Arme kleine Koteß - Hilde Neuhaus - E-Book

Arme kleine Koteß E-Book

Hilde Neuhaus

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Beschreibung

In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkinder" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Ihre Lebensschicksale gehen zu Herzen, ihre erstaunliche Jugend, ihre erste Liebe – ein Leben in Reichtum, in Saus und Braus, aber oft auch in großer, verletzender Einsamkeit. Große Gefühle, zauberhafte Prinzessinnen, edle Prinzen begeistern die Leserinnen dieser einzigartigen Romane und ziehen sie in ihren Bann. »Uff«, machte Elke Sievers und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nach dreistündiger Wanderung war sie auf dem Gipfel des Berges angekommen. Todmüde sank sie auf einen moosbedeckten Felsbrocken und zog ihr Taschentuch heraus, um sich die feuchte Stirn abzuwischen. Als Stadtkind war sie solch anstrengende Fußmärsche nicht gewohnt. Wie man in den Bergen mit der Entfernung irren konnte, das hatte ihr dieser Spaziergang deutlich gezeigt. Zum ersten Mal seit Jahren konnte sie sich Ferien gönnen und sie richtig genießen. Sie hatte ihr Abschlußexamen als Kindergärtnerin gemacht und wollte sich, bevor sie die Stellung in einem staatlichen Kindergarten antrat, erst einmal erholen. rienort, der schon südliches Klima hatte. Zuerst hatte sie sich ein paar Tage ausgeschlafen, aber dann war ihre Abenteuerlust erwacht. In etwas weiterer Entfernung erblickte Elke einen tiefblauen See. Nach Süden hin öffnete sich das Tal. Hier dehnten sich weite Rebenhänge und riesenhafte Obstplantagen aus. Dort, wo das Gebirge etwas zurücktrat, lag auf einem felsigen Vorsprung ein Schloß, dessen Anblick Elke schon bei ihrer Ankunft seltsam entzückt hatte. Von hier oben konnte man erst erkennen, wie groß es war und welch ein Gelände sich an seiner Rückfront anschloß. Wer mochte in diesem schönen Schloß wohnen? Elke geriet ins Träumen! Plötzlich begann es zu regnen. Zuerst ganz zaghaft. Dazwischen zuckten vereinzelte Blitze auf, denen Donnerschläge folgten.

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Seitenzahl: 151

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Fürstenkinder – 55 –

Arme kleine Koteß

Hilde Neuhaus

»Uff«, machte Elke Sievers und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nach dreistündiger Wanderung war sie auf dem Gipfel des Berges angekommen. Todmüde sank sie auf einen moosbedeckten Felsbrocken und zog ihr Taschentuch heraus, um sich die feuchte Stirn abzuwischen. Als Stadtkind war sie solch anstrengende Fußmärsche nicht gewohnt. Wie man in den Bergen mit der Entfernung irren konnte, das hatte ihr dieser Spaziergang deutlich gezeigt.

Zum ersten Mal seit Jahren konnte sie sich Ferien gönnen und sie richtig genießen. Sie hatte ihr Abschlußexamen als Kindergärtnerin gemacht und wollte sich, bevor sie die Stellung in einem staatlichen Kindergarten antrat, erst einmal erholen. Seit acht Tagen war Elke in dem schönen Fe-

rienort, der schon südliches Klima hatte.

Zuerst hatte sie sich ein paar Tage ausgeschlafen, aber dann war ihre Abenteuerlust erwacht.

In etwas weiterer Entfernung erblickte Elke einen tiefblauen See. Nach Süden hin öffnete sich das Tal. Hier dehnten sich weite Rebenhänge und riesenhafte Obstplantagen aus. Dort, wo das Gebirge etwas zurücktrat, lag auf einem felsigen Vorsprung ein Schloß, dessen Anblick Elke schon bei ihrer Ankunft seltsam entzückt hatte.

Von hier oben konnte man erst erkennen, wie groß es war und welch ein Gelände sich an seiner Rückfront anschloß.

Wer mochte in diesem schönen Schloß wohnen? Elke geriet ins Träumen!

Plötzlich begann es zu regnen. Zuerst ganz zaghaft. Dazwischen zuckten vereinzelte Blitze auf, denen Donnerschläge folgten. Elke rannte jetzt, so gut sie es auf diesem unebenen Pfad vermochte. Ihr Atem ging keuchend. Ab und zu blieb sie stehen, um kurz zu verschnaufen. Leichtsinnigerweise hatte sie weder an einen Regenmantel noch an festes Schuhwerk gedacht, als sie aufgebrochen war.

Der Regen wurde jetzt heftiger, und bald rieselten kleine Bäche über Elkes Gesicht.

Das Schloß kam jetzt immer näher. Es wirkte gewaltig in seiner Größe. Dieses große Schloß ist meine Rettung, dachte Elke. Auch wenn man sie nicht hineinließ, würde sie unter einem Torbogen bestimmt einen Unterschlupf finden.

Plötzlich schreckte Elke von einem Geräusch zusammen. Es hatte wie ein Schrei geklungen. War es die Stimme eines Menschen oder die eines Tieres gewesen?

Aber aus welcher Richtung kam die Stimme? Elke spähte nach allen Seiten. Sie rief ein paar Worte in den Regen hinein. Sie bekam Antwort. Kläglich und zitternd war der Hilferuf.

Jetzt wußte Elke, aus welcher Richtung der Ruf kam. Mit wenigen Schritten war sie an einer Gesteinsnische, sie sah ein helles Kleidchen und die zitternden Ärmchen eines Kindes, die sich am Stamm einer Zwergkiefer festhielten.

»Ich komme!« rief Elke. Vorsichtig tastete sie sich zu dem Kind hin. Es war genauso durchnäßt wie sie selber. Das Gesicht eines süßen kleinen Mädchens sah ihr entgegen. In zwei schwarzen Kulleraugen stand die nackte Angst, und das ebenso schwarze Gelock war vom Regen durchtränkt und hing wirr ins Gesicht.

Elke hatte mit einem raschen Griff den kleinen Körper erfaßt. Sie nahm das wimmernde Kind fest in ihre Arme. Schutzsuchend klammerte es sich an ihr fest. Sekundenlang stand Elke wie betäubt da, weil wieder ein greller Blitz aufgezuckt war, dem krachende Donnerschläge folgten. Hier konnte sie nicht stehenbleiben, denn sie begann auf dem abschüssigen Gelände zu rutschen. Sie hielt das weinende Mädchen fest an sich gepreßt. Eine Hand mußte sie freimachen, um sich an dem krummen Stamm der Zwergkiefer hochzuziehen und den Pfad wieder zu erreichen. Nach heftigster Anstrengung glückte es, keuchend stand Elke wieder auf dem Pfad. Sie wollte die Kleine zur Erde niederlassen, aber als deren Fuß den Boden erreichte, schrie sie auf.

Ein eisiger Schreck durchzuckte Elke. War das Kind etwa verletzt? Sie blickte zu dem Fuß. Das Gelenk war angeschwollen. Sie mußte das Kind also tragen. »Gleich sind wir da«, stammelte Elke erregt. »Halte dich fest an mir, im Schloß finden wir Unterschlupf. Sei ganz brav, es geschieht dir gar nichts. Ich bin bei dir und helfe dir. Bist du allein hier?«

Die Kleine nickte schluchzend. Sie brachte kein Wort hervor. Anscheinend war ihr der Schreck in die Glieder gefahren und der Schmerz im Fuß so stark, daß sie nicht sprechen konnte.

Elke war so tief beeindruckt von dem Anblick des Schlosses, daß sie einen Augenblick an der Eisenpforte zögerte. Im nächsten Augenblick kam aus dem Hauptportal eine junge Frau in der Tracht einer Schwester. Sie hatte Elke und das Kind sofort erspäht. Ungeachtet des Regens stürzte sie Elke entgegen.

»Komteß«, schrie sie, »um Himmels willen! Komteß Sissy, wo steckst du denn, Kind? Ich habe dich überall gesucht.«

Die Stimme hatte einen schrillen, unangenehmen Klang. Die Kleine in Elkes zitternden Armen wandte nur unwillig den Kopf, um ihr Gesicht gleich wieder an Elkes weiche Schulter zu lehnen.

Ohne Elke auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, riß die Schwester Elke die Kleine buchstäblich aus den Armen. Das Kind schrie auf, und es sah so aus, als wolle die kleine Hand in das Gesicht der Schwester schlagen, aber sie hatte wohl nicht mehr die Kraft dazu. Die Schwester redete unaufhörlich auf sie ein und hastete mit dem Kind dem Schloß zu.

Elke stand wie angewurzelt. Sie begriff kaum, was vor sich ging. Da die schmiedeeiserne Pforte vorne in einem breiten Steinbogen überdacht war, hatte sie wenigstens etwas Schutz vor dem strömenden Regen. Fassungslos starrte sie der Schwester nach, die bald im Innern des Schlosses verschwunden war.

Elke wollte noch einige Minuten warten und dann den Weg hinunter ins Tal antreten. Das Gewitter hatte die Wärme des Tages nicht vertreiben können, sonst hätte sich Elke längst eine Erkältung zugezogen.

Sie starrte zum Schloß hin. Nichts rührte sich, man hatte sie offenbar schon vergessen. Die Kleine wurde sicher mit so viel Liebe betreut, daß sie nicht mehr an Elke dachte.

Während Elke noch darüber nachdachte, spielte sich im Schloß eine heftige Szene ab.

In einem Salon saß, in einen tiefen, bequemen Sessel gebettet, eine junge Frau. Sie mußte einmal sehr schön gewesen sein, als sie noch gesund war. Aber von dieser Schönheit waren nur noch Spuren zu erkennen. Das Gesicht war schmal und eingefallen, die Wangen totenblaß und die Lippen blutleer. Nur die blauen Augen hatte noch etwas Glanz und erinnerten daran, daß diese Frau einmal voll blühender Lebensfreude gewesen war.

Die junge Frau lauschte angestrengt zur Tür hin. Ihr abgezehrter Körper zitterte vor Erregung.

»Sissy!« entrang es sich den blutleeren Lippen der Frau. »Mein Kind, bist du da?«

Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet, und die Schwester kam keuchend herein. Ihr Gesicht war wutverzerrt, und ihre Arme hatten die Kleine fest an sich gepreßt.

»Olga«, schrie die junge Frau im Sessel, »wo haben Sie Sissy gefunden? Mein Gott, Kind, wo warst du? Ich bin fast gestorben vor Angst! Fehlt dir etwas? Bist du verletzt? Oh, mein Kleines, warum weinst du?«

»Das Fräulein«, jammerte Sissy, »sie steht draußen im Regen. Bitte, sie soll hereinkommen! Bitte, Mutti.«

Die junge Frau reckte sich. »Welches Fräulein? Von wem sprichst du, mein Kind? War da jemand, Schwester Olga?«

Die Schwester ließ Sissy auf einer Liege nieder.

»Die Komteß ist verletzt. Anscheinend eine Prellung oder Sehnenzerrung. Der rechte Fußknöchel ist geschwollen. Wir müssen gleich einen Doktor anrufen. Du mußt ganz ruhig liegen«, befahl sie der kleinen Komteß in strafendem Ton.

Ein zorniger Blick der Komteß traf sie. »Holen Sie das Fräulein herein. Sie soll nicht im Gewitter stehen. Mutti, bitte befiehl es Schwester Olga.«

Schwester Olga wandte sich an die junge Frau. Ein geringschätziges Lächeln spielte um ihre Züge.

»Ein fremdes Mädchen, Frau Gräfin. Sie hatte die Komteß auf dem Arm. Anscheinend hat sie das Kind entdeckt. Wahrscheinlich ist sie bereits auf dem Rückweg. Ich war so in Aufregung, daß ich mich unmöglich auch noch um fremde Leute kümmern konnte. Ich mußte zusehen, daß ich die Komteß ins Haus brachte.«

Die junge Gräfin maß die Schwester mit einem vorwurfsvollen Blick. »Sie hatten den ausdrücklichen Befehl, sich heute nachmittag um Sissy zu kümmern. Wie ist es möglich, daß Sissy unbemerkt das Schloß verlassen konnte? Sie haben sträflich leichtsinnig gehandelt.«

Schwester Olga wurde rot, sie hatte eine Entgegnung auf der Zunge, aber die Gräfin schnitt ihr mit einer hastigen Bewegung das Wort ab. »Bitte, rufen Sie sofort den Arzt an! Er möchte sofort kommen. Und dieses fremde Fräulein rufen Sie bitte herein. Ich möchte hören, wo sie Sissy gefunden hat. Selbstverständlich wäre es Ihre Pflicht gewesen, sie sofort mit hereinzubringen, anstatt sie draußen im Unwetter stehenzulassen.«

»Das Fräulein war so lieb zu mir, Mutti«, sagte Sissy mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Nun war nichts mehr zu machen. Olgas Gesicht blieb undurchdringlich, als sie auf Elke zutrat und sie ins Schloß bat. »Die Frau Gräfin möchte Sie einen Augenblick sprechen«, sagte Olga eisig. »Ich möchte Sie aber bitten, Ihren Besuch so kurz wie nur möglich zu halten, denn Gräfin Modena ist sehr krank. Da ich die Pflegerin der Gräfin bin, muß ich darauf achten, daß der Gesundheitszustand der Gräfin sich nicht durch fremde Besucher verschlechtert. Fassen Sie sich also kurz. Sie haben eine kleine Komteß entdeckt und hierhergeleitet. Weitere Einzelheiten können Sie sich ersparen, ich habe der Gräfin bereits das Nötige gesagt.«

Was habe ich dieser Schwester nur getan, durchzuckte es Elke. Sie kennt mich doch überhaupt nicht.

Vor einer breiten Tür hielt die Schwester einen Augenblick an. Es war, als ob sie lauschen würde, ehe sie anklopfte. Von drinnen erscholl ein leises »Herein«. Elkes Herz schlug in dumpfer Erregung.

Die Schwester öffnete und ließ Elke eintreten.

Elkes Blick fiel sofort auf die abgezehrte Gestalt der Gräfin im Sessel. Heißes Mitleid durchströmte Elke bei diesem Anblick. Diese Gräfin hatte ein herrliches Schloß, ein entzückendes Kind und Dienerschaft ringsumher. Und doch war sie nicht glücklich trotz allen Reichtums. Elke hatte bis zu dieser Minute die Besitzer des herrlichen Schlosses beneidet, nun fühlte sie nur noch grenzenloses Mitleid. Um wirklich keinen Preis der Welt hätte sie mit dieser kranken Frau getauscht.

Elke machte unwillkürlich einen leichten Knicks. Die Schwester ging zu einem Sofa, und jetzt entdeckte Elke die kleine Komteß, die, in warme Decken gehüllt, dort lag. »Dies ist das liebe Fräulein!« rief die Komteß und deutete auf Elke. »Sie hat mich vom Felsen geholt, sonst wäre ich heruntergefallen.«

Die Gräfin lächelte Elke zu. »Sie sind ja ganz durchnäßt«, sagte sie besorgt. »Bitte, zuerst müssen Sie die nassen Sachen ausziehen. Sie werden eine Erkältung bekommen.« Die Gräfin drückte erregt auf einen Klingelknopf. Schwester Olga wandte sich um. »Das Fräulein wollte gerade hinunter in den Ort. In zehn Minuten hat sie es geschafft. Oder aber man könnte sie hinunterfahren.«

Die Gräfin hörte kaum hin. »Ich möchte mit dem Fräulein sprechen. Aber erst, wenn sie trockene Sachen bekommen hat.«

Elke wurde in ein komfortabel eingerichtetes Badezimmer geführt. Das heiße Wasser lief bereits in die Wanne. Man reichte ihr einen Bademantel und nahm ihr die nassen Kleidungsstücke ab. Sie wurden sofort an einem elektrischen Heizofen getrocknet, so daß Elke sie nach einer halben Stunde bereits wieder anziehen konnte. Das warme Bad hatte ihre Lebensgeister wieder geweckt. Kaum hatte sie sich wieder angezogen, da erschien bereits die Dienerin und führte sie in den Salon der Gräfin zurück. Dort stand heißer Kaffee und Gebäck für Elke bereit.

Die kleine Komteß war nicht mehr im Raum. Elke warf einen kurzen enttäuschten Blick auf den Diwan, auf dem die kleine Sissy noch vor einer halben Stunde gelegen hatte. Die Gräfin erriet ihre Gedanken. »Der Arzt war da«, erklärte sie. »Er hat eine Prellung des Fußknöchels festgestellt. Sissy wurde auf ihr Zimmer gebracht. Sie hat noch ein paarmal nach Ihnen gefragt. Ach, wie sollen wir Ihnen das danken? Darf ich Ihren Namen erfahren?«

Elke errötete. Sie stellte sich vor und erzählte der Gräfin, daß sie im nahen Kurort ihre Ferien verbringe. Sie fügte hinzu, daß sie Kindergärtnerin sei und vor einigen Wochen ihr Examen gemacht habe.

Die Gräfin schien sehr interessiert. Elke bemerkte, daß die Augen der Gräfin voller Wohlwollen auf ihr ruhten.

Die Tür öffnete sich, und wie ein dunkler Schatten huschte die Schwester wieder herbei. Mit einem unmißverständlichen Blick bedeutete sie Elke, daß es jetzt allerhöchste Zeit sei, ihren Besuch zu beenden. Sie ging auf die Gräfin zu und fragte besorgt, ob ihr das Sprechen nicht zu anstrengend wäre.

»Nein, nein«, wehrte die Gräfin mit einem matten Lächeln ab, »ich bin froh, einmal einen neuen Menschen kennenzulernen. Außerdem verdanken wir Fräulein Sievers die Rettung Sissys.«

Die Gräfin wandt sich wieder an Elke. »Bitte, kommen Sie uns doch in den nächsten Tagen wieder besuchen. Sissy wird sich darüber freuen. Und ich auch«, fügte sie hinzu.

Elke dankte gerührt. Sie erhob sich und verabschiedete sich mit einem herzlichen Händedruck von der Gräfin. Sie versprach, in den nächsten Tagen nach der kleinen Patientin zu sehen, und wünschte der Komteß eine baldige Genesung.

Die Schwester führte Elke mit starrem Gesicht hinaus und gab ihr kurz und flüchtig die Hand.

»Ich merke der Frau Gräfin an, daß sie das Reden zu sehr angestrengt hat«, sagte sie tadelnd zu Elke. »Sie brauchen nicht extra noch einmal herzukommen. Ein Anruf nach dem Befinden der Komteß genügt vollständig.«

Damit ließ sie Elke vor dem Portal stehen und eilte zurück ins Schloß.

*

Eine dunkle Limousine glitt langsam die Serpentinen des Berges hinauf und bog fast lautlos in die breite Einfahrt zu Schloß Felsenstein ein.

Der dunkellivrierte Chauffeur sprang aus dem Wagen und öffnete den hinteren Wagenschlag.

Ein schlanker dunkelhaariger Mann stieg aus dem Fond. Er trug einen grauen Straßenanzug und hatte eine Ledermappe in der Hand. Mit einem Kopfnicken dankte er dem Chauffeur, der sich wieder in den Wagen setzte und zur nahegelegenen Garage fuhr.

Der Herr ging mit elastischen Schritten auf das Schloß zu.

Graf Carlos Modena suchte sofort die Terrasse auf. Es war ein merkwürdiges Bild, wie der schlanke, sehnige Mann auf die bleiche, abgezehrte Frau zuging, die ihm mit großen leuchtenden Augen entgegensah. »Carlos«, hauchte die Gräfin, »wie schön, daß du einen Tag früher zurückkommst, als du angekündigt hast!«

Graf Modena beugte sich über die schmale Hand seiner Gattin und drückte einen innigen Kuß darauf. »Ich hatte keine Ruhe in Rom«, sagte er. »Meine Forschungsarbeit konnte ich schneller zum Abschluß bringen, als ich annahm, und so hielt mich nichts mehr, liebste Natalie. Wie fühlst du dich? Was sagt Dr. Felge? Ist er zufrieden mit dir? Und wo ist unser Liebling? Sicher bei dem herrlichen Sonnenschein draußen im Garten. Ich sah sie allerdings nicht. Sonst ist sie doch bei der Ankunft meines Wagens sofort zur Stelle.«

Die Gräfin hielt mit beiden Händen die Rechte ihres Mannes. Sie strich immer wieder zärtlich darüber hinweg.

»Wie besorgt du um mich bist, Liebster«, flüsterte sie. »Es geht mir gut. Wenn du da bist, dann ist mir gleich viel besser. Aber Sissy – unser Liebling hat sich ein wenig verletzt.«

Graf Modena wurde blaß. »Wie konnte das geschehen? Wo ist sie? Hat man sie ohne Aufsicht gelassen? Wozu bezahle ich ein Dutzend Angestellte, wenn man nicht auf mein einziges Kind aufpassen kann?«

Zornesröte stieg in das gutgeschnittene Gesicht des Grafen.

»Beruhige dich, Carlos, bitte. Es ist nicht so schlimm. Sie hat sich etwas vom Schloß entfernt und sich am Fuß verletzt. Es ist gleich nach dem Arzt gerufen worden. Durch ein schweres Gewitter konnte Sissy nicht weiter und blieb hilflos liegen. Ein fremdes deutsches Mädchen hat sie gefunden und mit großer Mühe hierhergebracht.«

Erregt hörte der Graf zu. Er küßte seiner Gattin die Hand und sprang auf. »Ich werde zu Sissy gehen«, sagt er.

In diesem Augenblick kam Schwester Olga auf die Terrasse. Sie trug ein Tablett mit Tee und der Medizin für die Gräfin. Ihre Augen umfaßten die Gestalt des Grafen mit einem kurzen, aber tiefen Blick.

Der Graf wandte sich ihr zu und beantwortete ihren Gruß mit einem leichten Kopfnicken. Auf seiner Stirn stand jedoch eine leichte Unmutsfalte.

»Wie ist es möglich, daß meine Tochter ohne Aufsicht das Schloß verlassen konnte und sich verirrt hat?« fragte er die Schwester. »Wenn ich mich recht entsinne, habe ich Sie bei Ihrer Einstellung vor zwei Jahren mit der Pflege meiner Gattin und der Betreuung Sissys betraut.«

»Ich – ich…«, stammelte die Schwester mit hochrotem Kopf, »ich hatte gerade die Frau Gräfin umgebettet und konnte daher für eine halbe Stunde nicht nach der Komteß sehen. Sie muß sich heimlich davongeschlichen haben. Selbstverständlich wird so etwas nicht wieder vorkommen.«

»Ich will es hoffen«, sagte der Graf kühl. Er ging zur Tür, drehte sich aber dort noch einmal um. Etwas freundlicher sagte er zu Schwester Olga: »Wenn es Ihnen zuviel wird, Schwester, dann werden wir für Sissy eine Kinderschwester engagieren. Sie brauchen es nur zu sagen. In erster Linie sind Sie natürlich für das Wohlergehen der Gräfin verantwortlich.«

»Nein, nein, es wird mir nicht zuviel«, beeilte sich Schwester Olga zu erklären. »Ich mache das alles wirklich mit großer Liebe und Freude.«

Sie bemühte sich, ein opferwilliges Gesicht zu machen. Ihre Augen hingen an der Gestalt des Grafen, als würden sie sich nicht von dem Anblick dieses schönen Mannes losreißen können.

»Nun gut«, sagte der Graf und verschwand, nachdem er seiner Gattin noch einmal einen liebevollen Blick zugeworfen hatte.

»Papa«, rief Komteß Sissy außer sich vor Freude und streckte ihrem Vater beide Arme entgegen. »Lieber Papa, ich bin so froh, daß du wieder zu Hause bist. Ich hatte großes Heimweh nach dir.«

»Mein Liebling!« Mit diesen Worten beugte sich Graf Carlos über die zarte Gestalt seines Kindes.

»Wie konntest du allein das Schloß verlassen, Sissy! Ich kann ja nicht mehr wegfahren, ohne in Sorge um dich zu sein. Das darfst du nie wieder tun. Was war denn so interessant da draußen, daß du den schönen großen Garten unseres Schlosses verlassen mußtest?«