Arbeiten mit Träumen in der Analytischen Psychologie - Konstantin Rößler - E-Book

Arbeiten mit Träumen in der Analytischen Psychologie E-Book

Konstantin Rößler

0,0

Beschreibung

In der Praxis der Analytischen Psychologie nimmt die Arbeit mit Träumen einen zentralen Platz ein. Sie kann darum auch einen ganz besonders reichen Erfahrungsschatz anbieten. Das vorliegende Buch verknüpft die traditionellen Wurzeln C. G. Jungs mit den heutigen Weiterentwicklungen der Analytischen Psychologie und führt in die historischen Hintergründe, therapeutischen Modelle und die aktuelle Forschung ein. Gleichzeitig bietet es eine umfangreiche Anleitung für die therapeutische Arbeit anhand zahlreicher Traumbeispiele. Diese werden analog zur Situation im Behandlungszimmer ungekürzt vorgestellt, sodass die Lesenden unmittelbar in den Prozess eintauchen können, um den Umgang mit Träumen einzuüben oder zu vertiefen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 223

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Autor

Dr. med. Konstantin Rößler ist Arzt für Innere Medizin, tiefenpsychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker, Lehranalytiker, Supervisor, Dozent, Mitglied des Vorstands am C. G. Jung-Institut Stuttgart, Vorstand der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie.

Konstantin Rößler

Arbeiten mit Träumen in der Analytischen Psychologie

Verlag W. Kohlhammer

Für Susanne, David und Hannah

 

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036604-6

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-036605-3

epub:     ISBN 978-3-17-036606-0

Geleitwort

 

 

 

Dieser Buchreihe gebe ich sehr gerne ein Geleitwort mit auf den Weg. Dies geschieht heute an einer Station in der psychotherapeutischen Landschaft, von der aus man fast verwundert zurück blickt auf die Zeit, in der sich Angehörige verschiedener »Schulen« vehement darüber stritten, wer erfolgreicher ist, wer die besseren Konzepte hat, wer zum Mainstream gehört, wer nicht, und – wer, gerade weil er nicht dazu gehört, deshalb vielleicht sogar ganz besonders bedeutsam ist. Unterdessen wissen wir aufgrund von Studien zur Psychotherapie, dass die allgemeinen Faktoren, wie zum Beispiel die therapeutische Beziehungsgestaltung, verbunden mit der Erwartung auf Besserung, wie die Ressourcen der Patienten, wie das Umfeld, in dem die einzelnen leben und in dem sie behandelt werden, eine größere Rolle spielen als die verschiedenen Behandlungstechniken. Zudem – und das zeigen auch Forschungen (PAPs Studie, Praxisstudie Ambulante Psychotherapie Schweiz) – werden heute von den Therapeutinnen und Therapeuten neben den schulspezifischen viele allgemeine Interventionstechniken angewandt, vor allem aber auch viele aus jeweils anderen Schulen als denen, in denen sie primär ausgebildet sind.

Gerade aber, weil wir unterdessen so viel gemeinsam haben und unbefangen auch Interventionstechniken von anderen Schulen übernehmen, wächst auch das Interesse daran, wie es denn um die Konzepte der »jeweils Anderen« wirklich bestellt ist. Als Jungianerin bemerke ich immer wieder, dass Theorien von Jung als »Steinbruch« benutzt werden, dessen Steine dann in einer neuen Bauweise, beziehungsweise in einer neuen »Fassung« erscheinen, ohne dass auf Jung hingewiesen wird. Das geschah mit der Jungschen Traumdeutung, von der viele Aspekte überall dort übernommen werden, wo heute mit Träumen gearbeitet wird. Dass C.G. Jung zwar auch nicht der erste war, der mit Imaginationen intensiv gearbeitet hat, Imagination aber zentral ist in der Jungschen Theorie, wurde gelegentlich »vergessen«; die Schematheorie kann ihre Nähe zur Jungschen Komplextheorie, die 100 Jahre früher entstanden ist, gewiss nicht verbergen.

Vieles mag geschehen, weil die ursprünglichen Konzepte von Jung zu wenig bekannt sind. Deshalb begrüsse ich die Idee von Ralf Vogel, eine Buchreihe bei Kohlhammer herauszugeben, bei der grundsätzliche Konzepte von Jung – in ihrer Entwicklung – beschrieben und ausformuliert werden, wie sie heute sich darstellen, mit Blick auf die Verbindung von Theorie und praktischer Arbeit. Ich bin sicher, dass von der Jungschen Theorie mit der grossen Bedeutung, die Bilder und das Bildhafte in ihr haben, auch auf Kolleginnen und Kollegen anderer Ausrichtungen viel Anregung ausgehen kann.

 

Verena Kast

 

Inhalt

 

 

 

Geleitwort

Einleitung

I  Theoretische Grundlagen

1  Der Stoff und die Träume – Eine kurze Geschichte vom Verständnis des Träumens

1.1  Altägyptische und biblische Wurzeln

1.2  Der Traum in antiken Kulturen

1.3  Der Traum in Spätantike und christlichem Mittelalter

1.4  Der Traum in der Tradition von Aufklärung und Romantik

1.5  Sigmund Freud – Die Traumdeutung

2  Das Traumverständnis der Analytischen Psychologie

2.1  C. G. Jung und die Frage einer Traumtheorie

2.2  Sinn und Kompensation – Die Basis des Traumverständnisses

2.3  Kausalität, Finalität und Symbolbegriff – Die erweiterte Perspektive

2.4  Unvoreingenommenheit und Einverständnis – Therapeutische Haltung und technische Aspekte in der Arbeit mit Träumen

2.5  Exkurs: Forschung zur therapeutischen Anwendung der Arbeit mit Träumen

3  Die Neurowissenschaft des Träumens

3.1  Neurowissenschaften als neuer Zugang zum Träumen

3.2  Hobson vs. Solms – Neurowissenschaftliche Modelle des Träumens

3.3  Neuere Entwicklungen – Die Wach-Traum- Kontinuitätshypothese

3.4  Fazit

II  Die Praxis der Arbeit mit Träumen in der Analytischen Psychologie

1  Eine Gebrauchsanweisung

2  Komplexe

2.1  Komplexe und die Ebene des persönlichen Unbewussten

2.2  Sonderfall Schatten-Komplex

3  Subjekt-Objekt-Stufe

4  Die symbolische Ebene

5  Die Ebene der Archetypen und des Selbst

5.1  Grundlagen des Archetypenkonzepts

5.2  Der Archetyp des Selbst

6  Übertragung und Gegenübertragung

7  Die psychischen Grundfunktionen und ihre Einstellungsmodi

8  Träume am Anfang – Träume zum Ende

8.1  Der Initialraum

8.2  Der Finalraum

Zum Schluss

Literaturverzeichnis

Traumbeispielverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Einleitung

 

 

 

»Ohne die Träume würden wir gewiß früher alt.«

Novalis, Heinrich von Ofterdingen

Das Phänomen des Traums wird seit jeher von zwei zentralen Fragen begleitet, die auch diesem Buch zugrunde liegen.

Die erste lautet: Enthalten Träume eine Bedeutung oder gar einen Sinn? Diese erste Frage kann angesichts der aktuellen Forschungsdiskussion ergänzt werden um die Überlegung: Ist es noch zeitgemäß, mit Träumen therapeutisch zu arbeiten?

Ein historischer Rückblick, wie Menschen ihre Träume verstanden, zeigt eine permanente Entwicklung, die um diese erste Frage kreist. In jener Dialektik zwischen Sinn und Nicht-Sinn erhalten Träume einen hohen Stellenwert als Botschaften der Götter oder werden abgewertet als Versuchungen des Teufels, sie sind eine Bedrohung der Vernunft oder ein Weg in die Nachtseite der Seele, werden zu einem Zugang zum Unbewussten oder gelten als bedeutungslose elektrische Entladungen des Hirnstamms. Wie ein Pendel schwingt das Verständnis des Traumphänomens um diese Frage in der Mitte, wobei der jeweilige Gegenpol nie ganz untergeht, sondern untergründig stets mit enthalten ist. In jüngster Zeit kann mit der Wach-Traum-Kontinuitätshypothese wieder eine Bewegung hin zu einer Auffassung beobachtet werden, die den Träumen einen Bedeutungsgehalt zuweist.

Diese Pendelbewegung wird im ersten Teil des Buchs dargestellt anhand von 3.000 Jahren Traumgeschichte mit exemplarischen Beschreibungen vom antiken Ägypten bis zu Freuds Entdeckung des Unbewussten. Die jüngere Entwicklung der letzten 100 Jahre, die vor allem vom Paradigma der Wissenschaftlichkeit geprägt wurde, ergänzt diese Betrachtung und schließt die Lücke bis zur Gegenwart. Dazwischen wird in einem eigenen Kapitel der spezifische Zugang C. G. Jungs anhand seiner Schriften zum Traum behandelt. Obwohl diese Texte über mehrere Jahrzehnte seiner Tätigkeit verstreut entstanden, ergeben sie in ihrer Gesamtheit doch ein in sich schlüssiges Bild und sind die wesentliche Grundlage für die therapeutische Anwendung der Arbeit mit Träumen, wie sie sich heute in der Analytischen Psychologie entwickelt hat.

Die zweite Frage lautet: Wie lässt sich die therapeutische Arbeit mit Träumen erlernen, einüben und praktisch einsetzen?

Hier hat besonders die heutige Analytische Psychologie aus der Tradition C. G. Jungs heraus unvergleichlich reiche und differenzierte Zugänge zum Phänomen des Traums entwickelt, die sich in der therapeutischen Anwendung als sehr vital und fruchtbar erwiesen haben.

Mit dem vorliegenden Band wird der Versuch unternommen, zum einen eine Systematik entlang der Konzepte der Analytischen Psychologie zu erstellen. Sie soll ein Gerüst und eine Orientierung bieten, um Träume in Behandlungssituationen zu verstehen und für den Prozess nutzbar zu machen. Daher wurden die Kapitel nach den verschiedenen Perspektiven auf das Phänomen Traum eingeteilt. Eine kurze Einführung in den theoretischen Hintergrund ist den Konzepten jeweils vorangestellt.

Zum anderen sollen aber die lebendige Dimension der Träume und ihre Bedeutung im therapeutischen Prozess erkennbar und erlebbar bleiben. Daher werden die Träume nicht gekürzt vorgestellt, sondern in voller Länge, genauso, wie sie in der therapeutischen Situation eingebracht wurden. Es handelt sich dabei um von den Träumenden selbst angefertigte schriftliche Fassungen der Traumerzählungen, die in die Sitzung mitgebracht wurden, oder aber um eigene wörtliche Mitschriften. Auf diese Weise sind die Leser nicht mit exemplarisch besonders prägnanten Episoden oder Fragmenten konfrontiert, sondern mit den zum Teil sehr komplexen und unzensierten Traumberichten, wie sie auch im therapeutischen Alltag anzutreffen sind. Mit dieser weitgehenden Annäherung an die reale Situation lassen sich die eigenen Gegenübertragungsreaktionen, Intuitionen und Einfälle, die sich beim Lesen der Traumtexte einstellen, am besten wahrnehmen und die Arbeit mit Träumen einüben. Die jeweiligen Ausführungen zum Verständnis der Träume folgen dann ganz dem therapeutischen Arbeitsprozess, wie er sich in den Behandlungen ergeben hat. So können die eigenen Gedanken und Gefühle der Leser mit dem individuellen Therapiegeschehen, wie es sich zugetragen hat, abgeglichen werden. Darüber hinaus wurden besondere Fragestellungen berücksichtigt wie der Umgang mit sehr langen oder sehr kurzen Träumen, die Vermischung mit traumatischen Inhalten oder spezifische Situationen von Träumen am Anfang oder am Ende einer Behandlung.

Dieses Vorgehen hat sich als didaktische Grundlage vieler Traumseminare sehr bewährt und wird hoffentlich auch hier dazu beitragen, den Reichtum und die Freude an der Arbeit mit Träumen in therapeutischen Beziehungen zum Vorteil beider Seiten entdecken zu können. So richtet sich dieses Buch nicht nur an psychotherapeutische Kollegen1 und an Ausbildungskandidatinnen und -kandidaten, die ihr Wissen vertiefen möchten, sondern auch an all diejenigen, die in ihrer Berufstätigkeit mit Träumen konfrontiert sind, und an alle, die Interesse und Faszination für die eigenen Träume entwickeln.

Mein besonderer Dank gilt Frau Kathrin Kastl und Frau Kerstin Weissenberger für ihre kompetente Begleitung bei der Entstehung dieses Buchs.

1     Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers).

I   Theoretische Grundlagen

1          Der Stoff und die Träume – Eine kurze Geschichte vom Verständnis des Träumens

 

 

 

»We are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded with a sleep.« (Shakespeare, 1919, S. 114) – »Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind und unser Leben ist von einem Schlaf umringt« – so lautet Prosperos Aussage in Shakespeares »Der Sturm«. Es ist eines der bekanntesten Zitate, das das Wesen der Träume thematisiert, und berührt zugleich den Kern einer seit über 3.000 Jahren anhaltenden Diskussion zur Frage, ob Träume nun etwas zu bedeuten haben oder nicht und ob und wie sie gegebenenfalls verstanden werden können.

So lässt sich eine von der Antike über das Mittelalter, durch Aufklärung und Romantik hindurchgehende Auseinandersetzung verfolgen, wie Träume einzuordnen seien und wie mit ihnen umzugehen sei. Diese reicht hinein bis in unsere Gegenwart wissenschaftlicher Forschungsparadigmen und wird weiter andauern. Auf den Punkt gebracht dreht sich die Auseinandersetzung um folgende Fragen: Enthalten Träume Bedeutung und Sinn? – Sind sie als Botschaften der Götter, einer transzendenten Ebene oder des Unbewussten Ausdruck einer geistigen Ebene, zu der wir im Schlaf Zugang erhalten und die für das Wachbewusstsein relevante Informationen enthält? Oder sind Träume Verarbeitungsprozesse der Tageserlebnisse mit lediglich reinigender Funktion oder gar Blitzgewitter des Gehirns im schlafenden Zustand, somit bedeutungslose Epiphänomene der Materie?

So steht die Diskussion um die Einordnung von Träumen in der langen Tradition einer polaren Gegensatzspannung von Geist und Materie und es zeichnet sich nicht ab, dass diese Frage nun abschließend beantwortet werden könnte. Vielmehr schlägt das Pendel über die Jahrhunderte jeweils in die eine oder andere Richtung aus. In Shakespeares Formulierung deutet sich dabei eine gewisse Synthese an, indem hier die Nähe der Träume zur Materie zum Ausdruck kommt als Stofflichkeit, die sowohl den Träumen wie auch unserem Bewusstsein zugrunde liegt und in einen umfassenderen Zustand eingebettet ist, der hier interessanterweise als Schlaf bezeichnet wird. Der Schlaf kann wiederum verstanden werden als eine Metapher für einen unbewussten Zustand der geistigen Ebene. Dabei wird offengelassen, ob es sich hier überhaupt um bewusstseinsfähige Elemente handelt oder solche, die in der Materie als geistiges Potential schlummern, ohne hervorzutreten. So hält dieses Zitat eine eigenartige Balance in der Frage nach dem Wesen der Träume, die uns beim folgenden historischen Überblick zu diesem Thema begleiten wird.

1.1       Altägyptische und biblische Wurzeln

In Berichten des Alten Testaments wie auch des antiken Ägyptens findet sich ein Verständnis vom Traum als einer Offenbarung Gottes, das sich in enger Nähe zur Prophetie bewegt. Der Traum als Ausdruck göttlichen Wirkens bedarf aber der rechten Deutung durch den Menschen. Bereits hier findet sich eine Wurzel des Modells der Analytischen Psychologie, wonach psychische Entwicklungsprozesse durch eine intensive Auseinandersetzung der bewussten Ebene mit den Impulsen aus dem Unbewussten geprägt sind. Ein solcher Prozess zielt darauf, eine Wirkung in der Welt, eine Änderung der einseitig bestimmten Bewusstseinshaltung herzustellen, die zur rechten inneren Ordnung zurückführt. Zu den bekanntesten Beispielen zählen die im Alten Testament detailliert beschriebenen Vorgänge um die Träume des Pharaos und ihre Deutung durch Joseph dar (Gen 40ff.). Im Traum erscheinen dem Pharao sieben fette und sieben magere Kühe, die nacheinander dem Nil entsteigen, und in einem zweiten Traum sieht er sieben fette und sieben magere Getreidegarben. Joseph kann als einziger der vielen Befragten die Träume korrekt deuten als Zukunftsvoraussagen für sieben Jahre reicher Ernte und sieben Jahre der Missernte und Hungersnot. Gleichzeitig liefert er die Lösung, die sich aus diesem Verständnis der Träume ableitet, nämlich eine Vorratshaltung in den sieben fetten Jahren, um die anschließenden mageren zu überleben. Dabei betont er stets ausdrücklich, dass die Träume von Gott gesendet wurden und dessen Willen ausdrücken. Sogar das Traumdeuten selbst sei die »Sache Gottes« (Gen 40,8). Es wird so eine Haltung deutlich, die Träume unmittelbar als transzendente Botschaften auffasst, welche verstanden und auch real umgesetzt werden müssen. Sie enthalten eine innere Wahrheit und Gesetzmäßigkeit, der man sich nicht entziehen, die man sich aber nutzbar machen kann. Diese Grundidee ist nicht sehr weit entfernt von einem modernen therapeutischen Verständnis im Umgang mit Träumen.

Umgekehrt wird das Ausbleiben von Träumen erlebt als ein Verlust dieses Zugangs, worauf Meier anhand einer weiteren Bibelstelle hinweist. Dort klagt König Saul, als er erkennt, dass sein Ende gekommen ist: »Und Gott ist von mir gewichen und antwortet nicht, weder durch Prophetie noch durch Träume.« (Meier, 1995, S. 76)

Nun können therapeutische Prozesse in tiefenpsychologisch fundierten Behandlungen einen guten Verlauf nehmen, auch ohne dass Träume dabei eine Rolle spielen. Allerdings finden erfahrungsgemäß gerade dann häufig besonders tiefreichende, kreative und fruchtbare Entwicklungen statt, wenn eine Arbeit mit Impulsen aus dem Unbewussten möglich ist – seien es Träume, Imaginationen, Malen, Schreiben, Sandspiel oder andere Formen.

Ähnlich wie im antiken Israel und Ägypten wird auch im hinduistischen Kulturraum von der Vorstellung göttlicher Offenbarung in Träumen ausgegangen, wenn auch die Aufzeichnungen dazu erst sehr viel später angefertigt wurden. Allerdings geht die indische Kultur hier noch einen Schritt weiter, indem prinzipiell kein Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit konstruiert werden kann (Meier, 1995, S. 76ff.). Diese Grundidee findet interessanterweise Anklänge in der modernen neurobiologischen Perspektive auf das Traumgeschehen in Gestalt der Wach-Traum-Kontinuitätshypothese (Kap. I.3.3).

1.2       Der Traum in antiken Kulturen

Auch in der antiken Philosophie herrscht die Idee eines Austauschs mit einer transzendenten Ebene in Träumen vor. Dort ist demnach die Seele befreit vom Grab ihres Körpers und kann nun frei mit den höheren Mächten der göttlichen Sphäre kommunizieren. So benennt Platon (428/27–348/47 v. Chr.) im »Symposion« die Dämonen, zu denen auch Eros gehört, als die Urheber der Träume. Und Syrenus von Kyrene (geb. ca. 370–75 n. Chr.), einer der wichtigsten antiken Autoren zum Traum, formuliert noch viele Jahrhunderte später: »Der eine, heißt es, wird wachend, der andere im Schlaf belehrt. Aber beim Wachenden ist es ein Mensch, der belehrt, beim Schlafenden ein Gott.« (Meier, 1995, S. 103)

Bereits Heraklit (ca. 520–460 v. Chr.) beschreibt eine Auffassung vom Traumgeschehen, das dem heutigen Verständnis einer subjekt-stufigen Deutung von Trauminhalten schon sehr nahe kommt: »die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt; im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu.« (Heraklit, 1983, S. 29).

Aristoteles (384–322 v. Chr.) hingegen hebt hervor, dass sich in den Träumen die im Wach-Bewusstsein nicht wahrgenommenen feineren Sinneswahrnehmungen des eigenen Körpers durchsetzen können. Hier stammen die Träume schon nicht mehr explizit von den Göttern. Es deutet sich eher etwas an, das heute unter der Verarbeitung von Tagesresten in Träumen verstanden wird, oder aber als eine Art Reinigungsvorgang, in dem bisher unverarbeitete Informationen durchgespielt werden. Jedoch geht es hier kaum mehr um eine Bedeutung der Trauminhalte oder gar um das Verständnis von Botschaften einer anderen Ebene. Es zeigt sich vielmehr schon die Wurzel einer rationaleren Auffassung, die sich später weiterverfolgen lässt.

Die am weitesten verbreitete Kultur und zugleich Höhepunkt therapeutisch wirksamer Traumarbeit in der Antike, aber auch Vorgänger der Sanatorien der Neuzeit, war die Verbreitung der Inkubation, die Praxis des Heilschlafs. So gab es eine ganze Reihe von Gottheiten, die an spezifischen Orten kulthaft verehrt wurde, um Heilung zu erlangen. Meist handelte es sich dabei aufgrund der antiken Vorstellung einer engen Verbindung von Körper und Erde um chthonische Wesen. Unter ihnen sticht besonders die Figur des Heilgottes Asklepios hervor, dem 420 Heiligtümer, sogenannte Asklepieien, zugeordnet werden. Eine ausführliche Darstellung dieser Thematik findet sich bei C. A. Meier (Meier, 1995, S. 112ff.). Im Folgenden soll nur ein kurzer Überblick zum Kult der Inkubation gegeben werden, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie eine therapeutisch motivierte Arbeit mit Träumen auf eine mehr als zweitausendjährige Tradition zurückreicht und wie diese sich darstellte.

Gewünschte und günstige Inhalte waren Träume, in denen Asklepios oder eine andere mit ihm verwandte oder mit der Heilkunst in Verbindung stehende Figur erschien. Die Träume mussten sorgfältig aufgeschrieben werden. Teils wurden sie sogar als Beweis der Heilkräftigkeit eines Tempelbezirks auf Säulen schriftlich festgehalten und veröffentlicht.

Stellten sich keine Träume ein, galten auch Visionen des Gottes in Wach- oder Halbwachzuständen als heilkräftig. So gibt es Berichte, dass die sorgfältig notierten Träume mit denen der Priester verglichen wurden. Dabei kam es darauf an, dass eine Koinzidenz zwischen den Träumen der Heilungssuchenden und denen der Priester der Gottheit erkennbar wurde, ein sogenanntes symptoma (= »etwas, das auf etwas anders schließen lässt«). Auch lässt sich die Vorstellung erkennen, dass mithilfe des Traums eine Verbindung hergestellt wird zwischen der Ebene des Menschen und der göttlichen Sphäre, in diesem Fall über die vermittelnde Gestalt des Priesters der jeweiligen Gottheit. Heilungsvorgänge wurden begriffen als die Herstellung eben dieser Verbindung. Noch heute basiert die Grundidee einer therapeutischen Arbeit mit Träumen in der Tiefenpsychologie darauf, dass eine Verbindung zwischen Ich-Bewusstsein und unbewussten Inhalten gefördert wird. Offenbar wurden damals schon Übertragungsphänomene wie Übereinstimmungen in den Trauminhalten zwischen Priestern und Heilungssuchenden als wichtiges Element des Prozesses wahrgenommen.

Außerdem waren diese Einrichtungen darauf angelegt, den Menschen ein sehr umfassendes, in heutigen Begriffen ganzheitliches Angebot zu unterbreiten. So befinden sich diese Tempelanlagen, wie noch heute in Epidauros nachzuvollziehen, in ausgesucht schönen Landschaften: Es gab prachtvolle Architektur, ein kulturell anregendes Angebot mit Theateraufführungen und Mysterienspielen, gesunde Ernährung und diätetische Angebote, durchaus vergleichbar mit den modernen Kurstädten und ihren Sanatorien.

Von großer Bedeutung war die Anwesenheit von Schlangen im heiligen Bezirk, die, wenn auch ungiftig, sicher wesentlich zu einer besonderen Atmosphäre beitrugen; eine Markierung, sich hier nicht im alltäglichen Raum zu befinden, sondern in der Nähe von etwas Fremdem, Unberechenbarem, Erdhaften, etwas, das zugleich Angst und Faszination, Furcht und Ehrfurcht erzeugen kann, ein tremendum et fascinosum – ein Begriff, der auf den Theologen und Religionswissenschaftler Rudolf Otto zurückgeht und den Jung als Charakteristikum in der Begegnung mit einer numinosen Sphäre übernimmt.

Lässt man sich innerlich auf die Atmosphäre eines solchen Ortes ein, wird nachfühlbar, dass Träume, die in diesem besonderen Raum geträumt werden, sehr eindrückliche Spuren hinterlassen können. Es ist naheliegend, dass Menschen, die sich diesem Prozess für einige Tage, Wochen oder gar längere Zeit aussetzten, verändert daraus hervorgingen und Entwicklungen für sie angestoßen wurden. Der Traum wurde so zu einem Orakel und einem wichtigen Instrument im Prozess von Krankheit und Heilung.

Eine Besonderheit in der antiken Literatur zum Traum stellt das Standardwerk »Das Traumbuch« des Artemidor von Daldis dar, der als der bekannteste Traumdeuter seiner Zeit gilt und mit dieser Tätigkeit seinen Lebensunterhalt verdiente. Für ihn besteht der wesentliche Sinn von Träumen darin, Voraussagen über die Zukunft zu erhalten. Jedoch vertritt er auch Grundauffassungen zum Traum, die heute noch Verwendung im therapeutischen Kontext finden. So unterscheidet er zwischen den beiden Kategorien des Traums (enhypnion) und des Traumgesichts (oneiros), wobei letzteres die eigentlich aussagekräftigen Informationen enthält. Das, was Artemidor als herkömmlichen Traum bezeichnet, entspricht am ehesten der Wiedergabe von Tagesresten, wobei diese bei Artemidor vor allem an körperliche Bedürfnisse geknüpft sind, die etwas missverständlich als »Affekte« übersetzt werden: »Es gibt gewisse Affekte, die so geartet sind, daß sie im Schlaf wieder emporsteigen, sich der Seele wieder darbieten und Träume hervorrufen.« (Artemidor, 1979, S. 9). Der Hungrige träume demnach vom Essen, der Durstige vom Trinken, der Liebhaber von seinem Lieblingsknaben. Der Inhalt solcher Träume wirke jedoch im Wachen nicht nach. Bei Traumgesichten hingegen wirke dieses weiter: »nach dem Schlaf aber erweckt und erregt es seiner Natur gemäß die Seele, indem es zu aktivem Handeln antreibt.« (Artemidor, 1979, S. 10). Artemidor stellt ganze Deutungskataloge von Traumsymbolen auf, die auf einem relativ konkretistischen Symbolverständnis gründen, das sehr an die Anfänge der Freudschen Symboldeutung in Träumen erinnert: »Allegorisch sind diejenigen Traumgesichte, die ein Ding durch ein anderes anzeigen, wobei die Seele auf natürliche Weise in ihnen mit verhüllten Anspielungen spricht.« (Artemidor, 1979, S. 11). Er geht aber noch weiter und entwirft eine Kategorisierung in mehrere Klassen von Träumen, in denen sich Konzepte der Analytischen Psychologie wie das der Subjekt- und Objekt-Stufe oder kollektive und archetypische Trauminhalte, die er als »kosmische Traumgesichte« bezeichnet, mühelos wiederfinden lassen.

1.3       Der Traum in Spätantike und christlichem Mittelalter

Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit unsere Träume Ausdruck einer Spannung zwischen Ich-Bewusstsein und unbewussten Inhalten sind, finden wir schon in der Spätantike bei Augustinus (354–430 n. Chr.): »Bin ich dann nicht ich, Herr mein Gott?… Und doch ist ein Unterschied zwischen mir und mir. (…) und ich finde eben wegen dieser Verschiedenheit von mir selbst, daß ich das nicht getan habe, wiewohl es mich schmerzt, daß es gewissermaßen in mir geschehen ist.« (zit. nach von Siebenthal, 1953, S. 78f.). An anderer Stelle fügt Augustinus anlässlich von erotischen Träumen, die er als Versuchung erlebt, die Frage hinzu: »Bin ich denn, Herr, mein Gott nicht auch im Schlafe ich selbst?« (zit. nach Schnocks, 2007, S. 28).

Die Frage, ob wir verantwortlich sind für das, was wir träumen, hat unter Berufung auf Augustinus für Autoren des Mittelalters und der Renaissance mitunter erhebliche Konsequenzen. Im Traktat des Thomas Careña aus dem Jahre 1659 wird Inquisitoren empfohlen, die im Schlaf erhaltenen Träume als Ausdruck dessen anzusehen, »was unter Tags jemand beschäftigt hat«. (von Siebenthal, 1953, S. 79), und sie als Material für die inquisitorische Untersuchung zu verwenden. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie gefährlich es war, in dieser Zeit die oft bizarr wirkenden Inhalte eigener Träume weiterzuerzählen, und wie leicht damit Verurteilungen durch die Inquisition begründet werden können.

Im Mittelalter zeichnet sich die zweigleisige Beurteilung des Wesens der Träume bereits deutlich ab. So wird zwischen natürlichen und übernatürlichen Träumen unterschieden. Vor allem zukunftsgerichtete Träume stammen unmittelbar von Gott oder den Engeln, die schlechten vom Teufel. Der Traumvorgang selbst ist dagegen etwas völlig Natürliches, das mit spekulativen und empirischen Modellen erklärt wird. So beschreibt Albertus Magnus bereits eine Abriegelung der Sinnesorgane im Schlaf, die es ermöglicht, dass sich die virtus imaginativa als eine Fähigkeit zur bildlichen Vorstellung in Gestalt des Traums und als etwas von innen Kommendes entfalten kann (vgl. von Siebenthal, 1953, S. 79ff.). Nicht alle Träume jedoch haben demnach eine übernatürliche Ursache, sie können auch Täuschungen enthalten, mit denen sich das Wachbewusstsein, der Intellekt, auseinandersetzen muss. Hier steht vor allem die Aufgabe der Differenzierung zwischen Imagination und objektivierbarer Wahrnehmung im Wachbewusstsein im Vordergrund. Mit dieser Auffassung beziehen sich Autoren wie Albertus Magnus auf die oben erwähnte Argumentation des Aristoteles und lassen bereits eine Vorbereitung der rationalen Grundhaltung der späteren Aufklärung gegenüber dem Traumphänomen erkennbar werden.

1.4       Der Traum in der Tradition von Aufklärung und Romantik

Wie eng die beiden konkurrierenden Auffassungen von Bedeutsamkeit oder Bedeutungslosigkeit des Traums beieinander liegen, lässt sich in den konträren Haltungen der Aufklärung und der Romantik zum Traum weiterverfolgen.

Interessanterweise stellt ausgerechnet ein Traum die entscheidende Zäsur im Leben René Descartes’ (1596–1650) dar, der als Vertreter des Rationalismus und Vorläufer der Aufklärung wesentliche Grundlagen eines dualistischen Weltbilds mit einer Trennung von Geist und Materie schafft, die noch heute die naturwissenschaftliche Forschung auch der Traumphänomene bestimmt. Descartes hält diesen Traum, den er am 10. November 1619 als Freiwilliger der bayerischen Armee unter General Tilly im Dreißigjährigen Krieg träumt, für so wichtig, dass er sich intensiv mit ihm auseinandersetzt, ihn veröffentlicht und als eine Art Erleuchtungserlebnis empfindet. In diesem Traum offenbare sich ihm der »Geist der Wahrheit« (von Franz, 2002, S. 159), der ihm die »Schätze aller Wissenschaften« zugänglich mache und der zur Grundlage seiner Wissenschaftstheorie wird. Dies hält ihn jedoch nicht davon ab, am Ende seines Lebens Träume als »Schatten der Seele« (Alt, 2011, S. 132) zu bezeichnen, deren Ursache nicht klar erkennbar sei.