte, die überwiegend von wohlhabenden Pendlern bewohnt war. Hier fühlte sie sich wohl, immer ein paar Höhenmeter über den Städten des Rheinlandes, in der idyllischen Umgebung einer Neubausiedlung mit lauter individuell gestalteten Einfamilienhäusern. Ihr Haus lag unmittelbar am Waldrand und hatte einen kleinen, verwilderten Vorgarten, den Anna als ihr Projekt für später – wenn sie mal in Rente war – deklariert hatte. Die ersten wilden Chrysanthemen schossen in die Höhe und verdeckten das Unkraut in der Einfahrt.

Anna schloss die Haustür auf und stellte ihre Krankenhaustasche in den Flur, da kam Ronja die Treppe herunter und stürmte aus dem Haus, nicht ohne ihre Mutter kurz in den Arm zu nehmen. „Hallo Mama, toll, dass das mit der Operation so schnell gegangen ist. Ruh dich schön aus. Ich muss zur Uni, wartet nicht auf mich …“

„Ronja …?“ Zu spät, da war nur noch ein rotblonder Haarschopf zu sehen, der ihrer Tochter hinterher wehte, während sie mit dem Fahrrad um die Ecke bog.

Sie sah Oliver fassungslos an: „Hast du nicht mit ihr gesprochen? Kann man von einer Neunzehnjährigen nicht erwarten, dass sie einen Moment für ihre Mutter übrig hat, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt?“

„Lass sie doch. Ich hatte gestern Abend keine Gelegenheit, und sie hat mit ihrer Gastfamilie in den USA gechattet. Du weißt schon …“

Wie schön, wieder zuhause zu sein. Anna liebte ihr großes Haus, denn sie war ihr Leben lang großzügigen Wohnraum gewohnt. So hatte sie ihr Familiendomizil ähnlich weiträumig eingerichtet wie ihr Elternhaus. Als wenn sie eine Ewigkeit fort gewesen wäre, ging sie durch das Wohnzimmer, strich gedankenverloren mit der Hand über die Oberfläche der Kommode ihrer Eltern, das einzige antike Einrichtungsstück, und setzte sich auf die helle Couch. Ihr Lieblingsplatz, von hier überblickte sie den ganzen Garten, der direkt an ein großes Feld grenzte. Jetzt war es ein unbepflanzter, roher Acker, aber im Sommer würde der Bauer Mais aussäen, der ihnen wenig später die Aussicht zum nahegelegenen Wald versperren würde wie ein grünes Meer. Das Grundstück war nicht groß und die Nachbarhäuser standen dicht beieinander. Der freie Ausblick vermittelte Anna jedoch das Gefühl, sie wohne unmittelbar in der Natur.

„Bitte pack deine Tasche sofort aus. Am besten gleich im Waschkeller. Ich werfe heute Nachmittag die Waschmaschine an“, hörte sie Oliver in der Küche sagen.

Anna verdrehte die Augen. Der Alltag und Olivers Häuslichkeit hatten sie wieder eingeholt.

„Ich habe eine Flasche Wein kaltgestellt. Vielleicht bleibst du heute Abend ja mal zuhause.“

Anna zuckte zusammen. Eigentlich wollte sie bei ihrer Freundin Doris auf einen Sprung vorbei.

Oliver stand in der Tür und bemerkte ihr Zögern. „Aha, anscheinend nicht. Ich geh’ arbeiten.“ Damit verschwand er in sein Arbeitszimmer. Auf dem Treppenabsatz drehte er sich noch einmal zu ihr um: „Du gehst nicht auf Sendung, bevor dein Gesundheitszustand nicht geklärt ist! Vergiss’ nicht, dass du gerade aus dem Krankenhaus kommst!“

„Bin ich todkrank, oder was? Ich habe eine lädierte Schulter, das ist alles!“ Das wäre doch gelacht, wenn ihr Mann ihr verböte, zur Arbeit zu gehen. Die Tasche ins Schlafzimmer in die obere Etage zu schleppen, war nicht leicht mit der Schulter, sie hätte sich jedoch lieber auf die Zunge gebissen, als Oliver um Hilfe zu fragen. Sie warf die Schlafanzüge, Wäsche und Socken auf das Bett. Das meiste musste gar nicht gewaschen werden.

Sie hatte keine Lust, aufzuräumen, und beschloss, alles so liegen zu lassen. Oliver hasste Unordnung, doch das war ihr egal. Sie ging die Treppe wieder hinunter und streifte durch den Garten, um Ronjas Meerschweinchen zu begrüßen. Die zwei Pelzbälle saßen in ihrem Gehege auf der Wiese und knabberten an ihrem Heu.

„Na, ihr zwei Süßen, ihr habt mich bestimmt vermisst?“

Schrabb, schrabb, schrabb. Pippin, der Kleine und Otto, der Große, nagten friedlich am Heu. Das Geräusch beruhigte Anna. Sie kraulte das flauschigere der beiden im Nacken. Das gelang ihr nicht so gut – kleine Meerschweinchen haben halt kleine Nacken. Anna liebte sie trotzdem. Für Hund oder Katze, von denen sie und Ronja eigentlich träumten, war in ihrem turbulenten Alltag keine Zeit.

Durch das Fenster im Erdgeschoss sah sie Oliver am Schreibtisch sitzen. Wie konzentriert er doch war, richtig vertieft in eine Akte. Oliver liebte seinen Beruf als Teilhaber einer Wirtschaftskanzlei. Ein normaler Angestelltenjob wäre der Horror für ihn. Er war es nicht mehr gewohnt, sich unterzuordnen, und genoss die Anerkennung für sein überlegtes, souveränes Auftreten vor Gericht. Er könnte sich einmal neu einkleiden, dachte Anna, während sie, Meerschweinchenhaare kraulend, ihren Mann unbemerkt beobachtete. Immer nur helle Stoffhosen und dunkelblaue Sweatshirts oder grauer Anzug und Krawatte. Die auffällige Drahtbrille sollte auch einmal ausgetauscht werden, fand sie jetzt, doch sein markantes schmales Gesicht mit dem Dreitagebart und der hohen Stirn gefiel ihr immer noch. Anna sah, ohne es zu hören, dass er leise vor sich hin pfiff, während er mit dynamischen Bewegungen die Papiere von links nach rechts schob – er räumte seinen Schreibtisch auf, eine Lieblingsbeschäftigung von ihm. Vor fast zwanzig Jahren hatte sie den ordnungsliebenden Rechts-Referendar bei einem Stipendiatentreffen kennengelernt. Sie war von seiner äußeren Erscheinung mit dem schlaksigen Gang und der großen, schlanken Gestalt so angetan gewesen, dass sie sich gleich auf ein langes Gespräch eingelassen hatte. Es war der Anfang einer gefühlvollen Beziehung gewesen. Damals.

Anna seufzte, gab Pippin eine Möhre, und ging ins Haus. Es war Zeit, sich um ihren Job zu kümmern, und sie griff nach dem Telefon, das im gleichen Moment klingelte. Ihr Bruder Wolfgang war am Apparat.

„Anna, was ist passiert, warum bist du zuhause?“

„Habe ich dir doch per SMS geschrieben. Nichts ist passiert. Rein in den OP – raus aus dem OP.“ Anna ging in die Küche, um sich eine Tasse Tee aufzubrühen. Wolfgang war der ältere ihrer zwei Brüder, und Telefonate mit ihm dauerten nicht selten lange. Er wohnte auch in Roetgen und seit dem Tod ihrer Eltern traf er sich oft mit seiner Schwester.

„Warum das? Stimmt etwas nicht? Du hast etwas von Blutwerten geschrieben, was heißt das?“

„Weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall kann die Schulter im Moment nicht operiert werden. Die Ärzte hoffen jetzt auf Selbstheilung. Ich auch.“ Anna verdrehte die Augen beim Telefonieren. „Wolltest du nicht im September auf das Segelboot? Wie stellst du dir das vor?“

Anna verzog das Gesicht. Wolfgang hasste Wasser und wäre eher wochenlang durch Sibirien gewandert, als sich auf ein schaukelndes Segelboot zu begeben. „Bis dahin ist das wieder gut. Und ich habe jetzt Zeit gewonnen. Stell dir vor, alle Termine waren abgesagt – mein Terminkalender sieht aus wie in den Ferien! Ich habe gedacht, nächste Woche gehe ich wieder arbeiten.“

„Du spinnst doch! Ich verstehe, dass du nicht schon wieder zum Arzt willst. Aber du solltest so etwas nicht einfach ignorieren.“

„Warum? Ich fühle mich nicht krank. Da ist irgendwas mit Thrombodingens – für eine Operation zu gefährlich, aber für das normale Leben völlig bedeutungslos.“ Das Wasser kochte, sie goss den Tee auf.

Wolfgang schnaubte am anderen Ende der Leitung. „Bist du dir sicher? Was sagt Oliver dazu?“

Über Olivers Meinung wollte sie jetzt nicht diskutieren. „Wir können nächste Woche ins Konzert gehen“, versuchte sie das Gespräch in ruhigere Gefilde zu lenken.

„Ja, dann sprechen wir weiter über die verkorkste OP. Ich hole dich ab.“

Anna hatte plötzlich keine Lust mehr zu telefonieren. Ständig machte ihr jemand Vorschriften, was sie mit ihrer Gesundheit zu tun hatte. „Ich muss Schluss machen, meinen Chef anrufen, möchte mich beim Chor melden, und die Wäsche steht auch noch hier.“

„Du bist wie immer nicht zu bremsen. Ich würde mich an deiner Stelle nicht schon wieder zur Arbeit melden, Anna. Mach es dir doch erst mal zuhause gemütlich und …“ Anna hatte schon aufgelegt. Sollten andere auf dem Sofa sitzen bleiben und rumchillen. Ihr war das zu langweilig. Sie nahm ihre Tasse Tee und suchte nach der Telefonliste, die sie im Krankenhaus angelegt hatte, um ihre Freundinnen anzurufen.

Am Abend öffneten sie die Flasche Wein und schauten zusammen einen Film. Anna hatte ihren Abstecher bei Doris kurzgehalten. Danach blieb Oliver vor den Nachrichten hängen, während Anna Mails aus der Wetterredaktion las.

„Das ist nicht zu fassen, was die Engländer unserer europäischen Wirtschaft antun!“ Er stellte sein Weinglas mit einem lauten Knall auf dem Glastisch ab.

Anna zuckte nicht einmal zusammen. Wenn Oliver politische Sendungen sah, verlor er immer die Fassung. Die britische Separation aus der EU trieb ihn seit Wochen zu Wutausbrüchen.

„Das gesamte Bruttosozialprodukt von England kommt einem Erdrutsch gleich. Kannst du dir vorstellen, wie viele Kunden wir durch den Austritt verlieren?“

Anna klappte den Computer zu und beschloss, ins Bett zu gehen. „Du hast Recht, Schatz.“ Erst danach merkte sie, dass ihre Antwort überhaupt keinen Sinn ergab. Oliver war es nicht aufgefallen.

Als sie schon fast eingeschlafen war, kam Oliver ins Bett. Sie kuschelte sich in seinen Arm. Er roch nach einer Mischung aus After Shave und Zahnpasta.

„Musst du morgen verreisen?“

„Nein, diese Woche nicht mehr. Ich werde den Wasseraufbereiter zum Boot bringen. Es ist nicht mehr viel Zeit bis Oktober …“ Er strich Anna über die Haare.

Anna dachte an die ganze Arbeit, die noch zu erledigen wäre, bis sie endlich in See stechen würden. Fast konnte einem schwindelig werden vor Vorfreude. Vorher mussten sie unbedingt noch eine große Party geben und alle Freunde zum Abschied einladen.

„Ich freue mich auf den Törn“, sagte Oliver und blickte ihr tief in die Augen. „Endlich einmal wieder nur wir zwei auf unserem Boot.“

„Ich freue mich auch“, sagte sie ehrlich und meinte dabei die Weite, die Wellen und das Wetter über ihr. An lauschige Abende mit Rotwein und neuen Freunden an Bord, lange Gespräche über Großsegel, Spinnaker und die Freiheit des Lebens dachte sie auch. Das sagte sie ihm aber nicht.

Oliver drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Aber du musst das mit deinen Blutwerten klären!“

Anna verschränkte ihre Arme unter der Bettdecke. Soweit kam das noch, dass ihre Thrombodingens ihren großen Traum durchkreuzten.

„He, das ist kein Witz, Engelchen“, sagte er. „Bitte kümmere dich darum.“

KAPITEL 3

Anna hastete die drei Stufen zur Tür des Fernsehsenders empor. Sie freute sich auf die Kollegen. Bestimmt würden alle Augen machen, dass sie so schnell ihren Dienst wieder antrat. In der Eingangshalle schlug sie den Weg zum Treppenhaus ein – vierter Stock, ihr persönlicher Frühsport, sie wollte doch fit bleiben. Auf der zweiten Treppe hielt sie inne und fasste sich an die Hüfte. Ein wenig tat sie immer noch weh. Kein Wunder, nach dem, was sie am Montag bei Dr. Tümmler erlebt hatte, dem Arztes, dessen Adresse sie auf der Visitenkarte des Orthopäden gefunden hatte. Oliver hatte keine Ruhe gegeben, bis sie letzte Woche endlich in der Hämatologie, der medizinischen Fachabteilung für Blut, in der Uniklinik Aachen angerufen hatte. Gleich am Freitag, drei Tage später, sollte sie kommen. Anna sah den Arzt noch vor sich, groß, souverän, mit dunklem Bart, nicht unattraktiv. Dr. Tümmler konnte sich keinen Reim aus den entgleisten Blutwerten machen. „Das kann so gut wie alles sein, Frau Wunderle“, hatte er gesagt. „Für eine genaue Diagnose müssen wir ihr Knochenmark punktieren.“ Mit diesen Worten war er mit einer länglichen Nadel und Desinfektionsspray in Richtung ihrer Hüfte verschwunden. Was dann passiert war, würde Anna ihr Leben lang nicht vergessen. Es war kein Schmerz gewesen, wie sie ihn vom Zahnarzt oder von ihrem Fahrradunfall her kannte. Es war ein Druck, der tief in ihrem Körper begann und in ein starkes Stechen überging. Da half es auch nicht, dass die Arzthelferin ihr beschwichtigend zuredete, sie möge bitte einfach aushalten und abwarten.

Mittlerweile hatte Anna die dritte Etage erreicht und schnappte nach Luft. Ihre Kondition hatte anscheinend nachgelassen. Sie wollte die Ergebnisse der Punktion abwarten, die Dr. Tümmler ihr in einer Woche vorlegen sollte. Dann musste sie dringend ihr Jogging-Training wieder aufnehmen.

Auf den letzten Stufen lächelte sie. Gleich würde es hektisch und laut werden. Im Studio fühlte sie sich einfach zuhause. Sie liebte die Geschäftigkeit der Techniker, und sie war fasziniert davon, die Wetterdaten zusammenzustellen, zu relevanten Nachrichten zu formulieren und dann zu präsentieren. Es war ein Privileg, so einen aufregenden Beruf zu haben.

Sie ging an der langen Glaswand des Schnittraumes vorbei und winkte den beiden Cutterinnen hinter der Scheibe fröhlich zu. In der Redaktion wollte sie unbedingt auch noch vorbeischauen, hoffentlich blieb genug Zeit dafür. Die Aufzeichnung der heutigen Wettervorhersage von Wetter-TV war in einer Stunde angesetzt.

„Anna, was machst du denn hier?“ Stuart, der Trickmischer kam im Eilschritt durch den Gang gelaufen, legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie freundschaftlich neben sich her. Keine Antwort abwartend, bog er unmittelbar danach links in den Technikraum der Sendezentrale und ließ die Tür hinter sich zufallen.

„Ich gehe auf Sendung, Stuey“, murmelte Anna lächelnd und ging weiter den Gang entlang. Ein wenig holprig, ihre Schuhe waren zu hoch für lange Wege, und sie schonte die Schulter bei jeder Bewegung. Sie hatte heute Morgen zu einer extra Dosis Ibuprofen gegriffen, um den Tag zu überstehen.

Im Vorbeigehen bemerkte sie ihr Spiegelbild in der Glasscheibe und strich sich zufrieden über den engen Rock. In ihrer Rolle als Moderatorin musste sie vor der Kamera perfekt gekleidet sein, ohne Falte und Fussel. Die gab es schon genug in ihren Jeans und Pullis. Im Studio trug sie nur Markenkleidung bester Qualität, die sie in einem Extra-Schrank Bügel für Bügel nebeneinander aufhängte. Sie hatte vieles neu anschaffen müssen, als ihr Chef ihr zu Beginn eröffnete, dass sie frei in der Wahl ihrer Kleidung wäre, jedoch nie, wirklich niemals etwas Blaues tragen dürfte. Stuart, der für die Mischung aus digitalen Daten und Filmmaterial zuständig war, machte eines Tages spaßeshalber mit Anna eine Aufnahme in einem blauweiß gestreiften T-Shirt vor dem Blue Screen. Das Resultat konnte sich sehen lassen, allerdings nicht in der Öffentlichkeit.

Heute hatte sie sich für ihr hellgraues Calvin Klein Kostüm entschieden, das ihre schlanke Figur besonders betonte. Oliver hatte die Augenbrauen hochgezogen, als sie ihren rechten Arm stöhnend in den engen Blazer quälte.

„Muss das wirklich sein, Anna? Warum bleibst du nicht zuhause? Du kannst prima die Segelsachen vorbereiten oder Ronjas letzte Tage in Deutschland mit ihr verbringen. Kein Mensch wird dich beim Sender vermissen.“

Und ob, hatte Anna gedacht und wortlos das Haus verlassen. Alle würden sie vermissen, Stuart, Steffi, die Dame in der Cafeteria, ihr Chef Mike … Ganz vielleicht war es aber auch umgekehrt, schoss es ihr für einen kurzen Augenblick durch den Kopf.

In dem großen Studio wurden die schweren Kameras bereits ausgerichtet und ein letztes Mal von den Technikern gecheckt. Anna musste unwillkürlich lächeln, als sie die blau ausgeleuchtete Leinwand erblickte. Das Scheinwerferlicht, das Summen der Geräte, der Geruch von heißen Leuchten, schwitzenden Redakteuren und staubigem Linoleum hatte ihr in der letzten Woche gefehlt.

Anna war ein alter Hase im Job und genoss die völlige Abwesenheit von Lampenfieber. Die Daten der verschiedenen Wettermodelle wurden ihr vor jedem Sendetag morgens nach Hause geschickt, sodass sie sich einlesen konnte; die Redakteure standen online mit ihr in Verbindung, und die fertigen Texte bekam sie zwei Stunden vor der Sendung zugeschickt. Auch heute hatte sie sich am Tag zuvor mit dem Tief, das von der Biskaya über Frankreich nach Süddeutschland heranzog, schon intensiv angefreundet.

„Der Soundcheck, Anna, bitte, jetzt“, ordnete Mike, ihr Chef an. Er tauchte immer unversehens auf, aus dem Nichts, mit einem Luftzug um ihn herum, ähnlich dem des Tiefdruckausläufers in der Vorhersage.

Anna positionierte sich in gewohntem Abstand vor dem Blue Screen, Blue Box unter Fernsehleuten genannt, und griff das Ansteckmikrofon, das ihre Assistentin Steffi ihr reichte.

„Danke“, sagte sie kurz – und dann: „Check one, two, three.“

Mike nickte und verschwand aus Annas Sichtweite. Noch schnell in die Maske, dann war es so weit. Anna begrüßte Aimee, ihre Stylistin.

„Anna, ich dachte, du bist erst in vier Wochen wieder da?“ Aimee musterte Annas Schulter.

„Klasse, was? Ging schneller, als die Polizei erlaubt“, flachste Anna und zog die Papiere mit dem Redaktionstext aus der Tasche. Sie hatte keine Lust, zwanzig Minuten vor der Sendung über ihre Blutwerte zu sprechen. Aimee würde genauso wenig damit anfangen können wie sie selbst.

Die Stylistin begann, pfirsichfarbenen Puder aufzutragen, zuerst mit dem Pinsel, anschließend mit den Fingern. „Mach’ keinen Quatsch, was war mit deiner OP?“

„Verschoben“, murmelte Anna und vertiefte sich in ihre Papiere. Das Make-up wurde zügig aufgetragen, ein verdichtender Lidstrich auf der Höhe der Lidfalte gezeichnet und dichte Wimpern getuscht; dann griff Aimee nach der Bürste und ging mit großzügigen Strichen durch Annas blonden Pagenkopf. „Gut siehst du heute aus. Ausgeschlafener als beim letzten Mal.“ Schnell schnitt sie die Konturen der Frisur nach, zupfte ein, zwei Ponysträhnen in Annas Stirn, etwas Haarspray und fertig.

„Wow“, rutschte es Anna heraus, als sie wieder von den Papieren aufsah. Die Farbe des Lippenstiftes war ein toller Kontrast zum Grau ihres Kostüms.

„Dich schminke ich immer am liebsten. Klein, aber oho“, lachte Aimee, bevor Anna grinsend den Raum verließ. Sie spielte auf Annas 1,65 Meter Körpergröße an, die für eine Moderatorin eigentlich zu wenig waren. Dieses Manko machte Anna locker mit ihrer Vorliebe für hohe Schuhe wett – und mit ihrer Ausstrahlung, so hatte zumindest Stuart es ihr bei einer Betriebsfeier einmal gesteckt.

Zügig begab sich Anna in den Senderaum. Sie schritt vor die Leinwand, suchte die markierte Stelle am Boden und stellte sich eine Handbreit daneben. Wie zuhause antrainiert, hob sie dieses Mal den linken Arm nach oben, wo sie England in der fiktiven Wetterkarte auf dem Screen vermutete.

„Du stehst verkehrt herum, Anna!“, kam die Stimme aus der Regie.

„Heute einmal anders – Abwechslung tut gut!“ Hoffentlich kamen nicht noch mehr Fragen …

Die erste Kamera drehte sich um neunzig Grad, warf dabei fast einen Scheinwerfer um, und vom Backstage hörte man lautes Fluchen.

„Kannst du das nicht vorher sagen!“ Rob, der Kameramann war sonst die Gelassenheit in Person.

„Zeit …! Licht und Ton ab“, kam die Stimme aus der Regie.

Anna strahlte in die Kamera, ihre Augen wurden groß und sie begann zu sprechen. „Guten Abend, meine Damen und Herren. Heute habe ich schlechte Nachrichten für Sie, es wird stürmisch bei uns …“ Die Wetterlinien schienen aus dem Blue Screen herauszugleiten und Anna zu umgarnen. Obwohl sie sie nicht sehen konnte, wusste sie genau, wo sie waren. Sie schwebte wie auf einer Welle in Blau vor der Leinwand, beschrieb mit Worten, Mimik und langsamen Handbewegungen die Richtung des Unwetters. Sie redete sich in Fahrt, und trotz der schlechten Vorhersage fühlte sie, wie ein Strahlen von ihr ausging und ihr nicht nur vom Scheinwerferlicht warm wurde.

„Der große Regen folgt zum Glück erst nach dem Wochenende. Sie können zwar nicht auf ein erstes Samstagabend-Grillen hoffen, doch den Sonntags-Spaziergang an diesem leicht stürmischen Frühlingstag verwehre ich Ihnen nicht.“ Sie senkte langsam die Arme und konnte nicht aufhören, zu strahlen. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, machen Sie es gut!“ „Erstklassig, Anna, wie immer“, kam die Rückmeldung aus der Technik. Stuart aus dem Redaktionsraum hob grinsend den Daumen. Mike kam aus dem Dunkel und drückte ihr anerkennend den Arm. Autsch.

Etwas atemlos schritt sie aus dem Scheinwerferlicht, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das war es, was sie wollte. Das war ihr Leben. Kameras, Wetterfronten, Gewittermeldungen und Menschen, die sie anlachten. Erfolg. Nichts sollte ihr einen Strich dadurch machen.

KAPITEL 4

Anna kam mit der Handtasche voller Medikamente, die sie in der Apotheke besorgt hatte, nach Hause und stolperte im Hausflur über einen riesigen Pappkarton mit Kleidung. „Ronja, komm’ runter“, rief sie ins Obergeschoss.

„Kann nicht, muss noch den Biochemie-Bericht schreiben“, tönte es aus Ronjas Zimmer.

Im Flur gab es kein Durchkommen. Neben dem Karton stapelten sich Holzkisten, die zum Boot gebracht werden mussten. Plastikgeschirr, Besteck – die Kombüse sollte neu eingerichtet werden. Es war acht Tage her, dass sie aus der Klinik nach Hause gekommen war, und Anna hatte Oliver überredet, die Vorbereitungen für die Reise wieder aufzunehmen. Mit Physiotherapie und Schmerzmitteln glaubte sie, ihre Schulter so unter Kontrolle zu bekommen, dass sie mithelfen konnte. Bis September waren nur noch vier Monate.

Anna warf einen kurzen Blick in Olivers Arbeitszimmer. Es war das einzige Zimmer im Haus, das vor Ordnung nur so glänzte. In den Regalen standen gleich aussehende Aktenordner auf exakt gleicher Höhe, peinlichst genau mit Schablonenstift beschrieben, sodass selbst ein Erstklässler schnellstmöglich die Akten aus dem Jahr 2010 oder 2014 finden könnte. Der Schreibtisch blitzte, nichts unterbrach die weiße Fläche.

Anna ging die Treppe hoch und klopfte an Ronjas Tür. „Was ist das für eine Kiste im Flur?“

„Winterklamotten.“ Ronja zeigte auf den Kleiderschrank, der aufgeräumt schien. „Schau, Mama, ich habe meinen Schrank sortiert!“

Anna war nur wenig beeindruckt, denn ihren Kleiderschrank räumte Ronja alle drei Monate um. „Und was, meine Süße, stellst du dir vor, soll mit der Kiste im Flur passieren?“

„Die schickst du mir bitte im Herbst nach, ja?“ Ronja legte den Kopf schief und lächelte ihr reizendstes Lächeln, was sie immer auflegte, wenn sie ihre Mutter um den Finger wickelte. Als Einzelkind hatte sie viel Erfahrung damit. Mit ihrer Haarfarbe war sie schon im Kindergarten aufgefallen, und das rötliche Blond korrespondierte die ganze Schulzeit mit Ronjas Eigenwillen. Besonders schlimm war die Pubertät gewesen, in der ein Streit mit Anna in einem autonomen Friseurbesuch der Vierzehnjährigen endete, die anschließend mit dunklen Rasta-Locken nach Hause kam. Anna musste grinsen.

Ronja sah sie plötzlich auffordernd an. „Ich habe dich vorgestern im Fernsehen gesehen. Was hast du denn mit deinem linken Arm gemacht? Sah ganz anders aus als sonst …“

Anna zuckte zusammen. Da musste sie sich die Sendung unbedingt selbst noch einmal ansehen. „Ich gehe jetzt zum Chor. Über die Wintersachen sprechen wir noch.“ Sie schloss die Tür und holte ihre Jacke. „Mach den Meerschweinchen bitte etwas zu fressen”, fiel ihr an der Haustür ein, und sie ärgerte sich darüber, dass sie eine Neunzehnjährige an ihre Pflichten erinnern musste.

Es wurde Zeit, dass Ronja auf eigenen Füßen stand. Zu dumm, dass die Meerschweine dann nahtlos in Annas To-do-Liste übergehen würden.

Vor dem Haus sah Anna wie gewohnt zum Himmel. Nach der Wettervorhersage war vor der Wettervorhersage. Immer in Vorbereitung auf die nächste Sendung. In der Dämmerung sah man dunkle Regenwolken über das Voreifel-Dorf ziehen, es war windig. Besser nicht das Fahrrad, dachte sie und schloss ihren Polo auf. Da klingelte ihr Handy.

„Hi, hier ist Doris. Wollte nur wissen, ob du zum Singen kommst?“ „Klar komme ich. Hast du meine Nachricht nicht bekommen?“, fragte Anna und startete den Wagen.

“Barambambi“, sang Doris am anderen Ende der Leitung.

„Barambambu“, echote Anna und lachte. „Deshalb hast du mich angerufen?“

Beide kicherten noch eine Weile herum, bevor Anna auflegte. Was war Doris doch ein albernes Huhn. Anna freute sich, sie gleich zu sehen, um ihr nach der Probe weiter von ihren irritierenden Arztbesuchen zu erzählen. Doris hatte die drohende

Schulter-OP mit einer großen Zahl an erschrockenen Emojis per SMS begleitet, aber Annas Besuch bei ihr in der letzten Woche war viel zu kurz ausgefallen.

Im Pfarrsaal waren zwanzig Stühle aufgestellt, und nach und nach trudelten ihre Mitsänger mit großem Hallo ein. Seit vier Jahren sang Anna in dem 30-Mann-Frau-Chor „Harmony“, der moderne Popsongs, aber auch jazzige Stücke aufführte. In der kleinen Stadt waren sie ein bekannter Garant für gute Chormusik mit Showeinlagen und Choreografien.

„Hallo Petra! Schicke Jacke!“ Küsschen links, Küsschen rechts. Ihre Nachbarin im Alt saß schon auf ihrem Platz.

„Hi Barambambu“, und Schmatz, hauchte sie einen Kuss auf Doris’ Wange.

„Der Robert, heute mal nicht zu spät!“ Großes Gejohle im Tenor. Man drückte sich, reihum wurde auf die Schulter geklopft und begrüßt.

„Hey, Anna, wird es morgen regnen?“ Anna hatte Angst um ihre Schulter, als sie herumgewirbelt wurde und Thomas aus dem Bass erkannte. Mal wieder diese Wetterfrage …

„Es kommt ein Antizyklonenhoch mit Rekordtemperaturen von 28 Grad von den britischen Inseln rüber“, fabulierte sie. Thomas zog die Augenbrauen hoch und lächelte verlegen. Schnell wandte er sich der nächsten Dame zu.

„Bling-Bling!“ ertönte es laut von vorne. Tabea, eine schlanke, dunkelhaarige, junge Frau rief mit ihrer auffallend tiefen Stimme alle Herumstehenden zusammen.

„Ich lese Euch aus der Zeitung vor: Der Auftritt kam sehr gut an! Das Publikum war begeistert von Harmonys Auftritt im Seniorenheim. Das habt ihr gut gemacht!“

Anna grinste fröhlich zu Doris rüber. „Alles klar?“, fragte sie kurz, konnte Doris’ Antwort jedoch nicht mehr hören, da ein lautes Lalala in C-Dur Dreiklängen alles übertönte. Nach weiteren Stimmübungen gab es eine Percussion-Session. Rhythmisches

Klatschen, Stampfen und Prusten war zu hören, bis ein Tenor dem benachbarten Bass zur Belustigung aller ins Gesicht klatschte. Da geriet der Rhythmus aus den Fugen.

In der kurzen Pause, in der Tabea die Noten für das nächste Stück heraussuchte, sah Anna, wie Doris von Petra herzlich gedrückt wurde. Auch Sabine aus der hintersten Reihe gratulierte ihr. Merkwürdig, die beiden waren gar nicht so gut befreundet. Sollte Doris etwa Geburtstag haben?

Sie suchte Doris’ Blickkontakt, doch die sah stur nach vorn. Anna fragte trotzdem: „Hattest du Geburtstag?“

„Klar. Gestern“, sagte Doris kurz. So ein Mist. Das hatte Anna nicht gewusst. Oder doch? Sie kramte in ihrem Gedächtnis, aber nichts dergleichen fiel ihr ein.

„Das Intro von ‚Slow me down’ bitte, aber sauber!” Tabea trieb die Sänger zusammen in einen Halbkreis, und Anna konnte Doris hinter den Männern nicht mehr sehen. Eins, zwei, drei, dududu, dumm dumm, ertönte es, der Rhythmus ergriff Anna, und sie schaute schnell in ihre Noten. Die Melodie pulsierte in einer Endlosschleife und erfüllte weich den Raum.

Das nächste Stück war besonders schwierig, und Anna wurde nach vorn gerufen, um die Solostimme zu singen. Immer noch hatte sie mit Doris nicht sprechen können – unruhig sang sie die erste Zeile, ihre Stimme zitterte.

„Anna, das ging auch schon mal besser.“ Tabeas Einwand traf sie hart.

„Sorry. Bin ein wenig raus.“ Leider fiel ihr keine passende Entschuldigung ein.

Das Stück wurde noch einmal angesungen, und Tabea haute in die Tasten, während die Soprane eine neue Choreographie mit Regenschirmen übten, die synchron durch die Luft gewirbelt werden sollten, was nicht allen gelang.

„Let it rain, let it clear, I don’t care as long you’re near.”

Anna schaute erst auf, als das Lied zu Ende war. Gott sei Dank hatte ihre Stimme sich wieder gefangen. Tabea lehnte sich auf ihrem Klavierstuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

„Ich habe dich unterschätzt, Anna. Und wenn die Choreo dann auch funktioniert, wird das sehr gut! Wir machen zwei Sonderproben bis zum Auftritt in vier Wochen. Bis dahin muss alles sitzen. Auswendig!“ Sie warf einen aufmunternden Blick in die Runde.

Anna zog den Kopf ein und nickte. Da war ein komisches Gefühl im Magen. Auftritt in vier Wochen. Da wäre Ronja schon 14 Tage weg. Ihre Wangen fühlten sich heiß an, und sie ging an ihren Platz zu Doris zurück. Doris sah auf den Boden, als Anna sich neben sie stellte. Anna war es nicht wohl in ihrer Haut. Sollte sie wirklich Doris Geburtstag vergessen haben? Sie erinnerte sich noch genau an den Tag vor vier Jahren, an dem sie Doris das erste Mal gesehen hatte. Sie fand die junge Frau mit der auffälligen Brille und dem Kurzhaarschnitt sofort sympathisch und mochte ihren trockenen Humor. Kein anderer konnte so lustige Bemerkungen über die Männer im Tenor machen, die sich so mit den hohen Tönen abmühten.

Doch Tabea ließ ihnen keine Atempause. Sie spielte einen D-Moll Akkord an, und Anna bekam weiche Knie, weil es das Paradestück von Harmony, ihr Lieblingsstück war. „Calm after the storm“ von den Common Limits. Tenor- und Sopranstimmen stimmten an, im zweiten Teil legte sich der Bass darunter, zuletzt setzte die Altstimme ein. Ein weicher Klangteppich entstand, wurde stärker, wärmer, und der Raum schien zu schweben in dem Refrain, der Anna durch Mark und Bein ging. Sie sah ihre Chorfreunde entspannt die Lippen bewegen, viele lächelten. Die Musik drang laut bis auf die Straße, und die Luft flimmerte im Takt. Wie bei einem Azorenhoch, dachte Anna und war für einen Moment glücklich. Mit dem Schlussakkord verschwand der letzte Klang wie in der Unendlichkeit.

„Fertig für heute! Wir sehen uns nächste Woche!“ Die Probe war endlich zu Ende.

„Anna, wann geht deine Reise los? Nach unserem Auftritt?“ Petra hatte einen Stuhl in der Hand, um ihn wegzuräumen.

„Im September erst …“

„Ich bin neidisch! Das Abenteuer beginnt! Mensch Anna, ich freue mich für dich! Dass du keine Angst hast vor der langen Reise! Und lass dich nicht von Piraten kapern!“

Anna spürte eine schnelle Umarmung und sah Petra davonhuschen. Ihre Augen suchten Doris. Die stand in der Tür und winkte.

„Tschüss, ich bin weg!“ Dabei machte sie zu Anna eine Handbewegung wie beim Telefonieren, und rief: „Ich melde mich. Du musst mir erzählen, wie es mit der Schulter weiter gegangen ist!“ Dann war sie verschwunden. Zwischen Umarmungen der Damen und Schulterklopfen der Herren stand Anna vor der Tür und schaute Doris’ Auto hinterher. Was für ein merkwürdiger Tag.

KAPITEL 5

Es war Montagmorgen, einer dieser letzten Apriltage, an dem die höherstehende Sonne die Narzissen in Nachbars Garten zur vollen Blüte erweckte, als Anna sich wieder in der Klinik einfand und auf Dr. Tümmler wartete. Dieses Mal hatte Oliver sich zwischen zwei Gerichtsterminen frei genommen und saß neben ihr. Nach der Blutabnahme durften sie endlich in das Zimmer des Arztes mit dem originellen Namen. Schon zehn Tage vorher hatte Anna ein Kichern unterdrücken müssen, als er ihr das erste Mal mit einem lauten „Tümmler“ die Hand gereicht hatte. Dieser Hüne von Mensch sah wirklich nicht wie ein Delfin aus.

Sie saßen vor Dr. Tümmlers großem Schreibtisch und sahen zu, wie er die vielen Zettel vor sich sortierte. Anna hatte im Internet geforscht und einige Ursachen gefunden, warum Blutzellen nicht mehr richtig gebildet würden. Als sie an der einen oder anderen Stelle auf das Wort Leukämie gestoßen war, hatte sie ihren Laptop zugeklappt und war in den Garten zu den Meerschweinchen gegangen.

Dr. Tümmler hatte fertig sortiert und hob den Kopf. „Frau Wunderle, die Knochenmarkspunktion zeigt ein eindeutiges Ergebnis.“ Er schaute abwechselnd Oliver und Anna an und seine hellen, forschenden Augen wurden schmal. „Ihr Knochenmark zeigt eine Schädigung zweiten Grades, das bedeutet, dass Ihre Blutbildung fehlerhaft ist. Bei Ihnen sind besonders die Leukozyten und Thrombozyten betroffen, vermutlich schon seit Monaten. Zudem haben wir noch nicht differenzierte Blutzellen gefunden, genetisch veränderte Zellen, die sogenannten Blasten. Die sind gefährlich.“

Anna lehnte sich in dem harten Lehnstuhl zurück. Ihre Hände wurden feucht und sie wagte einen kurzen Blick zur Seite. Oliver hatte die Augen weit aufgerissen.

„Ihre Erkrankung nennt man MDS – ein Myelodysplastisches Syndrom. Es tritt im Allgemeinen eher bei alten Patienten auf.“ Anna sah den Arzt fragend an.

„Ich bin 49 …“ unterbrach sie ihn. „Wie kann ich dann eine MDS haben?“

„Das wissen wir nicht. Die genetische Veränderung kann durch alles Mögliche ausgelöst worden sein. Medikamente, Bestrahlung. Ich fürchte, wir werden den Grund nicht identifizieren können.“

Anna biss die Zähne zusammen. Sie fühlte sich fehl am Platz. Da konnte ja nicht viel bei herauskommen, wenn der Arzt ihr eine Erkrankung nahelegte, die nur bei alten Patienten auftrat. Sie wollte lieber wieder in die Orthopädie, sich ihre Schulter operieren lassen.

Oliver setzte sich aufrecht und fragte nervös: „Das klingt wie eine … Leukämie?“

„Nein, um eine Leukämie handelt es sich hier noch nicht. Ich sage bewusst – noch nicht.“

Annas Hände krallten sich in die Armlehnen ihres Stuhles. Ihre Augen suchten einen Halt und blieben an Dr. Tümmler hängen. Was hatte der Arzt für ein nettes Poloshirt an. Sollte Oliver sich mal ein Beispiel daran nehmen. Wie durch einen Schleier hindurch hörte sie, wie Dr. Tümmler weitere Details der Krankheit beschrieb.

Die veränderten Blutkörperchen würden sich rasant vermehren. Schlimmer noch, die Blasten würden die gesunden Stammzellen verdrängen. Das ganze System würde kippen. Durch den Mangel an weißen Blutkörperchen seien MDS-Patienten häufig krank, der Verlust der roten Blutzellen führe zu Blutarmut und mache

müde.

Anna versuchte, sich zu erinnern – müde war sie in den letzten Wochen oft gewesen. Oliver sagte leise: „Du hattest ein Schlafbedürfnis wie ein Murmeltier.“

Die Vorbereitung für den großen Segeltörn hatte in den Monaten vor Ostern Ausmaße angenommen, die Kraft gekostet hatte. Sie hatten beide nach der Arbeit die nötigen Utensilien für das Boot besorgt, für den Wasseraufbereiter waren sie bis nach Süddeutschland gefahren. Immer wieder führte es sie zum Boot, das in Holland lag. Oft hatten sie bis nachts am Computer die Dokumente für die „Atlantic Rallye for Cruisers“ zusammengestellt.

Eine aufregende Zeit, dennoch war Anna merkwürdig erschöpft gewesen. Sie fragte sich, ab wann genau sie eigentlich krank geworden war.

„Die Therapien gegen die MDS haben sich in den letzten Jahren zwar verbessert“, sagte Dr. Tümmler und zog mehrere Broschüren aus einer Schublade. „Es gibt zum Beispiel Medikamente, die die Krankheit aufhalten. Das sind allerdings keine Optionen für Sie, in Ihrem jungen Alter. Ich werde nicht um den heißen Brei herumreden, Frau Wunderle. Für Sie kommt lediglich eine Knochenmarktransplantation in Frage.“

Anna wurde es sehr warm in ihrem dünnen T-Shirt. „Eine Transplantation?“, wiederholte sie so leise, dass sie selbst es kaum hören konnte. Oliver legte seine Hand auf ihren Arm.

Sie blickte auf die Prospekte auf dem Schreibtisch, doch die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Alles war so nebulös, so unwirklich. Transplantation, Knochenmark, sie dachte an Spendenaufrufe in Radio und Fernsehen, die sie zwar gehört, bisher jedoch wenig beachtet hatte. „Der kleine Luis braucht dringend einen Knochenmarkspender, sonst ist sein Kampf ums Überleben zu Ende …“ Bunte, selbstgemalte Plakate an Bäumen, große Lettern in Zeitschriften.

Ihr Mund fühlte sich trocken an, ihr Körper taub. Es war unerträglich warm in diesem Behandlungszimmer.

„Was bedeutet das für meine Frau?“ Oliver rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

Dr. Tümmler stand auf und öffnete das Fenster, um Luft in den stickigen Raum hineinzulassen. Der Wind wehte die Gardine leise in die Praxis. Draußen weinte ein Kind.

„Ihre Frau kommt für einige Wochen auf unsere KMT-Station“, wandte er sich den beiden wieder zu.

„KMT?“

„Knochenmarktransplantation. Dort zerstören wir ihr Knochenmark mittels einer Hochdosis-Chemotherapie. Anschließend erhält sie neue Stammzellen, die neues, gesundes Blut produzieren können.“

Anna fand ihre Sprache wieder. „Aber wo bekommen wir einen Spender her?“

Der Arzt reichte ihr eine Broschüre, auf der in großen Buchstaben DKMS geschrieben stand. „Bitte lesen Sie sich diese Unterlagen in Ruhe durch, da steht alles über die Therapie drin. Außerdem empfehle ich Ihnen, sich psychologische Unterstützung zu holen.“ Anna sah ihn mit großen Augen an.

„Ich schreibe Ihnen einen Namen auf. Frau Steinbrink ist eine hervorragende Psychoonkologin, die Sie auf die besondere Situation der Transplantation vorbereiten wird.“

Psychologie. Anna schüttelte sich innerlich. Aber sie hatte eine andere Sorge.

„Wie groß sind denn meine Chancen für einen Spender?“ Hoffentlich sagte er jetzt nicht so etwas wie „fifty-fifty“.

„Früher war dies ein großes Problem. Heutzutage hat die DKMS ein großes Register aufgebaut, das an eine weltweite Datenbank angeschlossen ist. Die Chancen, einen Fremdspender zu finden, liegen mittlerweile bei über 85 %. Die einfachste und beste Möglichkeit, einen Knochenmarkspender zu finden, sind allerdings immer noch Geschwister.“

Richtig, Anna erinnerte sich dunkel daran, dass ihr jemand erzählt hatte, dass er Knochenmarkspender für seinen Bruder gewesen war. Wer war das nur gewesen? Hätte sie doch damals besser zugehört!

„Ich habe zwei Brüder ...“, sagte sie leise.

„Die können Sie schon einmal darauf vorbereiten, sich typisieren zu lassen.“

Wolfgang fragen? Das wird schwierig, dachte Anna. Und Klaus in New York erst recht. „Und wenn ich die Transplantation nicht mache, was dann?“

Der Arzt schlug die Akte zu und sah ihr fest in die Augen. In diesem Moment sah Anna die Sorge darin. Sorge um sie, eine Patientin, die kurz vor einer Leukämie stand.

„Sie haben eine Lebenserwartung von drei Jahren. Jedes davon wird schwieriger, und das letzte, Frau Wunderle, das möchten Sie nicht erleben. Jeden Tag eine Bluttransfusion ist kein Spaß.“ Anna verschlug es den Atem. Ihre Hände zitterten. Drei Jahre. Sie hatte einmal gemeinsam mit Oliver eine Löffel-Liste erstellt, eine Liste der verrückten Lebensträume, die sie erleben wollte, bevor sie den Löffel abgeben würde. Sie war mehrere Seiten lang und Anna würde gerade einmal Punkt eins, den Segeltörn, abhaken können.

Dr. Tümmler stand auf und trat auf sie zu.

„Sie haben einen Vorteil. Sie sind recht jung für die Therapie. Ihr Körper ist in einer guten Verfassung. Wissen Sie, manche Patienten wie Sie segeln einfach so dadurch …“

Durchsegeln. Das wollte Anna auch. Sie sah Oliver an, dem es die Sprache verschlagen hatte. Er hatte wässrige Augen und rührte sich nicht vom Fleck. Am liebsten hätte sie ihn getröstet und in den Arm genommen, obwohl es doch eher umgekehrt sein sollte. „Segeln kann ich“, sagte sie, mehr zu Oliver als zu dem Arzt.

KAPITEL 6