Anne - Berit Poll - E-Book

Anne E-Book

Berit Poll

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Anne, hochschwanger, verlässt im Alter von 18 Jahren ihr Elternhaus, wo sie mit ihren vier Geschwistern in schwierigen sozialen Verhältnissen aufwuchs. Voller guter Vorsätze und mit einem freudigen Blick auf eine Zukunft mit einer eigenen neuen Familie, zieht sie mit ihrem Freund, welcher auch der Vater des Kindes ist, zusammen. Als ihr Sohn Tim auf die Welt kommt, entwickelt sich alles ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Annes Rolle als Mutter gestaltet sich unerwartet schwierig. Sie ist überfordert und ihr Sohn gerät in Gefahr. Die Situation spitzt sich immer mehr zu und Anne muss wichtige und grundlegende Entscheidungen für die kleine Familie treffen. Über die zeitgemäße Thematik um einen sich entwickelnden Konflikt in einer frühen Mutterschaft möchte dieses Buch zur Bereitschaft ermutigen, in derart schwierigen Lebensphasen professionelle Unterstützung anzunehmen. Dies als Mut und nicht als Schwäche zu erkennen. Auch kann diese Geschichte den Anstoß geben, in pädagogischen Wirkungs- und Lehrbereichen einen Gedankenaustausch anzufachen.

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Seitenzahl: 162

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Autorin

Berit Poll, Mutter von zwei Kindern, wurde am 10.12.1964 als jüngste von sechs Geschwistern in Hattingen/Ruhr geboren. Schon immer sah sie sich den Fachgebieten Pädagogik und Psychologie mit großem Interesse zugeneigt. Beruflich wählte sie ihre Aufgabenbereiche unter anderem in der Betreuung von Kindern in einem Kinderheim und einer Grundschule. Ein großes Anliegen war ihr insbesondere die Auseinandersetzung mit auffälligen Kindern. So verspürte sie den Wunsch, selbst eine fiktive Geschichte zu verfassen.

Buch

Anne, hochschwanger, verlässt im Alter von 18 Jahren ihr Elternhaus, wo sie mit ihren vier Geschwistern in schwierigen sozialen Verhältnissen aufwuchs. Voller guter Vorsätze und mit einem freudigen Blick auf eine Zukunft mit einer eigenen neuen Familie, zieht sie mit ihrem Freund, welcher der Vater des Kindes ist, zusammen. Als ihr Sohn Tim auf die Welt kommt, entwickelt sich alles ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Annes Rolle als Mutter gestaltet sich unerwartet schwierig. Sie ist überfordert und ihr Sohn gerät in Gefahr. Die Situation spitzt sich immer mehr zu und Anne muss wichtige und grundlegende Entscheidungen für die kleine Familie treffen.

Berit Poll

Anne

Eine junge Mutter kämpft um ihr Glück

© 2017 Berit Poll

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg

ISBN

978-3-7345-6627-1 (Paperback)

978-3-7345-7909-7 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Annes Auszug

Das neue Zuhause

Es geht los !

Die Geburt

Sina

Aufbruch

Wieder daheim

Der Traum

Wochenendfreuden

Die Verabredung

Hilflos !

Ein Wiedersehen mit Sina

Beseelt

Der Besuch

Die Schwestern

Nicht gut genug ?

Sina redet Klartext

Frohe Weihnachten !

Der Ausraster

Justus sieht klar

Die Aussprache

Ratlos !

Wie geht es weiter?

Der innere Konflikt

Unruhe

Raja

Panik !

Justus voll daneben

Die Suche

Mia kennt den Weg

Raja in Sorge

Das Versteck

Wirre Gefühle

Mia nimmt Einfluss

Aufatmen !

Annes Auszug

Anne brauchte nicht viel zu packen. Mühsam schob sie einen Stuhl vor den großen Kleiderschrank, um auf ihn zu steigen. Sicherlich lagen dort oben noch einige ihrer Sachen. Richtig, die große Schachtel mit den vielen Bildern, Postkarten und anderen Erinnerungsstücken aus der Schulzeit war dort zu finden. Als sie hinab stieg, schützte sie ihren Bauch vorsichtig mit den Händen und setzte langsam einen Fuß auf den Boden. Ihr Bauch war in letzter Zeit mächtig gewachsen, sie näherte sich dem Ende der Schwangerschaft.

Heute war der Tag ihres Auszugs. Nun war es vorbei mit der ständigen Enge, die dadurch entstand, dass sie ihr Zimmer mit zwei weiteren Schwestern teilen musste. Sie lächelte vor Freude, nun auf eigenen Füßen zu stehen. Sie trat aus ihrem Zimmer und schaute direkt auf das Zimmer ihrer Brüder. Die Tür stand weit auf und es sah wie immer katastrophal aus. Die beiden hatten dieses ungemütliche Chaos angerichtet, überall lagen Kleidungsstücke, Spielzeug, Bücher und CD´s herum. Nichts war an seinem Platz.

Anne genoss die Ruhe, denn alle Geschwister waren in der Schule. Sie hatte sich einen guten Zeitpunkt ausgesucht, um ihr letztes Hab und Gut zusammen zu suchen. Dies würde sicherlich in eine große Tüte passen.

Anne ging ins Wohnzimmer und sah ihre Mutter, die ausgestreckt auf der Couch lag. Sie machte einen sehr müden Eindruck, ihr Gesicht war blass und sie schien in letzter Zeit etwas abgenommen zu haben. Ihre Augen waren geschlossen, aber Anne wusste, dass sie nicht schlief. Sie war vor zwei Minuten noch in der Küche gewesen.

„Hast du vielleicht eine große Tüte für mich?“, fragte Anne ihre Mutter leise.

Diese legte sich ruckartig auf die Seite und murmelte: „Sieh doch im unteren Küchenschrank nach.“ So war sie immer, abweisend und unfreundlich, also erwiderte Anne nichts darauf.

Sie lief in die Küche und fand glücklicherweise eine große Tüte, nicht sehr stabil, doch sie würde reichen, dachte Anne.

„Ist Papa noch einkaufen?“, rief sie aus der Küche, während sie die Schranktür zufallen ließ und wieder ins Wohnzimmer schlenderte.

„Ich weiß nicht, wo der so lange bleibt“, antwortete ihre Mutter verdrießlich.

„Dann werde ich jetzt gehen! Tschüss, ich schaue mal irgendwann vorbei“, sagte Anne jetzt genervt und verließ schnell die Wohnung.

Ihre Tüte wog mehr als sie vermutet hatte, aber damit würde sie schon zurecht kommen.

Anne stieg langsam die Treppe hinunter. Wie viele Jahre war sie wohl schon hier auf und ab gelaufen? Sie überlegte und kam zu dem Ergebnis, dass es tatsächlich schon 9 Jahre sein mussten, seitdem sie hier eingezogen waren.

Die Familie hatte sich schnell vergrößert und der Wohnraum war für alle gerade ausreichend.

Nun würde sich ihr Leben ändern, sie würde frei und selbstständig sein. Sie freute sich auf ihr Baby. Lächelnd ging sie durch die Haustür. Die Sonne schien.

Anne schaute auf die gegenüberliegenden Häuser, die alle kleine Balkone hatten. Dort standen Sonnenschirme in allen Variationen. Die Menschen, die dort wohnten, hatten sich ein kleines Reich geschaffen. Als sie hier eingezogen waren, gab es dort noch Wiesen mit einem großen Baumbestand. Die Bäume waren herrlich gewachsen und schon sehr alt. Sie hatte diesen Anblick geliebt und als die Bäume abgesägt wurden, zerschnitt es ihr das Herz. An den Anblick der dahinter liegenden kalten Häuserwände musste sie sich erst gewöhnen.

Es zogen viele neue Familien in den Häuserblock ein, so dass sie neue Bekanntschaften schließen und sich über Langeweile nicht beklagen konnte. Nun, das war jetzt alles vorbei.

Anne lief über die Straße und sah ihre Nachbarin mit ihrem Hund spazieren gehen. Es war eine ältere Dame, sie war immer sehr freundlich gewesen.

„Guten Tag, Frau Weiser“, sagte Anne.

Eigentlich wollte sie doch recht schnell an ihr vorbei huschen, aber Frau Weiser war wohl heute sehr redselig.

Sie begrüßte Anne recht überschwänglich und warf natürlich einen Blick auf Annes gewölbten Bauch.

„Hallo, wie geht` s?“, fragte sie.

Ihr kleiner Hund zog heftig an der Leine, aber Frau Weiser blieb stehen und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie sah Anne fragend an und Anne war sich nun sicher, dass sie so einfach nicht davon kommen würde.

„Gut, danke und Ihnen?“, fragte Anne. Aber ihre Strategie, von sich abzulenken, fruchtete nicht.

„Anne, du bist ja schwanger, das wusste ich gar nicht! Wann kommt denn das Baby, und wie alt bist du denn jetzt eigentlich?“, fragte Frau Weiser ohne Atem zu holen.

Anne musste jetzt doch lächeln. Das war typisch Frau Weiser. Sie war schon immer sehr neugierig, aber auf eine liebevolle Art.

„Das Baby kommt ungefähr in vier Wochen, also im Juli und ich bin jetzt 17 Jahre alt, ich werde aber bald 18 Jahre“, antwortete Anne sehr gewissenhaft und suchte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch.

Die Hitze machte ihr heute sehr zu schaffen, außerdem war sie durstig.

„Ist das nicht ein bisschen früh?“, fragte Frau Weiser mit einem besorgten Blick.

„Kindchen, ich habe drei Kinder groß gezogen und das war eine harte Zeit, aber heute ist die Jugend ja ganz anders“, murmelte sie vor sich hin.

„Hast du denn Unterstützung von deinen Eltern und gehst du nicht arbeiten?“, fragte Frau Weiser skeptisch weiter.

„Ich mache eine Ausbildung zur Verkäuferin, aber im Moment bin ich natürlich in Mutterschaftsurlaub“, erklärte Anne nun etwas redseliger.

„Ich werde das schon alles schaffen, Frau Weiser. Ich habe einen sehr lieben Freund, mit dem ich jetzt zusammen gezogen bin. Er ist der Vater des Kindes“, sagte Anne stolz.

Frau Weiser bekam jetzt einen sehr zufriedenen Gesichtsausdruck und nickte verständnisvoll, sie erinnerte sich plötzlich wieder an ihren Hund, der nun sehr lieb und ruhig dagesessen hatte.

Anne hatte ihn zwischenzeitlich bewundert. Der kleine Hundekopf wandte sich während des Gesprächs immer von einem zum anderen, als würde er intensiv zuhören. Die Zunge hing schlabberig heraus, und er hechelte ziemlich schnell. Wahrscheinlich war auch er durstig. „Ein süßes Kerlchen, wie aus einem Bilderbuch“, dachte sie. Darin gefielen ihr immer besonders diese kleinen Hunde mit den Schlappohren.

„Ja, dann mach es mal gut“, sagte Frau Weiser, nachdem sie alles Wichtige für sich in Erfahrung gebracht hatte.

„Alles Gute, Anne, vielleicht sehen wir uns wieder, wenn du deine Eltern besuchst“, sagte sie nochmals.

„Auf Wiedersehen, Frau Weiser!“, verabschiedete sich Anne und setzte ihren Weg fort.

Das neue Zuhause

Anne machte sich schnell auf den Heimweg in die neue Wohnung. Eigentlich wollte sie noch etwas einkaufen, aber die große Tüte hing schwer an ihrem Arm und so konnte sie sich keine weitere Last vorstellen. Außerdem fühlten sich ihre Beine dick und schwer an, sie musste sie dringend hoch legen.

„Dann muss eben Justus einkaufen gehen“, dachte sie so bei sich, es sind ja nur ein paar Kleinigkeiten. Es war tatsächlich schon gegen 15 Uhr, Justus würde bald von der Arbeit kommen. Seit er die Ausbildung zum Schreiner begonnen hatte, war er wesentlich zufriedener geworden.

Obwohl er schon 23 Jahre alt war, hatte er bis jetzt nur hier und da Gelegenheitsjobs angenommen. Nun war er in einem familiären Ausbildungsbetrieb und die Tatsache, bald Vater zu werden, hatte ihn zu dieser vernünftigen Entscheidung bewegt.

„So ist es, wenn man zu Hause finanziell gut versorgt ist“, dachte Anne lächelnd, sie freute sich auf Justus. Wenn sie nicht ihren dicken Bauch vor sich her tragen müsste, hätte sie sicherlich einen kleinen Freudensprung gemacht.

Sie bog um die Ecke und sah auf das Haus, in dem sie ihre neue Wohnung gemietet hatten.

Es war ein altes Fachwerkhaus mit mehreren Mietparteien und nach hinten heraus gab es Balkone, die recht groß waren. Sie hatten die Wohnung in der Mitte bekommen.

Das Haus stand zwischen vielen Bäumen und Sträuchern und vor einer großen Wiese. Anne war von der Lage sofort begeistert, hier würde sie sich wohl fühlen, dachte sie verträumt. Sie zog den Schlüssel aus der Tasche und schloss eifrig die Haustür auf.

Jetzt hatte sie wirklich keine Kraft mehr.

Mühsam stieg sie die Treppen hinauf und war oben an der Wohnungstür angelangt.

„Endlich“, dachte sie. Sie schloss ein weiteres Mal auf und bog direkt um die Ecke in die Küche hinein.

Die Küche war nicht sehr groß, aber für eine kleine Sitzecke war gerade noch genügend Platz. Die Möbel waren gebraucht, sie würden später mit schöneren Stücken ausgetauscht werden, nahm sich Anne vor.

Müde setzte sie sich auf einen Stuhl, sie musste etwas vom Tisch abrücken, damit ihr Bauch genug Spielraum hatte. Das Baby bewegte sich in ihrem Bauch und schien nicht so müde zu sein wie sie.

Ihr Frauenarzt hatte sie gefragt, ob sie das Geschlecht des Kindes wissen wolle, doch sie hatte verneint.

„Hauptsache gesund“, dachte sie.

Zwischenzeitlich erwischte sie sich bei dem Gedanken, dass sie es doch vielleicht besser gewusst hätte, schon wegen der Dinge, welche für das Baby anzuschaffen waren.

Aber es gab genügend neutrale Farben und das, was Justus und sie gekauft hatten, war nicht in Rosa oder Hellblau gehalten. Babysachen hatten sie auf dem Flohmarkt günstig erstanden. Selbst eine sehr gut erhaltene Wiege gab es dort, auf Rädern, damit sie flexibel waren.

Anne ruhte sich ein wenig aus, hatte aber keine Lust die mitgebrachte Tüte auszupacken, stattdessen legte sie sich auf die Couch und hing ihren Gedanken nach.

Jetzt kurz vor der Geburt verspürte sie eine leichte Nervosität, sie hatte Angst vor den Schmerzen. Sie entschieden sich für ein Krankenhaus ganz in ihrer Nähe. Die Klinik machte einen guten Eindruck und das Personal schien nett zu sein.

Die Tür ging auf und Justus kam herein, Anne war froh, dass sie aus ihren Gedanken gerissen wurde.

„Hallo, Anne!“, rief Justus fröhlich.

Er trat zuerst in die Küche, doch als er sie nicht entdeckte, lief er ins Wohnzimmer und war nicht erstaunt, als er Anne auf der Couch liegen sah.

Sie hatte in letzter Zeit an Kräften verloren, beide wünschten sich, dass die Schwangerschaft doch endlich ein Ende nahm. Er ging auf Anne zu und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Wie geht es dir?“, fragte er leicht besorgt.

„Nicht so gut, aber ich habe keine Wehen, falls du darüber nachdenkst“, scherzte sie lächelnd.

„Justus“, schmeichelte Anne sich ein, „Ich habe leider nichts mehr eingekauft, meine Beine sind schwer wie Blei und ich bin sehr müde. Kannst du nicht vielleicht aus den noch vorhandenen Resten etwas zaubern?“

Anne blickte ihn reumütig mit ihren großen braunen Augen an.

„Bitte, bitte, bitte“, bettelte sie. „Ich habe Hunger, du darfst dir auch etwas aussuchen, ja?“

Justus sah Anne mit einem gespielt bösen Blick an und raufte sich die Haare.

„Was hatten wir denn gestern?“, murmelte er vor sich hin. „Ich glaube es waren Nudeln.“

Er blickte nachdenklich durch den Raum und legte seinen Zeigefinger an die Nase.

„Die hatten wir schon drei Mal in dieser Woche“, betonte er genüsslich.

„Wie wäre es mit Pizza? Ach nein, dafür müsste ich ja noch einmal losziehen und übrigens, die gab es ja auch schon so oft“, bemerkte Justus noch grinsend dazu.

Anne fühlte sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Justus war sicherlich sehr spaßig, aber sie wusste schon, dass sie kein Kochwunder war, und sie ärgerte sich etwas darüber. „Daran werde ich noch arbeiten müssen“, nahm sie sich fest vor.

Schließlich war Justus vom Elternhaus aus verwöhnt. Seine Mutter war eine sehr gute Köchin.

„Ich sterbe vor Hunger!“, rief Anne leicht bockig. Justus kramte pfeifend in den Küchenschränken.

„Heute gibt es Pellkartoffeln mit Gemüse. Ich werde sie dir servieren, aber nur weil ich heute auf der Arbeit sehr gelobt worden bin“, entschied sich Justus nicht ohne Stolz.

Anne blieb liegen und dachte verträumt darüber nach, wie sie sich kennengelernt hatten. Anne war auf eine Geburtstagsfeier einer Klassenkameradin eingeladen, und da sah sie Justus allein am Fenster stehen. Später erzählte er ihr, dass er eigentlich gar nicht kommen wollte, da er sich unter den jungen Küken zu alt fühlte und für ihn, so wie er annahm, ohnehin nichts dabei war.

Erstaunlicherweise hatten sie sich direkt viel zu erzählen. So konnte sie sich noch nie mit einem Jungen unterhalten. Sie fühlte sich sehr wohl in seiner Gegenwart, Justus´ Augen strahlten so viel Wärme aus.

Anne brauchte sich nicht zu verstellen, wie sie es sonst immer tat, sie war einfach so, wie sie war. Dann ging alles wie von selbst, sie wollten sich immer wieder sehen. Es verging kein Tag, an dem sie sich nicht trafen.

Justus konnte sehr humorvoll sein, aber gleichzeitig zeigte er auch eine Ernsthaftigkeit und Stärke, die ihr Sicherheit gab.

Aus ihren Gedanken gerissen, hörte sie plötzlich Justus, der für die Mahlzeit nun anscheinend alle passenden Zutaten gefunden hatte.

„Anne, ich gehe morgen in die Stadt, für heute kommen wir gerade noch zurecht. Aber vielleicht haben sich deine jungen Beine dann wieder erholt und du kannst unser morgiges Mittagsmahl aussuchen”, neckte er Anne.

Daraufhin stellte er das Radio in der Küche an und war vorerst nicht mehr zu sprechen.

Es geht los !

Anne wählte mit zitternden Händen die Telefonnummer von Justus´ Arbeitsstelle. Sie hatte es schon zweimal versucht und sich immer wieder vertippt. Nun kam endlich das Freizeichen. Es schien ewig zu dauern, bis endlich jemand abhob.

„Heinrich!“, meldete sich eine freundliche Stimme. Anne biss sich auf die Unterlippe, bevor sie fragte:

„Bin ich richtig verbunden mit der Schreinerei Wöstling?“

Sie wartete nicht auf eine Antwort.

„Ich möchte Herrn Justus Keller sprechen, es ist dringend!“, forderte Anne aufgeregt.

„Justus, Telefon für dich!“, rief der Mann so laut, dass sie impulsiv das Telefon etwas auf Abstand hielt.

„Gott sei Dank“, dachte sie erleichtert. Es dauerte nicht lange und schon war Justus dran. Hastig versicherte er sich: „Es ist soweit, Anne, nicht wahr?“

Anne verspürte gerade eine heftige Wehe und konnte nicht direkt antworten, aber ihr Atem ging schnell und unkontrolliert, so dass Justus alarmiert war.

„Ja Justus, komm doch bitte schnell“, raunte Anne. Sie erinnerte sich in einer Wehenpause, dass sie dringend auf ihre Atmung achten musste. Das hatte sie doch im Schwangerschaftskurs gelernt. Aber dies war leichter gesagt als getan, schließlich hatte sie dort keine Schmerzen.

Anne strich sich das lange Haar aus dem verschwitzten Gesicht und versuchte ihren Rücken gerade zu halten. Dabei hörte sie Justus´ Stimme laut aus dem Telefonhörer.

„Ich bin schon unterwegs!“

Zum Glück war alles mit seinem Chef schon vorher abgesprochen. Justus rannte los.

Jetzt musste er mit seiner Mutter telefonieren, diese hielt sich schon seit ein paar Tagen bereit, um beide zu unterstützen, wenn die Geburt bevorstand. Sie ging auch sofort ans Telefon, als hätte sie es schon geahnt.

„Komm mich bitte schnell abholen!“, rief Justus vor Aufregung und nahezu panisch.

„Anne bekommt das Baby!“

„Ich bin in 10 Minuten bei dir, Justus, bleib ruhig.

Anne kann das jetzt nicht gebrauchen, dass du den Kopf verlierst“, versuchte sie ihn zu beruhigen.

Aber sie musste sich selbst eingestehen, dass sie hier „Leicht Reden“ hatte, kamen ihr doch jetzt ihre beiden Geburten in Erinnerung.

O Gott, war das aufregend und nicht leicht zu ertragen.

Schnell holte sie ihren Autoschlüssel und stürmte zu ihrem Wagen. „Es wird Zeit, dass Justus einen Führerschein macht“, dachte sie, während sie ins

Auto stieg und den Schlüssel hastig ins Schloss steckte. „Den werden wir ihm wohl auch noch bezahlen müssen.“

„Wir haben unsere Kinder zu sehr verwöhnt“, ging es ihr weiter durch den Kopf. „Was schon allein der Umzug der beiden gekostet hat und dazu auch noch die Kaution für die Wohnung - Justus will ja alles wieder zurück zahlen. Das ist schon ehrlich von ihm gemeint, aber wenn das Kind jetzt erst mal da ist.“

Jetzt musste sie sich konzentrieren. War es die nächste Straße links zur Schreinerei oder die übernächste, fragte sie sich. „Jetzt werde ich selbst noch ganz verrückt“, dachte sie kopfschüttelnd.

Justus´ Mutter hielt Anne für ein nettes Mädchen, doch ihre fragwürdigen Familienverhältnisse hatten ihr und ihrem Mann sehr zu denken gegeben. Justus aber war diesbezüglich nicht zu belehren und schon gar nicht aufzuhalten.

Der Höhepunkt war dann der positive Schwangerschaftstest. Nun war Justus gar nicht mehr von Anne abzubringen.

Frau Keller dachte an ihre Tochter. Sie war drei Jahre jünger als Justus, aber sehr reif für ihr Alter. Mit ihr hatten sie es bedeutend einfacher. Sie wusste schon immer, wo sie hin wollte.

Gott sei Dank, sie hatte die richtige Straße gewählt, sie sah Justus schon am Straßenrand nervös hin und her laufen. Als er seine Mutter sah, atmete er erleichtert auf. „Das waren niemals zehn Minuten, das war gefühlt eine Ewigkeit“, seufzte er.

Er öffnete schnell die Autotür und stieg hastig ein, wobei er seine Mutter nervös anlächelte.

Eine Riesenwelle Dankbarkeit erfüllte ihn.

„Meine Mutter ist schon wirklich außergewöhnlich“, dachte Justus. „Sie hat immer sehr viel Verständnis für mich aufgebracht“. So streichelte sie ihn auch jetzt einfühlend mit ihrer Hand über sein Bein und dies verfehlte die Wirkung nicht.

„Bist du sehr aufgeregt?“, fragte sie ernst, denn sie wusste, dass eine Geburt auch immer gefährlich sein konnte. Sie hatte schon von vielen Komplikationen gehört.

„Ich glaube, es geht so einigermaßen. Jetzt sind wir ja gleich da! Anne hat schon länger ihre Tasche für das Krankenhaus gepackt, es wird also schnell gehen. Bleib doch besser im Auto, so kannst du direkt vor der Haustür warten, bis wir kommen“, sagte Justus eilig, während seine Mutter anhielt und er die Autotür heftig aufstieß.

Sie sah noch, wie er schnell hinter der Haustür verschwand.

Justus rannte die Treppen hinauf und sah Anne schon in der Wohnungstür stehen. Ihr Gesicht war gerötet, das braune, lang gewachsene Haar hing lose über beide Wangen. Annes Augen blickten aufgeregt durch das Treppenhaus.