Anthrologie -  - E-Book

Anthrologie E-Book

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Beschreibung

Die Anthologie "Anthrologie" präsentiert eine bunte Mischung aus Gedichten, Geschichten und Illustrationen aus der Welt der anthropomorphen tierischen Fantastik, die so vielfältig in ihren Ideen und ihrem Stil wie die Autoren selbst sind. Die Anthrologie bietet dem Leser die Möglichkeit, verschiede Formen und Vorstellungen von tierhaften Wesen kennenzulernen, in neuen Welten zu stöbern und neuen Autoren den Weg zu ihrem Publikum zu ebnen. Es ist das Ziel dieser Anthrologie, den Autoren im "stillen Kämmerlein" zu ermuntern, den ersten Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen. Die folgende Geschichten sind in der Anthrologie - Edition 2016 enthalten: - „Sein“ von Michael „Terralux“ Kamphake, - „Nachthimmel in Weiß„ von Helge „Tyger“ Lange, - „Die Prinzessin von Kitnapur„ von Ulrich „Wer-Kater“ Reimer, - „Zwei Zeiten„ von Tatsyr, - „Die erste Jagd„ von Patrick „Aotora“ Trapp, - „Offenbar Irrungen„ von Christian „Kidogo“ Wassermann. Ebenso einen Bildbeitrag von: - Tabea „Mutabi“ Riemer.

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Seitenzahl: 298

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort und Danksagung

Nachthimmel in Weiß

Offenbar Irrungen

Die Prinzessin von Kitnapur

Die erste Jagd

Sein

Zwei Zeiten

Autorenspiegel

Vorwort und Danksagung

Diese Anthologie erzählt von fantastischen Wesen, die trotz ihrer tierhaften Gestalt dem Leser vertraut vorkommen werden. Sechs Autoren haben diese Ausgabe der Anthrologie mit ihren Geschichten und Ideen gefüllt.

Mein Dank richtet sich daher an jene Autoren, die den Mut hatten, ihre Geschichte aufzuschreiben und als Beitrag einzureichen.

Auch möchte ich mich für die Hilfe und Unterstützung meiner Korrektorin Sabrina Kleinert bedanken, die mit Rat und Tat zu jeder Zeit zur Verfügung stand. Ohne ihre Hilfe wäre diese Anthologie nicht möglich.

Abschließend möchte ich mich auch bei der Künstlerin Sturmschwinge bedanken, die das Titelbild entworfen und gezeichnet hat. Die abgebildeten Charaktere entstammen dem von Odin Canis entworfenem Universum.

Ich wünsche dem Leser der Anthrologie • Edition 2016 ebenso viel Spaß und Freude, wie Sabrina und ich bei der Zusammenstellung hatten.

When asked,

„How do you write?“

I invariably answer

„One word at a time“

–Stephen King

Stephan Kanthak

Hannover, im August 2016

Helge „Tyger“ Lange

Nachthimmel in Weiß

Bunte Lichter flackerten durch die Häuserschlucht, halb beleuchtete Reklameschilder, Fassadenmonitore, Hinweisschilder, Ampeln und Signale, die die menschenleere Straße mit geisterhaftem Leben erfüllten. Versteckte Lautsprecher tränkten die Stille zwischen den wenigen vorüber summenden Fahrzeugen mit einem grellen Gemisch aus Musik, Werbesprüchen und Pseudo-Infos. Über den Gipfeln der Wolkenkratzer schrieb ein Laser etwas auf Kanji an die niedrig hängende nächtliche Wolkendecke, die sich beharrlich weigerte, den Staubgeruch der Luft mit Regenwasser wegzuspülen.

»Ist die Route okay?« Arcas sah mit der Visieroptik vor dem rechten Auge auf den kleinen Planscreen und schaltete Hynia dazu.

Sie hatte auf der anderen Straßenseite Position bezogen und klappte ebenfalls die Optik vor das rechte Auge, während sie mit dem linken unbeirrt weiter die Umgebung beobachtete.

»Klar, jede Route ist okay«

In das Monitorbild mischte sich der übliche Netzmist, der durch die Filter kam.

»…entscheiden Sie sich für den führenden … rufe ich hiermit die Weltrevolution aus und ernenne mich …«

Ein paar Stockwerke über ihnen fauchte eine Magnetbahn auf ihrem Fahrbalken entlang und verschwand zwischen den gegenüberliegenden Fassaden.

Hynias schwarz gekleidete Gestalt war in der Dunkelheit kaum auszumachen. Nur ihr Tetracorn reflektierte metallisch blitzend die flackernden Lichter, obwohl es mit gesenktem Kopf und eingeknickten Beinen unter ihr in Ruhestellung gegangen war, dicht an den Asphalt gepresst. Arcas richtete sich im Sattel seines eigenen Tetracorns auf und umfasste die beiden hinteren Hörner. »Aufwachen, Protox!«

Mit einem tiefem Brummen, das eher durch den Sattel zu spüren als zu hören war, hob Protox den Kopf und ließ seine Kameraaugen in tiefem Rot aufglimmen. Dann erhob er sich mit einem beeindruckenden Spiel seiner amorph-metallenen Pseudomuskeln vom Boden. Von hinten näherte sich ein Auto.

»Hey, sieh dir mal den Wagen an!« Hynia hatte ihr Tetracorn Mirage ebenfalls aufgeweckt und sah dem Auto entgegen. Es fuhr ohne Fahrer, aber das allein hatte noch nichts zu sagen, deshalb musste es nicht verwildert sein. Es fuhr jedoch verdächtig langsam – wie suchend, lauernd, schnüffelnd.

Er versuchte das Auto zu erreichen, aber der Kontaktversuch ging im üblichen Mist unter.

»… systeminterne Ebene 116 nur mit Zustimmung…wäscht weißer als weiß …«

Arcas wusste, was wilde Autos suchten, seit sie diesen verdammten Konverter hatten, der organisches Material als Treibstoff verwendete. Ursprünglich war es sicher eine gute Idee gewesen, die Stadt nebenbei von den Autos reinigen zu lassen.

»Er biegt ab!« Und zwar quer über den Fußweg, um in einer Nebenstraße zu verschwinden.

Hynia packte Mirages Hörner und trieb ihn an, Arcas jagte auf Protox hinter ihr her. Die Jagd auf ein wildes Auto war meistens aussichtslos, denn sobald es ihm gelang, eine lange, gerade, freie Straße zu erreichen und Gas zu geben, konnte ein Tetracorn nicht mehr mithalten. Und einigermaßen frei waren die meisten Straßen in dieser Stadt. Sofern sie noch Straßen waren. Mit einem Biss auf den Button schaltete er die Optik auf Fernsicht.

»Oh, Scheiße!« Sie beide riefen es im Chor.

Am Straßenrand stand ein Kind, ein Junge, wie es schien. Was auch immer dieses verdammte Kind hier zu suchen hatte – es war die Beute, die der wilde Wagen gewittert hatte.

»Weg da, hau ab, Junge!« Arcas betete zu Manitu oder wer auch immer sich zuständig fühlen mochte, dass der Junge nicht ohne irgendein Device herumlief und den Ruf nicht ausfilterte und obendrein hinhörte und ihn verstand und ernst nahm und …

Endlich bemerkte der Junge den auf ihn zu rasenden Wagen. Mit einem Sprung verschwand er durch eine offene Ladentür. Der wilde Wagen bremste mit quietschenden Reifen und drehte sich schleudernd um 90 Grad, eine Wolke von Gummigestank erzeugend. Sofort gab er wieder Gas und steuerte genau auf eine große Schaufensterscheibe zu, hinter der er offenbar den Jungen ortete. In gestrecktem Galopp hielten die beiden Reiter auf das Auto zu, donnernder Hufschlag hallte von den Fassaden wider. Mit einem weiten Sprung brachte sich Mirage zwischen das Haus und den Wagen, um ihn von vorn zu erwischen, im Sprung dessen Frontscheibe mit den Hinterhufen zertrümmernd. Sekundenbruchteile später krachte das Auto in die Scheibe und verschwand in einer glitzernden Explosion von Glassplittern im Innern des Geschäfts. Schwankende und erlöschende Lampen, blau-weiß aufblitzende Funken von Kurzschlüssen, sowie die zuckenden Lichtkegel der Autoscheinwerfer verwandelten den Raum in ein Chaos aus flackerndem Licht und umherfliegenden Trümmern, das jede Orientierung fast unmöglich machte. Arcas setzte dem wilden Auto nach – nicht, dass er auf das Leben des Jungen noch einen Kaugummi gewettet hätte, aber er wollte wenigstens verhindern, dass der verdammte Konverterwagen sich an ihm satt fraß. Er wusste, wie man die Selbstregeneration dieser Wagen überlastete.

Mit funkensprühenden Hufen kam das Tetracorn dicht hinter dem Wagen zum Stehen, der zwischen zertrümmerten Regalreihen stecken geblieben war und sich mit mahlenden Rädern wieder rückwärts heraus arbeitete.

»Los jetzt, Protox, Feuer!«

Brüllend schoss eine lange Feuergarbe aus Protox' linkem Vorderhorn auf das Heck des Wagens, schmerzhaft schlug seinem Reiter die Hitze ins Gesicht, verbunden mit einem durchdringendem Geruch nach verbranntem Kunststoffen und heißem Metall.

Der Wagen ließ seinen Motor aufheulen und setzte zurück, Protox sprang beiseite und stand ihm im nächsten Augenblick direkt gegenüber, während von der Seite her Mirage auftauchte. Bevor das Auto reagieren konnte, stiegen beide Tetracorne auf und schlugen ihre Vorderhufe in seine Sensorenfront. Von einem misstönenden Hupen begleitet, erstarb das Motorgeräusch des Wagens und die Scheinwerfer erloschen.

Erst dann registrierte Arcas, dass die Wasserstrahlen des Löschsystems auf ihn niederprasselten und ihn durchnässten.

»Danke!«

Eine Sekunde lang wusste Arcas den leisen Ruf nicht zuzuordnen, dann bemerkte er die davonhuschende Gestalt des Jungen.

»Der lebt ja noch!« Erstaunt schüttelte er den Kopf.

»Ich hab mal gehört, Kinder hätten einen Schutzengel« Hynia leckte sich das herabströmende Wasser von den Lippen.

»Glaubst du an Engel?«

»Hab noch keinen gesehen. Verschwinden wir wieder, okay?«

»Okay«

Es gab hier nichts mehr zu tun. Irgendwelche Roboter würden schon unterwegs sein, um den Laden sinnloserweise wieder in Ordnung zu bringen, eine neue Scheibe einzusetzen und den Kadaver des Autos zu verschrotten; und vielleicht würde sogar irgend ein Mensch daran beteiligt sein, den das vielleicht sogar interessierte oder auch nicht…

»Da drüben hat vorhin das Licht geflackert, im ganzen Gebäude, verstehst du?« Hynia, die ihr Tetracorn dicht neben seinem her trotten ließ, hielt ihren Armbandscreen zu ihm herüber. Das Gebäude war ein ziemlich hoher Kasten, in dem jetzt fast gar kein Licht mehr brannte.

»Kabelechsen?«

»Was sonst?«

Es war ein 130-Stöcker mit zwei aufgesetzten Türmchen, die noch einmal gut zehn Stockwerke ergaben. Ein Haus dieser Größe vollkommen dunkel zu sehen, hatte etwas Unheimliches an sich. Vor allem bei der Vorstellung, dass da außer dem Licht sonst nichts mehr funktionierte. Wenn die verdammten Kabelechsen auftauchten, bedeutete das schließlich mehr als nur einen Stromausfall. Ein gutes Stück entfernt stiegen die beiden Reiter ab, nahmen ihre Pistolen und eine handvoll Magazine von den Sätteln und schickten die Tetracorne zurück zur nächsten Kreuzung, um sie nicht der Gefahr eines Echsenbefalls auszusetzen.

Das Portal des Gebäudes war eine breite Front von Glastüren, allesamt verschlossen.

»Klar«, meinte Hynia. »Ohne Strom bleiben sie zu« Ein kurzer Feuerstoß aus ihrer Waffe ließ drei der Türen zersplittern.

Knackende, knirschende, knisternde Stille herrschte im Foyer. Stille, die durch die Dunkelheit zu kriechen schien wie der deutliche Ozongeruch. Mit zwei leisen Pling-Tönen schalteten ihre Visiere auf Nachtsicht, welche die Umgebung in schwarz-weiß aufleuchten ließ. Es war Hynias Lieblingseinstellung, eine Überlagerung aus Infrarot- und Radarbild, in schwarz-weiß und negativ dargestellt; Arcas hatte sie sich mit der Zeit ebenfalls angewöhnt.

»Da ist eine!«

Etwas kroch unförmig schwarz aus einer Steckdose, sofort die Echsenform annehmend, und lief rasch an der Wand entlang, um sich zu einer ganzen Schar von Artgenossen zu gesellen, die sich in der Ecke hinter einem verschmorten Getränkeautomaten versammelt hatten und damit beschäftigt waren, sich durch Teilung zu vermehren. Im sichtbaren Bereich leuchteten sie in intensivem blau-grün.

»Scheiß Quantenbiester!« Arcas gab einen Feuerstoß auf sie ab, der ein paar Echsen und den Getränkeautomaten zerfetzte. »Glaubst du, hier ist noch was zu retten?«

Hynia beendete gerade einen Ultraschallscan der Wände und konstatierte: »Kannst du vergessen. Hier gibt es kein Stromnetz mehr. Alle Leitungen bis auf die optischen sind weg«

Das Miese an den Quantenechsen war, dass sie nicht nur die Energie selbst, sondern auch das Metall der Kabel fraßen – mit dem Einen ohne das Andere konnten sie nichts anfangen.

»Gehen wir weiter rein?« Hynias Frage war rein rhetorisch, denn erstens hatte Weitergehen keinen Sinn und zweitens konnte niemand wissen, was in einem so großen Kasten ohne Strom und Kommunikation alles passieren würde.

Wie zur Antwort hallte ein hohles Krachen durch die Eingangshalle, gefolgt von einem Heulen wie von einer fallenden Bombe, dann ein durchdringendes Knirschen, immer näher kommend und schließlich wieder ein Krachen, Ohren betäubend laut diesmal, den Fußboden erschütternd. Eine der Aufzugkabinen war abgestürzt.

»Verschwinden wir«, meinte Arcas und zertrat eine der Echsen, die sich unter seiner Stiefelsohle in einer kleinen Explosion auflöste.

Wieder auf der Straße stellten sie fest, dass die Biester inzwischen Geschmack an einem Nachbarhaus gefunden hatten. Der ganze Straßenabschnitt war in flackerndes Licht getaucht.

»Wir müssen das ganze Viertel von der Stromversorgung trennen«

»Schon dabei« Hynia tippte bereits auf ihrem linken Armbandkom, während sie sich den Screen aufs Visier geschaltet hatte. Arcas schaltete sich dazu, da sie das allein kaum schaffen konnte. Zuerst musste er durch den Netzmist hindurchkommen, dann rief er die Bots auf, die er für das automatische Update seiner Systeme angelegt hatte, um Software von gestern auch heute noch gebrauchen zu können, und das möglichst an jedem neuen Tag wieder.

»… Code A in Radiale 55, Ring 18 …«

Während Hynia die obligatorischen Angriffe abblockte, kontaktierte Arcas die Sicherheitsserver der Stromversorgung. Natürlich erkannten die seine Zugriffsberechtigung nicht mehr an, da inzwischen zahlreiche Softwarefehler die Passwörter und Zugriffsbedingungen unvorhersehbar geändert hatten. Deshalb benutzte er wie üblich eben diese Sicherheitsfehler, um trotzdem hineinzukommen und war froh, dass seine alten Tricks noch immer funktionierten.

»Hab's geschafft«, meinte er schließlich aufatmend, während ringsum die schwarzen Lichter in den hellgrauen Fassaden erloschen. Bis auf die schwarzen Punkte über ihm an der weißen Decke – was war mit denen los? Er starrte sie an, bis Hynia ihn schließlich am Arm packte und meinte: »Hey, das sind die Sterne. Klapp die Optik hoch!«

Er tat es und blinzelte in das tiefschwarze Loch voller Sterne, das sich in der Wolkendecke aufgetan hatte. »Wusste gar nicht, dass du Gedanken lesen kannst« Er hatte das Gefühl, als hätte er irgendetwas übergangen, was wichtig gewesen wäre. Oder war es doch nur der übliche Netzmüll gewesen, das sogenannte schwarze Rauschen?

»War da nicht irgendwas in der 55. Radiale?«, fragte Hynia.

Ring 18 … Code A …

»Scheiße, wir müssen hin, Code A! Los, Protox: 55. Radiale, Kreuzung Ring 18!« Arcas umklammerte die Hörner, als das Tetracorn mit einem ebenso weichen wie kraftvollen Sprung aus dem Stand in den Galopp startete. Hynia folgte ihm. Eigentlich hätte sich ein solcher Ruf wiederholen müssen, eigentlich eine Bestätigung erwarten, eigentlich … ging er im schwarzen Rauschen unter, weil er der verdammten City genauso scheißegal war wie alles andere außer ihrem eigenen Selbstlauf.

»So was nennt sich Hochleistungslegierung!«, überschrie Hynia den Wind und wies mit dem Finger auf die Funkengarben, die unter Mirages Hufen hervorsprühten.

»Du kannst Probleme haben!«

»Ach, halt die Schnauze! Noch zwei Kilometer Luftlinie!«

Ausgerechnet die 55. Radiale war einigermaßen bewohnt – was eben bewohnt zu nennen war in einer 40-Millionen-Stadt, in der zehntausend Menschen lebten. Im Durchschnitt aller Angaben, Statistiken und Schätzungen, die von fünfhundert bis zu einer Million reichten. Irgendeine Quelle im Netz gab auch negative Einwohnerzahlen an.

»Halt!« Noch bevor er es ausgesprochen hatte, war Protox bereits von selbst stehen geblieben, sah mit spürbarer Erregung nach vorn und bewegte unruhig seine Parabolohren.

Arcas hätte darauf geschworen, dass das Tetracorn seine Gedanken lesen konnte. Protox war das einzige Stück Technik auf der ganzen Welt, dem er bedingungslos vertraute. Er konnte es übel nehmen, wenn ihn jemand als Maschine bezeichnete.

»Der Typ hat eine MP. Ich frage mich, woher …«

»Irgendwo bestellt und liefern lassen, was sonst?« Er folgte Hynias Beispiel und schaltete sein Visier auf Fernsicht.

»Ein Glück, dass er sich keinen Panzer bestellt hat«

Ein Kilometer entfernt stand der Typ mitten auf der Kreuzung und ballerte, was das Zeug hielt. Solche Verrückten brachten meist nicht genügend Überlegung auf, um sich mit einer größeren Menge Munition zu versorgen, aber dieser hatte eine voluminöse Umhängetasche, aus der er ein Magazin nach dem anderen holte. Und es waren nicht nur Fensterscheiben, Verkehrsampeln und Reklameschilder dabei draufgegangen. Drei eindeutig menschliche Kadaver waren in der Umgebung auszumachen. Mit einem Blick – du oder ich? – verständigte sich Arcas mit Hynia, die daraufhin etwas in Mirages Parabolohr raunte. Ein nur zentimetergroßer JPI (Jet Propelled Injector) floppte aus einem von Mirages Vorderhörnern und bohrte sich Sekunden später in den Hals des Schützen. Der zuckte zusammen und killte mit einem letzten Feuerstoß noch ein paar Fensterscheiben, dann sackte er zu Boden.

»Na los«, meinte Hynia. »Kümmern wir uns um das arme Schwein«

Die Blütenblätter der Teerose waren von samtigem Gelb, durchzogen von einem feinen Netz orange-roter Adern. Helis stellte die Gießkanne ab, mit der sie den Rosenstock reichlich getränkt hatte, beugte sich hinunter zur größten Blüte und sog ihren süßen Duft tief ein. Ein Schmetterling flatterte um die schwarz-roten Blüten des benachbarten Rosenstocks; aus ihrer gebeugten Sicht ein tanzender Farbtupfer dicht über dem Horizont, wo die Sanddünen den Himmel berührten. Dann bemerkte sie neben dem Schmetterling zwei dunkle Punkte in der Wüste, die sich der Oase näherten. Das mussten die Tetracornreiter sein – höchste Zeit, dass sie wieder einmal kamen! Helis löste ihr langes blondes Haar aus den dornigen Zweigen, in denen es sich verfangen hatte und lief durch die lockere Siedlung weißer Bungalows auf das Tor zu, durch das die Reiter kommen mussten.

Calida und Rubidor hatten sich hier schon eingefunden. Rubidor lehnte an einem der steinernen Obelisken, die den Rosenstöcken Halt gaben, während Calida sich mit einem Palmblatt Luft zufächelte, obwohl es keineswegs zu heiß war, sondern eine angenehme Wärme herrschte.

»Es sind Arcas und Hynia«, sagte Calida, ohne ihr Fächeln zu unterbrechen.

»Ja«, meinte Helis zerstreut. Sie hatte den Reitern gegenüber immer ein etwas schlechtes Gewissen, während Calida nicht auf solche Gedanken kam.

Arcas grüßte mit einem: »Hallo, wie geht's?« Von Hynia folgte ein: »Alles okay bei euch?« Die beiden Reiter schienen wie immer gut gelaunt, was allein schon angesichts ihrer schrottreifen rostigen Mähren erstaunlich war, deren abgenutzte Hufe mühsam durch den Sand schlurften.

Hynia hatte einen schlafenden Mann bei sich, quer über den zerschlissenen Sattel gelegt. »Könnt ihr den bei euch aufnehmen? Nehmt ihn mir mal ab«

Calida war bereits an ihrer Seite, sie interessierte sich für neue Männer. Nun – sollte sie. Helis selbst fand den unscheinbaren Dicken nicht besonders reizvoll, den Calida mit einiger Anstrengung aufrecht hielt, als Hynia ihn vom Sattel herabrutschen ließ. Vorsichtig legten sie ihn auf die warmen weißen Steinplatten des Weges.

»Wir freuen uns immer über neue Freunde«, sagte Rubidor lächelnd. »Ihr seid sicher hungrig und müde«

Arcas nickte und seine Augen blickten erschöpft, obwohl früher Morgen war. Die beiden schienen die ganze Nacht über nicht geschlafen zu haben. »Klar, wie immer«

Die Reiter saßen ab und während ihre altersschwachen Maschinen mit quietschenden Gelenken in Ruhestellung gingen, glaubte Helis in ihren Augen nicht nur Müdigkeit, sondern auch Traurigkeit zu sehen.

Ob sie wissen, was wir ihnen antun? Warum kommen sie dann aber trotzdem immer wieder? Und vor allem: Warum bleiben sie nicht bei uns? Etwas Besseres würden sie doch schließlich nirgendwo finden können!

Während sie versuchte, die beiden Reiter zu verstehen, vermischten sich ihre Gedanken und Erinnerungen mit Träumen und Einbildungen und sie gab den Gedankengang auf.

Sie bereiteten den Besuchern aus der Ruinenstadt einen schönen Tag, wie sie das immer taten, bewirteten sie ausgiebig und ließen sie ihre schwarze Kleidung voll seltsamer Schmuckstücke ablegen. Obwohl sie ihnen eigentlich unheimlich waren, brauchten sie sie.

Ein Kind stellte Hynia die Frage, wie sie mit ihrer alten Reitmaschine denn überhaupt durch die Trümmer der Stadt käme, worauf es vom weißbärtigen Romann zurechtgewiesen und davongeschickt wurde, bevor die Frau antworten konnte. Das Kind wusste noch nicht, dass die Städter die Welt anders wahrnahmen, dass sie die Wahrheit nicht sehen konnten. Am frühen Abend wurden die beiden schließlich zum Schlafen in den Tempel geführt. Ob sie überhaupt bemerkten, dass es ein Tempel war? Müde und mit gelassenem Lächeln ließen sie zu, dass der alte Romann ihnen die Kanüle mit dem Schlauch in den Arm stieß, durch den ihr lebendiges Blut heraus floss in die Opferschalen für den Gott, welche im Adyton direkt nebenan standen. Während die beiden Städter friedlich im Schein der flackernden Kerzen schliefen, von Blütenduft umgeben, erwachte der dritte, den sie auf den Altar gebettet hatten wie alle, die neu hinzukamen. Auch von seinem Blut bekam der Gott, damit er gereinigt wurde wie jeder in der Gemeinde. Er war, wie die Meisten, zunächst verwirrt und hatte Schwierigkeiten, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Er würde es lernen und dann würde auch er glücklich sein in der neuen Zivilisation, die in ewiger Unabänderlichkeit bestehen würde, nachdem die alte untergegangen war.

Plötzlich kam Helis ein schrecklicher Gedanke: Was wäre, wenn schließlich alle dort draußen, in den Ruinen der alten Städte, zu ihnen gekommen oder ausgestorben wären? Woher bekämen sie dann wildes Blut für den Rosengott?

***

Es war Mittag, die Wolkendecke war zu einzelnen Fetzen zerrissen, zwischen denen die Sonne freundlich herab schien. Arcas warf einen Blick zurück auf das außerhalb liegende Sanatorium, das sie grade verlassen hatten. Beim Blick aus dem Augenwinkel schien es ihm jedes Mal, als würde über dem Hauptgebäude etwas Düsteres aufragen. Es gelang ihm nicht mehr wirklich, die Ärzte, Pfleger und Insassen jener Einrichtung voneinander zu unterscheiden – falls es da überhaupt noch Unterschiede gab – aber es war ein friedlicher Ort, wo er und Hynia sich jedes Mal sowohl zur Übernachtung als auch zur Blutspende überreden ließen.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Hynia: »Ich frage mich, wozu die das Blut brauchen. Die haben doch gar keine Chirurgie, oder?«

Arcas zuckte mit den Schultern. Dieser alte Arzt, der sich nur Romann nennen ließ, war ein verschrobener Typ – aber wer war das heutzutage nicht? Und was war überhaupt der Maßstab? Immerhin schaffte er es, jeden Amokläufer zu stabilisieren, wenn man das so nennen konnte. »Keine Ahnung, was die damit anstellen. Aber danach fühle ich mich immer, als könnte ich Bäume ausreißen«

»Weißt du, was mir nicht aus dem Kopf geht?«

»Hm?«

»Wie kam die Kleine gestern darauf, unsere Tetracorne als alt und vergammelt zu bezeichnen?«

Er ließ den Blick über die blitzenden Metallwesen schweifen, über die weichen, eleganten Bewegungen der amorphen Metallmuskeln und meinte nicht ganz ernsthaft: »Der abgetretenen Hufe wegen vielleicht? Sie könnten wirklich neue brauchen«

»Blödsinn«

Natürlich Blödsinn. Aber die in der Anstalt glaubten schließlich auch, in einer Wüste zu leben statt in einer Heidelandschaft aus verwilderten Brachflächen.

»Reiten wir ins Hauptquartier?«, fragte Hynia.

»Was wollen wir dort – auf bessere Zeiten warten?«

»Nein, neue Hufe für Protox und Mirage!« Sie galoppierte voraus, er folgte ihr.

Das HQ war ein fünfstöckiges Gebäude im Planquadrat K 16, über dessen Dach eine Magnetbahntrasse führte. Die Tiefgarage war groß, leer und schwach beleuchtet. In ihrer Mitte prunkten drei seit langem nicht mehr benutzte Skycars, die von Robotern betriebsbereit gehalten wurden. Einer von ihnen war einigermaßen android, die anderen nicht viel mehr als kleinere und größere Kästen und Kugeln mit allerlei Gliedmaßen aus Metall und Kunststoff, die sich mit insektenhaften Bewegungen klickend und summend umherbewegten. In dunklen Ecken lagerten ein paar herrenlose Tetracorne, die sich um sich selbst kümmerten.

Arcas duckte sich flach auf Protox' Nacken und ritt die Treppen hinauf, Hynia folgte ihm auf die selbe Weise. Die Großraumbüros, Kommandozentralen und Kantinen in den fünf Stockwerken hatten irgendwann eine mehr als hundertköpfige Belegschaft beherbergt.

Arcas konnte sich an Zeiten erinnern, in denen sie hier noch fast zwanzig gewesen waren, sich als offizielle Behörde von was-auch-immer betrachteten und eine aus Großbuchstaben bestehende Bezeichnung hatten, deren Bedeutung aber schon keiner mehr kannte. In »ihrem Büro«, einer großen unordentlichen Halle, stiegen sie ab, kontrollierten an einem Terminal, ob die Bots der Wartungsabteilung noch funktionierten und schickten Protox und Mirage wieder hinunter zum Auswechseln der Hufe. Arcas ging ins Bad und wusch sich Hände und Gesicht. Der Spiegel zeigte ihm etwas, worüber er gelegentlich nachdachte, aber nie allzu sehr. Er hatte einige raubtierhafte Züge – spitze Reißzähne und bernsteingelbe Augen. Nicht so stark, dass er nicht mehr menschlich ausgesehen hätte, aber doch auffällig. Bei Hynia ging das noch etwas weiter; sie hatte statt der Finger- und Zehennägel Krallen. Er war sich nicht sicher, ob sie schon immer so gewesen waren.

»Manchmal kann ich den Scheiß nicht mehr hören«, murmelte Hynia, als er ins Büro zurückkehrte. »Warum tun wir das eigentlich?«

Jetzt erst nahm er bewusst die übliche Geräuschkulisse war: Das gelegentliche leise Aufheulen eines Druckers, der Papierbögen auswarf, die ein zwergenhafter Android in den Entsorgungscontainer trug, den aus Lautsprechern prasselnden Informationsmüll und die ständigen Notrufe, die gefakten und die echten. Schwarzes Rauschen überall.

»Macht eigentlich keinen Sinn, sich wegen eines Notrufs abzuhetzen«, meinte er. »Ein paar Minuten später kommt ohnehin der nächste, um den wir uns nicht kümmern können. So nett wie wir heute, dürften die hier früher, sowieso nie gewesen sein«

»Was hat man denn früher gemacht?«

»Menschen gejagt, gemordet … kannst du alles nachlesen«

Die anderen waren nach und nach verschwunden – hatten aufgegeben, waren durchgedreht oder einfach plötzlich weggeblieben, vielleicht waren sie tot.

Ein Reinigungsroboter fuhr rasselnd und mit heulendem Staubsauger an ihnen vorüber. Bis die beiden Tetracorne fertig waren, würde es eine gute halbe Stunde dauern.

»Hast du Lust auf Sex?«, fragte Hynia und zog sich ihre schwarze Jacke aus.

»Tisch oder Boden?«

»Im Stehen« Sie knurrte raubtierhaft und legte sich rücklings auf einen Tisch. »Ich meine, du stehst!«

Sie liebte es, dabei laut zu schreien, stoßweise die tote Lebendigkeit ringsum übertönend.

»… schützen Sie ihre Daten … Feuer in der zwölften Tangente, Haus 114 bis 116… na los, tu mir weh … knackt jede Datenbank … MacEntomb, der Bestattungs-Discounter …«

In gemächlichem Trab verließen sie das HQ. Die Wolkendecke über ihnen hatte sich wieder zusammengezogen, Wind strich durch die Straßen. Hynia und Arcas hatten sich noch etwas aus den Automaten zu holen versucht und nach einigen Versuchen tatsächlich etwas Essbares erwischt. Arcas hielt eine halbvolle Flasche Orangenlimonade in der Hand, mit einer blauen Orange und sieben Druckfehlern auf dem Etikett, deren Inhalt jedoch okay war. Mittels eines Abzählreims hatten sie aus den Notrufen der letzten halben Stunde einen ausgesucht: Eine Explosion eines Hauses, von irgendeinem Roboter gemeldet. Arcas leerte die Flasche und warf sie in hohem Bogen gegen die nächste Fassade, wo sie mit hellem Klirren zersprang. Eine kleine Herde wilder Einspurautos kam ihnen mit insektenhaft hohem Summen entgegen und machte einen Bogen um sie. Die schmalen Fahrzeuge waren harmlos, sie hatten keine Biokonverter. Allenfalls waren sie Überträger von Computerviren und Kabelechsen, mit denen sie häufig infiziert waren. Aber darum kümmerte sich schon längst keiner mehr.

Hynia horchte plötzlich auf und schaltete Arcas mit auf ihr Kom. »Ich kriege etwas Privates rein«, meinte sie.

»Na, das ist doch mal eine Abwechslung«

Es war eine Frau aus der 55. Radiale, wo noch ein paar Menschen wohnten. Sie bedankte sich überschwänglich für ihren gestrigen Einsatz gegen den Verrückten und lud sie beide für den heutigen Nachmittag zum Kaffee ein. Hynia sagte zu.

»Dann sollten wir uns beeilen!« Arcas beschleunigte den Trab seines Tetracorns. »Warum nehmen wir für so weite Wege eigentlich kein Skycar?«

»Weil Mirage da nicht rein passt. Und ohne ihn gehe ich ganz sicher nirgendwo hin«

»Was machen wir nun mit dem explodierten Haus?«

»Wie wär's mit vergessen? Ich meine – hey, warst du schon jemals zu einem Kaffeekränzchen eingeladen? Häuser gibt’s noch genug«

Die Tetracorne trabten im Gleichschritt und der Widerhall ihres Hufschlags schien die Fassaden vibrieren zu lassen.

Clara hatte Kuchen gebacken, einen großen goldgelben Rührkuchen mit richtigen Eiern statt Eipulver. Echte Eier waren in den letzten Jahren immer so schlecht zu bekommen, aber der lange Louis hielt allerlei Vögel in einer leerstehenden Wohnung in einem oberen Stockwerk, wo der Aufzug nicht mehr hin fuhr; Wachteln, Hühner, Gänse und andere. Eigentlich war so etwas laut Hausordnung verboten – aber irgendwie hatte Louis ja recht: Die Hauseigentümer waren selber schuld, wenn sie sich um nichts kümmerten und einen Hausmeister gab es schon ewig nicht mehr. Stolz bugsierte Clara den duftenden Kuchen und ihren übergewichtigen Körper durch die Tür in das Wohnzimmer, wo sich die Nachbarschaft und das nette Polizistenpärchen versammelt hatten.

»Der Kaffee kommt gleich«, flötete sie. »Louis, hilf mir doch bitte«

Der hochgewachsene Mann im grauen Hemd, der immer ein wenig nach Federvieh roch und mit seinen sechzig Jahren ungefähr im gleichen Alter war wie sie selbst, folgte ihr in die Küche.

Um die zusammengestellten Tische im Wohnzimmer saßen das ungepflegte junge Paar von nebenan, der glatzköpfige Jakko mit den vielen Narben, der wie immer seine verschlissene braune Lederjacke trug und selten ein Wort sagte, die beiden Mädchen, die im Erdgeschoss bei dem großen, zotteligen Hund wohnten – Clara fragte sich, warum er nicht mitgekommen war – und Ricky, der dünne Mann von gegenüber, der nur Computersprache verstand und immer so aufgeregt war und Zuckungen bekam. Und natürlich ihre beiden Retter von gestern.

Clara bedankte sich herzlich im Namen der ganzen Nachbarschaft bei den beiden, während sie Kaffee eingoss und sich die Schlagsahne von der anderen Hand an der Schürze abwischte.

»Ich verstehe überhaupt nicht, wie so etwas passieren konnte – er war doch so ein anständiger Mensch!« fuhr sie fort.

»Ja, und immer so ruhig«, ergänzte Louis. »Er konnte sonst noch nicht einmal eine Gans schlachten«

»Wie gut, dass Sie für Recht und Ordnung sorgen! Manchmal denkt man ja wirklich fast, man könnte nicht mehr ruhig schlafen«

»Ähm, ja, schon gut«, sagte die Polizistin und schien etwas irritiert, weil die beiden Mädchen so laut schmatzten. So etwas gehörte sich aber auch nicht! Auch ihr Kollege schien sich nicht ganz wohl zu fühlen und schaute so seltsam drein. Clara zupfte ein wenig hektisch die Kissen, die Gardinen und die Spitzendeckchen zurecht, dann befand sie, dass alles perfekt aussah. Auch die Gespenster unter der Decke hatten sich ordentlich um die Lampe versammelt und verhielten sich ruhig.

»Früher war es besser«, sagte Jakko unvermittelt. »Da waren mehr Leute. Alle gestorben. An den Krankheiten«

Louis hob die Stimme und den knochigen Zeigefinger: »Alle gestorben, so ein Quatsch! Es wollte keiner mehr Kinder haben, das ist alles. Die Verhütung hätten sie verbieten sollen!«

Clara meinte sich rechtfertigen zu müssen: »Wer will denn heute schon noch Kinder in die Welt setzen? Außerdem lag das alles an der Umweltverschmutzung«

Ricky hielt die Kaffeetasse zitternd zwischen den verkrampften Händen und stieß zwischen lauten Schlürfern etwas von »loopback« und »integer« hervor.

»Ein globaler Logistikzusammenbruch war das«, meinte der ungepflegte junge Mann und seine Frau fügte hinzu: »Aber wenn da nicht die Außerirdischen gewesen wären …«

Es klopfte an der Tür, eine Sekunde später öffnete sie sich und ein Junge streckte den Kopf herein. »Bin ich auch eingeladen?«, fragte er.

Der Junge wohnte nicht im Viertel, hatte sich aber in letzter Zeit schon ein paar Mal hier herumgetrieben. Eigentlich sah er ganz nett aus mit seinen halblangen, zerwühlten schwarzen Haaren, dem zerrissenen Hemd und der zu großen, hochgekrempelten Jeans – genau wie ein richtiger Lausejunge aus einem Bilderbuch. Irgendwie mochte ihn Clara aber trotzdem nicht, vielleicht weil er so seltsames Zeug redete. Wahrscheinlich war er nicht ganz richtig im Kopf.

»Ja«, sagte sie mit einem gewissen Widerwillen. »Ich hole dir eine Tasse und einen Teller«

»Hey, wir kennen uns doch«, sagte die Polizistin zu dem Jungen. »Du bist so schnell verschwunden, als hättest du dich in Luft aufgelöst!«

»Sie kennen ihn?« fragte Clara neugierig.

»Ja, wir kamen gerade dazu, als ihn ein wildes Auto fressen wollte« Und, wieder an den Jungen gewandt: »Wie heißt du eigentlich?«

»P.L«

»Paul, meint er«, erklärte Clara und häufte ihm ein instabiles Stück Kuchen auf den Teller.

»Und ihr seid Hynia und Arcas«, stellte der Junge fröhlich fest. »Die nächste Frage ist, wie alt ich bin, stimmt's?«

Die beiden lachten, während Clara den Jungen einfach zu frech fand.

»Ja, stimmt«, sagte diesmal der Mann. »Und, wie alt bist du?«

»Elf?«

Es klang wie eine Gegenfrage, aber die beiden nahmen es als Antwort. Der Junge biss vom Kuchen ab und fragte mit vollem Mund: »Ist euch eigentlich schon mal etwas komisch vorgekommen an der Welt, in der ihr lebt?«

Clara fühlte sich unangenehm berührt. »Stören Sie sich nicht daran«, sagte sie entschuldigend. »Der Junge redet immer so komisches Zeug«

Offenbar hatte sie etwas Falsches gesagt, denn der Polizist warf ihr einen unwilligen Blick zu und antwortete auf die Frage: »Ja, täglich. Und?«

»Habt ihr schon mal drüber nachgedacht?« Der Junge ließ den Blick über die Hausbewohner schweifen und setzte hinzu: »Euch habe ich das ja schon alle gefragt«

»Hund noch nicht«, sagte Jakko und erklärte: »Hund. Wohnt unten. Mit den Mädels«

Die beiden Polizisten ignorierten ihn. Nach einigen Sekunden des Schweigens antwortete die Frau: »Nein, nicht wirklich. Und du? Hast du irgendeine Erklärung für irgendetwas?«

»Die Wahrnehmung ist zersplittert«, sagte der Junge. »Das Denken der Menschen schafft die Realität und festigt sie. Aber jetzt gibt es nicht mehr genügend Menschen, deshalb haben sie den gemeinsamen Fokus verloren«

»Und wer hat ihn jetzt?«

»Die Technosphäre hauptsächlich«

Das verrückte Gerede war nicht gut – Clara hatte es ja geahnt! Schon, dass Jakko so ungewöhnlich viel redete, war ein schlechtes Zeichen. Nun begannen auch noch die Gespenster an der Decke unruhig zu werden und durch den Raum zu fliegen und Ricky bekam eine schlimme Zuckung, mit der er das ganze gute Geschirr vom Tisch herunterwarf, das klirrend am Boden zersprang. Louis sprang auf und schrie: »Die Vögel! Ich muss zu den Vögeln!« Er rannte hinaus. Die beiden Mädchen balgten sich am Boden knurrend um das letzte Stück Kuchen und das ungepflegte junge Paar begann sich auszuziehen.

»Oh Gott, meine Tabletten!«, japste Clara, die plötzlich weiche Knie bekam, wie immer in solchen Augenblicken. »Die Tabletten!« Endlich hatte sie sie, die ganz große Rolle. Sie waren riesig und zum Zerkauen und um die Geheimagenten zu täuschen, stand auf der Packung, es seien Schokoladenkekse – sie sahen auch so aus und schmeckten so, aber Clara wusste, dass sie ohne diese Medizin längst gestorben wäre.

»Alles in Ordnung?«, fragte die nette Polizistin und beugte sich über sie. Clara versicherte ihr, dass sie schon wieder völlig in Ordnung sei. Die beiden mussten jetzt gehen. Jakko hängte sich die Tischdecke um – in der Hektik verkehrt herum, wie Clara bemerkte – und folgte ihnen.

»Ach du Scheiße!« Arcas stieß heftig die Luft aus, als sie das Haus verließen. »Der Kuchen war immerhin gut«, meinte er dann resignierend.

Protox hob leise summend den Kopf und schaute ihm mit rot aufglimmenden Augen entgegen.

»Erzähl weiter, das Thema war interessant«, sagte Hynia und Arcas bemerkte erst jetzt, dass der Junge ihnen gefolgt war.

»War das nicht eine schöne Veranschaulichung?«, fragte dieser. »Wenn die Gruppen zu klein sind für eine gemeinsame Basis, laufen die Realitätstunnel auseinander, es kommt zu kritischen Differenzen und die Wahrnehmungen werden instabil«

»Ist dein Vater Philosoph oder Psychologe oder so?«

Der Junge lachte lauthals. »Wieso, traust du mir selbst das nicht zu?«

Arcas mischte sich wieder ein: »Was du uns da erzählst – hat das eigentlich auch einen praktischen Wert?«

»Ja, hat es. Willst du die Welt so wahrnehmen, wie sie ist? Oder sagen wir wenigstens, mehr von dem, was wirklich ist?«

»Ich dachte, das täte ich«

»Das denken fast alle« Der Junge blickte enttäuscht.

»Also gut, ich will. Was muss ich tun?«

Aus östlicher Richtung kam ein Leopard von der Größe eines Löwen die Straße entlang, vorbei an einem kaputten Hydranten, aus dem Wasser rauschte. Arcas legte die Hand auf den Griff seiner Pistole.

»Nein«, sagte der Junge. »Er gehört zu mir« Der Leopard kam heran, rieb seine Schnauze an ihm und der Junge schwang sich auf seinen Rücken, was das Tier sich erstaunlicherweise gefallen ließ. »Wenn ihr interessiert seid, kommt zur U-Bahn-Station Zoo«

»Wann?«, rief Arcas dem Jungen nach, während er auf dem Leoparden davon ritt.

»Wann immer ihr Lust habt!«

Der Junge entfernte sich und das Surreale der Situation verflog mit dem schwindenden Raubtiergeruch.

Kopfschüttelnd meinte Hynia: »Sind wir selbst eigentlich weniger irre als die da drin?«

»Wir haben gerade ein Kind auf einem Leoparden davon reiten sehen, nachdem es uns einen Psychologie-Vortrag gehalten hat. Ist das Antwort genug?«

Er saß auf und nahm Kontakt zu den Netzen auf, ein Screen klappte aus Protox' Nacken. Arcas probierte verschiedene Filter durch, um ein paar Infos von Relevanz herauszufischen.

»… Sex oder Alkohol? Warum wählen? Bestell beides! … Ende, aus, Mickey Mouse … HQ Code 18, warte auf Antwort … Läufer auf D3 …«

»Code 18«, wiederholte Hynia. »Da ist jemand in Lebensgefahr«

Er filterte die Fragmente der Nachricht aus dem schwarzen Rauschen heraus. Ein Roboter hatte gemeldet, dass jemand reglos auf einem Dach lag.

»Vielleicht sind wir da, so lange er noch oben liegt und vielleicht ist er sogar noch am Leben« Hynia schwang sich auf Mirage.

Das ringsum verglaste Gebäude streckte seine 50 Stockwerke stolz in die Höhe und reflektierte freundlich den Schein der zwischen Wolken verschwindenden Abendsonne. Ein paar Scheiben der Eingangsfront waren zerschlagen, so dass sie direkt ins Foyer reiten konnten. Das ganze Haus machte von innen einen verdammt dunklen Eindruck. Arcas schwenkte einen Scanner und stellte fest: »Kabelechsen. Kein Stromnetz mehr da«

»Also dann, gehen wir zu Fuß hoch. Den Aufzügen hätte ich sowieso nicht vertraut«

Sie stiegen ab, schickten die Tetracorne hinaus, schalteten die Gürtelscheinwerfer ein und machten sich auf den Weg nach oben durch das fensterlose Treppenhaus. Knackende, knirschende und quietschende Geräusche hallten durch die Dunkelheit. Es hörte sich an, als würde weit über ihnen etwas frei schwingen.

»Zehn«, keuchte Hynia nach einer Weile.

»Was?«

»Zehnter Stock. Ein Fünftel haben wir«

Irgendwo fielen Dinge zu Boden und mit einem berstenden Geräusch zog sich ein dünner Riss durch die Wand direkt neben ihnen. Blau-grün leuchtend bewegte sich über ihnen etwas.

Alarmiert griff Arcas noch einmal nach dem Scanner, justierte, ging die Tiefenbereiche durch und flüsterte schließlich: »Oh, verdammt. Raus hier!«

Es waren Echsen der neuen Rasse, die sich nicht nur an stromführende Leitungen hielten, sondern jegliches Metall wahllos fraßen oder verschwinden ließen oder in was auch immer transmutierten – einschließlich tragender Stahlgerüste und Armierungen.

Mit federnden Schritten rannten sie die Treppen hinab, jedes zu harte Auftreten vermeidend und dabei angespannt auf alle Bewegungen des Hauses horchend, verließen im Laufschritt das Foyer und sprangen in die Sättel der Tetracorne, die auf der anderen Straßenseite warteten. Erst hinter der übernächsten Ecke hielten sie an.

»Hier dürften wir vor einem Einsturz sicher sein«, meinte Arcas.

»Glaubst du, die bringen ein Haus so schnell zum Einsturz?«