Antonia - Rolf Becker - E-Book

Antonia E-Book

Rolf Becker

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Beschreibung

Gut Engelhartstetten am Fuße der Karpaten ist die Heimat der schönen, skrupellosen Antonia von Blumenthal. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln weiblicher Verführung und Intrigenkunst strebt sie nach Wien, an den Hof und in die erste Gesellschaft. nur auf Ihren Vorteil bedacht, bringt sie es zur Gräfin Bajar, zur Geliebten des Zaren, steht endlich im Mittelpunkt glanzvoller Soireen. Alexander von Kronburg, Offizier der preußischen Armee, begegnet in ihr der großen Leidenschaft seines Lebens. In Wien glaubt er, dem strengen Regime seines Vaters zu entfliehen, seine Freiheit und sein wahres Ich finden zu können...

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Über das Buch

Gut Engelhartstetten am Fuße der Karpaten ist die Heimat der schönen, skrupellosen Antonia von Blumenthal. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln weiblicher Verführung und Intrigenkunst strebt sie nach Wien, an den Hof und in die erste Gesellschaft. nur auf Ihren Vorteil bedacht, bringt sie es zur Gräfin Bajar, zur Geliebten des Zaren, steht endlich im Mittelpunkt glanzvoller Soireen. Alexander von Kronburg, Offizier der preußischen Armee, begegnet in ihr der großen Leidenschaft seines Lebens. In Wien glaubt er, dem strengen Regime seines Vaters zu entfliehen, seine Freiheit und sein wahres Ich finden zu können...

Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 1988 by Rolf & Alexandra Becker

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Designomicon

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-796-7

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Inhalt

Teil I Antonia

Vorspiel

Wien, Frühsommer 1882

Wien, 1867

Frühherbst 1870

Berlin, 1882

Gut Herrenhausen, Soldin

Wien, Spätsommer 1882

Wien, Soiree im Hause des Grafen Bajar

Sonntag in Soldin

Wien

Soldin

Wien

Berlin

Wien

Berlin

Wien

Berlin

Skiemiewice, Polen, 1884

Berlin – Wien

Venedig

Soldin

Wien

Teil II Hanna

Wien, 1885

Soldin

Wien

Soldin

Wien

Wien

Soldin

Wien

Soldin

Wien

Soldin

Wien

Soldin

Wien

Märkische Heide

Wien

Soldin – Berlin

Wien

Berlin

Wien

Berlin

Soldin

Teil III Alexander und Constance

Wien – Berlin

Berlin, Spätsommer 1887

Soldin

Berlin

Soldin

Berlin

Soldin

Die Sonate

Soldin

Das ›Hauptmannsfest‹

Wien

Soldin

Berlin

Berlin, Villa Bürkel

Engelhartstetten

Berlin

Berlin

Berlin, März 1888

Wien, April 1888

Berlin

Wien

Soldin

Soldin

Die Puppe

Berlin, Hansastraße

Soldin – Berlin

Wien, Anfang Juni 1888

Teil IV Der General

Wien 1888

Berlin

Wien

Soldin

Berlin

Soldin

Soldin – Weihnachten 1888

Berlin, Januar 1889

Soldin

Wien, Frühling 1889

Berlin

Soldin, 24. 6.1889

Montpellier, Ende Juni 1889

Berlin

Dorozsma / Ungarn

Paris

Engelhartstetten

Soldin

Wien, Juli 1889

Engelhartstetten, Ende Juli 1889

Soldin

Teil V Der Aufbruch

Berlin 1889

Berlin, Moabit, Oktober 1889

Berlin – Charlottenburg

Petersburg

Berlin

Soldin, Schloß Herrenhausen

Berlin

Soldin

Wien

Soldin

Wien

Soldin

Wien, April 1890

Soldin, 15. Februar 1890

Bad Ischl, Juni 1890

Berlin

Berlin, Haus Bürkel

Berlin, Juli 1890

Berlin, Haus Bürkel

Berlin, Hansastraße 47

Nizza

Engelhartstetten

Berlin

>Berlin, Hansastraße 47

Soldin

Berlin – Soldin

Das Fest

Epilog

Teil I

Antonia

Vorspiel

Wien, Frühsommer 1882

»Die Ereignisse zwingen mich«, sagte die Hofrätin Petrouschek, »Sie auf das dringendste zu bitten, die uns miteinander verbindende Verwandtschaft geheimzuhalten.«

Die Stimme von Belinda Petrouschek, geborene Comtesse von Blumenthal, klang um ein weniges zu forciert.

»Ich erwidere Ihre Bitte mit der gleichen Dringlichkeit«, antwortete die Dame, die ihr gegenüber saß. »Oder würden Sie an meiner Stelle verwandtschaftliche Beziehungen mit einem zum Hoflieferanten avancierten Zuckerbäcker als erstrebenswert bezeichnen?«

Belinda Petrouschek erschien das Maß dessen, was man ihr an Unverfrorenheit zumuten konnte, erreicht. Sie erhob sich.

»Mademoiselle Antonia«, sagte sie empört, »ich bitte Sie, sich zu mäßigen!«

»Erstens«, entgegnete die schöne junge Frau, die in einem seidenen, handgestickten Sessel saß, »bin ich, wie Sie wissen, keine Mademoiselle, sondern die Gräfin Bajar, und zweitens«, Antonia stand nun ebenfalls auf, »dürfte es jetzt wohl an der Zeit sein zu gehen.«

Belinda antwortete nicht. Mit schnellen, heftigen Schritten ging sie zur Tür, ließ sich öffnen und verließ das Palais Bajar.

Diese Unterredung war das kaum beachtete Ende eines Skandals, der in diesem Jahr ganz Wien erschütterte.

32 Jahre früher. 17. Februar 1850. Engelhartstetten bei Preßburg. »Heißes Wasser! Frische Tücher! Schnell, schnell!«

In einer böhmischen Gutsherrenwohnung herrschte die bei Geburten übliche Aufregung.

Die Frauen übernahmen das Regiment, der Arzt beschwichtigte den ob seiner Nervosität und ungewollten Hilflosigkeit schier verzagenden Vater.

Öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer, drang Wimmern, stöhnendes Aufschreien und ermattetes Weinen der Gebärenden an die Ohren des ersetzten werdenden Vaters. Anton von Blumenthal kannte keine derartige Situation. Es war sein erstes Kind, das ihm da von einer, wie ihm schien, schwerleidenden Frau geboren werden sollte.

Hier, in Engelhartstetten, am Fuße der Karpaten, war man noch bäuerlicher, bodenständiger als im nahen Preßburg, wo einige Damen der oberen Schichten sogar nach Wien in ein Spital gefahren waren, um ein Kind zur Welt zu bringen. Natürlich betrachtete man das als Skandal und ausgesprochene Unweiblichkeit, ganz zu schweigen von der Rücksichtslosigkeit angesehenen Familien gegenüber. Das sah ja geradewegs so aus, als habe man daheim nicht genügend Betttücher oder vertraue der Haushälterin nicht.

Nun: Hier, in Engelhartstetten, kannte man derlei Extravaganzen gottlob nicht, und nichts hätte der zarten, ein wenig unscheinbaren Frau Elisabeth von Blumenthal ferner gelegen, als Aufsehen zu erregen oder gar den von ihr mit großer Selbstverständlichkeit geliebten Gatten zu verärgern.

So wurde dann an jenem 17. Februar 1850 auf Gut Erwenlauh eine Tochter geboren. Sie erhielt den Namen Antonia Katharina Elisabeth Maria von Blumenthal, war äußerst zart und klein, aber schrie aus Leibeskräften.

Eine Geburt wie viele andere Geburten?

Gewiß. Niemand hätte etwas Besonderes dabei gefunden, daß diese Geburt die Mutter über die Maßen schwächte und der Arzt ihr schon nach kurzer Zeit mitteilen mußte, daß sie keinem zweiten Kind das Leben schenken könne. Anton von Blumenthal mußte die so heiß gehegte Hoffnung auf einen Sohn aufgeben.

Genau an jenem 17. Februar 1850 übte sich ein dreijähriges Kind im Anziehen einer jämmerlichen, zerfledderten Puppe. Das Kind hieß Lilly, und die Puppe war ein abgelegtes Spielzeug aus gutsherrlicher Nachbarschaft. Tagelöhnerkinder haben keine Puppen. Für Lilly, das fünfte Kind des Tagelöhners Jaskulke, war es ein Weihnachtsgeschenk gewesen.

Die Jaskulkes lebten mehr schlecht als recht von den Erträgnissen des Gutes Erwenlauh. Ihr Kinderreichtum war nicht gerade als Segen zu bezeichnen. Andererseits fanden Jaskulkes sich mit jedem neuen Erdenbürger ab. Lilly war, wie die anderen Kinder auch, gesund, rotbackig und von derber Statur.

Als Mutter Jaskulkes mit der Nachricht von der Geburt Antonias heimkam, machte sich Lilly, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Staube. Die Puppe unter dem Arm, marschierte sie geradewegs auf den Gutshof zu. Unbemerkt gelang es ihr, ins Haus zu kommen.

Das Rennen und Hasten hatte aufgehört. Ruhe war eingekehrt.

Für Lilly Jaskulke war es zu ruhig. Aus diesem Grunde begann sie zu singen. Laut und falsch schmetterte sie das einzig ihr bekannte Lied: »Maikäfer fliech! Dein Vater ist im Kriech! Mutter ist im Pommerland. Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer fliech!«

Da ihr die Worte ungenügend erschienen, ergänzte sie den Vers durch eine erhebliche Anzahl von Wiederholungen der Zeilen »Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer fliech!«

Dazu hopste sie auf dem blanken Steinboden der Halle. Es war entsetzlich!

Eine Tür öffnete sich, und Herr von Blumenthal sah in die Vorhalle. Von anderer Seite erschienen Köchin, Zofe und Hebamme mit hochroten Gesichtern.

»Ruhe! Zum Donnerwetter, Ruhe!« rief Anton von Blumenthal nun seinerseits etwas zu laut, während die Frauen in Abscheu ausdrückendes »Ts, ts, ts!« verfielen.

Lilly Jaskulke hörte sofort mit dem Singen und Hopsen auf. Statt- dessen begann sie zu heulen, laut, breitmäulig und mit sehr viel Wasser im Gesicht.

»Schafft dieses entsetzliche Gör weg!« befahl Blumenthal.

Die Zofe, eine etwas ältliche, dürre Person, nahm Lilly bei der Hand. Das beruhigte Lilly ein wenig, und sie hörte auf zu lärmen.

»Was willst du denn hier?« fragte die Zofe Minna.

»Das Mädchen sehen«, schluchzte Lilly.

»Später, später!« winkte Anton von Blumenthal die beiden aus der Halle. Dann ging er wieder in sein Arbeitszimmer.

Hebamme und Köchin verzogen sich ebenfalls.

»Wem gehörst du denn?« fragte Minna. Ihre Stimme klang mitleidig-

»Jaskulkes!« antwortete Lilly.

»Dann bring ich dich nach Hause!«

Minna lebte seit acht Jahren auf dem Gut. Die Jaskulkes sah sie nur zum Erntedankfest oder zur Gesindebescherung am 25. Dezember. Mit solchen Leuten hat man keinen Umgang.

Das Kind ging still und artig an ihrer Hand.

Minna sah auf das kleine Ding herunter. Es gefiel ihr, daß es seine Hand in der ihren ließ.

Acht Jahre bei Blumenthals... acht Jahre Dienst als Zofe...

Dabei war sie gar keine Zofe. Sie hatte als Weißnäherin angefangen. Nicht etwa, daß sie schöne, neue Aussteuerware nähen durfte, weit gefehlt! Ausbessern durfte sie, Laken an den äußeren Kanten zusammennähen, wenn sie in der Mitte durchgescheuert waren, Kopfkissen flicken und, wenn es hoch kam, Leibchen für Kinder nähen.

Die Eltern waren froh gewesen, sie früh loszuwerden. Sie gefiel niemanden, und niemand gefiel ihr.

Sie hatte in verschiedenen Häusern Unterkunft gefunden. Ihre vertrocknete, dürre Gestalt half ihr dabei. »Die ißt nicht viel«, meinte die jeweilige Herrschaft und gewährte ihr Kost und Kammer. Jedesmal aber fand ihr Leben mit den zerschlissenen Leinentüchern der Herrschaft ein jähes Ende, wenn diese bemerkte, daß sie viel und heimlich aß.

»Die klaut ja Kartoffeln!« hieß es auf der letzten Stelle mit Entsetzen.

Als Minna nach Erwenlauh kam, war sie nicht mehr ganz so hungrig wie in früheren Jahren, deswegen kam sie mit ihren Leuten besser aus.

Die Dienerschaft im Gutshaus war beinahe ärmlich zu nennen: Eine Köchin, eine Magd und ein Mädchen für alles. Zu flicken und nähen gab’s nicht viel, und weil Frau von Blumenthal eine hochnäsige Schwägerin in Baden bei Wien hatte, wurde Minna zur Zofe ernannt. Das bedeutete, daß sie nun Haken und Ösen an die Toilette der Frau von Blumenthal zu nähen hatte ... gelegentlich auch Hosenknöpfe für den Herrn des Hauses, daß sie Kleider sauber und paßgerecht zu halten und allerlei Handreichungen zu verrichten hatte.

Kein schweres Leben, gewiß, aber ein freudloses. Liebschaften oder gar eine Heirat waren ausgeschlossen. Sie war arm, unansehnlich und hatte keinerlei Gelegenheit, mit einem ernsthaften Bewerber bekannt zu werden. Außerdem genügte ihr das Leben in Engelhartstetten. An diesem 17. Februar also lernte Minna die Familie Jaskulke besser kennen.

Frau Jaskulke kochte eine Kanne Feigenkaffee mit Kuhmilch und braunem Zucker und bot ihr ein Glas Selbstgebrannten Rübenschnaps an, der gar nicht so schlecht schmeckte. Minna wurde nicht etwa deswegen so gut bewirtet, weil sie das Kind zurückgebracht hatte, sondern weil sie, die Feinere und Bessere, sich den Weg bis in das Gesindehaus gemacht hatte.

Lilly war still und zupfte an ihrer Puppe herum. Manchmal betrachtete sie Minna mit einem langen, verträumten Kinderblick.

Und Minna fand das kleine Ding keineswegs so entsetzlich, wie es Herrn von Blumenthal erschienen war.

Das verhältnismäßig kleine Gut der Blumenthals war wenig ergiebig. Vom eleganten Leben in der Stadt konnten die Blumenthals nur träumen. So schön Preßburg auch sein mochte, für die Blumenthals schien es unerreichbar, ganz zu schweigen von dem fernen, glänzenden, strahlenden Wien.

Nur wenige Tage nach der Geburt Antonias schrieb Anton von Blumenthal an seinen Bruder Berthold nach Baden bei Wien:

»... würdest Du Deine liebe Schwägerin noch derart schwächlich vorfinden, daß Du erschrecken möchtest! So haben wir uns dann entschlossen, mit der Taufe zu warten, bis meine liebste Elisabeth wieder ganz auf den Beinen ist. Wir haben schon überlegt, dem Kinde eine Nottaufe zu geben, doch würde das nicht der Wirklichkeit entsprechen, wie der Herr Pfarrer meint. Das Kind ist überaus groß und kräftig und pumperlgesund.

Warte also unsere Nachricht bittschön ab, wann wir Dich gebührend und festlichem Anlasse entsprechend empfangen können!«

Es sollte fast fünf Monate dauern, ehe Berthold von Blumenthal seinen Bruder Anton und dessen Frau Elisabeth besuchen konnte.

Elisabeth war; wie bereits erwähnt, schwächlich, zart und überaus empfindlich. Doch nicht nur die Rücksicht auf seine Frau Gemahlin ließen den Herrn von Blumenthal die Einladung an den Bruder hinauszögern bis zur völligen Genesung der jungen Mutter. Eitelkeit und der Wunsch, dem Bruder zu gefallen, spielten bei diesem Entschluß ebenfalls eine nicht geringe Rolle.

Berthold von Blumenthal lebte mit seiner Frau Marieluis im schönen Baden bei Wien. Ihr Leben war glanzvoll und elegant, ja, man erfreute sich sogar gelegentlicher Einladungen bei Hofe.

Marieluis stammte aus einem sehr alten Adelsgeschlecht, und ihre Heirat in die Familie derer von Blumenthal bedeutete für sie einen gewissen gesellschaftlichen Abstieg. Um so mehr legte sie Wert auf Etikette, Eleganz und gebührenden Abstand zu ihrer glanzlosen, schmalbrüstigen Schwägerin.

Fand sich die Familie zusammen, so fehlte jedesmal nicht viel, und die Brüder hätten miteinander gestritten. So verschieden waren ihre Auffassungen über fast alle Dinge des Lebens.

Marieluis, stets ein wenig gelangweilt und indigniert, empfand Engelhartstetten als unzumutbar provinziell und primitiv. Die Tatsache, daß sie dies ihre Gastgeber auch bei jeder Gelegenheit spüren ließ, trug wenig zur freundlichen Stimmung bei. Immer wieder schweifte ihr Blick über die schlichte Garderobe Elisabeths, streifte den geringen Schmuck der Dame des Hauses.

In den ersten Monaten von Antonias Leben geschah es mehr als einmal, daß die Zofe Minna die kleine Lilly Jaskulke ins Herrenhaus holte.

Heimlich, wohlgemerkt.

Es waren dies für Lilly unvergeßliche, selige Augenblicke: Sie durfte das Baby sehen. Nicht ein Kind von der Sorte, wie sie bei Jaskulkes zu Hause waren, nein, ein Kind, das, in kostbare Spitzen gehüllt, stets auf einem Kopfkissen aus rosa Seide schlief, ein Baby, das nicht nach alten Windeln stank und verwaschenes, graues Zeug anhatte. Ein Baby, das für Lilly Jaskulke der Inbegriff des Schönen und Herrlichen war.

Sie waren sich einig in ihrem beglückten Gefühl, die vertrocknete, ältliche Zofe Minna und das kleine Schmutzkind Lilly. Sie lächelten einander zu und wußten nur eines: daß sie dieses Wesen in Spitze und rosa Seide liebten.

Die Zeit ging hin, Antonia wurde größer.

Da es im Hause Blumenthal nicht zu einer Gouvernante reichte, versah Minna die Wartung und, mit den Eltern zusammen, die Erziehung.

So kam es dann eines Tages in Abwesenheit der Blumenthals zu jener Begegnung, die entscheidend sein sollte. Entscheidend für Lilly Jaskulke.

Antonia wuchs heran, der Schwächlichkeit der Mutter zum Trotz ein großes, starkes und, wie man sehr bald sehen konnte, wunderschönes Kind. Es war eine reife Schönheit, die das Mädchen ernster und kühler erscheinen ließ, als es vielleicht sein mochte.

Antonia hatte so gut wie nichts von ihrer Mutter. Die wunderbar ausgeglichene Figur, das schöne Gesicht, eine Fülle roten Haares, die stolze Haltung, die ihr angeboren schien, ohne daß man sie jemals zum Geradehalten oder Aufrechtsitzen ermahnen mußte, erinnerten wenig an die kleine, zarte Frau von Blumenthal.

Lilly hatte indessen nichts von ihrer rotbackigen Gesundheit eingebüßt. Ihr Körper wirkte viereckig und gedrungen, die Arme rundlich, die Hände breit mit kurzen Fingern, denen man ansah, daß sie zupacken konnten. Was man ihnen nicht ansah, war ihre übergroße Geschicklichkeit in allen Dingen, die Handfertigkeit erforderten.

Immer wieder gelang es Lilly, die einzige Puppe, die ihr die Kindheit verschönt hatte, neu anzuziehen, sie mit Blumen, Gräsern, mit Stoffblumen und Papier zu schmücken, daß es erstaunlich anzusehen war. Zu Minnas Entsetzen dekorierte sie ihre Puppe auch den kirchlichen Festen entsprechend, mal als Mutter Gottes, als Jesuskind, leider aber auch als Teufel und Osterhase.

Lilly verzauberte das armselige Puppenbalg derart, daß Minna eines Tages beschloß, ihr das Nähen beizubringen.

Es war an einem sehr heißen Sommertag, als Antonia sich im See des Engelhartstettener Anwesens vergnügte. Sie tat dies geschmeidig und graziös wie eine Meerjungfrau. Der Gedanke, daß sie jemand sehen könnte, erschreckte sie wenig. Sie fühlte sich wohl in ihrer Nacktheit. Sie konnte sich vorzüglich über Wasser halten, drehte und rollte sich im See und fühlte sich wie ein Fisch unter Fischen.

Zur gleichen Zeit beschloß Lilly, die im Hause anstehende Arbeit liegen zu lassen und sich an den hübschen See zu begeben. Sie konnte nicht schwimmen und hatte daher nicht mehr vor, als im Wasser zu stehen oder von einem kleinen Holzsteg aus mit den Füßen im Wasser zu plantschen.

Lilly war nun fünfzehn Jahre alt und für ihre Spiele mit der Puppe eigentlich zu alt. Trotzdem schleppte sie den unmöglichen Balg überall mit sich herum, um ihn wieder einmal an- und auszukleiden oder ihm eine neue Frisur zu geben.

So auch an diesem Tage.

Langsam, als geriete ihr jeder Schritt zu neuem, spannendem Erlebnis, spazierte sie die Böschung zum See hinunter. Ihre schrägstehenden grauen Augen über den hohen Backenknochen waren staunend auf Antonia gerichtet.

Am See angekommen, setzte sich Lilly auf den Holzsteg, zog die Schuhe aus und hielt die Füße ins Wasser. Sie zupfte Schlingpflanzen und Sumpfblumen aus dem schilfigen Ufer und begann ihr stetes Spiel mit der Puppe. In wenigen Augenblicken verwandelte sie den Balg in eine Teichgöttin, schön und märchenhaft anzusehen.

»Was machst du da?« hörte sie plötzlich eine Stimme. Sie gehörte Antonia, die hochaufgerichtet im Wasser stand.

»Ich schmücke meine Puppe«, antwortete Lilly.

»Lächerlich!« fauchte Antonia. »Was fällt dir überhaupt ein, unsere Blumen für die Puppe zu nehmen?«

»Ach«, sagte Lilly und wußte nicht weiter.

»Gib mir die Puppe!« herrschte Antonia sie an und streckte die Hand aus.

Lilly schüttelte zaghaft den Kopf.

»Gib sie mir!« befahl Antonia. «Ich werde ihr den Platz geben, der diesem Ding gebührt!« Mit diesen Worten entriß sie Lilly die Puppe und tauchte sie tief ins Wasser »Kröte zu Kröte, Molch zu Molch« sagte sie dabei und tat so, als sei dies eine hexenhafte Verwünschung. Dann stieg sie aus dem Wasser.

Lilly erhob sich. Wie unter Zwang knickste sie, als stünde sie vor ihrer Herrschaft.

»Von nun an«, sagte Antonia und sah ihr in die Augen, »schmückst du mich!«

Lilly knickste wieder.

»Zieh mich an!« befahl Antonia und ging nackt, wie sie war, auf die Buche zu, unter der ihre Kleider lagen.

Lilly folgte ihr, bückte sich, breitete die Kleidungsstücke, eines neben dem anderen, aus, so als lägen sie auf einem Tisch im Ankleidezimmer, strich sie vorsichtig glatt, wandte sich um und blickte zu Antonia.

Die tat, als bemerke sie nichts. Mit lässigen Bewegungen ließ sie die Ankleidezeremonie über sich ergehen, so, als sei sie eine Königin, umgeben von ihrem Hofstaat.

Als Lilly die letzten Haken der Garderobe geschlossen hatte, wollte sie zum Holzsteg gehen, um ihre Schuhe anzuziehen.

»Laß das!« herrschte Antonia sie an. »Die kannst du nachher holen. Begleite mich!«

Lilly hielt in der Bewegung inne, richtete sich auf, sagte leise »jawohl« und ging zwei Schritte hinter Antonia her.

»Du darfst neben mir gehen«, sagte Antonia, blieb stehen und lächelte Lilly zu.

Es war jenes unbeschreiblich zarte, hinreißende Lächeln, dem nur wenige widerstanden, ein Lächeln, das sie begleiten sollte bis an das Ende ihrer Tage, Macht und Geheimnis zugleich, immer aber vom Zauber ihrer Persönlichkeit erfüllt.

Und so ging Lilly neben Antonia zum Gutshaus zurück, klopfenden Herzens, aufgeregt und auf eine unerklärliche Weise glücklich. Oben an der Böschung aber stand Minna. Aufmerksam hatte sie das Geschehen verfolgt, die herrische Stimme Antonias gehört.

Als die Mädchen außer Sichtweite waren, stieg sie mit ihren hohen Schnürstiefeln die Böschung hinunter, ging zu dem Holzsteg, betrat ihn aber nicht. Ungeachtet eben jener feinen Stiefeletten ging sie in das seichte Wasser, den Blick suchend auf den Seegrund gerichtet. Zwar wurde ihr Rocksaum naß, so daß sie eiligst das Kleid hochschürzte, doch dann fand sie, was sie suchte, bückte sich, griff in das Wasser und hob mit großer Genugtuung in der Miene einen Gegenstand heraus. Es war Lillys schlabbrige, fast aufgeweichte Puppe, um deren Kopf Schilfreste und Algen hingen.

Mit großen Schritten und erhobenen Hauptes, als habe sie einen Sieg errungen, stakste sie aus dem Wasser und ging mit vor Nässe quietschenden Schuhen die Böschung hinauf.

Sooft der Onkel Berthold und die elegante Tante Marieluis zu Besuch erschienen, verwandelte sich die meist ein wenig aufsässige Antonia in ein liebenswürdiges, stilles Kind. Sie wollte nichts als dabei sein, das Rascheln der seidenen Röcke hören, in welche die Tante gewandet war, das Wehen der Schleier an ihrem Hute sehen oder den wunderbaren Duft atmen, der von ihr ausging.

Die »Frau Tante«, wie Antonia sie artig zu titulieren hatte, zeigte ihrerseits freundliches Interesse an der kleinen Antonia.

Marieluis’ Ehe war lange Zeit kinderlos geblieben. Erst spät wurde ihr ein Mädchen geboren, das sie auf den Namen Constance taufte. Die kleine Constance wurde ein sehr schönes, doch weitaus zarteres Mädchen als die üppige Antonia.

Tante Belinda, die Schwester ihres Vaters, wurde von Antonia nur halb so vergöttert wie Marieluis. Belinda war ein kreuznormales, etwas molliges Frauchen, deren Hang zur Fröhlichkeit und praktischem Denken bei ihrer Schwägerin Marieluis auf strikte Ablehnung stieß. Eigentlich nahm man Tante Belinda nie so recht wahr. Nach Meinung der Brüder genügte es völlig, wenn sie zu den Festlichkeiten erschien, mit ihrer Heiterkeit und ihren Kochkenntnissen zur guten Stimmung beitrug und sich von jedermann ein bißchen ausnützen ließ.

Als sich Belinda aber anschickte, eines schönen Tages ihre Verliebtheit in einen Wiener Zuckerbäcker namens Petrouschek in eine Verlobung umzuwandeln und dazu nicht einmal den Ratschlag ihrer Brüder einzuholen für nötig hielt, nannte Berthold dies schlicht einen Skandal. Anton stand der Angelegenheit etwas meinungslos gegenüber, und die schüchterne Elisabeth zuckte nur die Achseln.

Antonia, nun schon zum jungen Mädchen herangewachsen, verfolgte die Auseinandersetzung, die es um die in Aussicht stehende Heirat gab, mit wachem Interesse. Sie sah, wie Onkel Berthold mokant die Augenbrauen hob, hörte die Tante Marieluis verächtlich über diese Mesalliance sprechen.

Nach langem Hin und Her erreichte man wenigstens, daß Belinda ihre Absicht verschob und in die Schweiz auf Reisen ging.

Was allerdings niemand von der Familie ahnte, war, daß der Zuckerbäcker Joseph Petrouschek aus Wien es sich nicht nehmen ließ, dem Fräulein Belinda von Blumenthal in Genf seine Aufwartung zu machen.

Lilly Jaskulke hatte sich inzwischen in ihre neue Stellung eingelebt. Minna pries ihr den Umstand, daß sie, Lilly, nun ausersehen sei, dem jungen Fräulein – und nur dem Fräulein – zu dienen, als einen großen Glücksfall.

So gut es ging, brachte sie Lilly gute Manieren bei, weil – so Minna – »Manieren das einzige Hab und Gut sind, das wir Bedienstete mit der Herrschaft gemeinsam haben können.«

Familie Jaskulke betrachtete diesen von Minna so fleißig gepriesenen Glückszustand mit weniger Freude.

»Was soll nur aus ihr werden«, klagte Frau Jaskulke, »wenn das Fräulein ihrer einmal überdrüssig wird? Dann steht sie da mit sauberen Fingernägeln und guten Manieren, und kein Bauer nimmt sie mehr als Magd!«

»Gespreiztes Getue!« murmelte Jaskulke beifällig und dachte insgeheim, daß diese verdammten Manieren am Ende noch zu höchst fragwürdigem Lotterleben führen könnten.

Minna aber setzte sich durch.

Lilly lernte Kleider zuzuschneiden und zu nähen, Lilly lernte anmutig zu knicksen, Lilly lernte lesen und schreiben. Bei alledem blühte Minna auf, kehrte Leben in ihr vertrocknetes, altjüngferliches Gesicht zurück. Augenblicke gab es, in denen Minnas Gesicht jung wirkte und hübsch, so als freue sich eine Mutter an den Kunststücken ihres Kindes.

»Du mußt Tagebuch führen!« sagte sie zu der völlig verdutzten Lilly.

»Was ist ein Tagebuch?« fragte sie, und ihre grauen Augen sahen nicht gerade heiter aus.

Minna seufzte. Dem Kind die Türen zum besseren Leben zu öffnen, war kein einfaches Unterfangen. »Eine Art Buchführung. Schreib auf, was du tust, und schreib auf, was sie tun«, sagte sie, und ihre Miene verriet, daß sie dies für eine Weisheit hielt.

»Das kann ich nicht«, antwortete Lilly.

»Du wirst es können!« behauptete Minna. »Man ist als Dienstbote sehr viel allein. Dann weißt du wenigstens, was du anfangen sollst.«

»Daß ich nicht lache!« entgegnete Lilly. »Als Dienstbote ist man am Abend halbtot, und da denkt man an nichts als an schlafen.«

Minna lächelte. »Als niederer Dienstbote... gewiß. Solltest du aber höher steigen, dich in den feinen Zimmern der Herrschaften bewegen dürfen, dann werden deine Abende lang sein.«

Lilly starrte sie ungläubig an.

»Du wirst an mich denken«, schloß Minna abrupt. Vielleicht glaubte sie doch nicht so ganz daran, daß Lilly eines Tages eine richtige, feine Kammerzofe sein könnte.

Was Minna nicht bedachte, war, daß nur auf Gut Erwenlauh die Abende so lang waren, daß nur die armselige Freudlosigkeit der Frau von Blumenthal die Langeweile im Herrenhaus einkehren ließ.

Lilly indes war begierig auf jedes Wort, jede noch so kleine Auskunft über jene Welt, die in ihrer Phantasie irgendwo hinter den weiten Zuckerrübenfeldern liegen mußte, eine Welt ohne Bücken, Lamentieren und Fußbodenwischen, eine Welt ohne die dreckigen, alten Hosen ihrer Brüder und das endlose Gepolter und Gekeife ihres Vaters.

Wenigstens wollte sie sich bemühen, Antonia zu gefallen oder meinetwegen auch dem merkwürdigen Verlangen Minnas nachzugeben, ein Tagebuch zu führen.

Was aber sollte darin stehen?

Daß die Ernte eingebracht war?

Daß ihr Antonias feine Schuhe paßten und sie heimlich darin herumstöckelte, als sei sie eine richtige Dame?

Im Winter dieses Jahres gab es in Engelhartstetten viel Aufregung und Kummer. Anton von Blumenthal war krank geworden.

Es war eine kurze, schwere Krankheit. Die aufopfernde Pflege, das innige Gebet seiner Frau Elisabeth konnten es nicht verhindern, daß er am sechsundzwanzigsten Tage seiner Krankheit verstarb.

Antonia stand im Sterbezimmer.

Mit großen Augen starrte sie auf die hin- und herhuschenden Frauen, die Kerzen brachten, den Leichnam wuschen und salbten.

Das eintönige Murmeln der Gebete, der Duft von Weihrauch und Karbol verursachten ihr Übelkeit.

Der da lag, bleich, mit eingefallenen Wangen und offenem Munde, war ihr Vater, gewiß. Doch in ihrem Herzen empfand sie nicht das geringste Gefühl für diesen Menschen, der ihr als das Höchste und Liebste ihres Lebens gepriesen worden war.

Die anderen weinten und jammerten, und ihre Trauer war echt.

Sicher haben sie viel mehr verloren als ich, dachte Antonia.

Nie könnte sie weinen und zetern, Kerzen heranschleppen und mit Tüchern wedeln, wenn das alles einmal vorbei sein würde.

Was hatte sie mit dieser Mutter gemeinsam, die da, häßlich von Tränen, schluchzend am Bett des Toten kniete und Litaneien murmelte.

Nur weg hier!

Keinen Stall mehr sehen und keinen Heuwagen als Glück empfinden müssen, nur weil er ohne Regen eingefahren werden kann. Diese Bediensteten nicht beim Namen nennen müssen, nur weil sie schon zehn Jahre im Hause waren und sich erdreisten durften, einen anzusprechen.

Antonia schauderte. Sie zog die Schultern hoch und verkrampfte die gefalteten Hände.

Wie häßlich das Bett war, in dem er lag! Nicht einmal einen seidenen Himmel hatten sie hier!

Einen seidenen Himmel über jedem Bett, wie bei der Tante Marieluis in Baden. Vom Hofe war auch niemand hiergewesen. Die schlugen das Kreuz über der Brust, wenn sie nur an den Kaiser dachten.

Aber Onkel Berthold und Tante Marieluis hatten ihn gesehen. Nicht auf der Straße oder im Manöver wie das Volk, nein, nein: Die waren eingeladen worden!

Von seiner Majestät dem Kaiser.

»Sie leidet so sehr«, hörte Antonia die Stimme ihrer Mutter sagen und fühlte ihre Arme um ihre Schultern. Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, wurde ihr immer übler – so übel, daß sie ohnmächtig wurde.

Als sie wieder zu sich kam, wäre sie am liebsten auf die Straße hinausgelaufen und hätte geschrien: ›Ich will fort! Ich will fort!‹

Die Mutter in ihrer Witwenkleidung, der vom Leid gekrümmte Rücken, die ständig tränenden Augen – alles war ihr widerlich. Diese graue, demütige Mutter! Erst weinte sie, dann putzte sie sich die Nase, dann weinte sie weiter. Dieses schnaubende Geräusch des Naseputzens war in jedem Zimmer, jeder Ecke, überall. Antonia hätte die Taschentücher in Fetzen reißen können. Und doch, es hätte nichts genutzt.

Vier Wochen nach dem Tode ihres Vaters packte Antonia einen winzig kleinen Korb und fuhr, ohne sich vorher angemeldet zu haben, nach Baden bei Wien. In ihr schönstes Kleid gewandet, stand sie vor der Tür ihrer Tante Marieluis und ihres Onkels Berthold.

Nur einen kleinen Besuch, sagte sie, wolle sie machen, keinerlei Umstände und womöglich ein bißchen helfen.

Jedermann hieß sie willkommen. Nur Tante Marieluis lächelte ein kleines, spöttisches Lächeln. Sie verstand sich großartig mit Antonia. Kaum ein Wort war zwischen ihnen vonnöten, wenn es um Geschmack, Repräsentation und weibliche Ansprüche ging.

So konnte es denn auch leicht geschehen, daß sich Antonias Aufenthalt in Baden von Woche zu Woche verlängerte und sie keinerlei Anstalten machte, nach Engelhartstetten zurückzukehren.

Hatte Antonia bisher das Leben eines einfachen Landedelfräuleins geführt, so begann ihr im Hause der Frau Tante der Sinn nach Höherem und Ergiebigerem zu stehen.

Der Hof Das war das Zauberwort, dem Antonia jeden Gedanken unterordnete. Sie tat dies mit einer Zielstrebigkeit, die selbst ihre Tante in Erstaunen versetzte. So begann sie, mit ungeheurem Fleiß ihre Bildungslücken zu ergänzen, polierte ihr schlecht und recht gelerntes Französisch auf und befaßte sich mit Musikgeschichte.

Als sie eines Tages von Tante Marieluis aufgefordert wurde, am Klavierunterricht teilzunehmen, tat sie dies mit einem Feuereifer, als wolle sie Konzertpianistin werden.

In Engelhartstetten schaltete und schaffte ihre Mutter, um das Wenige, das Anton von Blumenthal hinterlassen, zu erhalten. Ihre Briefe, die sie Antonia schrieb, klangen verzagt und larmoyant.

So wenig Antonia familiäre Bindungen kannte, so wenig verstand diese kleine, ausgebrannte Frau das heißblütige, aber geizige Wesen ihrer Tochter. Es war, als habe dieses schöne, große Mädchen die letzte Kraft aus dem armen, schwachen Körper der Mutter gesogen, als sei jeder Funke Leben auf sie übergegangen, um sie mit Leidenschaft und Temperament zu erfüllen.

Minna und Lilly führten in dieser Zeit ein trauriges Leben. Für Lilly gab es nichts als niederste Feldarbeit zu tun, und Minna hatte die mühselige Pflicht, Frau von Blumenthal beizustehen.

Und dann gab es doch einen kleinen Lichtblick für Lilly Jaskulke: Sie durfte die Witwenkleidung der Frau von Blumenthal nähen. Daß ihr dies erlaubt wurde, war natürlich Minnas Werk.

Als das Witwenkleid gar zu prächtig ausfiel, verlangte Frau von Blumenthal allerdings, daß die sehr pompösen Spitzen und ein wunderschöner gelungener Volant am Rocksaum wieder entfernt wurden.

Lilly, die sehr stolz auf ihre Arbeit war, gehorchte stumm.

Seufzen durfte sie nicht, es hätte ihr nur geschadet.

Daheim aber fluchte sie laut, ordinär und mit plötzlich schrill werdender Stimme.

Lilly hatte begonnen zu verachten.

Wien, 1867

Die Kirchenglocken schlugen mit majestätischem Schall den Takt zu großer, feierlicher Orgelmusik.

Fast welke Blüten gelber, rosa und weißer Moosröschen fielen auf das tiefe, dunkle Rot des schweren Kirchenläufers.

Prächtig, voll Glanz und Feierlichkeit war die Hochzeit des Herrn Petrouschek mit Belinda Comtesse von Blumenthal.

Was hatte man nicht alles versucht, um diese Heirat zu verhindern. Immer wieder sollte sich Belinda dem Zuckerbäcker entziehen. Doch sie tat es nicht. Sie liebte ihren Petrouschek, dessen steile Karriere vom schlichten Bäcker zum Hoflieferanten zu vielfacher Bewunderung Anlaß gab.

Es war eine strahlende, große Hochzeit. Daß der größte Anteil der Ausgaben zu diesem stattlichen Fest von Herrn Petrouschek getragen wurde und nicht von der Familie derer von Blumenthal, erfuhr niemand.

Im Brautzuge die Auffallendste und Schönste war entschieden Antonia, deren Robe fast kostbarer erschien als jene der Braut.

Es war das erste Mal, daß Tante Marieluis das hingebungsvolle Opfern ihrer Schwägerin Elisabeth nicht verstand. Erschien die Mutter in übergroßer Schlichtheit, wirkte grau und arm, so sah die Tochter neben ihr wie eine hochvermögende reiche Dame aus. Ein Unterschied, den auch Berthold von Blumenthal wenig fein fand.

»Es ist eine Schande, wie albern dieses Mädchen herausstaffiert wird«, sagte er zu seiner Frau, »während Elisabeth wie eine Waise daherkommt.«

Marieluis schwieg. Sie wußte, daß Antonia ihrer Mutter alles an Geld abforderte, was diese nur entbehren konnte.

Vielleicht, so dachte sie, werde ich durch diese Antonia eines Tages zu allerhöchsten Gnaden aufsteigen.

Denn: Antonias Ziel war Wien, war die Wiener Gesellschaft, der Hof.

Könnte sein, dachte Marieluis weiter, daß sich ein Kaiser in diese üppige Schönheit verliebt. Und dann werde ich es sein, die ihrem Herzen am nächsten steht.

So schwieg sie zu jedem Vorwurf, den man Antonia zu Recht oder Unrecht machen konnte, war liebenswürdig und freundlich zu ihr wie kaum zu ihrer eigenen Tochter.

Der Tag der Hochzeit von Belinda von Blumenthal mit ihrem so geliebten Joseph Petrouschek war ein strahlender Sonnentag.

Belinda hatte nicht die große, hohe Statur ihrer Brüder, sie war eher klein zu nennen und neigte offensichtlich zur Fülle. Ein Umstand, den sie in späteren Lebensjahren mit ihrem Manne nicht zu teilen, sondern gewissermaßen doppelt zu ertragen hatte. Sie war keine schöne, eher eine hübsche, fröhliche Braut, der das endlich Erreichte wohl zu Gesicht stand.

Während des ganzen Weges vom Portal bis zum Altar konnte es Petrouschek nicht unterlassen, ihre kleine, feste Hand kräftig zu drücken. Belinda ihrerseits beantwortete diesen Druck ebenso kräftig und freudig. Die beiden fühlten sich am Ziel ihrer schwer erkämpften Wünsche und freuten sich dessen in aller Offenherzigkeit.

Die Hochzeitsfeier verlief prächtig und mit viel Fröhlichkeit. Man verlas eine eigens zu diesem Zwecke gefertigte Zeitung, in der das schwere Zueinanderfinden der Brautleute reichlich heiter und für Belindas Angehörige nicht gerade schmeichelhaft behandelt wurde, was Marieluis zu einem dezent pikierten Lächeln veranlaßte, während sie Antonia verständnisheischend ansah.

Auch als die üppigen Torten gereicht wurden, trafen sich die Blicke der beiden, und sie mußten lachen. Wenigstens, so fand Antonia, wurde von allem reichlich und in vollendeter Qualität geboten. Die Gäste waren teuer und vornehm gekleidet, wenngleich besonders edler Schmuck fehlte.

Während ihre Blicke die Hochzeitsgesellschaft musterten, bemerkte Antonia einen jungen Mann, dessen große, dunkle Augen sie ansahen, als gelte es, eine himmlische Erscheinung in sich aufzunehmen.

Als er auf stand und sie zum Tanze aufforderte, bemerkte sie, daß er groß war und einen herrlichen Solitär am kleinen Finger trug. Der Ring faszinierte sie, sein Feuer blitzte ihr entgegen, als wolle es sie grüßen.

Mit ihm zu tanzen, machte sie froh; sie fühlte sich warm und wohlig in seinen Armen. Immer wieder holte er sie zum Tanz, jegliche Etikette mißachtend, die ihm auch Tänze mit anderen Damen verschrieb.

Champagnertrunken lachten sie. Der Zauber erster Liebesträume verwandelten Antonias stets ein wenig spöttische Miene in die gelösten Züge eines verliebten jungen Mädchens. Jedermann sah, welch zauberische Verwandlung mit ihr vorging, und der Aberglaube, daß auf einer jeden Hochzeit die nächste Braut mittanzt, fand, lächelnd beklatscht, die ihm bei solchen Anlässen gebührende Beachtung.

Der junge Mann, so erfuhr man schnell, war ein Studiosus der Rechte, Sohn eines begüterten Advokaten sowie ein in der Wiener Gesellschaft gern gesehener Gast. Die Mädchen schwärmten für ihn, die Mütter sahen ihn nicht ungern, die Väter mit Nachsicht. Er verfugte über genügend Charme, überall zur rechten Zeit ein hübsches Blumenbouquet zu dedizieren; kurzum, der junge Herr Karrascz hatte Glück.

»Er hat eine Liebschaft mit der Gräfin Stemblonska«, flüsterte Marieluis Antonia im Vorbeigehen zu.

Antonia nickte nur. Der Name der Gräfin Stemblonska war ihr nicht unbekannt.

Marieluis wußte mehr über sie zu berichten, als die beiden Damen sich refraichierten.

»Sie ist Polin und sehr reich. Die Wiener liegen ihr zu Füßen, von Baron Halmay bis zu den Prinzen«, sagte Marieluis leise, während sie sich das Gesicht mit Puder betupfte. »Sie ist mindestens zehn Jahre älter als er. Aber: Sie hat ihn gemacht!«

Antonia schwieg, sah kritisch in den Spiegel und richtete ihre Frisur.

»Verkehrt er bei Hofe?«

Marieluis lachte. »Natürlich nicht, du Dummchen! Dafür ist er nicht zu gebrauchen.«

Wieder einmal hatten sich die beiden Frauen glänzend verstanden.

Marieluis dachte einen Augenblick daran, ob ihre Tochter Constance, wenn sie dermaleinst zu Balle gehen würde, sich ebenso geschickt anstellen würde wie diese Antonia.

Naja, man würde sehen. Nachhelfen konnte man immer.

Rauschenden Rockes schritt sie hinaus, zurück in den Ballsaal. Hinter ihr Antonia, nun wieder untadelig anzusehen. Kein Härchen fiel ihr in die Stirn, keine noch so winzige Stelle ihrer Haut glänzte von der Erhitzung des Tanzes.

Diese Hochzeit, so befand Antonia, war eine gute Hochzeit.

Frühherbst 1870

Am 21. September, in einer stillen, mondklaren Nacht, verstarb Elisabeth von Blumenthal. Sie schlief einfach ein, war tot, als man sie wecken wollte.

Sie hinterließ außer dem kleinen Blumenthalschen Besitz fast nichts; keinen Schmuck, nur einen Granatring, den Antonia verächtlich beiseitelegte. Das Gut, recht und schlecht bewirtschaftet, würde gerade so viel erbringen, daß Antonia eine bescheidene Lebensgrundlage hatte.

In Engelhartstetten zu leben, erschien ihr jedoch völlig unmöglich. So zog sie, mit dem Einverständnis der Tante und des Onkels rechnend, endgültig nach Baden. Und tatsächlich, sie wurde dort mit Herzlichkeit aufgenommen. Berthold von Blumenthal sorgte für sie wie ein Vater, ihre kleine Cousine Constance hegte für sie eine zwar scheue, aber heimlich bewundernde Zuneigung, während Tante Marieluis sie mit großem Verständnis für Antonias Hang zu glanzvollem Lebensstil unter ihre Fittiche nahm.

Antonia, die schon nach wenigen Monaten ihre Trauerkleidung ablegte, freute sich auf die Ballsaison, nicht zuletzt deshalb, weil sie ihr ausreichend Gelegenheit bieten würde, mit dem jungen Ferdinand Karascz zusammenzutreffen.

Für die Jaskulkes war der Tod der Gutsherrin kein Unglück. Ihr Leben würde bleiben, was es war: dumpf, arm und von Arbeit erfüllt. Für wen sie schufteten, war gleichgültig. Hauptsache, sie hatten zu essen und wurden nicht davongejagt.

Minna hingegen war unglücklich. Sie hatte keine Nachricht von Antonia erhalten, daß sie in ihren Diensten bleiben solle. Sie besprach sich mit Lilly, überlegte, ob sie dem gnädigen Fräulein schreiben, oder – verwegener Gedanke – ob man sie gar besuchen solle.

Noch wurde Lohn ausgezahlt. Es war, als wäre nie jemand von der Herrschaft gestorben. Wie aber würde es sein, wenn der ältliche Gutsverwalter einmal nicht mehr da war?

Es waren Gedanken, die Minna bewegten, Lilly weniger. Warum sollte sie auch darüber nachdenken, wer ihren Lohn zahlte? Irgend jemand hatte ihn zu zahlen, und das genügte.

Als sich Antonias Beziehung zu Ferdinand Karascz festigte, benutzte sie gelegentlich die Sonntage, um mit ihm aufs Land zu fahren. Solchen Gelegenheiten, so fand Antonia, war Gut Erwenlauh dienlich.

Bei einer dieser Landpartien entschloß sie sich, Lilly und Minna mitzunehmen. Sie ordnete kurzerhand an, daß die beiden ihre Habe zu packen und sich in den nächsten Tagen auf die Reise nach Baden zu begeben hätten.

Es war bezeichnend für Antonia, daß sie nicht den leisesten Versuch unternahm, ihre Tante um Erlaubnis zu fragen, die beiden Dienerinnen nachzuholen. Zwar hob Marieluis leicht die Augenbrauen, als sie von Minnas und Lillys Ankunft hörte. Als sie jedoch erfuhr, daß die beiden aus den Einkünften des Gutes bezahlt werden sollten, war es ihr recht. Der Hochmut ihrer Nichte, so berechnete sie ihr Entgegenkommen, würde sich eines Tages in barer Münze und Ehrungen auszahlen. Außerdem konnten die Mädchen auch in ihrem Hause hilfreich sein.

»Ich liebe dich zärtlich«, sagte Ferdinand Karascz zu Antonia, »aber ich werde die Gräfin Stemblonska nicht verlassen.«

Antonia lächelte und küßte ihn. »Das will ich auch gar nicht.«

Das Leben des Herrn Karascz war, wie man allgemein bemerken konnte, für ihn selbst äußerst angenehm. Daß auf seinem Lebensweg ein paar zerbrochene Herzen lagen, erhöhte nur den Reiz der Liebe. Seine Beziehung zur Gräfin Stemblonska empfand er als angenehm und fördernd ; sie verwöhnte ihn. Daß sie viele Jahre älter war als er, machte sie nur um so geneigter. Zudem sah sie wirklich blendend aus, und er wurde oft um diese Liaison beneidet.

»Ich möchte sie nur kennenlernen«, sagte Antonia nach einer Weile. »Ich will wissen, mit wem ich dich teilen muß.«

Ferdinand sah sie an. Es erstaunte ihn, daß dieses Mädchen sich so selbstverständlich in sein Leben fügte, daß sie nicht die geringsten Anstalten machte, ihn für sich zu beanspruchen.

Antonia und teilen. Ein merkwürdiger Gedanke.

»Was geht in deinem Kopf vor? Du bist wirklich einmal anders als die meisten Mädchen.«

›Wenn du wüßtest‹, dachte Antonia und sah zum Fenster hinaus, ›wie anders, wie vollständig anders ich bin, du würdest nicht dastehen und lächeln. Du würdest nicht wagen, in meiner Gegenwart auch nur an eine andere Frau zu denken.‹

Doch sie schwieg, lächelte Ferdinand zu und bereitete ihm einen strahlenden, ländlichen Sonntag.

Natürlich erfuhr Tante Marieluis von Antonias Liebschaft mit Ferdinand.

»Ich hoffe«, sagte sie nur, »du wirst deinen Weg finden.«

Antonia lächelte.

»Hat dieser junge Mann ernste Absichten?« fragte Berthold von Blumenthal, der natürlich nichts von der wahren Gestaltung der ländlichen Besuche seiner Nichte in Engelhartstetten ahnte.

»Natürlich«, antwortete Marieluis überzeugt.

Das genügte.

Es sollte nicht lange dauern, und Antonia von Blumenthal war ein gern gesehener Gast im Hause der Gräfin Stemblonska.

Niemand ahnte etwas von ihren geheimen Beziehungen zu Ferdinand, am allerwenigsten die Gräfin selbst.

Antonia wurde verwöhnt, angebetet und allerseits als reizendes Geschöpf angesehen, ein Umstand, der Ferdinand nur noch mehr Liebe und Zärtlichkeit für sie empfinden ließ.

Gelegentlich nahm die Gräfin Antonia mit in ihre Schneidersalons, ließ sich von ihr bei der Putzmacherin oder bei der Auswahl von Spitzen und Stoffen beraten. Antonia erwies diese Gefälligkeit mit Freude und wurde meist mit einer neuen Robe, einem Hut, Schleier oder gar einem Spitzenschal beschenkt.

»Das macht man nicht«, sagte Tante Marieluis, deren immer wachem Blick die Neuerungen in der Garderobe Antonias nicht entgingen. »Es wird Zeit, daß man dir Schmuck schenkt. Für Unterröcke bist du zu schade!«

Es war ein Hieb, der saß.

Antonia wurde fast gelb im Gesicht.

Niemand anderer als Marieluis hätte so sicher, so nützlich und so vernichtend für Antonia urteilen können.

Es war am Morgen des Gründonnerstages, als Berthold von Blumenthal zu seiner Frau sagte:

»Es ist so schön – wir sollten zum Osterfest nach Engelhartstetten fahren. Laden wir doch den jungen Karascz dazu ein, vielleicht erklärt er sich, und wir könnten Antonia verloben.«

Der gute Mann hatte keine Ahnung, daß der Herr Karascz Engelhartstetten fast besser kannte als er selbst und daß von Verlobung keine Rede sein würde.

Doch: Was der Hausherr sagt, wird getan.

Constance, von ihrem Schweizer Pensionat zu Ostern beurlaubt, fand ein ländliches Fest ebenso reizvoll wie ihr Vater.

›Warum können sie mich nicht in Ruhe lassen?‹ dachte Antonia. »Warum müssen sie mich besuchen, ohne mich zu fragen, ob es mir gefällt, warum ihr Kind mitbringen?‹

Marieluis ging an ihr vorüber. Ganz leise strich sie ihr über die Schulter.

»Psst!« machte sie und streichelte sie wieder.

Diese Bewegung, ganz zart, fast unpersönlich und ohne Anspruch, berührte Antonia seltsam. Sie empfand etwas wie Dankbarkeit, Rührung und Zuneigung zu dieser hochmütigen Frau.

Einen Augenblick hielt sie die Hand der Tante in der ihren.

»Du bist viel mehr meine Verwandte«, sagte sie, »viel mehr, als es meine Mutter je war.«

Marieluis lächelte, schürzte ihr Kleid und ging schnell aus dem Zimmer.

Die Familie von Blumenthal verlebte ein sonniges, warmes Osterfest, umgeben von blühenden Obstbäumen, schnatternden Gänsen, aufgeregt gackernden Hühnern, frisch gelegten Eiern und dem ersten Spargel. Ferdinand Karascz zeigte sich liebenswürdig, unterhaltsam und erfüllt von neuestem Klatsch. Sein herrlicher Brillantring funkelte in der Sonne, wenn er, von großen Gesten begleitet, vom Wiener Gesellschaftsleben berichtete – geradeso, als wären die Blumenthals nicht ihrerseits oft genug in Wien.

Narzissen, Osterglocken und Tausendschönchen neigten sich in dichter Fülle dem wärmer werdenden Wind, die örtliche Vogelschar veranstaltete ein österliches Frühlingskonzert, und Birkenzweige wehten, von grünenden Knospen in Schleier verwandelt, über der ländlichen Szene.

Am Ostermontag schien die Sonne so stark, daß man unwillkürlich an die staubigen, heißen Sommer denken mußte, jene Sommer, da die Hitze über den hellen Feldwegen stand und alles ringsherum in der Unbewegtheit eines windlosen Tages erstarb.

Antonia beschloß, mit Ferdinand eine längere Spazierfahrt zu machen. Mochte es auch zu warm sein, sie zog es vor, mit Ferdinand aus dem Umkreis der Familie zu fliehen. Onkel Berthold war mit dieser Regelung sehr einverstanden. Hoffte er doch wieder einmal, daß der junge Mann diese Gelegenheit nützen würde, sich endlich zu erklären.

Es wurde eine lange Ausfahrt. Ferdinand kutschierte selbst.

Antonia hatte einen Picknickkorb mitgenommen, falls sie unterwegs rasten wollten.

Ferdinand fuhr weite, schattige Wege, und bald fanden sie einen Platz, der ihrer Liebe und ihrem Wunsch nach Kühle genehm war.

Noch nie war Antonia so glücklich wie an diesem Tage. Vergessen war alles Trennende : die Gräfin, die Familie, mangelndes Geld bei Antonia und mangelnder Adel bei Ferdinand.

Es dämmerte schon, als sie sich auf den Heimweg begaben, und Antonia fürchtete, daß man sie und Ferdinand rügen würde.

Der Himmel war dunkelgrau.

War es wirklich die Dämmerung? Oder waren es Regenwolken?

Antonia hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als auch schon die ersten Böen über die Felder fegten.

Ferdinand schlug mit den Leinen auf die Pferde, nahm die Peitsche und schnalzte zum Galopp.

Die unruhige Natur versetzte die Pferde in Angst, und sie jagten dahin.

Aus dunkler werdendem Himmel grollte es, und erstes Wetterleuchten kündigte ein schweres Frühlingsgewitter an. Kein Tropfen fiel vom Himmel. Ohne Regen peitschte der Sturm die Wälder und Sträucher.

Es schien, als wäre die Nacht hereingebrochen.

Fast schon hatten sie das Gut erreicht, als sich etwas Helles am Horizont zeigte. Der Himmel riß auf, wies zwei weißliche Streifen Tageslicht. Das Licht weitete sich, wurde heller.

»Da!« schrie Antonia auf und streckte die Hand aus.

Inmitten des hellen, grellen Lichtes stand, wie aus dem Himmel herabgestoßen, eine riesige graue Säule, deren Mitte so schwarz war, wie die Nacht kaum sein konnte.

Die Säule aber stand nicht still.

Als käme das Meer auf sie zu, so grollte es um sie herum, zischte zugleich in wütenden, hellen Tönen, ein sich erhebender Lärm überschallte alle anderen Geräusche.

Was eben noch wie eine Säule aussah, wirkte nun wie ein Trichter: Nach oben breit, ungeheuer breit und schwarz, spitzte er sich über der Erde zu.

Die Pferde rissen sich los, die Deichsel splitterte, die Tiere rasten davon.

Ferdinand schrie irgend etwas, stürzte vom Kutschbock, schubste Antonia fort und suchte, vom Wagen fortzukommen.

Vergeblich.

Während Antonia hinter einem Strauch Schutz suchte und fand, kam das Toben und Rauschen in grauenhafte Nähe.

Antonia sah, wie die dunkle Säule, dem Riesenfinger einer Teufelskralle gleich, den Wagen hochhob und zugleich Ferdinand erfaßte. Weit hinaus in den düsteren Himmel schleuderte die Kralle beides: Gefährt und Mensch – um sie mit eben solcher Gewalt auf die Erde zurückzuschleudern.

Antonia, auf dem Bauch liegend, schützend die Hände über dem Kopf haltend, sah das entsetzliche Schauspiel, dem augenblicklich die allertiefste Ruhe folgte.

Nichts war zu hören.

Kein Donner schlug, kein Baum rauschte, kein Zweig knackte. Stille. Nichts als Stille war um sie her.

Und Antonia wußte, daß dies die Stille des Todes war.

Die Windhose hatte den Wagen vollständig zertrümmert; nur Scheiterholz schien geblieben.

Langsam erhob sich Antonia.

Ging an dem Wagen vorbei.

Ging auf das Feld.

Zerschmettert, ohne Gesicht, mit verrenkten Gliedern lag Ferdinand Karascz zwischen großen, schweren Steinen.

Er war tot.

Antonia sah ihn an, kniete nieder und schloß ihm die weit aufgerissenen Augen.

Langsam, als könne sie dem Toten Schmerz bereiten, wandte sie seine fast abgerissene, verrenkt liegende rechte Hand um. Die Gebärde, mit der sie ihm den Brillantring abnahm, hatte etwas Feierliches, Ruhiges.

Als sie, noch kniend, aufsah, stand nur wenige Meter von ihr entfernt eines der beiden Kutschpferde. Antonia ging auf das Tier zu, nahm es beim Halfter und schritt neben ihm.

Es sollte nicht lange dauern, und auch das zweite Pferd fand sich ein. Antonia nahm in jede Hand ein Halfter und ging zwischen den Tieren zum Gut zurück.

Die Straße der Windhose war entsetzlich. Alles, aber auch alles, was sie erfaßt hatte, war vernichtet. Doch kaum einen Zentimeter neben dem Wirbelsturm war ebenso alles erhalten, nicht ein Blümchen geknickt, nicht eine Handvoll Erde bewegt.

Antonia war zu bewegt, zu erschüttert, zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, als daß sie bemerkte, daß die Spur der Windhose geradewegs auf das Gut zuführte.

Erst als sie vor der Gutseinfahrt stand, sah sie, was geschehen war.

Die Macht der Zerstörung hatte sich voll entfaltet. Es schien, als wären Gutsmauern, Dächer, Fenster, Zäune aus Papier gewesen, so zerborsten und zerschlagen war alles.

Menschen, die zum Gut gehörten, rannten kreuz und quer, Befehle, Schreie und wildes Blöken herumlaufender Kühe und Ochsen erfüllten den Hof.

Verletzte wurden versorgt.

Schritt um Schritt, nur das Klappern der Hufe an ihrem Ohr vernehmend, ging Antonia voran.

Nahe den Gartentischen sah sie zwei Gestalten unter Leinentüchern.

Ging auf sie zu.

Hob jedes der Tücher langsam auf und sah auf die Toten, die darunterlagen.

Erst sah sie das entstellte Antlitz ihres Onkels Berthold. Dann betrachtete sie lange das erstaunte, unverletzte Gesicht ihrer Tante Marieluis.

»Adieu, Marieluis!« flüsterte sie und deckte das Leinen zurück.

Sie hörte ein Schluchzen und sah auf. Neben ihr stand Constance. Da nahm Antonia die Hand ihrer kleinen Cousine, zog das Kind zu den Toten auf die Knie und sprach leise:

»Gegrüßt seist Du, Maria, voll der Gnaden...«

Es folgten schlimme Jahre.

Das entsetzliche Geschehen des Ostermontags hatte Antonia und Constance aller Sicherheiten beraubt.

Die ungeheuren Schäden an den Gutsgebäuden, die Verwüstungen der Felder, die Verluste am Viehbestand waren kaum zu ersetzen. Das elterliche Vermögen war auf gebraucht bis auf den letzten Pfennig. Nur ein florierender Gutsbetrieb hätte Antonia ein verhältnismäßig günstiges Einkommen gesichert. Zudem war versäumt worden, das Gut ausreichend zu versichern.

Constance, ihrer Cousine, ging es nicht viel anders. Ihr Vater hatte gerade so viel hinterlassen, um ihr wenig mehr als eine gute, hausmännische Aussteuer zu besorgen. Von einer in adligen Kreisen selbstverständlich erscheinenden Mitgift würde man absehen müssen.

Constance, noch viel zu jung, um allein zu leben, wurde in das Haus ihrer Tante Belinda Petrouschek auf genommen und mit großer Herzlichkeit an Kindes Statt erzogen. Sie fügte sich gut in die Familie ein und wußte sich bescheiden zu geben. Schnell fand sie ein ausgezeichnetes, freundliches Verhältnis zu den Petrouscheks und ihrem Töchterchen Blanche.

Derart Erfreuliches war von Antonia nicht zu berichten. Von dem liebenswürdigen Angebot der Petrouscheks, mit ihnen im Hause zu leben, machte sie kühl und hochnäsig Gebrauch, so als erwiese sie den Gastgebern mit ihrer Anwesenheit eine hohe Gnade.

Es wurde für die guten Petrouscheks eine unangenehme und höchst unbequeme Zeit. So sehr sich Belinda mühte, ihr freundlich entgegenzukommen, so wenig gelang es ihr.

Antonia paßte nicht in das bürgerlich saturierte Haus der Petrouscheks. Zudem wußte sie durch eine kaum nachweisbare Arroganz den Klassenunterschied zwischen ihr und Petrouschek derart zu betonen, daß sich Belinda jedesmal aufs neue darüber ärgerte.

Was Antonia damals noch nicht wissen konnte, war, daß eben dieser Zuckerbäcker Petrouschek dank des kleinen Vermögens seiner Frau, einiger glücklicher Zufälle und eines über die Maßen geschickten Taktierens einen schnellen geschäftlichen Aufschwung nahm, so daß er nach einigen Jahren nicht nur als einer der reichsten Männer Wiens, sondern in späterer Zeit sogar als einer der wohlhabendsten Fabrikanten Österreichs bezeichnet werden konnte.

»Ich kann dir keine Vorschriften machen«, sagte Belinda Petrouschek zu Antonia, als diese ihr verkündete, sie wolle nun ihrer Wege gehen. »Ich weiß nicht einmal, was du vorhast.«

Antonia lächelte höflich. »Ich werde zu Gräfin Stemblonska ziehen. Sie bat mich darum.«

Belinda blickte zu Boden. »Ich verstehe nicht«, bemerkte sie leise, »was dich in das Haus dieser Dame zieht.«

»Gemeinsamkeiten«, antwortete Antonia kalt. »Wir haben beide denselben Mann geliebt.«

Belinda zog es vor, darauf nicht zu antworten.

»Wir werden dir stets ein offenes Haus bewahren«, sagte sie verabschiedend.

Antonia erhob sich, knickste.

»Küß die Hand, Frau Tant’«, sagte sie und rauschte hinaus.

»Sie ist frech«, sagte Belinda, als sie mit ihrem Mann allein war, »frech und dramatisch.«

»Sowas macht Karriere«, murmelte Petrouschek und betrachtete die Angelegenheit als erledigt.

Was Antonia mit der Gräfin verband, war tatsächlich die einstige Liebe zu Ferdinand Karascz. Die Gräfin, die gerade soviel von Antonia erfahren hatte, wie diese für nötig hielt, empfand mit Antonias Nähe noch den Zauber des geliebten Mannes.

Was sie wohl nicht einmal sich selbst zugegeben hätte, war der geheime Wunsch, Antonia lange, sehr lange in ihrem Hause zu behalten. Denn Antonia entfaltete immer größere Schönheit und Anziehungskraft. Dabei stellte sich heraus, daß sie keineswegs nur jungen, unbeschriebenen Männern ihr strahlendes Lächeln zuwandte, vielmehr bezauberte sie mit verständnisvollen, geistreichen Gesprächen auch ältere Herrschaften.

»Wüßte ich nicht, wie vergänglich Frauenschönheit und wie bleibend Charme ist, ich müßte auf soviel charmante Jugend eifersüchtig sein«, sagte die Gräfin, nicht ohne Spitze gegen Antonia.

So ließ sich für die schöne Comtesse von Blumenthal die Saison vorzüglich an. Bei Petrouscheks zuckte man zwar die Achseln, wenn von ihr die Rede war, doch das störte Antonia wenig. Was ihr fehlte, war die Tante.

Ohne es zu wollen, hatte sie Marieluis geliebt; weniger die Person selbst als das vollkommene Verstehen, das sich mit ihr verband.

Einsamkeit und Kälte hatten in Antonias Herzen mehr Platz, als man dem strahlenden, lebenssprühenden Geschöpf zugetraut hätte. Der Weg, den sie gewillt war zu gehen, war vorgezeichnet.

Für Minna und Lilly begann mit jenem entsetzlichen Ostererlebnis eine traurige Zeit. Zwar waren sie, die zum Helfen mitgenommen worden waren, unverletzt davongekommen. Vom Grauen gepackt, sahen sie dem schrecklichen Schauspiel zu, als Antonia mit Constance neben den Leichen ihrer Verwandten kniete.

Alles, was sie tun konnten, war, jedem, der sie brauchte, zur Hand zu gehen. Der Traum vom Leben in der Stadt aber schien ausgeträumt.

Die Blumenthals waren tot, und Antonia konnte ihnen nichts bieten als eine kärgliche Unterkunft auf dem zum Teil verwüsteten Gut. Mühsam wurde alles, so gut es ging, repariert. Handwerksrechnungen konnten kaum bezahlt werden.

»Warum wohnst du eigentlich nicht bei deinen Eltern?« fragte Minna eines Tages, als sie mit Lilly allein war.

Lilly schüttelte den Kopf. »Nie mehr!« antwortete sie und sah Minna trotzig an.

Minna wunderte sich über die Festigkeit des Ausdrucks in Lillys Gesicht. Mehr noch aber wunderte sie sich darüber, daß Lilly, die nun schon recht erwachsen aussah, bei diesen Worten ihren armseligen, alten Puppenbalg ganz fest an sich drückte.

Anderentags wurden sowohl Lilly als auch Minna zur Gutsverwaltung beschieden.

Der Verwalter, ein etwas grämlich und vertrocknet aussehender ältlicher Herr, den man mit›Herr Direktor anzureden hatte, zählte ihnen in langsamer und genauer Prozedur den ihnen zustehenden Lohn aus.

»Zuzüglich eines Abschiedsgeldes«, sagte er abschließend und sah sie aus seinen wässrigen Augen triumphierend an. «Minna erhält 20 Taler, und du, Lilly, bekommst sogar 30 Taler.«

Minna und Lilly starrten den alten Mann an.

»Was soll das denn?« fragte Lilly keß.

»Das soll heißen«, antwortete der Gutsdirektor, »daß ihr entlassen seid, aber noch eine prächtige Abschlußzahlung erhaltet.«

»Entlassen kann man uns erst zu Lichtmeß«, murmelte Minna und strich das Geld ein.

»Was wollt ihr machen?« sagte der Gutsdirektor und zuckte die Achseln. »Ich kann nicht einmal die Reparaturen bezahlen. Wie soll es da eine Dienerschaft geben?«

»Was ist mit den Jaskulkes?« fragte Minna schnell.

»Liebe Frau«, antwortete der Gutsdirektor, »das sind Tagelöhner.« Er betonte das Wort ›Tagelöhner‹. »Die braucht man immer, ebenso die Mägde. Was sollen wir aber mit einer Zofe und einer Schneiderin, wenn wir keine Gutsherrin haben?«

»Wir haben eine Herrin!« entgegnete Lilly trotzig, »oder zählt das Fräulein Antonia nicht?«

»Nein«, sagte der Gutsdirektor und ordnete seine Bücher in eine breite Schreibtischschublade ein, »Fräulein Antonia zählt nicht. Sie kann gerade so viel bekommen, daß sie leben kann. Auf euch muß sie verzichten. Und nun Adieu!«

Damit war die Unterredung beendet. Minna und Lilly verließen das Büro.

Draußen sagte Minna: »Wir sollten zu deinen Eltern gehen.«

»Das sollten wir nicht!« widersprach Lilly beharrlich. »Wir gehen nach Wien. Da wird man uns am ehesten brauchen.«

Sie fuhren nach Wien. Doch niemand brauchte sie.

Sie waren in einer kleinen Dachwohnung untergekommen, aus der Lilly mit unglaublichem Geschick eine gemütliche Bleibe zauberte. Doch die Gemütlichkeit hörte spätestens im Winter auf, als es kalt wurde und das ihnen verbliebene Geld zur Neige ging.

»Was soll aus uns werden?« jammerte Minna.

»Aus uns wird schon etwas werden«, antwortete Lilly. Sie sah an Minna vorbei, und ihre Worte klangen nicht mehr ganz so trotzig und zuversichtlich wie sonst.

Noch am gleichen Tage ließen sie Antonia wissen, wo sie wohnten, und daß sie »alleruntertänigst zur Verfügung stünden«.

Gräfin Stemblonska, nicht müde, Gesellschaften von mittlerer Langeweile zu geben, machte Antonia eines Tages auf die Rückkehr eines alten und einflußreichen Verehrers aufmerksam: Baron Koloman von Halmay.

Hatte Antonia einen typischen Vertreter des ungarischen Adels erwartet, sah sie sich angenehm enttäuscht. Der Baron machte eher den Eindruck eines französischen Edelmannes, dezent und von großer Bildung. Im Gegensatz zu vielen Ungarn war er ein guter Zuhörer und selbstloser Freund.

»Wahrscheinlich macht sich die Gräfin Hoffnungen auf ihn‹, dachte Antonia und beobachtete den Baron.

Sie mußte feststellen, daß er sie mit der gleichen ruhigen Anteilnahme ansah wie sie ihn.

Antonia mußte lachen.

Irgend etwas war an ihm, das ihr das Gefühl gab, er kenne, verstünde sie. Er lächelte zurück, kam langsam auf sie zu und küßte ihr die Hand.

»Sie sollten diesen Brillanten in eine Brosche umarbeiten lassen«, sagte er leise und küßte ihre Finger. »Man sieht zu sehr, daß es ein Herrenring ist.«

»Dazu fehlen mir die passenden Steine«, gab Antonia geistesgegenwärtig zurück.

»Dann wollen wir sie schnell besorgen.« Er hatte eine angenehme, weiche Stimme. »Wann darf ich Ihnen meine Equipage schicken und wohin?«

»Ich wohne im Hause«, entgegnete Antonia und entzog sich ihm. »Man wird um Erlaubnis fragen müssen.«

Der Baron verneigte sich und ging zur Gräfin, während Antonia schnell und hastig den Salon verließ.

Vierzehn Tage später mietete Antonia ein kleines, teures Haus in der besten Gegend Wiens, verließ die Gräfin in gutem Einvernehmen und achtete strengstens darauf, daß sie nicht, von allzuvielen Verehrern umgeben, jenen schlechten Ruf bekam, der ihr erst als verheirateter Frau nützlich sein konnte.

Antonia hatte Lillys Billet empfangen und sofort in ihrem Sekretär verschlossen. Kaum hatte sie das schöne, teure Haus gemietet, sandte sie den Kutscher des Barons zu Lilly und Minna, um sie wissen zu lassen, daß sie schnellstens umzusiedeln hätten.

Mit welcher Freude und Begeisterung bewerkstelligten die beiden den kleinen Umzug! Als sie in ihre Dienstbotenkammer bei Antonia einzogen, erschien es ihnen, als hätten sie das Paradies auf Erden. Dabei waren die Kammern nicht annähernd so hübsch und gemütlich wie jene Dachgeschoßwohnung, die sie verließen.

Aber: Sie waren wieder in Lohn und Brot. Und sie waren bei ihrer so bewunderten und geliebten Herrin. Von nun an pflegten und hegten sie Antonia, eiferten um ihre Gunst.

»Wir brauchen einen Silberdiener«, sagte Antonia zu Lilly, »jemand, den wir anlernen können. Am besten einen jungen, hübschen für dich.« Sie lächelte Lilly zu.

»Nein«, antwortete Lilly und machte ein sehr braves, ergebenes Gesicht. »Mit Eurer Erlaubnis werde ich meinen Bruder Hans holen.«

»Wie du willst«, entgegnete Antonia schroff. »Wenn er sich als Bauerntrampel erweist, fliegt er raus!«

Vierzehn Tage später erschien Hans Jaskulke in Wien. Viel mehr als ein Bauerntrampel schien er jedoch nicht zu sein.

Grinsend beherzigte er Lillys Belehrungen, zog vorschriftsmäßig weiße Zwirnhandschuhe zum Silberputzen an, wienerte an den Kostbarkeiten herum, daß sie glänzten und strahlten, als seien sie mit Diamantenpolitur überzogen.

Sein breites Grinsen verging ihm schnell. Die Herrschaft bekam er nur selten zu Gesicht und wenn, dann nahm es ihm schier den Atem.

»Dieser Duft...« konnte er einmal nur noch murmeln, als er in die Küche kam und sich auf einen Stuhl fallen ließ. »Sie duftet so herrlich!«

Gemeint war Antonia, die übrigens die Neigung hatte, sich zu stark zu parfümieren.

Hans wurde eingekleidet: schwarze Hose, grünes Satinjackett für die Arbeit, ein Dutzend weiße Zwirnhandschuhe, ein halbes Dutzend grüne Hausmannsschürzen, zwei schwarzweiß gestreifte Westen und zwei schwarze Jacketts.

Staunend betrachtete er diesen für ihn unglaublichen Reichtum.

Hemden nähte Minna für ihn. Die Garderobe war keineswegs so komplett und üppig, wie es ihm vorkam. Schuhe und Strümpfe fehlten, ebenso ein Mantel oder wenigstens eine warme Jacke mit Taschen, in denen man die Hände verstecken konnte. Sein Lohn war nicht schlecht, doch brauchte Minna jeden Taler für seine Ausstattung, ja, sie und Lilly legten sogar noch etwas drauf.

Antonia stieß sich nicht daran. Ihr war es recht. Sollten die Dienstboten ruhig etwas dazutun, daß sie in einem feinen Hause leben durften.

Sie, die herrliche, schöne Antonia, brauchte dafür um so mehr Geld.

Und der Baron gab es ihr. Er betete sie an.

Es war eine Form von Anbetung und Verehrung, die Antonia ausgesprochen gefiel. Nichts Larmoyantes, Schwaches lag in der Art des reifen, älteren Mannes, keinerlei kindische Hingebung kennzeichnete seine Beziehung zu ihr.

Es gab Augenblicke, da fühlte sich Antonia an Marieluis erinnert, soviel Verständnis fand sie bei ihm.

Ihn entzückten ihre Bosheiten, mit denen sie, oft zum Entsetzen mancher Damen, gern um sich warf; er kannte die Wurzel ihres Wesens.

Und: Er verwöhnte sie.

Sein Reichtum, das Savoir vivre, seine Umgangsformen waren für Antonia ein Quell der Freude. Im Vergnügen schier endloser Wünsche und ihrer Erfüllung fand sie in Koloman einen ebenbürtigen Partner.

Was für Koloman von Halmay als Amour begann, als Liaison gemeint war, wurde für ihn zur tiefen, lebensbestimmenden Liebe.

Als er Antonia eines Tages zur Soiree des Grafen Bajar mitnahm, ahnte Koloman von Halmay nicht, daß dieser Schritt Antonias in ein altehrwürdiges, prächtig ausgestattetes Adelspalais von so großer Bedeutung für alle Beteiligten sein würde, daß selbst ein so toleranter und freisinniger Mann wie er später viel darum gegeben hätte, diesen Schritt ungeschehen machen zu können.

Allein, das Schicksal, und vornehmlich solches, das ehrgeizige Frauen in ihre Hände nehmen zu müssen glauben, solches Schicksal ist nicht rückgängig zu machen.

Die Gräfin Bajar, eine reizlose, etwas langweilige Dame gesetzteren Alters, der die Natur Kinder versagt hatte, war entzückt von Antonia. Ihr Entzücken sollte sich jedoch bald in Verbitterung umwandeln, als sie bemerken mußte, mit welch leidenschaftlicher Verehrung ihr Gatte Antonia entgegenkam.

Der Graf, fast hager zu nennen, mit typisch österreichischem Witz begabt, schien um Jahre jünger als seine kurzsichtige, dickliche Gemahlin.

Vier Wochen nach ihrer ersten Begegnung mit dem Grafen hatte Antonia bereits die innigsten Beziehungen zu ihm und ließ jedermann wissen, daß sie ihn – und nur ihn! – liebe. Der Graf fühlte sich geschmeichelt, rügte sie ihrer allzu beredten Phantasie wegen durchaus nicht, sondern gestand ihr seinerseits seine Liebe.