Armin - Der Freiheitsschlag des Donarhammers - Marcus Büstrin - E-Book

Armin - Der Freiheitsschlag des Donarhammers E-Book

Marcus Büstrin

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Beschreibung

Armins Leben wird geprägt vom Kampf für die Freiheit seiner Heimat. Es ist die Heimat unserer germanischen Vorfahren, wo Sitten und Gebräuche, vollzogen durch kultisch-mystische Handlungen, den Leser verzaubern und schockieren; und an geheimnisvoll-märchenhafte Schauplätze einer anderen, längst vergessenen Welt entführen. Gelingt es Armin, die erkämpfte Freiheit der germanischen Stämme zu verteidigen? Schafft er es, seine große Liebe Thusnelda aus den Fängen des verhassten Schwiegervaters zu befreien? Die packende Story über Krieg und Liebe findet schließlich ein dramatisches Ende!

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Varus Legionen wurden von den germanischen Stammeskriegern vernichtend geschlagen!

Der junge Heerführer Armin weiß allerdings, dass das Imperium sich diese Niederlage nicht gefallen lassen wird!

Kaiser Augustus und sein Adoptivsohn Tiberius rekrutieren bereits eine gewaltige Armee!

Wird Armins Koalition der höchst unterschiedlichen Germanenstämme halten? Und werden sie es schaffen, der Bedrohung aus dem Westen standzuhalten?

Doch zunächst muss der letzte römische Vorposten, der noch immer wie ein Stachel im befreiten Germanien steckt, vernichtet werden….

Inhaltsverzeichnis

1. Teil: Bewährungsprobe für Freiheit und Liebe, 10 – 14 A.D

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

2. Teil: Der Adler schlägt zurück, 14 – 16 A.D

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

X. Kapitel

XI. Kapitel

XII. Kapitel

XIV. Kapitel

XV. Kapitel

XVI. Kapitel

3. Teil: Kampf um die Krone Germaniens, 17 – 18 A.D

XVII. Kapitel

XVIII. Kapitel

XIX. Kapitel

XX. Kapitel

XXI. Kapitel

XXII. Kapitel

XXIII. Kapitel

4. Teil: Das Ende, 19 – 21 A.D

XXIV. Kapitel

Nachwort

Danksagungen und Quellenangaben

Liste historischer und fiktiver Personen

1. Teil:

Bewährungsprobe für Freiheit und Liebe, 10 – 14 A.D.

I. Kapitel

Es ist Spätherbst, im Jahr nach dem großen Sieg gegen Varus Armee.

Die Nächte werden zunehmend länger und die Tage kälter.

Mittlerweile wurden die Ernten eingeholt, hauptsächlich von den Frauen, Kindern und Alten, da die germanischen Männer wieder einmal in den Krieg zogen! Die Ernteerträge fielen dieses Jahr eher mäßig aus, die Menschen haben gerade genug zum Überleben! Hätte Varus auch in diesem Jahr seine Steuereintreiber in die Dörfer geschickt, wäre garantiert eine Hungersnot ausgebrochen! Man ist also erleichtert, die Römer losgeworden zu sein, fürs Erste!

Asprenas hat inzwischen seine zwei Legionen an den Stützpunkten am Rhein entlang verteilt. Die meisten Männer wurden in der Castra Vetera konzentriert, da diese Stelle als wunder Punkt gilt und das Kastell das größte am Niederrhein ist. Hier oder in der nahen Umgebung rechnet der Legat am ehesten mit Germanenüberfällen.

Die Soldaten sollen in Vetera überwintern und die nördliche Rheingrenze schützen, sie übernehmen somit die Aufgabe der drei untergegangenen Legionen.

Natürlich stehen Asprenas durch den einschneidenden Verlust der Varuslegionen nun wesentlich weniger Männer zur Verfügung! Sorge bereitet dem Legaten auch, dass durch den Abzug der Truppen aus Mogontiacum die Chatten die Gunst der Stunde nutzen könnten und in das weniger geschützte Gebiet um die Mainmündung einfallen. Für den neuen Oberbefehlshaber in Germanien bleibt es ein schwieriges Abwägen mit knapper gewordenen Ressourcen.

Die Nerven der römischen Wachposten sind angespannt! Seit Wochen gilt ständiger Bereitschaftsdienst! Gebannt schauen die Männer über den Rhenus, ständig damit rechnend, laut brüllende Barbarenhorden zu sichten, die zu Zehntausenden auf das Flussufer zustürmen, es im Handumdrehen überwinden und unaufhaltsam auf die Römerfestung anrennen!

Die Bogenschützen sind permanent in Alarmbereitschaft, sie haben genügend Pfeile griffbereit! Doch bei der zu erwartenden Masse an Feinden hätten sie kaum eine Chance, sie alle aufzuhalten!

Manchmal sichten die beunruhigten Wachen Feuer in der Ferne, und bei günstigem Wind sind sogar Schreie auszumachen. Dann wurden wohl wieder römische Kameraden oder sogar Zivilisten von rachsüchtigen Rebellen ausgeraubt und gelyncht! Fortuna sei Dank, ließ sich bisher allerdings noch kein Feind auf dem Vorfeld des rechten Rheinufers blicken.

Asprenas ist jetzt als Oberbefehlshaber für sämtliche Truppen in Gallien und Germanien zuständig.

Nach langem, zermürbenden Warten erhält er endlich die erhoffte Nachricht aus Rom, in der ihm mitgeteilt wird, dass Marbod zu seinem Bündnis hält und sich nicht mit Arminius verbünden wird! Außerdem hat Tiberius zugesichert, dass er zeitig im Frühjahr, sobald es die Witterungsverhältnisse zulassen und er genügend Männer zur Verfügung haben wird, mit einer gewaltigen Heer anrücken wird. Sie soll sechs Legionen stark sein, das sind doppelt so viele, wie Varus zur Verfügung standen!

Asprenas ist natürlich erleichtert - nun gilt es, die nächsten Wochen und Monate durchzuhalten! Es ist nicht auszuschließen, dass die germanischen Rebellen auch im Winter angreifen werden! Kälte und Schnee machen ihnen wenig aus, Hauptsache der Vorrat an Met und Bier geht nicht aus! Und falls es richtig kalt werden sollte, und der Rhenus sogar zufriert, wird die Situation noch gefährlicher werden, denn dann könnte die Barbarenmeute wesentlich einfacher und schneller die Grenze überqueren und verheerend zuschlagen!

In Rom geht es paradoxerweise weitaus weniger friedlich zu wie zur selben Zeit im kalten, germanischen Norden! Die Überlieferungen von den barbarischen Horden der Kimbern und Teutonen, die vor über 100 Jahren eine Legion nach der anderen schlugen, wütend und mordend durchs Reich zogen und sogar bis nach Italien vordrangen, werden den Menschen nun wieder allgegenwärtig!

Die Lage hat sich zwar inzwischen einigermaßen beruhigt, doch aus der Angst der Menschen wird nun Wut und Verärgerung! Zunächst gegen die germanischen Rebellen, aber zunehmend auch gegen die römische Obrigkeit, insbesondere gegen den Kaiser!

Der Frust der Bevölkerung ist nachvollziehbar, denn auf dem Marsfeld werden massenhaft Hinrichtungen verübt!

Es sind römische Bürger, die die für sie übliche Todesstrafe erhalten.

Der Speculatores, ein ausgebildeter Scharfrichter, wird vom Pöbel ausgebuht! Mit einem gezielten Schlag ins Genick enthauptet der Henker einen jungen Mann nach dem anderen!

Es rollen buchstäblich die Köpfe! Mütter weh leiden vor Kummer – Ehefrauen weinen vor Schmerz – der wütende Mopp brüllt vor Zorn! Denn die Verfemten sind weder Mörder, noch Vergewaltiger oder sonstige Schwerverbrecher!

Sie haben sich offiziell der Untreue gegen Staat und Kaiser schuldig gemacht! Das Volk ist verärgert, Aufruhrstimmung macht sich breit!

Überall skandiert es: „Wir sind das Volk! Schluss mit den Hinrichtungen!“ Die Prätorianer haben alle Hände voll zu tun, die tobende Menge zurückzuhalten, noch sind sie Herr der Lage!

Tiberius betritt das Gemach des Kaisers. Der Feldheer benötigt unbedingt seine sechs Legionen, um im Frühjahr angemessen gegen die Germanen vorzurücken zu können! Die XIII., XIV.

und sein ganzer Stolz, die XX. sind nun durch den Sieg im Illyricum frei geworden. Aus Rätien, also aus der westlichen Alpenregion, wird er die XXI. an den Rhenus beordern. Aus Spanien folgt die II. Legion. Allerdings ist nun das Kontingent der Truppenverlagerungen vollständig ausgeschöpft, ansonsten würde an einer anderen Stelle im Imperium ein gefährliches Sicherheitsvakuum entstehen! Es fehlt also noch eine ganze Legion - das sind 6.000 Mann! 6.000 Mann, die sich der Caesar nicht einfach aus den Fingern saugen kann!

Tiberius steht wie gewohnt steif vor seinem Stiefvater. Dieser lässt sich noch immer Bart und Haupthaar wachsen - ob noch als Trauerritual oder als Zeichen beginnender Verwirrtheit, lässt sich selbst für seinen Stiefsohn nicht ausmachen.

Augustus Frau Livia, die Mutter Tiberius, ist völlig fertig! Ihr Mann entfremdet sich zunehmend von ihr und der Gesellschaft. Besonders die jüngsten Entscheidungen ihres Mannes machen sie rasend vor Wut!

Entrüstet schimpft sie auf ihren Ehemann ein und liest ihm ordentlich die Leviten. „Nun lässt du auch schon unschuldige römische Bürger enthaupten! Selbst der dir sonst so gehörige Senat hat dich diesmal scharf kritisiert! Du bist eindeutig zu weit gegangen!“ Insgeheim kann sie es nicht erwarten, dass endlich ihr Sohn Tiberius die Thronfolge antreten wird! Aber noch lebt Augustus!

Und er ist verärgert, richtig verärgert. Ohne auf seine Frau einzugehen, poltert der Imperator drauf los. „Es ist eine Schande, dieser undankbare Pöbel! In den letzten Jahren, nein Jahrzehnten habe ich dem römischen Volk Reichtum, Ruhm und Ehre zurückgegeben! Es wurden öffentliche Gebäude, wie Schulen, Thermen, Tempel, Gärten und Bibliotheken errichtet!

Alles für mein geliebtes Volk! Glaubt der Pöbel, dass alles gibt es umsonst!? Nun, wo ich sie brauche, verweigern sie sich! Sie verweigern sich einfach! Was soll ich denn tun?!“ In die wütende Stimme des alternden Princeps mischt sich Frust und Hilflosigkeit.

Nach einer Weile des Schweigens, seufzt der Kaisers tief. Er wendet sich an seinen Stiefsohn. „Und, haben die Hinrichtungen etwas bewirkt? Haben sich nun endlich genug Rekruten für deine Legion gefunden?“

Tiberius schüttelt den Kopf. „Auch das hat sie nicht überzeugen können! Die Menschen lassen sich lieber in Rom hinrichten, als sich ehrenvoll für Kaiser und Vaterland in der Legion zu opfern – für viele ist die Aussicht dort zu überleben, kaum größer!“ In der Stimme des Feldherrn liegt Verbitterung.

„Du hast jedem Fünften unter 35 und jedem Zehnten über 35 das Vermögen und das Bürgerrecht entzogen - du hast sogar römische Bürger hinrichten lassen, doch nichts hat genützt!

Die Zahl der Rekrutierungen ist erschreckend gering. Es sind nur wenige Hundert, die sich zum Dienst meldeten! Es ist eine Schande!“

Die beiden Caesaren sind höchst unterschiedlich, doch in diesem Punkt sind sie sich einig. Sie haben beide kein Verständnis, für die ihrer Meinung nach feigen Haltung des verweichlichten römischen Volkes, das sich vor dem Kampf drückt!

Die in relativ sicheren Verhältnissen lebenden römischen Bürger haben sich zu weit entfernt von der Wirklichkeit im Militärdienst! Seit Ewigkeiten wurde kein Römer mehr gezwungen Dienst in den Legionen zu verrichten. Noch vor Jahren, vor dem Aufstand in Dalamtien und Panonien gab es nie Nachwuchsprobleme. Es haben sich immer genügend Freiwillige gemeldet! Doch nun möchte sich keiner von germanischen Horden im kalten Norden abschlachten lassen, so wie es den über 15.000 Legionären der Varustruppe erging!

Der einst so beliebte Dienst in den Legionen ist unpopulär geworden.

Die Menschen haben hier in Rom ihr mehr oder weniger geregeltes Einkommen und ihre Familie – sie leben fernab von Krieg und Gewalt, kaum einer wird freiwillig seine gesicherte Existenz gegen 20 Jahre gefährlichen Zwangsdienst in der Berufsarmee eintauschen, nicht einmal die Armen in den Insulaesiedlungen! Die römische Gesellschaft ist vor allem eine Zivilgesellschaft, ihr Reichtum beruht auf der Ausbeutung anderer Menschen und Ressourcen!

Tiberius wird konkret. „Die Veteranen werden nicht ausreichen, die Lücken in der Legion zu füllen! Wir können aber die römischen Bürger nicht weiter hinrichten, sonst gibt es einen Aufstand!“

Augustus ist ratlos. „Was schlägst du vor, mein Sohn?“

Tiberius seufzt. „Wir kommen nicht um eine Rekrutierung der Sklaven herum!“

Augustus Miene verfinstert sich. Sklaven sind in der römischen Gesellschaft weniger Wert als Vieh - sie sind völlig rechtlos und ausschließlich der Willkür ihres Herren ausgeliefert! Sofern sie nicht halbwegs Glück haben, und so wie Adelheid und Adelgund als Haussklaven einigermaßen unbehelligt leben können, sind sie Todgeweihte, die in Ketten ihr jämmerliches Dasein fristen! Sie werden nur ernährt, damit sie nicht sterben! Besonders hart trifft das Los die Arbeitssklaven, die auf den riesigen römischen Latifundien, den landwirtschaftlichen Großbetrieben, schuften müssen! Für diese Menschen, die schlechter behandelt werden wie Tiere, wäre der Dienst in der römischen Legion eine wahre Erlösung!

Augustus rauft sich seine grauen Haare, die in den letzten Wochen nicht nur länger, sondern noch bleicher geworden sind. In seiner Stimme schwebt das blanke Entsetzen. „Bei Jupiter, nun sollen unsere stolzen römischen Legionen sogar schon von Wilden und Entrechteten gebildet werden! Wie konnte es nur soweit kommen?! Wie konnte es nur soweit kommen?!“ Der greise Herrscher ist völlig fertig.

Tiberius nickt. „Ja, es ist eine Schande! Aber es nützt nichts, woher soll ich die Männer sonst nehmen?!“

Kaiser Augustus wird in der morgigen Senatssitzung das Ende der Hinrichtungen römischer Bürger und der Zwangsrekrutierungen verkünden! Diese Entscheidung wird von der gesamten Bevölkerung mit großer Erleichterung und Genugtuung aufgenommen werden!

Die Lücken in Tiberius Armee werden also hauptsächlich von freigelassenen Sklaven und vom großstädtischen Pöbel Roms zwangsweise gefüllt - so in etwa wird es der Autor Tacitus rund einhundert Jahre später süffisant in seine Annalen niederschreiben!

Der Winter hält Einzug.

In Armins Truppe breitet sich langsam Lagerkollaps aus! Noch immer belagern sie hartnäckig das Römerkastell Alisio, das nach der verheerenden Varusniederlage den letzten römischen Stützpunkt östlich des Rheins bildet.

Der Heerführer muss diesen feindlichen Keil mitten in Germanien unbedingt zerstören! Doch er hat noch immer keinen plausiblen Plan.

Dazu geht ihm die ständige Sauferei und Prügelei seiner Kameraden gehörig gegen den Strich! Die Männer haben Langeweile! Ein Germane versteht sich nicht aufs Belagern.

Er will kämpfen, Auge um Auge mit seinem Feind. Allerdings scheint es unmöglich zu sein, diese Festung einzunehmen – ein römisches Kastell im Sturm zu erobern, ist nahezu ausgeschlossen! Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu Eroberungsversuchen – immer wieder scheiterten die Rebellen!

Vor allem Armins Onkel Inguiomer versuchte mehrmals durch ungestüme Attacken sein Glück. Er ist ein alter Haudegen, der zum Kämpfen geboren wurde, nicht zum Warten und belagern!

Einmal schlich er mit seinem Trupp in einer finsteren, kalten Neumondnacht über das Vorfeld an das Kastell heran. Die Männer tappten durch die Dunkelheit, um von den aufmerksamen Wachen nicht entdeckt zu werden. Doch sie stolperten und fielen über ihre eigenen, toten Kameraden, die beim letzten erfolglosen Angriff und der anschließenden panischen Flucht vor den Mauern Alisios liegen blieben!

Natürlich erspähten die römischen Wachen, die mit Fackeln auf der Brüstung entlang marschierten, den unglückliche Haufen um Inguiomer! Sofort haben sie das Feuer eröffnet – mit brennenden Pfeilen ließen sie der Rebellenmeute keine Chance! Die stolzen Stammeskrieger mussten sich zur Krönung auch noch den Hohn und Spott der Verteidiger anhören: „Na, ihr germanischen Hunde! Ist euch kalt? Unsere Pfeile werden euch ordentlich einheizen! Ihr könnt euch gleich zu euren toten Kameraden legen! Ihr gebt sicher hübsche Leichen ab!“ Das schallende Gelächter der Feinde war noch schmerzhafter, als die brennenden Pfeilattacken! Frustriert und dazu auch noch am Arm verwundet musste Inguiomer abziehen!

Armin hofft, dass der Besatzung des Kastells nun langsam die Vorräte ausgehen, dann müssen sie zum Kämpfen herauskommen, sonst verhungern sie!

Die Rheingrenze ist weniger als 30 Meilen von Alisio entfernt!

Dahinter stehen die Legionen der Kameraden.

Lagerkommandant Caedicius sandte bereits mehrmals Boten in Richtung Castra Vetera. Doch es kam bislang keine Antwort oder gar Hilfe zurück. Wurden alle Boten von den Germanen abgefangen, oder schickt der Oberbefehlshaber Asprenas aus Sicherheitsgründen vorerst keine Legionäre über den Rhenus?

Vielleicht hat er Order aus Rom, keine riskanten Rettungsversuche in die verfeindete Germania magna zu unternehmen, sondern die Grenze zu schützen und auf die Unterstützung Tiberius zu warten. Die Varuskatastrophe hat das stolze Imperium durchgeschüttelt und eine enorme Angst vor den wilden Barbarenhorden geschürt!

Die Belagerten fühlen sich in Stich gelassen, denn so langsam wird die Lage brenzlig! Armins Hoffnung erfüllt sich, denn der Besatzung des Kastells gehen tatsächlich allmählich die Vorräte aus! Caedicius musste bereits die Portionen rationieren! Unruhe und Angst machen sich breit!

So wie im Lager der Germanen leiden zudem auch viele im Römerkastell unter Lagerkollaps. Mit dem Unterschied, das in Alisio viel mehr Menschen auf engem Raum hausen müssen!

Das geht eine Weile lang gut, aber irgendwann drückt die Enge des nur etwa 18 ha großen Kastells aufs Gemüt! Die Belagerten können nur abwarten und darauf hoffen, doch noch von einem römischen Rettungstrupp befreit zu werden.

Allerdings weiß jeder, dass mit der Zeit die Aussicht auf Rettung immer weiter schwindet!

An einem besonders dunklen, kalten Januartag brennt bei einem älteren Zivilisten die Sicherung durch! Er bekommt Panik und rennt zum Haupttor. Der verzweifelte Mann versucht den schweren Balken aus der Angel zu heben.

Unglaublich, aber die Wachen bemerken ihn nicht, da sie sich auf die Kontrolle des Vorfeldes konzentrieren. Niemand rechnet damit, dass jemand so lebensmüde ist und auszubrechen versucht!

Selbst der Aufprall des schweren Eichenbalkens auf den Boden bleibt zunächst unbemerkt, da der nasse Schnee das dumpfe Geräusch dämpft. Erst als sich das massive Eichentor knarrend öffnet, bleibt den Wachsoldaten vor Schreck das Herz stehen!

„Terrorem! Terrorem! Alle Mann auf Gefechtsposition!“, bellt der Centurio laut durch Dunkelheit!

Dann der Schock! Der verwirrte alte Mann stürzt aus dem sicheren Kastell hinaus, in den kalten, tiefen Schnee hinein! Er trägt nur eine dünne Tunika, zerrissene Stofffetzen hängen als Schuhersatz an seinen Füßen. Der Alte rennt direkt auf den Waldrand zu, dort wo die Germanenmeute lauert. Die Situation ist besonders prekär, da das Haupttor nun offen steht und dadurch alle Menschen im Kastell gefährdet sind!

Geistesgegenwärtig springt der Wachoffizier in einem Satz von der Brüstung herunter, unverzüglich muss der Eingang wieder verschlossen werden! Seine Männer brüllen verzweifelt dem Flüchtenden hinterher. „He, alter Mann, wo willst du hin? Du rennst in den sicheren Tod!“

Doch der alte Mann hört sie nicht! Er ist im Tunnel und hetzt erstaunlich schnell immer weiter, den schützenden Waldrand vor Augen. Weniger als 20 Schritte davor, trifft ihn jedoch ein feindlicher Speer mitten in die Brust! Ein kurzes Stöhnen und der Getroffene sackt in den kalten Schnee - warmes, dunkles Blut suppt aus der Wunde, verfärbt das Weiß um seinen toten Leib rot und lässt es schmelzen. Er wurde ein Opfer seiner eigenen Angst!

Nach diesem Vorfall hat Caedicius endgültig genug! Es muss gehandelt werden, sofort! Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Nächste oder die Nächsten durchdrehen, und mit weiteren Ausbruchsversuchen sich und das Leben aller eingeschlossenen Menschen im Kastell gefährden! Außerdem lässt der Hunger und die schwindende Aussicht auf Rettung die Menschen zunehmend unruhiger werden!

Während einer kalten, stürmischen Januarnacht öffnet sich behäbig das Haupttor des Kastells Alisio. Das vertraute Knarrgeräusch dringt durch die kristallklare Luft. Beißender Wind weht Schneeböen in die römische Festung. Kein Mensch würde bei diesem Wetter auch nur seinen Hund vor die Tür schicken. Es ist auch kein Hund zu sehen! Stattdessen versammeln sich hunderte, abgemagerte und frierende Gestalten hinter dem Tor, das sie die letzten Wochen vor der Furor teutonicus geschützt hatte!

Caedicius steht auf der Brüstung des Torhauses. Der erfahrene Kommandant ist bereits um die Fünfzig. Als Praefectus Castrorum hat er den Rang des Primus Pilus inne, ist also ranghöchster Centurio seiner Legion. Im nächsten Jahr stünde seine Pensionierung an. Lucius Caedicius freut sich schon jetzt endlich zu seiner Familie nach Etrurien, das wir heute als Toskana kennen, zurückzukehren. Seine Tochter schrieb im letzten Sommer, dass sie schwanger ist. Lucius denkt jeden Tag an sie! Ob er nun schon Opa ist? Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Für ihn wäre es das größte Glück auf Erden, seine Familie wieder sehen zu dürfen! Er würde alles dafür geben!

Doch die Gedanken des Präfekten werden jäh unterbrochen, sein treuer Optio meldet. „Herr Kommandant, der Tross steht wie befohlen abmarschbereit! Die Soldaten am Anfang, Verwundete und Kranke dahinter und am Ende die Zivilisten.

Soll ich Befehl zum Aufbruch geben?“

„Das mach ich selbst! Ich danke dir, Marcus, du kannst zu deiner Einheit gehen!“ Caedicius wendet sich den Menschen zu, die unten vor dem Tor warten. Ihre Gesichter sind ausgemergelt, die Leiber dünn – die monatelange Belagerung hinterließ ihre Spuren.

„Soldaten und Zivilisten! Ich bin kein Mensch großer Worte, dafür ist auch keine Zeit! Ich weiß, ihr friert und habt große Angst! Das haben wir alle! Aber wir haben keine Wahl, unsere Vorräte sind fast aufgebraucht - wir müssen diese dunkle, stürmische Nacht nutzen und den Belagerungsring durchbrechen! Die Germanen werden bei diesem Wetter kaum mit einem Ausbruch rechnen, sie haben den ganzen letzten Abend durchgezecht und schlafen nun ihren Rausch aus!“

Caedicius hofft, dass er damit richtig liegt! „Trotzdem rechne ich mit Kontrollposten auf den Wegen! Deshalb müssen wir uns unbedingt abseits der Wege halten, uns beeilen, leise sein und zusammen bleiben! Das gilt vor allem für die Frauen und Kinder! Ich wünsche uns allen viel Glück! Mögen die Götter uns beistehen!“

Caedicius nickt seinem Optio zu, der den Tross anführt. Der Zug der Elenden setzt sich lautlos in Bewegung. Der Kommandant wartet, bis alle das Lager verlassen haben – dabei starrt er angestrengt vom hohen Torhaus aus in die Dunkelheit. Am Waldrand ist alles ruhig!

Nachdem der Tross das Lager verlassen hat, gibt der Kommandant seinen Wachen ein Zeichen, ihre Posten zu verlassen. Er selbst schließt sich als Letzter an. Ein finaler Blick ins verwaiste Lager – Strohballen werden vom kalten Wind durch die Luft gewirbelt.

Draußen schleichen sich die Legionäre, Frauen und Kinder an den Leichenbergen vorbei. Ein kleiner Junge stolpert über einen von wilden Tieren zerfledderten Totenschädel, ein lautes: „Iiiiiigittt!“, schallt durch die frostige Luft! Ein Legionär raunt verärgert: „Ruhe, verdammt nochmal, blödes Göhr!“ Die Anspannung ist allen ins Gesicht geschrieben – die Nerven liegen blank!

Armin sitzt in seinem Zelt. In der Mitte knistert ein wärmendes Feuer – der Rauch zieht durch die Öffnung, die sich direkt darüber befindet, ins Freie ab. Er ist allein und grübelt.

Von den anderen Zelten im Lager schallt Lärm hinüber – die Kameraden saufen mal wieder! Armin hat sich mit dem Trinken stets zurück gehalten, um für seine Pläne einen klaren Kopf zu behalten. Nun braucht er keine Pläne zu schmieden!

In den letzten fünf Jahren, seitdem Armin sein Heimatdorf verlassen musste, war er immer in Aktion gewesen - es gab kaum mal einen ruhigen Tag. Der junge Cherusker lernte, kämpfte, plante und diskutierte unentwegt. In seinem kurzen Leben überschlugen sich förmlich die Ereignisse.

Nun sitzt er hier und wartet, allein! Die letzten Wochen der Belagerung waren so zermürbend! Warten, Warten, nochmals Warten! Warten, dass den Belagerten endlich der Proviant ausgeht!

Armin hat jetzt jede Menge Zeit! Er könnte mit seinen Kameraden Feiern und Saufen, doch dazu hat er gar keine Lust! Zu sehr hat er sich mittlerweile an das einsame Leben eines Anführers gewöhnt, und zu tief sitzt der Stachel, den der Verlust seiner besten Freunde hinterlassen hat! Seine Gedanken sind nun ständig bei seiner Thusnelda, einer der wenigen geliebten Menschen, die ihm noch geblieben sind! Er möchte so gern zu ihr! Doch er kann nicht - er steckt hier fest!

Aber in seinen Gedanken ist sie immer bei ihm, dann spricht er zu ihr. ‚Wie geht es dir, mein Schatz? Ich könnte dir den ganzen Tag lang in die Augen sehen und dich in meine Arme nehmen! Wir werden immer zusammen sein!‘ Doch dann übermannen Armin die schlimmsten Befürchtungen und ein Stich geht ihm mitten durchs Herz! ‚Was ist, wenn dieser Fiesling Segestes seine Tochter inzwischen mit einen anderen verheiratet hat? Auf diese Weise könnte dieser elende Verräter ganz einfach verhindern, dass wir beide ohne seine Erlaubnis heiraten!‘

Dieser grausame Gedanke ist genau so schmerzhaft, als würde man Armin ein Bein mit der Axt abschlagen! Er hat nur die zwei Beine, auf denen er steht! Das Eine ist seine Thusnelda, die er immer lieben wird - das andere ist der Kampf für die Freiheit seiner Heimat!

Der römischen Tross hat inzwischen unbemerkt den Waldrand erreicht. Bislang blieben alle zusammen. Doch jetzt wird es gefährlich, denn Caedicius weiß, dass im Wald überall germanische Wachposten verteilt sind! Er hat in den letzten Tagen immer wieder durch seine Kundschafter die Lage prüfen lassen. Daraufhin hat der clevere Kommandant eine Karte angefertigt und weiß nun ziemlich genau, wo die Posten lauern und wie viele es sind.

Eisiger Wind pfeift durch die kahlen Bäume. Allen ist kalt, aber die Angst, jederzeit von einem germanischen Speer durchbohrt zu werden, lässt den verzweifelten Menschen die Schweißperlen auf der Stirn stehen! Die Flüchtenden stapfen wortlos durch den knöcheltiefen Schnee.

Durch das Unterholz hindurch erspäht Caedicius den ersten Wachposten. Wie erwartet sind es vier Männer, die in dicken Fellen gehüllt, um ein nur noch schwaches Lagerfeuer herum kauern. Fortuna ist auf der Seite der Römer, denn alle schlafen fest ihren Rausch aus.

Der Nordwind steht günstig, und es ist so ruhig im Wald, dass man eine Wache sogar leise Schnarchen hört, obwohl diese fast 100 Schritt weit entfernt ist. Trotz seiner langen Zeit hier im Norden ist es für Caedicius immer noch ein Rätsel, wie die Germanen bei solch einer Kälte im Freien schlafen können!

Der römische Dichter Tacitus wird etwa 100 Jahre später in seiner Germania sinngemäß bemerken, dass den Germanen Hunger und Kälte nichts ausmachen, sie aber Hitze und den Durst nicht ertragen können! Wobei klar ist, welche Art Durst der Historiker dabei meint!

Schnell und leise huschen die Flüchtenden an den Wachen vorbei.

Doch der zweite Posten lässt nicht lange auf sich warten.

Diesmal sind alle germanischen Aufseher hell wach. Sechs Männer sitzen am Feuer und unterhalten sich angeregt - sie trinken viel, machen jedoch keine Anstalten, sich demnächst aufs Ohr zu hauen! Caedicius deutet allen im Tross an, sich hinzuhocken, um nicht gesehen zu werden. Besonders die Kinder haben große Angst - ihr Mütter haben Mühe, sie ruhig zu halten!

Der erfahrene Präfekt weiß, dass ein Vorbeischleichen oder Umgehen der Wachen unmöglich ist. Der Tross ist einfach zu auffällig, sie würden sicher entdeckt werden! Außerdem lauern ein paar hundert Schritte weiter die nächsten Wachen, die möglicherweise genauso hellwach sind!

Caedicius hat eine spontane Idee! Er wendet sich an seine besten Männer, den Bogenschützen. Leise flüstert er. „Ihr seid unsere einzige Hoffnung! Aber wir haben nur einen Versuch, wenn ihr daneben schießt, sind wir alle verloren!“

Die sechs besten Schützen hocken im Schnee, sie spannen ihre Bögen. Die Blicke der anderen Flüchtenden sind dabei fest auf ihre einzige Hoffnung gerichtet! Caedicius hebt den Arm, die Bogenschützen zielen, jeder auf einen Germanen! Als sie ihr Ziel erfasst haben, nicken sie dem Kommandanten kurz zu.

Dieser senkt den Arm.“

Die tödlichen Geschosse surren im selben Augenblick gleichzeitig durch die kalte Luft, haarscharf vorbei am dichten Gestrüpp und Geäst. Zwei Germanen werden von spitzen Pfeilen im Rücken getroffen - sie fallen sofort leblos in den kalten Schnee. Einen weiteren durchbohrt das Geschoss von der Seite den Hals, er steht auf und röchelt vor Todesangst - der unmittelbare Nachschuss trifft ihn im nächsten Augenblick tödlich in die Brust. Der Vierte ist ein gewaltiger Hüne – er wird frontal getroffen! Doch obwohl der Pfeil tief in seinem Wanst steckt, erhebt er sich und will gerade losbrüllen! Der Nachschuss geht zielgenau in seinen Kehlkopf, schnürt ihm die Luft ab und lässt seinen Schrei ersticken. Torkelnd fällt der Riese in den kalten, weißen Grund, der von seinem warmen, dunklen Blut schmilzt. Der fünfte Pfeil bleibt im Geäst hängen, und der Sechste in einem Baum stecken. Der Schock der Flüchtenden ist groß!

Doch anstatt Alarm zu schlagen, stehen die beiden nicht getroffenen Wachen sprachlos da und starren wie gebannt auf ihre plötzlich dahinsiechenden Kameraden.

Dieser Augenblick des Schocks ist ausreichend! Die professionellen Bogenschützen setzen ein zweites Mal an. Ihre Sekunden später abgefeuerten Nachschüsse sitzen präzise und durchbohren die Herzen der Opfer – die Germanen fallen beinah lautlos in den Schnee!

Alle sind erleichtert! Allerdings weiß jeder, dass die Gefahr noch lange nicht vorbei ist! Man rechnet nun jederzeit damit, entdeckt zu werden, da der Tod der Wachen sicher nicht lange unentdeckt bleiben wird.

Panik macht sich breit und droht die Ordnung im Tross durcheinander zu bringen! Die völlig verängstigten Menschen versuchen so schnell wie möglich Land zu gewinnen!

Vor allem die Frauen und Kinder verlieren schnell den Anschluss. Sie rufen verzweifelt nach den Legionären! Diese können aber nicht warten! Je länger sie durch den verschneiten Wald laufen, desto größer ist die Gefahr, von den Germanen erspäht zu werden! Jeder ist jetzt darauf bedacht, seine eigene Haut zu retten! Unentwegt treibt Caedicius die Schwächten an und ermahnt sie zur Ruhe! Doch Angst macht taub! Die Kinder weinen und stolpern über Äste und Steine, die überall unter dem Schnee versteckt herumliegen.

Und dann passiert es! Der dritte und letzte Wachposten bemerkt die Flüchtenden und gibt sofort Alarm! Wieder ertönt dieses dumpfe Tröten, das durch Mark und Bein geht! Die Legionäre, die bei der Varusschlacht dabei waren, bekommen posttraumatische Erinnerungen, als sich das schreckliche Geräusch in ihren Ohren einbrennt! Sie fangen wieder an zu rennen, zu rennen um ihr Leben!

Kurz darauf sind Rufe zu vernehmen, harte, germanische Laute schallen durch den verschneiten Winterwald der Germania magna! Sie vermischen sich mit dem Getröte – die Geräusche des Schreckens kommen näher!

Armin wird jäh aus seinen Tagträumen an Thusnelda gerissen!

Er stürzt aus dem Zelt, draußen herrscht heilloses Durcheinander! Ziellos rennen seine Männer umher und brüllen laut herum. „Die Römer haben den Ausbruch geschafft! Die Römer haben den Ausbruch geschafft!“ Endlich entdeckt der junge Heerführer Inguiomer. Sein Onkel macht mit seinen Männern gerade die Pferde bereit.

Armin ist sofort klar, was sein Onkel vorhat, er stürmt zu ihm.

„Langsam! Wir müssen gezielt vorgehen! Wir sollten sie umzingeln!“

„Umzingeln? Quatsch, wir umzingeln niemanden! Jetzt holen wir uns, was uns zusteht!“ Inguiomer befestigt zwei große Lederbeutel an seinem Gaul.

Armin ist verwundert. „Was soll das heißen?!“ Dann begreift er. „Wollt ihr etwa ins verwaiste Lager, anstatt den flüchtenden Tross anzugreifen?!“ „Genau das heißt es, Junge! So Männer, auf geht‘ s!“

Armin wird rasent. „Aber wir können sie doch nicht einfach ziehen lassen! Wir sind noch im Krieg! Wozu haben wir hier wochenlang gewartet?“

Inguiomer lacht hämisch. „Dein Krieg hat erst mal Pause!

Meine Männer erwarten jetzt eine satte Belohnung für ihr wochenlanges Warten! Du siehst doch, wie die anderen schon losrennen!“ Er deutet in Richtung wilde Meute, die auf das leere Kastell losstürmt. „Wir möchten nicht die Letzten sein!“

Armins Onkel springt auf sein Pferd. „Los Männer! Schnell!

Lasst uns holen, was noch zu holen ist!“ Seine Gefolgsleute reiten ihm im Galopp hinterher. Inguiomer ruft dem verdutzt dastehenden Neffen beiläufig nach. „Den halbtoten Römertrupp können wir später angreifen, die kommen eh nicht weit!“

Armin brüllt wütend hinterher. „Ihr Narren! Da ist doch sowieso nichts mehr zu holen!“

Doch Inguiomer und seine Männer hören ihn nicht, oder wollen ihn nicht hören! Ihre Beutegier macht sie taub!

Bald ist das Germanenlager fast leergefegt! Nur Armins Gefolgsmänner und ein paar Vernünftige verharren. Die anderen stürzen, wie ein Schwarm hungriger Heuschrecken ins verlassene Lager Alisio. Es ist typisch menschlich – einer rennt los und die anderen rennen hinterher! Jeder möchte ein Stück vom Kuchen abbekommen! Doch es sind nur noch Krümmel übrig! Die Belagerten haben ihre Vorräte längst aufgebraucht und die wenigen Wertgegenstände mitgenommen. Nur einige, rostige Waffen und ein paar kaputte Werkzeuge haben sie dort gelassen.

Enttäuscht kommen die ersten Plünderer bald zurück. Auch Inguiomer trottet genervt an! Schon wieder sollte sein Neffe Recht behalten! Am liebsten würde er Armins grinsende, selbstgefällige Visage einschlagen! Doch dafür ist keine Zeit!

Inguiomer sieht ein, dass sie nun unbedingt gemeinsam den römischen Tross angreifen müssen, bevor die Flüchtenden den rettenden Rhein erreichen!

Als sie gerade aufbrechen wollen, dringt von der Ferne, aus Richtung Westen ein lautes Tröten durch den verschneiten, germanischen Winterwald! Es ist das eindringliche, dumpfe Tröten eines römischen Cornums! Entsetzt sehen sich die Stammeskrieger an.

Nun grinst Inguiomer selbstzufrieden zu Armin. „Bei Wotan, das sind römische Rettungstruppen vom Rhein!“ Das Tröten der Trompeten wird lauter und ertönt gleichzeitig von mehreren Seiten - die Legionäre scheinen in breiter Font anzurücken! Inguiomer spuckt aus. „Ich bin kein Feigling, aber den Tross jetzt noch anzugreifen, wäre glatter Selbstmord! Gut, dass wir es nicht getan hatten, sonst wären wir sicher schon alle in Walhall!“

Armin muss seinem Onkel zähneknirschend Recht geben!

Offenbar haben es tatsächlich einige von Caedicius Boten geschafft, bis zur Castra Vetera vorzudringen. Und Asprenas schickt nun daraufhin dem flüchtenden Tross unterstützende Truppen entgegen.

Tief in seinem Inneren spürt Armin jedoch, dass irgendetwas faul ist! Er hat so ein komisches Gefühl! Der ehemalige Auxiliarführer kennt römisches Trompetenblasen genau!

Dieses Geräusch eben war eindeutig römisch! Jedoch klingt es irgendwie inszeniert, eben nicht echt!

Natürlich weiß Armin, dass er seine Männer unmöglich aufgrund eines komischen Gefühls in den offenen Kampf gegen einen überlegenen Gegner schicken kann! Vielleicht irrt er sich ja auch?

Er irrt sich nicht! Nachdem sie entdeckt wurden, hat der clevere Hund Caedicius seine schnellsten Männer vorausgeschickt, damit diese von der Ferne aus das Angriffssignal römischer Verbände vortäuschen. In Wirklichkeit stehen keine Unterstützungstruppen zur Hilfe bereit!

Aber dieser Trick verschafft den Überlebenden einen Vorsprung und eine letzte Chance, doch noch nach Hause zu kommen. Ein Fünkchen Hoffnung lodert in ihnen auf! Dieser Hoffnungsschimmer lässt sie ihre wunden, erfrorenen Füße über den eisigen Schnee tragen! Und er wird größer, je dichter sie an die Rheingrenze vorrücken!

Die ganze Nacht und den ganzen Tag lang sind sie durchmarschiert, durch Dunkelheit und Kälte! Aus Angst entdeckt zu werden, haben sie weitestgehend auf Fackeln verzichtet. Viele sind im Dunkeln gestolpert, besonders die Verwundeten und die Kinder.

Doch Caedicius machte ihnen Mut und trieb seinen Tross an, so wie ein guter Hirte seine Schafherde! Die Verwundeten und Schwachen wurden auf die wenigen Pferde gesetzt und in Decken gehüllt, damit sie nicht erfrieren! Der Kommandant selbst ging zu Fuß. Die Vorhut, die den fingierten Rettungstrupp vortäuschte, ritt derweil im Eiltempo zur Castra Vetera voraus. Asprenas schickte nach deren Ankunft sofort eine Kohorte über den Rhenus, um dem Flüchtlingstreck entgegenzukommen. Schließlich gelingt das schier Unmögliche, alle aus dem Kastell Alisio werden lebend über den Rhenus in die schützende Vetera gebracht!

Lucius Caedicius wird später für sein mutiges und entschlossenes Handeln von Tiberius persönlich ausgezeichnet werden und erhält die vorzeitige Pensionierung. Er darf endlich zu seiner Familie nach Etrurien und freut sich so sehr darauf, sein Enkelkind bald in den Armen zu halten!

Armin dagegen hat eine herbe Niederlage einstecken müssen!

Viel Zeit und Ressourcen wurden beim endlosen Belagern sinnlos verbraucht! Und er weiß, dass seine Autorität, trotz des grandiosen Sieges über Varus bei Weitem nicht unumstritten ist! Das ungute Gefühl diesmal falsch gehandelt zu haben bleibt, denn innerlich weiß Armin, dass sie den Tross hätten verfolgen sollen!

Armin galoppiert durch den einsamen, tief verschneiten cheruskischen Winterwald. Sein Pferd schnaubt und wiehert vor Anstrengung. Der junge Reiter hat es sehr eilig!

Gleichwohl es langsam dämmert, hetzt er Tyr weiter, denn er muss heute noch ankommen! Doch der alte Klepper ist bald am Ende seiner Kräfte!

Armin klopft seinem Freund aufmunternd auf die Schulter. „Es dauert nicht mehr lange, alter Knabe! Bald sind wir da!“

Sie reiten die Visurgis entlang, die sich gemächlich dahin plätschernd ihren Weg durch die weiße Einöde bahnt. So romantisch eine von Schnee bedeckte Landschaft aussehen mag, für die germanischen Bauern ist der Winter die schwerste Zeit des Jahres - wer nicht ausreichend vorgesorgt hat, der verhungert!

Endlich erblickt Armin in der Ferne aufsteigenden Rauch, der von einer Siedlung kommt, die sich oberhalb des Flusses erstreckt! Sein Herz klopft plötzlich schneller und schlägt hinauf bis zur Kehle! Trotz der Kälte wird ihm warm in der Brust, denn er wird bald seine Geliebte wiedersehen, hoffentlich!

In den letzten Tagen und Wochen hatte Armin immer wieder diesen schrecklichen Albtraum! Es ist derselbe Albtraum, den er vor der Entscheidungsschlacht hatte. In dem Traum sieht er auf dieser mysteriösen Anhöhe seine Thusnelda, die ihm die Hand reicht. Armin will zu ihr hinaufklettern, doch er rutscht ständig am steilen Hang aus! Er schafft es einfach nicht, zu seiner Angebeteten zu gelangen! Plötzlich erscheint der verhasste Schwiegervater und durchbohrt mit dem Schwert seine Tochter von hinten. Thusneldas schreit, ihr Körper löst sich in Asche auf und verschwindet schließlich im Wald!

Immer wieder plagt Armin dieser grausame Albtraum und beschert ihm bis heute schlaflose Nächte! Er kann nicht anders, er muss seine Thusnelda unbedingt sehen, noch heute!

Wieder reitet er durch dieses dunkle, verlassene Dorf! Die Erinnerungen kommen in ihm hoch! Armin denkt an das letzte Mal, als er mit Thusnelda hier entlang ritt. Er saß auf Tyr und seine Geliebte auf einem Maultier. Es ist erst gut ein Jahr her, doch Armin kommt es vor, als sei seitdem eine Ewigkeit vergangen! Inzwischen ist so viel passiert!

An jenem Abend hielt er bei Thusneldas Vater um die Hand seiner Tochter an.

Doch anstatt seiner großen Liebe, erhielt er vom feindseligem Schwiegervater dieses knebelnde Ultimatum! Darin wurde vereinbart, dass Armin nur dann Segestes Tochter zur Frau bekommt, wenn er ein Jahr lang wartet und in dieser Zeit Rom die absolute Treue hält. Doch dies hätte bedeutet, dass er sämtliche Pläne zur Befreiung seiner Heimat hätte aufgeben müssen! Und das konnte er nicht!

Allerdings erwies sich Segestes als noch viel größerer Verräter – er wollte Armins geplanten Aufstand an Varus verraten!

Der junge Fürst steht vor dem großen Haus mit dem stabilen Fachwerk und den verzierten Giebeln. Alles ist dunkel. Auf keinen Fall darf ihn Segestes zu Gesicht bekommen! Armin muss sich irgendwie hineinschleichen. Der Cheruskerfürst und Bezwinger von drei römischen Legionen kommt sich wie ein Vagabund vor!

Er läuft ums Haus. Am hinteren Ende befindet sich der Stall.

Armin schleicht zur Stalltür und zieht daran. Anders als der repräsentative Vorderteil, wirkt der hintere Bereich des Hauses ziemlich vernachlässigt. Die Tür fällt beim Öffnen fast aus den Angeln und zu Armins Verärgerung stürzt jetzt auch noch ein Spaten um! Ein lautes Scheppern dringt durch die Nacht!

„Scheiße!“, zischt der Amor. „Ich komme mir vor, wie ein dämlicher Einbrecher!“

Armin betritt den Stall. Ihm strömt die warme, ranzige Luft der Bewohner entgegen. Es riecht typisch nach Stall – so wie er es von zu Hause kennt. Er hält an, da war doch ein Geräusch! Kommt da jemand? Armin schießen die Gedanken durch den Kopf. ‚Oh, nein! Jetzt sieht mich Segestes, lacht mich hämisch aus und wird seine Tochter für immer einsperren!‘

Der liebestolle Mann hat sich nicht geirrt! Tatsächlich läuft da jemand durch den dunklen Stall, baut sich vor ihm auf und macht laut: „Muuuuuh! Muuuuuh!“

Armin muss sich ein Lachen verkneifen. Er ist erleichtert und scherzt. „Wotan sei Dank, mach ruhig Muuuuh, du fette Kuh!“

Der junge Verliebte bahnt sich weiter seinen Weg vorbei am Rindvieh und den anderen Stallbewohnern. Er tapst durchs Dunkel und tritt auf eine herumliegende Harke – der Holzstiel schnellt an seinen Kopf. „Aua, blödes Ding!“ Gänse und Hühner flattern wild gackernd umher.

Plötzlich öffnet sich die Tür vom Flurbereich. Jemand betritt den Stall. Armin rutscht das Herz in die Hose! ‚Jetzt ist es aus!‘, denkt er sich.

„Wer ist da? Zeig dich! Ich habe einen Knüppel!“ Es ist die Stimme einer Frau, Wotan sei Dank, nicht Segestes!

Armin muss sich zu erkennen geben: „Ich,….ich bin….es!“,

stottert er verlegen.

„Huch!“ Die Frauenstimme klingt erschrocken! „Wer ist ich?“

Der junge Fürst tritt näher.

„Ach….du Armin! Und ich dachte schon….“

„Verzeih die Unruhe! Ich wollte niemanden wecken!“

„Außer Tote und Besoffene hast du das aber!“ Thusneldas Mutter muss schmunzeln, als sie Armins beschämtes Gesicht sieht. „Sei froh, dass mein Mann zu den Besoffenen zählt!“

Dann raunt sie leise, mit kalter Stimme. „Gleichwohl er mir tot fast lieber wäre!“

Armin ist verstört, das hätte er von dieser lieben Frau nicht erwartet – sie muss ihren Mann gewaltig hassen! Aber er geht nicht weiter darauf ein – er hofft nur, dass ihn Thusnelda niemals so sehr hassen wird!

„Du willst natürlich zu Thusnelda!“

Der junge Verliebte nickt lächelnd.

„Na komm, ich bring dich in ihre Kammer, aber leise!“ Beide schmunzeln!

Zum Erstaunen Armins, ist Thusnelda auch noch wach. Sein Herz macht einen Sprung, als er ihren liebreizenden Körper wieder sieht! Seine schrecklichen Gedanken über eine Zwangsheirat sind jetzt mit einem Mal verschwunden!

Sie sitzt an einem kleinen Tisch und kämmt sich gerade ihr langes rot-blondes Haar. Eine kleine Lampe, in der Rindertalg verbrennt, taucht den Raum in ein warmes, schummriges Licht und beleuchtet Thusneldas elfengleiches Antlitz. Wie wunderschön sie ist!

Thusnelda schaut zu Armin rüber, sie scheint nicht sonderlich überrascht zu sein, dass ihr Geliebter hier plötzlich auftaucht.

Sie lächelt ihn kokett an. „Schön das du kommst, mein Schatz!“

„Ich lass euch dann mal allein!“ Die Mutter geht taktvoll hinaus, ein wissendes Lächeln gleitet über ihren Lippen. Es ist das gleiche verschmitzte Lächeln, wie das ihrer Tochter. Aus dem Nebenraum ertönt das Suff-Schnarchen Segestes.

Armin geht zu seiner Angebeteten, kniet sich vor ihr hin und nimmt eine Hand. „Thusnelda, ich hab‘ dich so sehr vermisst!

Ich liebe dich von ganzem Herzen! Komm mit mir!“ Er küsst sie – die sanfte Berührung ihrer weichen, feuchten Lippen lässt sein Herz wie wild pochen! In ihm kommt die Erinnerung an ihrer letzten Begegnung wieder hoch! Es war am Vorabend der finalen Schlacht - sie liebten sich inniger als zuvor!

Doch Thusnelda scheint heute nicht ganz bei der Sache zu sein! Armin lässt von ihr ab – er schaut seiner Liebsten tief in die Augen, in seiner Stimme liegt Zweifel. „Willst du nicht mit mir kommen? Ich pfeife auf die Abmachung mit deinem Vater!

Er hat uns alle verraten!“

„Oh, Armin, ich bin so froh, dass du die Schlacht überlebt hast! Ich möchte nichts dringender als mit dir mitgehen!

Aber….“

„Aber, was?“

„Ich habe gehört, dass die Belagerung Alisios gescheitert ist!“

„Du bist wie immer gut informiert!“

„Ja, mein Vater hat es irgendwie mitbekommen und jetzt schmiert er es uns regelmäßig aufs Brot! Er scheint sich förmlich zu freuen, dass die Römer den Ausbruch aus der Belagerung geschafft haben – vor allem aber, dass du gescheitert bist! Er hat sich trotz der gewonnen Schlacht nicht groß verändert, er fühlt sich mittlerweile mehr als Römer, denn als Germane! Daran wird sich nie etwas ändern! Er hofft und glaubt fest daran, dass im Frühjahr Tiberius das verlorene Gebiet - unsere Heimat - wieder zurückerobern wird!“

Armin schnaubt vor Wut. „Dieser elende Verräter!“ Dann wird er nachdenklich. „Das hab ich mir allerdings schon gedacht!

„Oh, mein Schatz, es ist so traurig! Meine Mutter hasst ihn noch mehr wie ich, da ich durch ihn so unglücklich bin! Sie hat sogar daran gedacht…...ich kann es nicht aussprechen! Sie hasst ihn so sehr! Aber, sie darf es nicht tun! Jeder wüsste sofort, dass sie es war! Ich möchte nicht, dass meine Mama im Moor versenkt wird!“ Thusnelda weint bitterlich, die Tränen rinnen an ihren hübschen Wangen hinunter!

Armin schließt seine Geliebte in die Arme und drückt sie ganz fest. „Das möchte ich auch nicht, mein Schatz! Das möchte ich auch nicht! Sie ist eine so gute Frau! Sei froh, dass du sie hast!“ Er streichelt ihren hübschen Kopf und schaut ihr festentschlossen in die verweinten Augen. „Doch warum willst du denn nicht mit mir gehen? Dein Vater wird es nicht wagen, mit seinen Männern einen Krieg gegen mich anzufangen! Ich habe zu viele Gefolgsmänner und verbündete Fürsten hinter mir!“

Thusnelda schluchzt, sie wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Ja, vielleicht! Aber….da ist noch etwas!“

„Was?“

„Dieser neue Statthalter, Asprenas, oder wie er heißt, hält meinen Bruder Segimund als Faustpfand gefangen, wie er es nennt! Mein Bruder war ja römischer Priester in der Ara Ubiorum. Als er von dem Aufstand gegen Varus hörte, riss er sich die Priesterbinde vom Kopf und wollte sich wohl auf eure Seite schlagen, gleichwohl er als Kämpfer nicht viel taugt.

Wie auch immer, mein trotteliger, kleiner Bruder wurde natürlich gefasst und gefangen genommen!“ Die junge Frau schaut traurig zu Boden, bittere Tränen rinnen ihre roten Wangen hinunter! „Wenn ich zu dir gehe, Armin, dann…..dann tun sie ihm etwas Schlimmes an, diese römischen Bastarde!“ Thusnelda schaut ins besorgte Gesicht ihres Geliebten.

„Andererseits…..falls mein Vater dich fangen sollte und an die Römer ausliefert, dann werden sie meinen Bruder freilassen, das haben sie ihm angeblich zugesagt!“ Sie macht eine Pause und streichelt liebevoll seine Wangen. In ihrer Stimme liegt Entschlossenheit. „Ich werde nicht zulassen, dass sie dich gefangen nehmen und kreuzigen, mein Schatz! Ich werde aber auch nicht zulassen, dass mein Bruder ans Kreuz genagelt wird!“

Armin schließt seine Geliebte fest in die Arme, er streichelt ihr zärtlich-tröstend über den Kopf. „Dieser Konflikt muss furchtbar für dich sein! Ich kann dich verstehen! Gleichwohl mein Bruder Flavus ein römischer Verräter ist, da er noch immer für sie kämpft und seinen Kopf hinhält, würde ich auch ihn bis zum Tod schützen!“ Er blickt tief in ihr hübsches, sorgenvolles Gesicht. „Ich bin mir sicher, dass die Römer deinen Bruder gut behandeln werden – schließlich ist er ja der Sohn eines verbündeten Fürsten, und außerdem ein wichtiger Faustpfand! Wenn ich könnte, würde ich ihn befreien!“, fügt der Heerführer entschlossen hinzu.

„Tu das bloß nicht! Darauf warten sie nur! Sie werden dich fangen und kreuzigen! Denk an uns! Und denk an den Befreiungskampf! Ich mach mir keine Sorgen um meinen Bruder – ich bin auch sicher, dass sie ihn gut behandeln werden! Vielleicht ist er dort sogar besser aufgehoben, als zu Hause bei seinem Vater. Vater verachtet ihn – ganz besonders nach diesem Vorfall im Tempel, als er Varus mit Wein übergossen hatte!“

„Der schöne Wein!“ Beide kichern.

Doch ihre Miene wird schnell wieder ernst, sie krault Armin das dunkelblonde Haar. „Die Römer wissen natürlich, dass wir beide verliebt in einander sind und heiraten wollen!“ Die junge Frau ist der Verzweiflung nahe, sie drückt ihren Schatz ganz fest an sich – sie will ihn nie mehr loslassen! „Sie wollen dir wehtun, mein Geliebter! Du bist ihr Staatsfeind Nummer Eins!

Wenn sie dich schon nicht fassen und kreuzigen können, dann wollen sie dir wenigstens seelisch wehtun und unbedingt verhindern, dass wir beide zusammen kommen!“ Thusnelda schluchzt. „Und da ist mein Vater als römischer Verbündeter genau ihr richtiger Ansprechpartner! Sie haben zwar eine Schlacht verloren, aber du weißt, dass sie niemals aufgeben werden!“

Armin nickt. Er ist geschockt! Es ist so bitter, aber Thusnelda hat Recht! Und er weiß nicht, wie er sie aufbauen soll! Sie ist viel zu klug, als das man ihr etwas vormachen könnte. Das Schicksal scheint für sie beide kein persönliches Glück vorgesehen zu haben!

Die Verliebten streicheln sich gegenseitig das Haar und schauen sich dabei schweigend in die Augen. Sie spüren wieder diese Seelenverwandtschaft, die keiner Worte bedarf.

Nun sind sie sich endlich so nah und können ihr Zusammensein dennoch nicht genießen!

Nach einer gefühlten Ewigkeit resümiert Thusnelda schließlich. „Mein Vater fährt zweispurig! Einerseits kriecht er vor den Römern, da er glaubt, dass er nach deren Rückeroberung Germaniens deinen ehemaligen Posten als Berater des Statthalters erhält!“

„Hä, den Posten eines Speichelleckers!“, ergänzt Armin verachtend.

Thusnelda lacht trocken. „Ja, das kann er am besten! Doch andererseits spielt er vor deinen Männern, den treuen cheruskischen Kämpfer!“

„Schauspielern kann dein alter Herr, das muss man ihm lassen!

Er könnte glatt in einer griechischen Komödie mitspielen!“

Beide müssen trotz der ernsten Lage lachen.

„Er würde sogar seine Familie und sein Volk verraten, wenn er daraus einen Vorteil zieht!“ Die Verbitterung in Thusneldas Stimme ist unüberhörbar. „Nur deine Stärke und deine vielen Anhänger hielten ihn bislang davon ab!“

„Ja, und das Schlimme ist, dass ich deinem Vater seine Untreue nicht nachweisen kann! Es gibt keinen Beweis, dass er ein Verräter ist!, resümiert Armin frustriert.

Thusnelda nickt. Sie schaut ihrem Geliebten ganz fest in die Augen und küsst ihn zärtlich auf den Mund! So gern würde sie sich ihm voll und ganz hingeben und seinen starken Körper spüren, so wie in dieser wunderbaren Nacht vor der Schlacht, die sie nie vergessen wird! In ihren feuchten Träumen denkt sie so oft daran! Doch Thusnelda hat Angst, sich zu vergessen und ihren Gefühlen zu erliegen! Ihre Gefühle lassen sie schwach werden – am Ende würde sie doch mit Armin gehen und somit das Leben ihres Bruders gefährden!

Die starke Frau wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und steht auf. So entschlossen wie möglich, spricht sie mit bebender Stimme. „Ich….ich kann nicht mit dir kommen, und dich…..heiraten, mein Schatz! Ich würd ’ es so gern tun, ….doch ich kann nicht!“

Thusnelda macht einen tiefen Seufzer, holt tief Luft und läuft unruhig umher. „Außer das mein Bruder drauf ginge, würde sich daraufhin mein Vater mit seinen Männern auf die römische Seite schlagen! Das wäre für ihn das gefundene Fressen! Solang ich hier bin, kann ich ihn davon abhalten!“

Sie nimmt seine Hand, ihre Stimme wird mutiger. „Ich habe ihm offen gesagt, sobald er die Seiten wechseln wird, geh ich zu dir! Er kann mich nicht einsperren, nicht auf Dauer! Das darf ein cheruskischer Vater nicht! Und da er dich abgrundtief hasst und in jedem Fall verhindern will, dass wir zusammenkommen, hält er erst einmal zur germanischen Koalition! Aber sobald ich zu dir gehe, sieht alles ganz anders aus!“ Thusnelda sieht in das fassungslose Gesicht ihres Geliebten, sie weiß genau, was er denkt! Ihre Stimme klingt jetzt kämpferisch und entschlossen. „Ich werde nicht zulassen, dass du deine Mission wegen mir aufgibst! Die Mission der endgültigen Befreiung unserer Heimat von der römischen Tyrannei!“ Die junge Frau schluchzt vor Erregung – sie kämpft mit den Tränen! Armin bemerkt ihren inneren Kampf!

Doch er weiß, dass seine Thusnelda sehr stark und starrköpfig ist – es bringt nichts, ihr etwas auszureden! Er begreift, dass ihre Liebe zueinander, immer mehr zum Politikum wird!

Armin ist völlig am Boden zerstört! Seine Geliebte versucht ihn aufzubauen – setzt sich zu ihm und drückt ihn ganz fest an sich. Ihre innige Liebe ist unzertrennbar! Thusneldas Stimme wird wieder ganz sanft und zärtlich. „Wir können und werden uns trotzdem weiter sehen - wenn du möchtest, mein Schatz?!“

Armin schluckt. „Natürlich möchte ich!“ Der junge Verliebte fühlt sich plötzlich so schwach! Er drückt mit Daumen und Zeigefinger fest in seine Augenwinkel und versucht so seine Tränen zu unterdrücken - er kann nicht weiterreden, sonst schießt es aus ihm heraus! Er darf nicht weinen – er muss sie doch aufbauen! Aber es nützt nichts! Der Schmerz ist zu mächtig – mächtiger als jeder Schwerthieb! Die Tränen kullern nur so an seinen Wangen herunter! Seine Liebste drückt ihn noch fester an ihre Brust, so wie eine Mutter, die ihr kleines Kind tröstet!

Armin denkt sich. ‚Thusnelda ist so stark - sie ist stärker als ich!‘

So sitzen also die beiden unglücklich Verliebten eine ganze Weile am Boden. Das fade Licht der Talglampe wird schwächer - es wird bald ausgehen! Thusnelda versucht ihren Kummer zu verdrängen und schwelgt in Kindheitserinnerungen. Sie scherzt. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich diesen Träumer einmal lieben werde!“

Armin schmunzelt. „Träumer ist gut! Und ich hätte jeden für verrückt erklärt, der mir gesagt hätte, dass ich mich einmal in diese altkluge Ziege verlieben werde!“

Thusnelda grinst. „Ja, stimmt! Altkluge Ziege - so haben mich immer die Jungs genannt, weil ich alles besser wusste, typisch Jungs eben!

„Aber besser als Träumer klingt: Visionär und Stratege!“,

bemerkt Armin schmunzelnd.

Thusnelda prustet laut. „Visionär und Stratege! Das klingt vielleicht spießig!“

Armin lacht herzhaft mit.

„Hm, wenn du ein Visionär und Stratege bist, dann bin ich statt einer altklugen Ziege ein allwissendes Nutztier!“

„Allwissendes Nutztier – der ist gut!“ Armin klopft sich auf die Schenkel.

Beide müssen laut lachen – sie schütten sich förmlich aus vor Lachen! Für einen Moment scheinen ihre Probleme so weit fort zu sein!

Thusnelda ermahnt. „Pssst, mein Vater schläft! Und dabei soll‘ s auch bleiben!“

Plötzlich erlischt das Talglicht. „Oh, nun seh ich dich ja gar nicht mehr, du allwissendes Nutztier!“

Sie kichert. „Hm, na dann fühl mich eben, du Visionär und

Stratege!“

„Nichts lieber als das!“

II. Kapitel

Rom – die damals schon ewige Stadt!

Morgen ist der 1. März! Und morgen beginnt die Feldzugsaison!

Tiberius kann es nicht erwarten - er nutzt gleich den ersten möglichen Tag des Kriegsmonats, um mit seiner neuen Legion, der I. Germanica, endlich nach Germanien aufzubrechen!

Traditionell sammeln sich die Legionen im März auf dem Platz, der so wie der Monat nach dem römischen Kriegsgott benannt wurde: Dem Campus Martius, dem Marsfeld. Von hier aus marschieren sie dann in den Krieg. Niemals zuvor hatte das römische Reich bereits eroberte Territorien aufgegeben!

Und so soll es auch künftig bleiben – der verlorene Teil Germaniens muss zurückgeholt werden!

Am Vorabend des Abmarsches hat Kaiser August die High Society der römischen Gesellschaft zur Cena in seinem Haus eingeladen. Natürlich gehört auch Tiberius zu den Gästen.

Doch der wortkarge Stoiker fühlt sich in der römischen Oberschicht meist unwohl. Er selbst gehört zwar dem uralten Patriziergeschlecht der Claudier an, und ist sich seiner adligen Herkunft durchaus bewusst, aber ihn widern die langweiligen Gespräche und das dekadente Verhalten der meisten Angehörigen seiner Schicht an! Es sind hauptsächlich Zivilisten, wie Senatoren und hochrangige Beamte, die die Geschicke Roms leiten. Sie haben hier im sicheren Italien keine Ahnung von den Kriegsschauplätzen im Reich!

Zwar gibt sich Augustus ebenfalls volksnah und war bei den Legionären stets beliebt. Allerdings kämpfte der jetzige Princeps im Bürgerkrieg selten an vorderster Front. Gaius Octavius, so lautet sein Geburtsname, galt schon immer als ein begnadeter Redner – ihm gelang es, durch seine Ausstrahlung und sein Verhalten die Massen mitzureißen und sich somit im innerrömischen Kampf gegen die Anhänger der Republik zu behaupten. Die blutige Drecksarbeit übernahmen schon immer andere Männer für ihn, daran hat sich bis heute nichts geändert! Sein Adoptiv- und Stiefsohn Tiberius ist der lebende Beweis dafür.

Der designierte Nachfolger auf den Kaiserstuhl, Tiberius, hofft, dass heute Abend der Legat oder einer der Tribunen aus seiner neuen Legion zugegen sein werden. Mit hochrangigen Militärangehörigen könnte er Sachgespräche über den morgigen Abmarsch und den geplanten Kriegsoperationen führen, so bliebe ihm das langweilige Geschwafel der noch langweiligeren Zivilgäste erspart.

Es ist ein lauer Vorfrühlingstag, als Tiberius den Palatin hinaufläuft, nur von seiner Leibwache begleitet - er hasst es auf Sänften durch die Gegend getragen zu werden!

Der gewissenhafte Feldherr war eben noch einmal auf dem Campus Martius, und hat ein letztes Mal den Tross für den morgigen Aufbruch geprüft. Mit dem ersten Tageslicht soll es losgehen!

Das letzte Licht der milden Abendsonne übergießt den römischen Himmel mit seiner leuchtend-roten Glut, und vergoldet die Dächer der monumentalen Tempel und Paläste des Palatinhügels.

Als Tiberius das Anwesen des Kaisers durch einen relativ kleinen Eingang betritt, sieht er, wie die Strahlen der untergehenden Sonne soeben noch den reich verzierten Giebel des Apollotempels in den schönsten Farben erstrahlen lassen.

Die prächtige Kultstätte gehört zum Anwesen des Princeps, und überragt sogar dessen Wohnhaus, die Geschäftsräume und die Bibliotheken. Diese sind eine Stiftung des Kaisers und beinhalten die größte Schriftensammlung Roms. Die Geschäftsräume hat Augustus bauen lassen, um seine Amtsgeschäfte von seiner Wohnstätte aus zu erledigen.

Tiberius Gedanken drehen sich um den morgigen Tag, als er im Hauptbereich ankommt - für einen der bedeutendsten Imperatoren der Welt wirkt der Mittelteil des Palastes recht bescheiden. Es handelt sich um das einstige Haus des Hortensius, das Augustus noch vor Antritt seines Principats erwarb.

Das Atrium wiederum ist riesig! Hohe, strahlend-weiße Marmorsäulen stützen die Decke. Tiberius geht, mit der für ihn typisch steifen Gangart über die lebensechten Figuren der Bodenmosaike - es scheint beinah so, als wenn die plastisch dargestellten Wesen auf dem Untergrund wegen der Fußtritte, die sie ertragen müssen, jeden Moment laut protestieren!

Das Domizil des Kaisers ist repräsentativ und groß, doch die Ausstattung wirkt wenig pompös und prunkvoll, eher geradlinig und praktisch.

Allerdings legt der Imperator viel Wert auf Symbole der Macht, und hat daher am Eingang Lorbeerzweige als Zeichen der imperatorischen Gewalt anbringen lassen. Außerdem hängt über dem Portal ein Eichenkranz, dieser symbolisiert den Kaiser als Retter der Bürger.

An dem bescheidenen, älteren Mittelteil des Anwesens grenzen viele prächtige Räume, mit bunten Mosaikfußböden und feinen Stuckdecken, sowie wunderschönen Peristylen. Die lauschigen Innenhöfe laden zum Verweilen ein - plastische Statuen römischer und griechischer Götter säumen die Nischen, um sanft dahinplätschernde Brunnen stehen dekorative Marmorbänke.

Am Ende des schönsten Innenhofes steht der Kaiser und empfängt seine Gäste persönlich zur Cena. Augustus ist in den letzten Monaten sichtlich gealtert – der Verlust der drei Legionen hat bei ihm seine Spuren hinterlassen! Allerdings scheint sich der Imperator wieder einigermaßen gefangen zu haben. Tiberius stellt mit Erleichterung fest, dass sich der Kaiser Haare und Bart abrasieren ließ. Und auch die Begrüßung ist wie gewohnt: Herzlich, aber souverän und nicht überschwänglich!

„Ah, mein lieber Sohn - ich freue mich, das du trotz deiner Verpflichtungen Zeit gefunden hast, den Platz an meiner Mensa einzunehmen!“

„Die Freude ist ganz meinerseits, ehrwürdiger Vater! Leider werde ich nicht lange bleiben können! Du weißt, ich will gleich morgen früh aufbrechen!“

„Ja, ja, die Pflicht ruft! Mein Sohn, gewissenhaft wie immer!“

Augustus klopft Tiberius anerkennend auf die Schulter, und wendet sich anschließend an seine Ehefrau, die neben ihm steht. „Livia, mein Schatz, würde es dir etwas ausmachen, mich beim Empfang zu vertreten? Ich müsste vor dem Essen noch etwas Geschäftliches erledigen!“

„Aber natürlich, geh ruhig!“ Livia ist mit dem dem Imperator seit nunmehr fast 50 Jahren verheiratet! Sie kennt ihren Mann genau und weiß, dass der immer klappriger werdende Greis nicht lange stehen kann und die Blase hält auch nicht mehr lange durch! Mit dem Alter steigen eben die geschäftlichen Verpflichtungen!

Inzwischen geht die leibliche Mutter Tiberius auch schon auf die 70 zu, ist aber für ihr Alter noch topfit, geistig wie körperlich! Ihre Haare sind schwarz gefärbt, die mit teuren Salben und Cremes geschminkte Haut zeigt nur wenige Falten, eine leuchtend rote Stola umhüllt ihre Tunika und lässt die Frau des Kaisers jünger aussehen. Livia ist noch immer eine attraktive, reife Frau.

Sie umarmt ihren einzig verbliebenen Sprössling herzlich – ihre Zuneigung und ihre warmen Worte sind echt. „Oh, mein lieber Sohn, es ist so schön, dich nochmal zu sehen, bevor ich dich morgen wieder verliere!“

„Aber Mutter, ich komme ganz bestimmt gesund nach Hause!“, beruhigt der Sohn.

„Eine Mutter kann noch so alt werden, sie wird sich immer Sorgen machen um ihren geliebten Sohn!“

Die Gäste versammeln sich zum Speisen im Wintertriclinium.

Die Cena zieht sich ewig hin. Zum letzten Gang, hat der Kaiser Bauchtänzerinnen kommen lassen, die zu den rhythmischen Klängen der Trommeln und Leiern vor den Gästen ihre betörenden Tänze vorführen. Doch Tiberius hat mal wieder kein Interesse am Unterhaltungsprogramm! An seiner Mensa liegen die gleichen Wichtigtuer und Langeweiler wie eh und je.

In Gedanken ist er sowieso schon auf dem Weg nach Norden, ein weiteres Mal hinein in die Germania magna! Er weiß natürlich, dass die Sorgen seiner Mutter durchaus berechtigt sind! Seine Mission wird heikel und gefährlich werden! Er ist jetzt 51, die meisten Offiziere und Legionäre in seinem Alter sind schon in Rente! Trotzdem freut sich der geborene Feldherr darauf, dass es endlich losgeht – die vergangenen Monate in Rom waren quälend langweilig! Thermenbesuche, Empfänge, Senatssitzungen, Cenas…… Keine echten Aufgaben für einen Soldaten! Tiberius ist sich durchaus bewusst, dass er später als Kaiser einen ähnlichen Tagesablauf haben wird! Dennoch hat er sich fest vorgenommen, einiges anders zu machen - vor allem Augustus Personenkult widert ihn an! Aber das ist Zukunftsmusik - noch fühlt er sich sich fit genug zum Kämpfen an vorderster Front!

Tiberius empfiehlt sich. Jeder hat Verständnis dafür, dass der größte Feldherr des Reiches heute früh zu Bett geht! Man ist sogar ganz froh, dass er geht – für entspannte Plaudereien taugt der steife und zugeknöpfte Stiefsohn des Kaisers ohnehin nicht!

Der Nachfolger des Princeps möchte nach dem opulenten Mahl noch eine Runde an die frische Luft gehen. Er verlässt das Haus und betritt den rechteckigen Terrassenhof, der zum Apollotempel gehört.

Von der nahen Subura dringen die Schreie der sich zankenden Nutten und ihrer besoffenen Freier bis auf die Höhen des vornehmen Palatins hinauf, und vermischen sich mit dem unverkennbaren Poltern und Quietschen der Wagenräder, die die Fuhrwerke der Händler und Bauern über das steinerne Pflaster der Straßen und Plätze rollen lassen. Doch der Lärm des Plebs stört Tiberius weniger, als das gespielte Geschwafel der Cenagäste.

An jeder Ecke des riesigen Platzes, über den der Feldherr nachdenklich schreitet, hängen Fackeln und beleuchten den Ort in einem diffusem Licht. Die helle Mondsichel steht hoch über dem Dach des Tempels. Die Luft ist mild – Südwinde haben den kurzen römischen Winter beendet.

Tiberius wandelt unter den überdachten Kolonnaden, die den Rand des heiligen Platzes säumen. An der Längsseite der Kolonnaden befinden sich Fenster im Mauerwerk. Von hier aus präsentiert sich dem Betrachter eine grandiose Aussicht auf Rom! Der Sohn des Kaisers schaut vom Palatin hinunter auf das glitzernde Funkeln der vielen tausend Fackeln und Öllampen, die die riesige Stadt in ein schier endloses Lichtermeer tauchen. Der Rauch tausender Garküchen und Herdfeuer zieht von den dicht bebauten Insulaesiedlungen bis hinauf zu den Hügeln der Oberschicht.

Tiberius genießt diesen erhabenen Anblick auf seine Metropole – Rom!

Sein Blick schweift weiter über das glitzernde Wasser des Flusses, der ihm seinen Namen gab. Der Tiber schlängelt sich entlang des schier unendlichen Häusermeeres der Millionenmetropole. Tiberius Augen folgen unwillkürlich den zahlreichen Aquädukten, die wie endlose Schlangen aus dem Dunkel der umliegenden Berge in die Millionenmetropole eintauchen, und als lebenswichtige Wasseradern das wertvolle Nass für die vielen Thermen und Brunnen liefern. Sie versorgen die zahlreichen durstigen Mäuler zuverlässig, selbst in den trockensten und heißesten Sommermonaten.

Direkt zu Tiberius Füßen liegt das gigantische Oval des Circus Maximus, Schauplatz der legendären Wagenrennen. Dahinter erhebt sich der Aventinhügel. Weiter rechts sticht das Halbrund des Marcellustheaters aus den Dächern des Campus Martius hervor. Das Marsfeld hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewaltig verändert! Tiberius kennt aus seiner Kindheit diesen großen Aufmarschplatz der Legionen noch als überwiegend freies Feld. Nun stehen hier Theater, Tempel, Zirkusse, Thermen, Obelisken und Monumente, aber natürlich auch jede Menge Insulae. Seine Legion wird morgen früh vom nördlichen Rand des Marsfeldes aus in Richtung Germanien aufbrechen.

Tiberius fühlt sich einsam! Der alles beherrschende und bestimmende Stiefvater hatte immer sein Leben kontrolliert, bis heute!