Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Gefeiert als vielversprechendster Dichter seiner Generation, kehrte Kirill Medvedev vor rund 10 Jahren dem Literaturbetrieb den Rücken. Er verweigerte öffentliche Lesungen, gab das Copyright seiner Texte auf und veröffentlichte sie fortan im Internet: "für alle", um seine "intellektuelle Souveränität wiederherzustellen". Seine radikale und kompromisslos selbst gelebte Kritik an den Umständen in Russland und dem entfesselten globalen Kapitalismus führte ihn zum politischen Aktivismus von unten. Antifaschismus für alle versammelt nun Texte aus einem Jahrzehnt – erzählende Gedichte, wütend, zärtlich, voller Gewalt und sie gleichzeitig verdammend, sowie Essays über Literatur und Politik. Seine Texte sind somit nicht nur beeindruckende Literatur, sondern auch brennendes Zeugnis des Wunsches nach Veränderung und der Überzeugung, dass diese möglich ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 301
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
KirillMedwedew
ManifestEssaysGedichte
Aus dem Russischen vonMatthias Meindl und Georg Witte
Gedichte aus dem Almanach Awtornik
Alles ist schlecht
Ein Text über die tragischen Ereignisse vom 11. September in New York
Kommuniqué
Mein Faschismus (einige Wahrheiten)
Manifest zum Urheberrecht
9. Mai. Wie ich eine Birne durch Moskau spazieren führte
3%
Warum ich mich entschlossen habe, dieses Tagebuch zu führen. Für die, die das wirklich interessiert
»… die Literatur wird durchforscht werden«. Individuelles Projekt und »neue Emotionalität«
»… damit die Kunst unsere eigene, gemeinsame, lebendige, fortwährend schöpferische Sache ist«
Marsch zum Rathaus
Der Geist geistloser Zustände
»Occupy Abaj«: die Machtfrage
»Ruhm der Nation« oder »lernen, lernen und nochmals lernen«? Über Maidane, Denkmäler und das Erbe des Bolschewismus
Hass auf den Krieg – statt »endgültiger Lösungen«
Antifaschismus für alle
Die Revolution, der Sieg, der Kosmos – Sinngebung und Solidarität
Warum wir den 7. November feiern
Neue Gedichte
Die Sozialität der Rede. Nachwort
Anmerkungen
Editorische Nachbemerkungen
Wenn ich der alten Concierge die leeren Flaschen bringe,
ist sie gerührt und bietet mir an, ich könne die Gratiszeitung
mit TV-Programm mitnehmen,
aber ich sage ihr, dass ich so ein Heft nicht brauche,
weil ich keinen
Fernseher habe.
Ich sah das Gespenst eines Baums;
es ergab sich deshalb,
weil einer der Bäume, die etwas entfernt standen,
seinen Schatten auf eine Dampfsäule warf,
die aus der Erde aufstieg;
Trugbilder in der Wüste
entstehen nach demselben Prinzip.
Urgroßmutter kochte sich Lapscha, aß sie,
dann ging sie in ihr Zimmer
und starb;
als man sie nach etwa einer Stunde entdeckte,
war die Suppe noch verhältnismäßig warm;
ich spreche
von meiner Urgroßmutter zweiten Grades.
Es ist schön mit Menschen zu reden,
die an die Wissenschaft glauben.
Aber gibt es denn Menschen, die hundertprozentig begreifen,
dass sie restlos sterben und dass von ihnen nichts übrig bleibt?
Es gibt sie, aber es sind sehr wenige.
In der Regel haben sogar die, die sich für Materialisten halten,
die Hoffnung, dass sie irgendwohin fliegen
nach dem Tod.
Als ich mit Gelbsucht aus dem Krankenhaus kam,
hat man mir Buletten gemacht;
ich erinnere mich, als ich ein Kind war, machte Mama mir Quark:
Am Hahn hing so ein Beutel aus Mull
mit einer mürben weißen Masse drin;
letzten Sommer war ich in Istanbul,
und am allerbesten dort
war das Olivenbrot.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Mitja, meinem Freund,
ich sagte ihm, dass die Leute und alles andere nichts als
eine einzige Scheiße seien,
in der manchmal, ganz selten, sich winzige Inseln
von etwas Reinem und Echtem finden;
aber eigentlich habe ich das damals noch nicht begriffen,
das kam mir nur so wie eine plötzliche Ahnung,
jetzt aber begreife ich das wirklich,
und das heißt, jede Ahnung bestätigt sich
nach Jahren beharrlicher Arbeit.
Als ich gestern Brei kochte,
habe ich, um alles richtig zu bemessen,
zuerst Wasser in ein Glas gefüllt,
dann das Wasser aus dem Glas in den Topf gegossen,
dann das Glas innen abgetrocknet –
damit die Flocken nicht dran kleben bleiben,
und dann erst die Flocken in das Glas und dann
in den Topf geschüttet.
Ich spülte ein Glas, von vollendet regel- und ebenmäßiger Form,
an seinem Boden
spürte mein Finger eine Wölbung –
als ob das Glas anschwölle.
An der Kreuzung der Pretschistenka und der Deneschny-Gasse
steht ein rundes zweistöckiges Haus
und mir ist irgendwie immer sehr wohl zumute,
wenn ich an es denke;
in Moskau gibt es noch einige Orte,
an die ich immer sehr gern denke;
aber es kann ja schön sein,
an jeden beliebigen Ort zu denken.
Man hat mich einmal mit einem Mädchen
für Geld in ein geschlossenes Elefantenhaus gesteckt
und wir hatten nach vielleicht zehn Minuten
den Elefantengestank so aufgesogen,
dass wir noch noch zwei Tage lang nach ihnen gestunken haben;
ich übertreibe nicht.
Zwischen den Scheiben saß lange etwas
einem Falter Ähnliches,
schien zu schlafen,
und doch bewegten sich seine langen Fühler –
wohl vom Wind,
der durch die Fensterritzen drang.
Es kommt vor, dass du mir nichts dir nichts
mitten auf einer Seitenstraße stehen bleibst
in quälender Hitze,
wie nach einem Regen, und du erstarrst
und hast so ein Gefühl,
dass du mit Millionen Seelen verbunden bist,
und dazu noch das Gefühl,
dass jemand für dich betet
in diesem Moment.
Die Rote Bete gab
einen Teil ihrer satten Farbe dem Wasser ab
und nahm eine absolut einmalige Farbe
fast schon wie von Perlen an.
Von unserem Haus aus sieht man ein Haus,
das ganz genau dem gleicht,
in dem ich allein gewohnt habe
vor etwa acht Jahren;
ich verkaufte damals immer Bücher
vor der Metrostation »Baumanskaja«
und ernährte mich von Kartoffelpüree;
und wenn mein Freund mit seiner Freundin vorbeikam,
dann ging ich scheinbar »in ein Geschäft«.
Die Mango keimte, ein dünner Stängel
durchstieß von innen
den riesigen flauschigen Kern
und drang nach außen;
das war etwas,
das eine Zeitlang
alle anderen Freuden verdeckte.
ich bin es leid zu übersetzen
mit dem Übersetzen werde ich mich
wohl nicht mehr beschäftigen
mir scheint diese Beschäftigung lohnt sich
nur dann
wenn man ganz und gar
mit dem Autor
verschmelzen kann
jede seiner Zeilen
unterschreiben kann
seinen Schrei
auffangen und verstärken kann
so war es zum Beispiel
als ich einen Amerikaner
übersetzte
einen Charles Bukowski
Schriftsteller und Dichter
als ich ihn übersetzte
wollte ich unbedingt
dass ihn möglichst viele Menschen
kennen lernen
und ein wenig von dem verstehen
was er
wie mir schien
verstanden hatte
als ich ihn übersetzte
schien mir
dass niemand ihn so versteht
wie ich
obwohl es zwischen uns
nichts Gemeinsames
gibt und gab
weder äußerlich noch innerlich
auch biografisch nicht
und Charles Bukowski ist beileibe nicht mein Ideal
darum scheint mir
dass ich nicht mit
seiner Stimme sprach
und es war auch nicht so als würde da etwas untergeschoben
wie das oft bei Übersetzern der Fall ist
die mit fremdem Mund sprechen
mangels einer eigenen Stimme
mir scheint es gab
einen echten Kontakt zwischen uns –
wie wenn zwei völlig unterschiedliche Menschen
plötzlich einander zu verstehen beginnen
ein solcher Kontakt ist meiner Meinung nach
ein echtes Ereignis
in der Kunst und im Leben
ich habe einen Roman Bukowskis ganz übersetzt
und viele seiner Gedichte
mir scheint ich habe beides
sehr gut übersetzt
ich weiß nicht wie es mit dem Roman im Ganzen ist
aber da gibt es einfach einige geniale Stellen
davon bin ich überzeugt
das gilt finde ich auch für die Gedichte
als ich die Gedichte von Charles Bukowski
übersetzte
schien es mir
als ob ich die beste
zeitgenössische Dichtung in russischer Sprache mache
ehrlich gesagt scheint mir das
auch jetzt noch so
ich weiß leider nicht
wann das veröffentlicht wird
vielleicht sogar
niemals
und ich habe ehrlich gesagt
schon keine Hoffnung mehr
weil ich weiß
dass mir jemand mit dem Roman
zuvorkommen
und ihn in einer anderen Übersetzung veröffentlichen kann
und gar nicht unbedingt
in einer schlechten
doch ohne diese echten Durchbrüche
vielleicht aber auch
in einer blamablen;
ich übersetze jetzt einen Kriminalroman
für die Zeitschrift »Inostrannaja literatura«
das ist ein Roman für eine neue Serie
von Beilagen zu dieser Zeitschrift
die glaube ich
»Das Buch für die Reise« heißt
ich habe das Gefühl
dass ich jetzt
in Diensten der Bourgeoisie stehe
diesen Kriminalroman schrieb John Ridley
ein schwarzer amerikanischer Autor
er ist 32 Jahre alt
es ist ein sehr spannender Roman
er ähnelt irgendwie den Filmen Quentin Tarantinos
er enthält eine Satire auf Hollywood
und eine Kritik der Sitten des Establishments
von Hollywood
aber zugleich verwendet er
genau die alten Hollywood-Tricks,
trotzdem gibt es in diesem Roman
einige gute Stellen
aber im Großen und Ganzen ist er
glaube ich
schlicht eine gelungene Fälschung
ich glaube Übersetzer sind
mit wenigen Ausnahmen
Vampire
sie leben
von fremdem Blut
denn eine Übersetzung
ist ein süßer Traum
künstlerisches Schaffen aber
das ist eine Qual
und darum
werde ich mich wahrscheinlich nicht mehr
mit dem Übersetzen beschäftigen
ich glaube ich spürte
den Sinn der Leere,
als ich kürzlich
den Roschdestwenski-Boulevard entlangging
an den Häusern vorbei
und plötzlich spürte ich
so eine Leere,
die sich mir eröffnete
in den Lücken zwischen den Häusern;
ich spürte sofort,
dass es diese Leere an dieser Stelle
vorher nicht gegeben hatte,
doch ich konnte lange
nicht verstehen,
was vorher an dieser Stelle
gewesen war;
dann erinnerte ich mich
daran dass
hier
neben einem Kloster
vor zwei Tagen
Mönche Bäume gefällt hatten,
aber zunächst hatte ich dem keine Beachtung geschenkt
und war geradewegs
unter einem Baum hergegangen,
den sie schon angesägt hatten
und der
jeden Moment
auf den Bürgersteig fallen musste; und dann,
als ich schon fast vorbeigegangen war, schaute ein Mönch,
der ein wenig abseits stand,
mich an
und schüttelte den Kopf,
weil der Baum, den sie sägten, mich hätte
erschlagen können;
und nun
als ich an dieser Stelle
vorbeikam
spürte ich
diese Leere
die sich von dort auf mich zu bewegte,
ich spürte
so eine bannende Bresche
an der Stelle der Bäume,
und in dem Moment
hatte ich eine sehr klare Vorstellung von den Bäumen,
die dort gestanden hatten
und denen ich
keine Beachtung geschenkt hatte
als ich vorbeigegangen war,
und im selben Moment spürte ich
ihr Geräusch und ihren Geruch –
und ich dachte,
damit
sich etwas ereigne
(ein Erlebnis, eine innere
Erschütterung,
ein Bersten –
eine Schieflage,
ein seelischer Krampf,
ein Stoß,
vielleicht
ein Höllensprung),
müsse sich zuvor etwas anderes
ereignen –
offensichtlich muss zuerst eine Leere
aufblitzen
wie eine Halluzination,
mir scheint, dass sich zuerst
etwas öffnen
und schmerzend einbrechen muss
weil
der menschliche Geist
(die Maschinerie des menschlichen Geistes,
seine kapriziöse platzraubende
Maschinerie)
genau dort
zu arbeiten beginnt,
wo man dem Menschen
etwas genommen hat –
d. h., im Prinzip, an einem leeren
Ort
(es wäre zu wünschen, dass man ihm etwas,
dem er keinen Wert gab, genommen hat,
oder besser noch etwas
wovon er überhaupt
nichts wusste)
nach diesem Erlebnis,
das mit der Leere verbunden war,
die sich mir eröffnet hatte
an der Stelle der gefällten Bäume,
verstand ich, so scheint mir,
ziemlich gut
den Sinn der Leere
noch ein wenig über die Literatur:
mich hat immer ein bestimmter
Typ von Dichter sehr interessiert
das ist ein ziemlich bekannter Typ:
diese blonden Burschen
die nach Moskau kamen
schon seit den 1930er Jahren
am Literaturinstitut aufgenommen wurden
und im Wohnheim des Literaturinstituts
Krach schlugen
das waren
sehr harte Burschen aus der Peripherie
Meister der Nostalgie
und mysteriöse Laien
mir scheint dass
die Nachfrage nach ihnen gewaltig war
weil
sie etwas repräsentierten,
das lebende Gewissen
der in ihrem ewigen Komplex vor dem Volk
befangenen greisen Dichter der Hauptstadt;
mir scheint
dass sie unbedingt
die vakante Nische
des in der Stadt sich plagenden
Dorfsängers einnehmen wollten;
ich glaube,
dass sie auch sehr gern
Lels1 Maske aus Gips anprobieren wollten
Dutzende von ihnen
verloren den Verstand
viele verwandelten sich
in Stadtstreicher
und betteln
bis heute
auf dem Strastnoj Boulevard
(ich habe dort zwei Mal
verwilderte Kerle gesehen
die die Bänke entlanggehen
Gedichte lesen
und sagen sie hätten
am Literaturinstitut studiert)
einige von ihnen
haben sich aufgehängt
die anderen verschwanden spurlos;
am berühmtesten von allen wurde
wie man weiß
Nikolai Rubzow
man weiß aber auch
dass Rubzow kein ganz einfacher Fall war
dass er eine Zeitlang in Pieter lebte
in der Gesellschaft Petersburger Ästheten
und dass er alle möglichen
formalistischen Dinge ausprobierte
dass ihm Brodski gefiel
und so weiter
ich glaube
allen ist bekannt
dass ihn nach seiner Ankunft in Moskau
diese Bienenzüchter
aus dem Literaturinstitut umgarnten
mir scheint
sie haben ihn
in ein Klischee
in einen Mythos des Verrufenen gepresst
und haben ihn ausgestellt
als Strohpuppe im Pantheon
dort gibt es
auch jetzt noch
solche Burschen
vorletzten Sommer
habe ich mich in Berlin verirrt
das geschah
im Bezirk Tiergarten
ich kam
auf einen absolut leeren Platz
der von Wald umstanden war
und er war menschenleer
da erblickte ich einen jungen Mann
auf seinem Fahrrad
und lief zu ihm
und fragte ihn auf Englisch –
wie ich zum Zentrum komme;
er freute sich sehr über mich
weil er wie sich herausstellte
ein russischer Emigrant war;
er stieg vom Fahrrad
und begann sehr ausführlich
den Weg zum Zentrum zu erklären;
die ganze Zeit während er es mir erklärte
benahm sich sein widerwärtiger Sohn
der vielleicht fünf Jahre alt war
und in einem am Gepäckträger festgemachten
Eisensitz saß
abscheulich –
er jammerte zappelte strampelte
und schrie
zog mich am Ärmel
warf den Kopf in den Nacken
und verdrehte
die Augen;
(ich dachte daran, dass man in Russland über solche Kinder sagt:
»den juckt’s im Arsch«)
dem Kleinen war sichtbar langweilig
er verstand nichts
von unserem Gespräch
und wiederholte die ganze Zeit bockig
einen Satz auf Deutsch
(immer diesen einen
Satz)
ich habe dann später verstanden
was das für ein Satz war
mir scheint
es war der Satz
»warum sprecht ihr nicht Deutsch?«
d. h.
»почему вы говорите не по-немецки?«
mich hat diese Geschichte
mit dem russischen Emigranten
sehr berührt
mir kam da der Gedanke: »dieser arme Emigrant
er kann mit niemandem auf Russisch reden
sein Sohn ist ein Deutscher!«
ich glaube
dass diese Geschichte
mich damals sogar mehr ergriffen hat
als die wilden Kaninchen
die ich einige Zeit später
im Zentrum Berlins sah
(und ich liebe
Kaninchen)
sie ergriff mich weit mehr
als das Mädchen Anna Hennig
das über mich in der Zeitung »Berliner Spiegel«
geschrieben hatte
und als das ganze großartige Berlin –
diese riesige ununterbrochene Baustelle
in einem Gespräch
hatte ich erwähnt,
dass ich mich ganz schön unsicher fühle
in dieser Welt,
und wir redeten dann über einen Menschen,
der wohl mit beiden Beinen im Leben steht
und sich ganz schön sicher fühlt
in dieser Welt;
es stellte sich heraus,
dass dieser
(noch ganz junge)
Mann
schon ungefähr 320 Liebhaber hatte,
und da dachte ich
(das war so eine Passage
im Geiste meines geliebten Dichters
Charles Bukowski)
da dachte ich: »also
stellt sich
heraus,
dass man mehr als dreihundert Leute vögeln muss
(oder es so einrichten muss,
dass sie einen nehmen),
um sich gut, sicher
zu fühlen, mit
beiden Beinen im Leben zu stehen« –
an so etwas hatte ich noch nie gedacht,
im Gegenteil, ich konnte
immer nur Mitleid empfinden,
ich konnte nie an etwas anderes
denken, mir scheint, dass du,
wenn einmal Schluss ist mit dem,
was zwischen euch lief,
dass du dann beginnst,
Mitleid für den betreffenden Menschen zu empfinden –
und es ist nicht wichtig, was genau
vorgefallen ist,
ich glaube, es hat absolut keine Bedeutung,
wer sich wie benommen hat
und wer und wie
mit wem
zu tun hatte
(und wer mit wem wie
letztendlich umgegangen ist) –
die Hauptsache ist, dass man danach,
wenn alles zu Ende ist,
es mit sich nimmt
(erst recht wenn du eine
solche Menge von Liebhabern hast –
man kann sich vorstellen,
wie unsäglich traurig
das in jedem einzelnen Fall
ist)
und man wird es in sich tragen bis zum Ende, wie eine Frucht
oder wie eine Strafe
oder wie sonst noch etwas;
vielleicht
kann man
alles vergessen;
es gelingt dir vielleicht sogar
sein Gesicht zu vergessen, und eventuell sogar seinen
(oder ihren) Namen,
doch das Mitleid mit ihm
wird wahrscheinlich doch
in dir bleiben;
ich weiß nicht,
in mir ist es jedenfalls
immer geblieben;
es war für mich immer
die stärkste Erschütterung
und übertraf
alle anderen
Eindrücke des Lebens,
darum kann ich,
ehrlich gesagt,
nicht verstehen,
wie man so viele
Liebhaber haben kann
oder Liebhaberinnen
und dabei nicht nur nicht verrückt werden,
sondern sich auch noch
ganz schön sicher fühlen kann
in dieser Welt,
mir scheint dass
wenn ich so viele Liebhaber hätte,
mich das Mitleid
schon längst zerstört hätte,
es hätte mich verwüstet, mich von innen ausgebrannt,
ich wäre an ihm erstickt
eine Zeitlang gingen
mein Freund Wanja und ich
gern in einem Bezirk Moskaus
spazieren;
es ist der Bezirk hinter
dem Theater der sowjetischen Armee;
dort ist ein Freiluftmuseum
für Militärtechnik
und ein Teich;
wir
trafen uns gewöhnlich auf dem Zwetnoi Boulevard
tranken Bier und rauchten Gras und liefen
lange in diesem Bezirk umher;
Iwan und ich konnten lange nicht begreifen
was uns
in diese Gegend zog;
schließlich fiel uns auf
dass diese Orte
keine Spur von Aktualität
besaßen:
es gab dort zum Beispiel
keine Reklameschilder
es gab keine Stände
man spürte dort überhaupt nicht diesen schweinischen
geschäftig-geilen Geist
an dem man im Zentrum Moskaus
manchmal fast erstickt
zum Beispiel
auf der Gorki-Straße
(obwohl es dort
auch ganz schön sein kann)
aber in dieser Gegend
war alles
wie vor zwanzig
oder fünfundzwanzig
Jahren –
in der Zeit als Iwan und ich gerade
geboren worden waren;
einmal lernten wir
im Zentrum Moskaus
zwei englische Mädchen kennen
die uns am nächsten Tag
in einem Club treffen wollten
aber wir sind nicht zu dem Treffen gegangen
und sind lieber in diese Gegend gegangen
um spazieren zu gehen;
einerseits war dort alles sehr bodenständig
alles war
durchdrungen
von Alltäglichkeit
weil es dort
diese fetten Tanten gab
in ihren bunten aufgeschlagenen Kitteln,
Männer in Trainingsanzügen
die unter Autos lagen
und immer war ein Radio eingeschaltet
oder ein Kassettenrekorder
meistens ein Radio
(übrigens
habe ich einen Nachbarn, der drei Jahre jünger ist als ich
er hat ein Auto
und er liegt jetzt auch
oft darunter
und repariert irgendetwas
und dabei hat er das Radio angestellt
oder ein Tonbandgerät –
es ist schon erstaunlich
wie sich all diese Gewohnheiten
fortsetzen)
einerseits also
war alles dort
sehr bodenständig
andererseits aber
spürten wir sehr deutlich
die starke
mystische Spannung
und dichte
metaphysische Gärung
dieser Gegend –
vielleicht lag es
daran
dass wir auch eine literarische
Wahrnehmung dieser Gegend hatten
(weil zum Beispiel
der Schriftsteller Mamlejew
den ich damals sehr gern las
dieses gesamte verkrüppelte Kolorit
sehr gut eingefangen hat
wie mir scheint)
mir kam es immer so vor dass
es eigentlich darum geht
dass eben in diesem –
fleischigen, zähflüssigen,
tierischen
(zähflüssigen,
fleischigen)
und gleichsam
von irgendwelchen Verdauungsgesetzen
begrenzten –
Dasein
ein gewaltiges
metaphysisches Potenzial liegt
weil das
etwas ist das
nicht verloren geht,
etwas das
da bleibt;
das ist so ein ewiger Nebel des Nirwana
der in dieser Gegend hängt;
die Menschen sterben
und an ihre Stelle
und auf eben diese Höfe
kommen neue
und wenn man in diese Gegend gerät
dann fällt man für eine gewisse Zeit
aus den gewohnten
Normen
und Rhythmen
des Daseins
und es kommt mir so vor
als könne man in diesen Bezirk
zum Beispiel
auch nach dem Tod geraten
ich erinnere mich
dass es mir oft so vorgekommen war
in dieser Gegend
ich glaube dass
in der Luft solcher Gegenden
ein süßlicher und beruhigender
Geist schwebt
(vielleicht ist das der Geist der Verdammnis,
des Misserfolgs)
der sich dort vermischt
mit dem Geruch der Kommunalküchen
und es hat uns aus irgendeinem Grund
immer dorthin gezogen
ich weiß nicht warum wir uns so wohlfühlten
in diesen Gegenden
1998
arbeitete bei der Zeitschrift »Medwed«
ein gewisser Waleri;
das war
ein ganz eigenartiger Mensch;
er war krank
ich glaube er hatte Zerebralparese
(oder wie heißt das
wenn man nur mit großer Anstrengung gehen kann
dauernd zuckt
und kaum sprechen kann?)
er gefiel
mir sehr;
er schien mir
die einzige lebendige Seele
in der ganzen Redaktion zu sein;
außerdem
schien er mir
eine gute Figur zu machen
vor dem Hintergrund der strammen
jungen Arschkriecher
und Yuppies,
obwohl auch er
nicht darum herumkam
mich zu betrügen –
er sagte mir
zum Beispiel
dass ich mein Honorar
sofort bekäme
obwohl ihm
(wie ich nun weiß)
von Anfang an klar war
dass kein Mensch jemals
vorhatte
mir irgendein Honorar
zu zahlen;
er gefiel mir trotzdem;
dann verließ er die Zeitschrift »Medwed« –
offenbar hatte er sich endgültig
mit dem Chefredakteur
zerstritten –
noch bevor
die Redaktion dieser Zeitschrift
vor den betrogenen Autoren
und Gläubigern floh
und dabei Computer
und andere Dinge
und Dokumente durchs Fenster hinausbeförderte
(er hat mir
das selbst erzählt –
und ihm hatte das
einer von denen
die selbst
dabei waren
erzählt)
wir trafen uns
noch eine Zeitlang
nachdem Waleri die Zeitschrift »Medwed« verlassen hatte
und unterhielten uns
manchmal;
dann
kam er
bei einer neuen Zeitschrift unter
und beauftragte mich mit der Übersetzung
eines Kriminalromans;
ich habe selbst eine Erzählung für ihn geschrieben
und mit einem englischen Namen
gezeichnet
aber diese Erzählung ist damals nicht gebracht worden
weil es mit dieser Zeitschrift
irgendwelche Probleme gab
(später wurde diese Erzählung
in der Zeitung »Mir nowostei«
publiziert –
diese Zeitung hat eine Auflage von ungefähr einer Million –
mich wird wohl kaum jemand irgendwann noch einmal
in einer solchen Auflage publizieren).
letztes Mal habe ich Waleri
in der Nähe der Metrostation Kitai Gorod getroffen
er ging die Anhöhe hinauf
in Richtung
Historische Bibliothek;
(genau in dieser Gegend
betranken Iwan und ich
uns manchmal)
ich sagte ihm: »Hallo Waleri,
was machen Sie so?«
und er sagte: »Na ja,
ich schreibe einen Kriminalroman«
(er hatte mir ja schon seit langem vorgeschlagen
gemeinsam
einen Kriminalroman zu schreiben –
aber ich hatte immer abgelehnt)
er fragte mich
»und was
machen
Sie?«
ich wollte ihm gerade sagen
was ich mache
doch genau in diesem Moment
fiel aus meiner Jacke
eine Portweinflasche;
er sagte
»ach so«
die Flasche
zersprang auf dem Bürgersteig
ich erinnere mich dass
ich damals dachte dass
er wahrscheinlich keinen Kriminalroman schreibt
sondern einen historischen Roman
und dass er in die Historische Bibliothek geht
um Material zu sammeln;
zum Zeitpunkt
dieser Begegnung mit Waleri
war ich schon
ziemlich betrunken;
seitdem
haben wir uns nicht mehr gesehen
dieses Gedicht
heißt
»Alles ist schlecht«:
einmal
saßen wir unter einem Baum
am Seliger-See und aßen
eklig klebrige Lapscha;
plötzlich sagte ich,
dass ich einen Literaturlehrer hatte,
einen gewissen Prorokow
(der übrigens später einen Roman geschrieben hat
und dafür fast
einen Preis bekommen hätte;
es gab schon als wir noch bei ihm Unterricht hatten Gerüchte,
dass »Prorokow einen Roman schreibt«)
nun ja,
und der arbeitete einmal
als Russischlehrer
für Studenten
in Taiwan;
das Interessante daran ist –
sagte ich damals
am Seliger-See,
während ich diese widerliche sämige Lapscha
kaute –
wie konnte er sie auseinanderhalten?
sie hatten doch für ihn wahrscheinlich alle
ein und dasselbe Gesicht –
und ich fügte hinzu
(nach einer Pause):
wie diese zusammengepappte Lapscha
(jemand sagte darauf:
mannomann, was dem Kirjucha beim Essen so alles in den Kopf kommt!)
…
ich erinnere mich jetzt an diese Geschichte,
weil ich mich daran erinnere,
dass es mir damals so vorkam, als ob
ich mir selbst in diesem Moment
das schönste Kompliment gemacht hätte;
mir schien es so,
als hätte ich mir
damals, beim Essen
so geschmeichelt,
wie keiner mir jemals mehr
würde schmeicheln können;
mir kam es so vor,
als hätte ich es mithilfe dieser sehr merkwürdigen,
feinen
und für mich selbst völlig unerwarteten
Assoziation
geschafft mit mir selbst
quitt zu werden für alles –
für alle Qualen des Hasses
der Selbstgeißelung
und Überspanntheit
für all die Scherereien und Leiden
für all die endlosen
(oft gerechtfertigten)
Selbstvorwürfe
man sei willensschwach und konformistisch;
und für dieses schwere Kreuz
des Ehrgeizes;
darum kann für mich
seit jener Zeit
ehrlich gesagt
nur noch sehr wenig
an jene klebrige gelbe Lapscha heranreichen,
die wir damals aßen,
und an jene Studenten aus Taiwan,
weil ich schon lange
keine Metaphern mehr mag,
und außerdem war ich
immer schlecht
im Assoziieren,
und darum kann ich überhaupt nicht verstehen,
wie ich damals
auf diesen Vergleich gekommen bin
(noch dazu während des Essens)
und deswegen scheint es mir fast,
dass damals am Seliger-See
ein kleines Wunder
geschehen ist;
mir scheint, dass sich damals
beim Essen
ein mysteriöses
Plätschern
ereignet hat,
und zudem
ein absolut zufälliges Plätschern,
ein seltsames Schimmern,
nach dem ich dachte,
dass im Großen und Ganzen
alles gar nicht so schlecht ist
denn gewöhnlich
scheint es mir doch so.
dass bei mir ALLES schlecht ist
ich habe ziemlich viele Menschen getroffen,
die sich selbst hassen für ihre
Intelligenzija-Weichlichkeit
und mit allen Kräften versuchen
sie aus sich herauszuätzen;
das kann unterschiedlich aussehen;
zum Beispiel gibt es
das Phänomen des Radikalismus;
mir ist aufgefallen,
dass viele harmlose junge Leute,
die äußerlich eher Hirten ähneln
(oder, wie ein Freund von mir
sagte über solche
Kummer-Radikalen:
»die sollten Schmetterlinge jagen«),
sich den Linksradikalen anzuschließen versuchen
oder zumindest
gewisse unzweideutige Winke
in ihre Richtung machen;
eine andere Variante, auf die ich aufmerksam wurde,
ist der Versuch
alle Vorurteile der Intelligenzija
aus sich herauszupressen,
das heißt,
wenn jemand zum Beispiel
aus einer Schriftsteller- oder Gelehrtenfamilie stammt,
aus einer Familie
gezierter
altmodischer
Intelligenzler,
selbst aber zum Beispiel
im Business ist, dann wird er unweigerlich
tricksen, raffen und betrügen, so
wie es kein Plebejer, kein Kaufmann
jemals könnte
(viel schlimmer als wenn er zum Beispiel
ein gewöhnlicher Nachkomme von Geschäftsleuten wäre);
mir scheint, da gibt es so einen fürchterlichen Einriss,
einen Wunsch
das schlechte Erbe zu überwinden, ein Bestreben es in sich
auszumerzen;
und wenn der Mensch, sagen wir, ein mittelmäßiger Dichter ist,
und dazu noch eine Rezensionsrubrik
einer Zeitung leitet –
dann wird er
die Rezensionen von Büchern von Dichtern,
die, wie er genau spürt,
viel begabter sind als er, mit allen Kräften
zu verhindern versuchen, er wird sich
bis auf den Tod dagegen wehren
(wenn ein solcher Dichter zu Zeiten
der Sowjetunion gelebt hätte, dann wäre er
ein engagierter sowjetischer Dichter gewesen
einer der zweiten Reihe, der mit allen Kräften
seine Konkurrenten versenkt hätte –
er hätte sie hinter Gitter gebracht, sie angezeigt, sie dem KGB
ausgeliefert – da bin ich mir sicher)
generell glaube ich
dass in der Epoche der Stagnation – und erst recht davor –
der persönliche Charakter viel plastischer
zutage trat als heute –
wer damals jemanden angezeigt hätte, aus Neid,
der wird heute einfach die Rezension auf das Buch
eines Dichters verhindern der begabter ist
als er selbst; und ein anderer
(erst recht, wenn er zum Beispiel ein berühmter
Prosaschriftsteller ist
oder ein TV-Moderator –
oder sogar nur ein Kellner)
wird einfach nicht reagieren auf deine Bitte
ihn anzurufen
(in einer euch beide betreffenden Sache) –
er wird sich dir gegenüber so benehmen,
als seist du ein Rüpel, er aber ein himmlisches Wesen;
er wird faule Ausreden finden,
er hat offenbar das Gefühl,
dass er sich alles
erlauben kann
(und wenn er dann die Vorurteile
der Intelligenzija ganz und gar in sich
ausgerottet haben wird, dann wird er sich
noch mehr erlauben)
darum wird er
immerzu alles verdunkeln und Ausreden finden;
manchmal glaube ich schon
dass die Menschen etwas viel verdunkeln,
dass sie viel zu unverschämt sind
und Ausreden erfinden;
ich habe mitunter das Gefühl,
dass ihnen (vielleicht als sie noch Kinder waren)
jemand eingetrichtert hat, dass es anders nicht geht,
dass sie anders wahrscheinlich
nichts erreichen werden;
und dabei
kann ich noch nicht einmal sehen, dass einer von denen
etwas Besonderes erreicht hätte
(wir alle
leben
inmitten von Versagern)
die Leute sind hautsächlich damit beschäftigt
ihren jämmerlichen Ehrgeiz
zu befriedigen
und ihre mickrigen Ambitionen:
junge Menschen
brauchen Ruhm, Macht,
Blumen, Frauen, Männer;
Mädchen brauchen
Prestige, Komfort, Sattheit;
ich habe nur wenige Menschen gesehen,
die wirklich etwas erreichen,
und ich glaube das hängt damit zusammen,
dass die Menschen zu sehr
alles verdunkeln und Ausreden finden;
es ist durchaus möglich,
dass wenn sie aufhören würden
so viel zu verdunkeln
so unverschämt zu sein
und Ausreden zu finden,
dass sie dann wenigstens einmal
irgendetwas erreichen könnten
mir gefällt es gar nicht
wenn man bei einem Amt anruft
und dort andauernd besetzt ist
das heißt nämlich da sitzt so eine Dame
und hängt im Internet herum
oder telefoniert gerade
ich glaube dass heute alle nur so irgendwie arbeiten
ich habe das Gefühl
dass heutzutage niemand
gewissenhaft arbeiten möchte
dass alle eher so schnell wie möglich
ihren Kram erledigen
und ihr Geld kriegen wollen
generell glaube ich
dass Gewissenhaftigkeit heutzutage keinem was bringt
denn sie zerstört ein System
der Beziehungen
das sich entwickelt hat
in dieser Gesellschaft
und das eine Art
psychischer Krankheit ist
ich glaube dass
wenn zum Beispiel
auf einmal alle anfangen würden
gewissenhaft
und inspiriert zu arbeiten
dieses System
dem einfach nicht standhalten
und explodieren würde
ich denke jedes Mal daran
wenn ich sehe
wie die Hausmeisterin
in unserem Hof arbeitet
sie arbeitet nicht nur in unserem Hof
sie fegt alle Höfe
in unserem riesigen Häuserblock
und ich sehe sie oft
an unterschiedlichen Stellen
in unserem Block
sie ist
sehr eigenartig unser ganzer Block
ist immer sehr sauber
weil diese Frau
Tag und Nacht arbeitet
ich kann nicht begreifen
warum sie so viel arbeitet
ich glaube
dass sie niemand dazu zwingt
so viel zu arbeiten
und es könnte sie auch gar keiner
dazu zwingen
darum will es mir manchmal
schon so scheinen
sie diene einer
Idee
die ihr sehr wichtig ist
ich glaube
diese Frau
ist eigentlich
der Rest einer Utopie
ich glaube sie trägt in sich die Erinnerung
an eine bestimmte
andere Möglichkeit
an eine herrliche Alternative
zu dieser
hässlichen
Weltordnung
die sich gründet
auf erzwungener
und uninspirierter Arbeit
und auf unterschiedlichen Methoden
eines mechanischen
Umschaltens
ich habe diese Hausmeisterin
einmal auf der Straße
getroffen
ungefähr um drei Uhr nachts
und sie fegte da etwas fort
ihr rennen andauernd
die Hunde hinterher
ich vermute
dass sie sie füttert
ich glaube
sie ist eine Tatarin
manchmal glaube ich schon
dass diese Hausmeisterin einfach
besser als alle anderen
in dieser Stadt
arbeitet
aber ich verstehe auch
dass sie eine Verrückte ist
ich weiß das ziemlich sicher
ein Bekannter hat mir von ihr erzählt –
Mitja der Philosoph –
er hat früher auch in diesem Bezirk
als Hausmeister gearbeitet
sie haben also eine Zeitlang
zusammengearbeitet
er hat mir gesagt
dass sie aus einer Intelligenzija-Familie stammt
dass sie Proschutinskaja heißt
und dass ihr Vater
ein hohe Position beim NKWD hatte
und dass die beiden sich einmal nachdem er
wegen irgendetwas auf sie wütend geworden war
einen Streit anfingen
und er ihr dann mit dem Revolver auf den Kopf geschlagen hat
Mitja sagte
dass das Loch
in ihrem Schädel
nicht mehr zugewachsen sei;
nachdem er mir das erzählt hatte
dachte ich dass sie
vielleicht deshalb so gut arbeitet
anders kann es
wohl nicht sein
denn unter normalen Menschen
gibt es kaum jemanden der wirklich
arbeiten will
gestern Abend,
als ich Freunde besucht hatte und nach Hause fuhr,
bin ich eingeschlafen, an meiner Metrostation Wernadski
Prospekt vorbei
und bis zur Endstation gefahren;
dort
hat mich eine Frau in blauer Uniform geweckt;
ich verließ den Waggon
und fuhr zurück;
als ich bei meiner Station ankam,
verließ ich den Waggon
und dachte daran,
dass es interessant wäre zu wissen,
wie oft
diese Frau
und andere wie sie
die Toten an den Endstationen
und in den leeren Metrowaggons
wecken müssen;
ich erinnerte mich daran, dass
in einem der Gedichte,
die ich früher schrieb
(ich habe übrigens
früher ganz andere
Gedichte geschrieben –
vielleicht erinnert sich wer daran;
da waren meiner Meinung nach
einige ganz gute dabei;
jetzt schreibe ich
ganz anders;
diese neue Form tat sich mir
infolge einer Krankheit auf)
also,
in einem alten Gedicht
genauer gesagt in den beiden letzten Zeilen
dieses Gedichts
hatte ich über die Toten geschrieben,
die diese Frauen in blauen Uniformen
an den Endstationen
und in den leeren Metrowaggons wecken:
»wie viele Betrunkene wälzen sich keuchend
in den nächtlichen Netzen der Metro«
ich weiß nicht warum
ich eine Arbeit angenommen habe
im Nachtclub Sexton
als ich 18 Jahre alt war –
dort wurde ziemlich wenig gezahlt
(man hätte auch Pfandflaschen
sammeln können); ich wurde dort
zum Putzen eingestellt;
in Moskau gab es damals erst wenige
Nachtclubs
und dies war einer der
bekanntesten;
damals gaben in diesem Club
die »Nachtwölfe« den Ton an
und für die die es nicht wissen das war
so ein wüster halbkrimineller
Verein
eine Söldnerbande auf Motorrädern;
es war nicht ungefährlich
in dem Club zu arbeiten
weil
das
ein sehr
krimineller
Ort war;
meinem Freund Jan –
der dort auch putzte –
passierte dort einmal Folgendes:
als er sich am frühen Morgen
nachdem er die ganze Nacht gearbeitet hatte
schlafen legte
(man konnte sich dort morgens schlafen legen –
wenn die Besucher fast alle gegangen waren
oder sich auf den Bänken schlafen gelegt hatten)
Jan hatte also die ganze Nacht gearbeitet
legte sich auf einer Bank schlafen
aber dann wurde er wieder wach
und ging zur Toilette;
da hörte er Schüsse
und als er zurückgekehrt war
sah er
dass in seiner Lederjacke,
mit der er sich zum Schlafen zugedeckt hatte,
Löcher von Kugeln waren;
zu den »Nachtwölfen«
gehörte ein Mann
den sie Che Guevara nannten;
er war zwar nicht ihr offizieller Anführer
(Anführer war einer mit Spitznamen Chirurg –
ein ehemaliger Zahnarzt)
aber dessen ungeachtet
genoss er
unter ihnen große
Hochachtung;
ich konnte nicht richtig verstehen
woher diese Hochachtung
rührte;
er war nämlich der Schüchternste
unter ihnen;
außerdem stotterte er
(aber vielleicht
genoss er gerade aufgrund dieser beiden Eigenschaften
eine solche Autorität
unter ihnen –
und ich habe sehr deutlich gespürt, mit welcher Hochachtung,
mit welcher heimlichen aber großen
Pietät
sie ihm begegneten,
und es war klar,
dass dem eine
mit nichts vergleichbare Gewalt zugrunde lag,
eine Macht)
einmal kam ein Besucher des Clubs
zu mir und fragte
wo man hier eine Prostituierte
mieten kann;
ich sagte, das wisse ich nicht,
der aber schaute mich aufmerksam an
und fragte mich:
»Was machst du hier,
du jüdisches Kind?«
ich sagte ich arbeite
hier
(ich war mir in dem Moment sicher,
dass das ein jüdischer Bandit
höchsten Ranges war –
weil der das mit größter Sympathie
gesagt hatte)
von Zeit zu Zeit
fanden in dem Club
Razzien statt;
Maskierte
stürmten herein,
zwangen alle
sich auf den Boden zu legen
und durchsuchten sie;
während solcher Razzien
gaben mir einige Besucherinnen
ihre Drogen
oder Spritzen;
ich versteckte sie in der Toilette
oder ließ sie im Klobecken verschwinden –
so wie sie es angeordnet hatten
(mich hat man nie durchsucht,
ich war außer Verdacht –
als einer der hier nur putzt);
einmal sagte mir ein Mädchen
dessen Tisch ich sauber wischte
(sie hatte eine Lederjacke
und Lederhosen an)
dass sie den ganzen Tag gearbeitet habe
und nun hierhergekommen sei um sich zu entspannen;
ich habe das nicht geglaubt,
dass sie den ganzen Tag gearbeitet hat –
sie gehörte ganz klar zum Kreis der »Nachtwölfe«
und die waren schon dazu in der Lage
Frauen
ihres Kreises auszuhalten
ich denke, dass sie mir das
nur deshalb gesagt hat
weil es ihr etwas peinlich mir gegenüber war, als ich da
zwischen den Tischen herumwieselte;
sie sagte mir, dass sie Achmatowa liebt
und Bella Achmadulina
(oder Zwetajewa und Achmadulina,
genau kann ich mich nicht erinnern,
aber Achmadulina
hat sie auf jeden Fall erwähnt)
ich habe nicht so ganz verstanden,
warum sie sich entschlossen hatte mir das alles
zu erzählen;
dieses Mädchen gefiel mir
(ich erinnere mich daran weil
ich bis heute weiß,
wie ich angezogen war
an dem Abend –
in Momenten wenn dir jemand gefällt
bemerkst du wie du angezogen bist
und merkst dir das –
weil in einem solchen Moment schaust du dich an
wie mit seinen Augen –
den Augen des Menschen, der dir gefällt –
das konnte ich mehrfach feststellen);
die Nachtwölfe in schwarzen Lederjacken
und Lederhosen
kamen immer nachts
in den Club
und sie trieben dort ihre
krummen Geschäfte
und tranken
bis morgens
(für mich waren das einfach Piraten)
das »Sexton« war für mich
so ein Klumpen Leben;
jetzt aber führe ich
so ein unnatürliches Leben;
gestern fuhr ich runter in die Metrostation
stand auf der Rolltreppe
und wäre fast in Ohnmacht gefallen;
ich hätte fast einen hysterischen Anfall gekriegt;
ich hatte große Angst vor den Menschen;
mir schien es so
dass diese ganze Menschenmasse
buchstäblich auf mich einstürzte
mit ihren Neurosen:
es war als wäre ich mitten
in einen Kloß
aus menschlichen Neurosen geraten;
das waren
irgendwelche Miasmen von Erlebnissen
(Krach mit Ehefrauen, mit Geliebten, niedriger Lohn,
Krankheit oder Tod der Eltern, der Sohn rauschgiftsüchtig);
mir kam das alles
merkwürdig vor;
denn im Prinzip mag ich
große Ansammlungen von Menschen;
ich fühle mich ziemlich gut
in einer Menschenmenge; ich erinnerte mich
dass ich etwas Ähnliches
bisher nur ein einziges Mal erlebt hatte:
vor einigen Jahren
ging ich in ein großes Buchgeschäft
und mir kam es damals so vor
dass diese ganze Menschenmasse
auf mich einstürzte
mit ihren Neurosen;
ich fürchte
dass mir von nun an so etwas
häufiger passieren wird;
ich denke,
dass das vor allem deshalb so ist
weil ich ein ziemlich unnatürliches Leben führe;
ich führe jetzt das Leben
eines Berufsschriftstellers;
ich hatte schon lange keine solche Arbeit mehr
wie damals im »Sexton«,