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Anthologie 2021 Textsammlung von 37 Autorinnen der Autorinnenvereinigung e.V.
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Seitenzahl: 159
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Sharlene Anders
Kerstin Anhalt
Gabriele Auth
Ulrike Bail
Marie Bastide
A.S. Dowidat
Barbara Finke-Heinrich
Amalia Frey
Petra Ganglbauer
Angela-Marcella Gerstmeier
Rea Gorgon
Angela Grundt
Helga Gutowsi-Krüger
Ann E. Hacker
Astrid Hoffmann
Nikola Huppertz
Carmen Jaud
Marlies Kalbhenn
Sybille Kirch
Anja Koemstedt
Heide-Marie Lauterer
Regina Lehrkind
Mara Meier
Marion Pelny
Yvonne Powell
Ulrike Schäfer
Bettina Schmitz
Silvana E. Schneider
Brigitte Seidel
Tina Stroheker
Marion Tauschwitz
Christine Thiemt
Sylvia Tornau
J. Monika Walther
Jutta Weber-Bock
Angelika Wessbecher
Petra Zeller
Autorinnenverzeichnis
»Holt Sofiel dich ab? Wann holt Sofiel dich ab?« Es war Prachil anzusehen, dass er keinen weiteren Outfitwechsel meinerseits ertragen wollte.
»Was sagst du hierzu?« Ich ignorierte sein Unbehagen und drehte mich vor ihm. Jetzt trug ich ein dunkelblaues Kleid, das mir bis zu den Knöcheln reichte, dazu eine Strickjacke. »Geht das?« Ich deutete von dem Blau der Jacke zum Blau des Kleides, das eine andere Schattierung hatte. Prachil sah aus, als wollte er schreien. Er streckte eine Hand nach mir aus. Eine gegerbte Hand, die immer noch Schwielen aufwies, die von seinem Flammenschwert stammten, trotz der Jahre ohne Aufträge. »Ich bringe dich zu ihr.« Er griff nach meinem Ellbogen. Ich spürte den Sog der Gedankenreise an mir, als ich nach der schmalen Mappe mit meinen Bewerbungsunterlagen griff.
Für einen Moment fühlte es sich an, als wären mein Gehirn und mein Körper voneinander getrennt, als wäre eins der beiden stehengeblieben. Als sie sich mit einem Hechtsprung wieder vereinten, blieb ein zuckerwattiges Gefühl zurück. Könnte ich alleine auf Art der Engel reisen, auf meinen Gedanken, ich würde nichts anderes mehr machen, den ganzen Tag lang. Ich gab einen Seufzer von mir, der so weggetreten war wie mein schwankendes Gehirn. Mit geschlossenen Augen genoss ich den Rausch.
»Viel Erfolg«, sagte Prachil und der Griff um meinen Arm löste sich auf.
»Warte!«, rief ich, doch er war schon weg. Das Prickeln aus dem Kopf zog in meinen Bauch. Gänsehaut stellte mir die Haare im Nacken auf. Ich zog die Strickjacke eng um mich. »Ruhig, Yolka«, flüsterte ich mir selbst zu. »Du bist im Himmel, kein großes Ding.
«Ich wappnete mich für die Schönheit, die vor mir liegen musste und die ich nur aus Erzählungen kannte. Prachil erging sich gerne in endlosen Beschreibungen der Lichtseile, aus denen seine ehemalige Heimat geknüpft war. Sogar Achaiah ließ sich hin und wieder zu Schwärmereien hinreißen.
Strahlend hell war es dort, mit einer Spannung in der Luft, die Funken schlug und Wellen von Glückseligkeit in seinen Bewohnern auslöste. Ich kannte keinen einzigen Engel, der sich nicht nach dem Zuhause sehnte, das er hatte aufgeben müssen, um auf der Erde zu leben.
Unfassbar, dass ich diese Herrlichkeit würde erleben dürfen. Zweifellos, um dann den Rest meiner Existenz von diesem einen Moment zu zehren.
Ich öffnete die Augen.
Der Boden bestand aus grauen Steinplatten. Kein Riss machte sie einzigartig, keine abgeschlagene Ecke. Wie geklont ordneten sie sich aneinander. Links und rechts von mir exakt ausgerichtete Steinbänke, ein endloses, graues Meer. Ein Gang führte nach vorne, wo graue Tische in einem Halbkreis angeordnet waren. Davor eine einsame kürzere Bank, eher ein Hocker. Es gab keine Wände und doch hatte ich das Gefühl, in einem engen Raum eingeschlossen zu sein. Über mir nichts, außer noch mehr Grau. »Das soll der vielgepriesene Himmel sein?«, fragte ich laut.
»Natürlich nicht.« Beim Klang der Stimme sprang ich zur Seite, direkt gegen eine der Steinbänke. Mein Schienbein jaulte auf und ich gleich mit ihm. Ich plumpste auf die Bank und rieb mir die Stelle, an der sich bereits ein Bluterguss ausbreitete. Einen Wimpernschlag später manifestierte sich der unscheinbarste Engel vor mir, den man sich nur vorstellen konnte. Das mausgraue Haar trug Sofiel zu einem uninspirierten Bob geschnitten, nichts an ihr war markant, sogar die Stimme schmucklos. Hatte ich etwas anderes vom Engel der Buchhaltung erwartet?
»Das hier ist ein Zwischenreich. Dein Arbeitsplatz.« Sofiel drückte mir zwei Dinge in die Hände: Ein super schlankes Notebook und eine museumsreife Akte, deren lederner Umschlag so brüchig war, dass ich befürchtete, sie würde unter meinen Fingern zu Staub zerfallen.
Jegliches Anzeichen von Intelligenz floh aus meiner Mimik. Ich wusste nicht, was sie von mir erwartete.
»Hast du Fragen?« Ihre Betonung stellte klar, dass ein vernunftbegabtes Wesen keine Fragen haben sollte.
Ich wand mich unter ihrem Blick. »Ich, äh, dachte, ich wäre zum Vorstellungsgespräch hier.«
»Du hast den Job bekommen.« Sie deutete auf Notebook und Akte, als wäre damit alles geklärt.
»Danke«, sagte ich hastig, denn ich brauchte wirklich, wirklich einen Job. »Was soll ich damit machen? Was ist meine Aufgabe?«
Sofiels Mundwinkel zuckten und ich sah mich schon weiterhin arbeitslos auf der Couch meiner Freunde schlafen. Doch es war ein Lächeln, das sich auf das Gesicht des faden Engels legte. »Verzeih. Es ist hart, in einer Gegenwart zu sein, deren Zukunft man kennt. Du hast keine Ahnung, natürlich.« Sie setzte sich neben mich, nahm mir das Notebook ab und klappte es auf. Es hatte einen Touchscreen, auf dem sie geübt herumwischte. »Lass uns deine Qualifikation testen.« Sie drückte mir einen Eingabestift in die Hand. »Mal mir unsere Welt auf.«
Ich gehorchte und zog zwei horizontale Striche, mit denen ich den Screen unterteilte. Himmel, schrieb ich in den obersten Teil, Erde in den mittleren und darunter Hölle.
Sofiel klatschte begeistert in die Hände. »Yolka, du bist perfekt für diese Aufgabe!« Sie nahm mir den Pen ab und zeichnete ineinander verschlungene Spiralen in meinen Himmel. »Du bist kein Teil des göttlichen Plans. Das bedeutet, du hast hier«, sie markierte ein paar Punkte in den Kringeln, »keine Freunde.« Um Erde und Hölle herum zog sie einen Kreis, der beide einschloss. »Und hier keine Feinde.«
»Was ist das hier?« Ich tippte auf einen Punkt, den meine neue Chefin unter der Hölle gesetzt hatte.
»Muniels Höhle.«
»Natürlich.« Wer, verdammt, war Muniel?
»Deine Unwissenheit macht dich neutral.« Sofiel seufzte. »Zumindest für eine Weile.« Traurigkeit zog wie Wolken in ihren blassen Augen auf. »Ich wünschte wirklich, du hättest auf mich gehört.« Als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte, verbesserte sie sich schnell. »Ich wünschte, du würdest auf mich hören.«
»Was habe ich getan?« Ihre Strenge zog mir den Hals zu.
»Noch nichts.« Sie stellte das Notebook auf die Steinbank und stand auf. »Du wirst meine Akten digitalisieren. Wie du das machst, überlasse ich dir. Überlege dir ein System.« Sie zeigte auf die Ledermappe. »Wenn du damit fertig bist, bekommst du die nächste.«
»Was ist mit dem Finanziellen?« Die Worte polterten gröber aus mir heraus, als ich es wollte. Ich hasste es, über Geld zu sprechen.
»Mit dieser Anstellung bist du anderen Engeln gleichgestellt, zumindest wenn es darum geht, versorgt zu sein. Du wirst immer haben, was du brauchst.« Fragezeichen ploppten auf meinem Gesicht auf wie Sommersprossen. »Frag deine Mitbewohner«, sagte Sofiel schnell. »Steh auf.«
Mein Schienbein pochte immer noch, aber ich gehorchte. Sofiel legte mir die Hand auf die Stirn, als wollte sie Fieber messen. In meinem Kopf britzelte es, wie bei einem Kurzschluss.
»Was war das?« Ich schüttelte den Kopf, mein Gehirn juckte.
»Ich habe eine deiner Engelfähigkeiten aktiviert. Du kannst jetzt auf Gedanken reisen.« Sie drückte mir den Oberarm. »Willkommen an Bord.«
auch so beschissen wie bei uns?
Waschmaschine, Tumbler, Frigo – Freezer Kombi und jetzt der Boiler explodiert. Ich breche mir den Arm, danach stürze ich so blöd und hab nur noch Schmerzen in den Füßen und Beinen, kann nicht laufen, nehme einen Haufen Medikamente, die nichts bewirken, doch noch mehr Schmerzen und Schwellungen am ganzen Körper, Zoff mit dir und seit ewig keinen Sex ...?!
Also, das Kind kommt im September. Sie, 33, Kindergärtnerin, 46 qm, schwanger von einem noch verheirateten Mann, der sich scheiden lässt, 170.000 € Schulden, das Haus, hat, Unterhalt für Ex – Frau und zwei Kinder zahlen werden muss, einen normalen Job und mehrere Nebenjobs hat.
Mmmmh.
Er, 36, noch verheiratet, eine Tochter, ein Haus, 240.000 € Schulden, Einkommen 1.800 €, davon monatliche Belastung, Tilgung der Hypothek von 1.200 €, bei Scheidung muss er sie auszahlen, er muss das Haus verkaufen oder … er geht zu Mami und Papi und lässt sich helfen, hat auch schon eine Neue in der Reise, die ist 39, Kindergärtnerin, keine Kinder. Was sagt das dir? Blattschuß.
Mmmmmh.
Beides Totalausfälle. Das wars zu deiner Frage.
Sie wechselt von der linken Kassenschlange vor mir an die rechte Kasse. Ich hatte den Corona – Elefanten – Abstand eingehalten. Sie lädt ihre Sachen vom rechten Arm auf das Kassenband. Zusammengesteckte glatte blondgefärbte Haare mit dunkel – fettig – strähnigem Nachwuchs, über ihrem kurvigen gedrungenen Körperbau eine lange schwarze Polyesterstrickjacke, schwarze Leggings, weiße Socken in weißen adidas MeshSneakers.
Ich nähere mich und spreche sie an. Bewußt ruhig und scharf im Ton.
– Sie standen an der anderen Kasse an.
Sie blickt mich mit ihrem ausdruckslosen ungeschminkten
speckigen Gesicht an.
– Hab Sie nicht gesehen.
– Ach, so macht man das jetzt!? Ganz was Neues!?
Sie dreht sich um und macht einen Schritt nach vorn.
Ich wechsle an „ihre“ Kasse.
Sie wirft den Einkaufstaschenstapel aus dem Kassenbandtisch, steht an der Kasse und sammelt „ihre“ Schulsachen ein und verschwindet kurz vor mir aus dem Discounter.
Vordrängeln nach Corona.
höre ich von dem kahlen Kopf auf den karierten Schultern vor mir, der ausgerechnet auch zu den Brieffächern schlurft.
Oooijeeh!
Die Mitte des Ganges einnehmend muss ich ihm folgen.
In der rechten Hand am hängenden Arm hält er sein Schlüsseltäschchen.
Zack!
Die Schlüssel fallen an der Kette heraus und baumeln mit seinem schlurfenden Schritt.
Oooijeeh!
Er läuft die Reihe der Brieffächer entlang auf die weiße Mauer zu.
Oooijeeh!
Kurz davor bleibt er stehen, bückt sich, steckt einen der beiden Schlüssel in das Brieffachschloss und öffnet es.
Oooijeeh!
Den runden kahlen Kopf streckt er dem Brieffach entgegen und zieht den untersten Brief aus dem Stapel seiner Post.
Oooijeeh!
Gebückt, konzentriert – bedächtig blickt er auf den Brief.
Oooijeeh!
Der Brief wechselt die Hand, er fixiert den Poststapel, seine Rechte greift erneut zum Brieffach und zieht aus dem oberen Teil langsam einen weißen Briefumschlag. Wie den Ersten.
Oooijeeh!
Ich stehe neben ihm und öffne in der Reihe neben seinem Brieffach oben, knapp über meinem Kopf, mein Brieffach. Es ist leer. Keine Post. Auf den Ballen sehe ich nochmals in das Brieffach. Es ist leer. Nicht einen Brief. Nicht mal einen Irrläufer. Ich schließe die Klappe.
Oooijeeh!
Er sucht ein neues Teil aus seinem Stapel aus.
Ich laufe ohne Post aus der Post und erinnere mich an die Szene aus Harry & Sally am Briefkasten. Nur doppelt vice versa.
Die Nacht so tief
kein einziger Stern
die offene Tür wie
ein drohendes Tier
ein alter Teddy
dort auf dem Bett
starrt traurig und leer
sein einziges Auge
sieht nichts mehr.
Ein Rucksack voll
geliebtem Plunder
ein leeres Herz
kein Raum für Wunder
der Elfenzauber
ertrank im Moor
ein Gesicht zu nah
ein Lächeln aus Blei
die Krone verloren.
Der goldene Ritter
im Rost erstarrt
verstörender
Albtraum
in der Nacht
Papi sagt, ihr Haar sei
hell wie Elfengold.
Wie Elfengold
sie fühlt sich so alt.
Papis kleine Elfe
geht endlich fort
ohne Blick zurück
ohne Abschiedswort
verlässt ihren Teddy
vertraut dem Wind
beendet den Albtraum
ein Leben beginnt.
Leben
so zerbrechlich,
dreißig Jahre ein Flügelschlag.
Wind in schlafenden Räumen
wilder Wein kitzelt behutsam sterbende Mauern.
Das Echo eines Kinderlachens
gefangen im Spiel der Sonne.
Auf der Terrasse ein gekippter Stuhl
den niemand mehr aufhebt
und die Erinnerung
an den Duft von Rosmarin.
Kein Name am Tor
stört den fragilen Traum.
Das Herz hütet die Namen.
Leben
Zug um Zug
läuft die Zeit
im Zwischenraum
der Unendlichkeit.
Zug um Zug
am Ende vorbei
der Fall in die Nacht.
Und wieder nicht frei.
Zug um Zug
aus Nyxx ersteht
das goldene Ei
im ewigen Kreis.
Zug um Zug,
Schritt für Schritt
Drei, Eins und Zwei.
Zug um Zug
Vergisst sich die Welt
vergeben, vergangen.
Der Vorhang fällt.
auf der vorderzunge entgleitet
beim versuch es auszusprechen
mir das französische wort
für trauer [doej]
halboffen gedunkelt gerundet
am ende ein reibelaut engelaut
schließt die zunge zum gaumen
bei tageskürze ist ihr als wohne sie im schnee
als höre sie wildgänse über der stadt ihr heiseres
rauschen als ginge sie auf gefrorenem atem viele
ellen lang als läge auf ihrem haar die wölbung
des himmels ein silberner rand
über dem lachenden mund hält der buddha
die arme hoch spielbälle in den händen
stoßen meinen träumen zu den betörenden
zukünftigen algorithmen schaffen fließende
landschaften ich öffne die tür gehe zur tankstelle
kaufe ein eis auf die hand goldgelbes lachen im
park löse ich rote lippen aus der krone vögel
lassen sich nieder ich lache jeder gefahr
Sie beißt in den Himmel. Er schmeckt nach Schwefel. Seine Asche verklebt ihren Mund wie türkischer Honig, nur bitter. Die Straße fließt und reißt ihre nackten Füße mit. Stiche von Scherben, Knirschen von Knochen, diese Finger, so weiß − bloß schnell weiter. Die Luft heult und brüllt. Fegefeuer Berlin. „Komm Mädchen fass an. Was stehst du da rum?“ Eine Hand, ein Eimer Wasser schwappt über. Sie geht wie auf Schienen, trägt den Eimer zum Haufen rauchender Balken. „Schnell Mädchen. Gib her! Und hol einen neuen. Da hinten. Nun lauf schon!“ Sie geht wie auf Schienen. Der Himmel aus Asche, der Boden ein Meer aus gestrandeten Häusern. Die Menschen ertrunken im Feuer. Immer wieder muss sie hinsehen, sie ansehen. Die toten Augen greifen nach ihrem Blick. Saugen ihn auf. Dann wird alles schwarz.
„Mama? Mama? Was sitzt du denn hier im Dunkeln?“ Leise, mit abgewandtem Mund: „Also ich hab das Gefühl das wird immer schlimmer. Mit ihr.“ Überlaut: „Mama? Hast du nicht gehört, dass wir angerufen haben?“ Beleidigt: „Wir versuchen seit gestern, dich zu erreichen, MAMA.“
„Ach ja? Ich hab nichts gehört. Vielleicht hat das Telefon geklingelt, als ich im Bad war. Außerdem: woher soll ich wissen, wer anruft?“
„Also hast du es doch gehört?“
„Vielleicht?“
Warum bist du nicht rangegangen, Mama! Keine Frage! „Wir machen uns doch SORGEN!“
„Ich bin kein kleines Kind. Ich bin eine alte Frau. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Im Bombenhagel hab ich Wasser geschleppt. Barfuß. Ich bin über Leichen geklettert. Ich brauche keine Aufpasser!“
Endlich sind sie weg. Ich kann sie nicht ertragen. Mama tu hier, Mama doch nicht so! Mama was MACHST du da schon wieder? Alles in vorwurfsvollen Großbuchstaben, in diesem pausen- und atemlosen Staccato der zur Mutter wider Willen gewordenen Tochter. Verkehrte Welt!
Was denken die eigentlich, wie ich die letzten fünfundachtzig Jahre gelebt habe? Mich hat nie jemand in Watte gepackt. Allein in einer zerbombten Stadt, die ganze Welt ein Trümmerhaufen und ich mitten drin. Und ich hab überlebt. Ohne dass mir jemand ständig hinterhergelaufen ist. Ohne dass sich jemand um mich gekümmert hat. Und jetzt soll ich plötzlich am Gängelband gehen, nur, weil ich älter bin? Die Menschen werden heute eben immer älter. Sagen sie jeden Tag im Fernsehen. Na und? Wenn man sie nicht töten will, muss man sie so nehmen, wie sie werden.
Ist es schon acht? Wo hab ich nur meine Brille? Da muss doch die Fernsehzeitung... Wie geht das Ding an? Ah. Na also. Was ist denn das schon wieder? Wo ist das erste Programm? Natürlich. Das hat India verstellt, um mir dann in die Schuhe zu schieben, dass ich nicht mal mehr den Fernseher bedienen kann!
Diese blöden Kopfschmerzen. Du musst mehr trinken, Mamaaaaa, würde India jetzt sagen. Dabei habe ich noch nie viel getrunken. Und bin trotzdem so alt geworden. Hab ich Hunger? Eigentlich schon. Oh – keine Spaghetti im Kühlschrank. Ach, dann ess‘ ich eine Banane. Mit einem Glas Wein. Mama, du sollst nicht so viel Wein trinken, würde India jetzt sagen. Gott sei Dank lebe ich alleine hier in meiner Wohnung!
Gott sei Dank lebe ich ALLEIN! Alleinallein. Alleallein. Wenn India mich jetzt hören würde, würde sie den Mund verziehen zu ihrem falschfreundlichen Alligatorlächeln. Alligator, so werd‘ ich sie nennen, ab heute. Wenn ich mich morgen noch daran erinnere.
Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie zwischen den Zähnen schräg nach hinten zu diesem Unmann zischeln, den sie sich herangezogen hat wie einen Schoßhund. „Siehst du. Ulrich. Ich sage es dir doch. Sie ist verrückt!“
Es rauscht. Die Nacht ist ein Rauschen, sie bauscht sich um sie herum, hüllt sie ein. In einer Blase aus Schall schwebt sie die kreischenden Straßen entlang. Federt die Stöße ab, die Tritte, die reißenden Hände. Blitze gleiten an ihr hinunter, schwarzer Regen an ihr vorbei. „Di quì Signorina“ ruft eine Stimme, „hier entlang, schnell, es geht gleich los“. Sie klettert auf die Lore, gezogen von starkbraunen Armen. „Su prendi, los, nimm und verkleide dich!“ Eine gesichtslose Stimme reicht ihr das grellbunte Kopftuch. Sie knotet es fest in ihr Haar, dieses neue zufällige Leben. Drei Tage vier Nächte, und die Zwangsarbeiter sind wieder daheim, irgendwo in Italien. Sie, die verkleidete Fremde, mitten unter ihnen. Alle verabschieden sich lachend und zum Leben erschöpft. Da steht sie allein auf der Piazza in einer unbekannten Heimat. Geflohen gelandet gestrandet. „Ehi Signorina!“, ruft die Zukunft verheißungsvoll, und sie geht ihr schnell hinterher, durch die alten Arkaden.
„India, du schon wieder? Möchtest du einen caffé? Ich hab grade frischen gemacht. Heiße Milch? Setz dich doch.“
Ah, dieser Blick. Du kommst nicht als Gast, sondern als Aufpasser! Wie war das gestern? Alligator! Kannst gleich wieder gehen!
„Mama! Deine Nachbarin hat angerufen. Erst kamen Rauchschwaden aus deiner Wohnung, dann lief das Wasser den Balkon hinunter. Mama? Mamaaaaaaa? Um Gottes Willen! Was MACHST du da? Ach, ich bitte dich! Natürlich hab ich auch schon mal die Milch anbrennen lassen. Aber dieser Topf ist durchgeschmort. Und wie viele Eimer voll Wasser hast du ausgegossen, über dem Herd? Wie bitte? Du wolltest bei der Gelegenheit gleich den Fußboden waschen? Ach...“
Der nasse Lappen klatscht auf den Boden. Tränen verwackeln den Ton. „Oh, Mama!!!
Nein. DU hörst mir jetzt zu. Das ist NICHT normal, Mama. Das passiert NICHT jeden Tag und NICHT jedem. Mama! Bitte. Sei doch vernünftig. So geht das nicht weiter. Ich will dir doch nur helfen. Nein. Du bist nicht verrückt. Nein, ich will dich nicht einweisen lassen. So einfach geht das auch gar nicht.“ Leise, zu sich: „Leider.“
Mama bleib da. Mama wo rennst du hin? Mama es ist kalt draußen! Ich WILL sie nicht mehr hören. Diese Bevormundung! Ich bin im Aschenregen durch das qualmende Berlin gelaufen. Barfuß. Und dann in einem offenen Viehwagon über die Alpen gefahren, mit Wildlederpumps an den Füßen und einem Strickjäckchen über dem Seidenkleid. Kälte? Die Kälte, die mich hier verbrennt, kommt aus Indias Augen. So leblos. So lieblos. Mein Kind? Wahrscheinlich wurde sie im Krankenhaus vertauscht, gleich nach der Geburt. Wir haben uns eigentlich nie verstanden.