Armut macht frei (2) Totenlärm - Werner Laraß - E-Book

Armut macht frei (2) Totenlärm E-Book

Werner Laraß

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Beschreibung

Weiter geht die Abrechnung mit aktueller Wirtschaft und Politik und spitzt sich zu. Kann es schlimmer kommen? Ja, immer noch.

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Inhaltsverzeichnis

7. Tod, Trennung und Verrat

8. Der hoffnungslose Ernst der Lage

9. Rauswürfe und Luftverkäufe

10. Gerten und Bomben

11. Zuziehende Schlingen

12. Spiele mit dem Tod

13. Monumentalkitschiges Schlußmelodram

Anhang

Kleinlicher Hinweis

Warnung

Wernersche Regeln

Womit Urban Neuspring leider recht hat:

Der ganze Text von Ulla Quetz’ Lied „Gready Lover“

7

Tod, Trennung und Verrat

Nyse rief Papp an. „Die Pet ist tot“, sagte sie nur düster.

Trotz allen Abstands fühlte Urban sich plötzlich kalt. Petula war doch immer noch seine Tochter – jetzt gewesen. „Wie ist das passiert?“

„Scheint, daß sie im Schlaf erstickt ist. Sie war stockbesoffen. Das war auch komisch. Sie hat ein paar Schnäpse getrunken, aber sonst doch immer nur Cola. Sie war bei uns zu Besuch und ziemlich unangenehm. Hat uns erzählen wollen, was wir alle zu besorgen hätten, damit sie Karriere macht. Darauf hat sie sehr schnell ein paar gekippt. Und dann hat sie sich wohl dumm in die Bettdecke verwickelt.“

Sie schwiegen sich kurz gegenseitig an.

Dann kam es von Nyse plötzlich eiskalt: „Nein, ich bedaure nichts. Sieh mal da nach: . . .“ Sie gab ihm einen Link.

Es war eine Seite, zu der man schwer Zutritt bekam, außer man wußte, wie man solche Eingänge knackt: Kinder für Freunde und Kenner. Nach den Angaben fand Urban: Bilder von Nyse, mit acht oder neun Jahren, eindeutig sie mit klarem Gesicht, ganz und gar nackt, in verfänglichen Posen, die Beine gespreizt, von vorn und hinten, schräg von unten, auch sehr genaue Nahaufnahmen von allem, was zwischen den Schenkeln war, sie spreizte es mit den Fingern, dann von hinten in gebückter Haltung, und das Mädchen lachte unter dem eigenen Bauch hindurch etwas unklar, weil die Tiefenschärfe nicht ausreichte, aber noch eindeutig als sie zu erkennen. Es sah aus, als habe sie großes Vergnügen dabei. Nyse beim Pinkeln, ebenfalls sehr fröhlich.

„Ich wußte das gar nicht mehr. Wir haben uns gegenseitig nackt fotografiert, stimmt. Und dann hab’ ich einfach ohne Sachen weitergespielt, weil’s bequem war und eben drum, weil man sowas nicht tut. Und sie hat immer weiter geknipst. Daß ich solche Posen gemacht habe, komisch. Ich hab’ das wohl vergessen, weil ich’s damals nicht verstanden habe. Da waren ja auch die Sachen mit den Stofftieren bei ihr gewesen. Ich hab’ das wohl normal gefunden.

Und dann hat sie sich mit den Bildern im Netz was dazuverdient.“

Da saß Urban nun und hatte zu verarbeiten. Sein eigenes Kind war tot. Eines hatte er kürzlich erst richtig entdeckt; dieses zweite konnte er nie mehr finden, denn es war nicht mehr da. Nyse schien bitter verfeindet gewesen zu sein mit ihrer Schwester; was hatte er nur je von seiner Familie gewußt? „Seine“?

Stand es ihm zu, parteiisch zu sein? Nur, weil er jetzt eine von beiden besser verstand, durfte er ihr die Befreiung von der anderen gönnen? Zumal auch Nyse nicht geradezu glücklich klang. Erst einmal wußte er nur wenig zu denken. Wer außerhalb aller eingeführten Werte steht, was tut der mit der neuen Lage, ein eigenes Kind begraben zu müssen?

Es geschah selten, aber heute trank Urban mehrere Gläser von seinem sehr guten Cognac und legte sich mit dieser Füllung schlafen. Es gelang nicht, und nun starrte er ausdauernd die Decke an. Wozu stellte man im Leben irgend etwas an? Gab es so etwas wie einen Sinn? Wofür brauchte man ihn? Und warum suchte ausgerechnet er, Urban Neuspring, danach?

*

Hilfrich ließ keine Ruhe und fragte immer wieder nach. Wann, möglichst mit Uhrzeit, hatte Wallner die Dosen verabreicht, konnte er einigermaßen sicher sagen, wie schnell danach die Patienten sie eingenommen hatten? Nicht nur das; wann waren die Proben potenziert worden? Bitte so genau wie möglich!

Wallner fand das kleinlich, so wissenschaftlich er auch selbst zu arbeiten gewohnt war. Aber alles muß seine Grenzen haben. Sollte er den Plan des städtischen Leitungsnetzes auch noch beifügen, um zu verfolgen, wie das Wasser zugeflossen war? Hilfrich meinte, auch das könne nützlich sein, aber immerhin konnten darauf die Stadtwerke besser antworten. Er griff diesen Teil tatsächlich auf, übernahm ihn dann aber wenigstens selbst. Hilfrich war geradezu lästig, nicht nur durch ständige Rückfragen, sondern auch mit seinen Ergebnissen. Und dann wußte er es:

„Wie konnte ich nur so unachtsam sein. Es ist vollständig klar: Die Wirkung hängt von der Mondphase ab. Und zwar weniger vom Termin der Verabreichung, sondern von der Konstellation während der Potenzierung.“

Wallner hatte Mühe, sich zu überwinden, daß er zuhörte oder das mindestens vortäuschte. Er erfuhr, ohne es zu wollen, daß es unter Esoterikern ganze Listen davon gibt, welche Krankheiten man bei zu-, welche dagegen bei abnehmendem Mond behandeln soll. Und hier, so der Heilpraktiker, kam es eben darauf an, zu welcher Zeit das Wasser mit Wasser verdünnt worden war, nicht wann der Patient es anwandte. Doch, das auch, aber nur zu etwa einem Viertel der Wirkung. Dann wiederum, so rechnete er gerade heraus, gibt es Krankheiten, die am besten ansprechen, wenn man Potenzierung und Anwendung zur gleichen Mondphase vorsieht, dagegen wieder solche, für die sie zwischen beiden Stichtagen wechseln sollte.

Wallner blieb höflich. Auf diesem Gebiet kannte er sich gar nicht aus, und er wollte es schon überhaupt nicht. Das ging für einen amtlich bestallten Arzt nun doch zu weit. Aber immerhin kam das Geschäft jetzt wieder in Gang.

Seine Seele mußte er seinem Beruf immer verkaufen. Entweder, um schön treu und brav im Schulbetrieb mitzuschwimmen, oder um sein eigenes Krankenhaus mit Hilfrichs Entdeckung zu betreiben. Ehrlich bleiben kann wohl nur ein verkrochener Höhlenbewohner. Das sah er langsam ein.

*

Es gab eine Obduktion, es gab auch das Urteil des Arztes: Fremdverschulden nicht ausgeschlossen. Abwehrverletzungen; na gut, sie konnte auch für sich allein gestrampelt haben. Im Magen fanden sich Reste eines Medikamentes, das die Willenskraft schwächt. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf, mußte sie aber bald wieder einstellen. Wer bewies, daß Pet dieses Mittel unfreiwillig eingenommen hatte? Sich dann nötigen zu lassen, ungefähr eine ganze Flasche Gin auszutrinken, soviel hatte sie in Magen und Blut, dazu genügte die verbleibende Willenskraft einer weiteren Person, aber das allein war noch nicht strafbar. Das Fläschchen des Mittels fand sich in Pets Gepäck, aber auch das bewies natürlich nichts im Familienkreis. Es gibt zwar kaum einen vernünftigen Grund, warum jemand freiwillig diese Arznei einnimmt, aber Unvernunft ist kein Beweis. Ihre Spuren auf der Flasche erklärte Nyse schnell: Sie hatte in der Wohnküche auf dem Tisch gestanden, und Pet hatte sie zurückverlangt; Nyse hatte sie ihr gegeben, ohne zu wissen, was darin war, wie sie sagte. Die leere Ginflasche stand auf dem Küchentisch und war natürlich von allen angefaßt worden. Mit Pet im Haus gewesen waren nur Miriam, Ronald und Nyse, aber das war allgemein bekannt, denn sie war ja deren Gast. Ihre Spuren besagten also nichts. Alle drei behaupteten, man sei ungefähr zur gleichen Zeit schlafen gegangen, jeder in ein anderes Zimmer. Und alle drei sagten aus, auch sie seien nicht mehr nüchtern gewesen. Motive gegen die Tote hatten alle so viele, als hätte Agatha Christie sie als ihre Gestalt erfunden. Zum Beispiel gab es Bilder von Ron ebenfalls im Netz, in denen er noch nicht wirklich erwachsen sein künftiges Gemächt als Spielzeug für merkwürdige Übungen gebraucht hatte. Auch er beim Wasserlassen.

Und die Mutter? Heimlich beobachtet, anscheinend mit einer so kleinen Kamera, daß sie sich gut im Schlafzimmer verstecken ließ. Diese Bilder waren noch nirgends öffentlich, aber sie fanden sich in Pets Datensammlung. Und auch: Miriam im Bad auf dem Bidet.

Nyse war mit solchen Mitteln nicht mehr zu treffen, aber sie wußte: „Die Pet hat irgendwas angedeutet, sie wüßte, mit wem ich mein Abitur ausgehandelt habe. Und das könnte sie mir vermasseln. Ich weiß nicht, was sie vorhatte.“

Und mindestens gegen Papp versuchte sie gar nicht, irgend etwas zu leugnen. Sie sprachen es nur beide nicht aus. Urban fand: „Wenn das jemand absichtlich gemacht hat, dann war es sehr gut geplant. Alle Achtung!“

Gegen die Kinderpornoseite ging Nyse nicht weiter vor. Je weniger sie sich herumsprach, um so besser blieb es. Sie ließ sich abschalten, aber natürlich wußte niemand, wie weit ihr Inhalt schon gestreut hatte.

Übrigens fand sich auch in Pets Gepäck ein hochwirksames Gift, ein solches, das nachträglich schwer nachweisbar ist. Das Fläschchen war nicht angebrochen. Hatte da jemand das Golden Goal geschossen, war die eine schneller gewesen als die andere? Mit welchen Gedanken war die Große angereist? War die Jüngere oder waren die anderen nur einfach der eigenen Gefahr zuvorgekommen und hatten Glück gehabt?

Für die Kriminalfachleute machte dieser Fund den Vorgang nicht einfacher.

*

Es war ein ziemlich großer Empfang, bei dem es einem Klatschreporter gelang, dem Minister Pflüger Ulla Quetz vorzustellen. Er habe sich doch so begeistert von ihrer Filmrolle gezeigt. Ja, bestätigte er.

Mit Albrecht hatte vorher Laumann geredet, ein bißchen mehr als knappe Andeutungen. Ulla hatte ein Gespräch mit den Leuten von vv&v hinter sich. Der Zufall war ganz und gar genau nur das, aber ja!

Man sah die beiden beim anschließenden Fest miteinander tanzen. Das ist eine Fertigkeit, die ein Politiker wenigstens in Andeutungen beherrschen sollte oder sich wenigstens von ihr beherrschen lassen. Die Blitzlichter machten Wetterleuchten umher. Nachher fand man die beiden an der Bar, tief im Gespräch verfangen, über Filmrollen und weitere Pläne, wie es hieß. Der Reporter war im Privatleben geduldet.

Wo war eigentlich Anja verblieben? Zu Hause konnte sie sich nicht mehr blicken lassen. Albrecht hatte sehr deutlich erklärt und seinen Scheidungsanwalt ihr zusätzlich ausrichten lassen, er dürfe mit ihr in der Öffentlichkeit nicht mehr erkannt werden, das schade seinem Ruf und seiner Glaubwürdigkeit im Amt. Sie schien bei einer Freundin untergekrochen zu sein und sich vor der Welt zu verstecken.

Über sie redete er allerdings nicht mit Ulla. Der Barmann erkannte gut, daß sie wenig miteinander anzufangen wußten. Sie saßen einfach da, jeder starrte vor sich sein Glas an, und immer wieder stellte der Minister höfliche Fragen, Konversation ohne Inhalt. Es sah aus wie harte Pflicht für beide; er kannte so etwas.

Elfie fragte allerdings ein paar Nächte später mit leuchtenden Augen: „Hast du sie gevögelt?“

„Aber ich bitte dich!“

„Doch! Mußt du machen!“ Sie hatte viel mehr verstanden als Albrecht bisher. Und eifersüchtig war sie schon überhaupt nicht.

*

Nur einmal so gedacht: Pet war streng einberufen, sie wollte Geschäfte besprechen. Ihre Drohungen kannten alle. Man konnte sich verabreden. Es gibt einen Schwarzmarkt für Medikamente. Sie ablenken, ihr etwas in den Kaffee träufeln, nachher trinkt sie den Schnaps auf Zuruf fast ohne Widerstand. Hilfe auf dem Weg ins Bett. Sie schläft sofort. Nüchtern hätte sie ihr Zimmer abgeschlossen, das war sie aber nicht mehr. Sie hatte die Unterwäsche vom Tag an, wußten die Ermittler. Jeder bringt seine Decke mit. Vier Schichten, damit es keine Spuren gibt, das Gewicht von drei Personen darauf. Auch mit einem dämpfenden Mittelchen muß man rechnen, daß in echter Gefahr der Trieb zur Abwehr trotz allem wirkt, so wie jeder sofort nüchtern ist, wenn das Haus brennt. Eine Schulter der Toten war ausgerenkt. Sie hatte sich nicht einfach die Luft abschnüren lassen, ob nun von ihrer eigenen Decke oder von mehreren Mördern. Abwarten, bis sie länger still hält, bis sie ganz sicher tot ist. Man will keine lebendige Überraschung am nächsten Morgen. Dann wieder die eigenen Decken mitnehmen und darunter den Schlaf des Gerechten versuchen? Gelingt das? Hält jemand Wache, um zur Not nachzuarbeiten? Niemand muß es wissen. Es ist Zeit bis zum nächsten Mittag, denn die Fürstin schlief gern lange. Dann zu ihr eindringen und überrascht sein, nein, erschrocken. Die Arme!

Natürlich findet die Polizei sie nicht so vor, wie sie sich stranguliert haben soll. Die Familie hat alles versucht, um sie zu retten. Sagen alle. Der Tatort läßt sich nicht rekonstruieren. Wer kann daraus einen Vorwurf machen? Jeder ordentliche Bürger denkt erst dann an Ermittlungen, wenn es für alle Hilfe zu spät ist.

Oder war es ganz anders? Hatte Nyse es allein geschafft? Dann war sie ein wahrhaft tüchtiges Mädchen. Alle seien zur gleichen Zeit schlafen gegangen; sie kann auch noch einmal aufgestanden sein. Jeder der anderen für sich ebenso. Oder schon auf Verdacht deckten sich alle gegenseitig, weil jeder jedem alles zutraute, und alle wußten mehr.

Alle Spuren waren da, aber sie bewiesen nichts. Diese Familie war gerissen. Die Ermittler hätten sie in Widersprüche verwickeln können, aber auch die belegten gar nichts, denn niemand war nüchtern gewesen, sagten sie. Fragen konnte Urban, aber nicht auf eine klare Antwort rechnen. Also drang er nicht darauf. Er konnte nur versuchen sich vorzustellen, wie er selbst es angefangen hätte.

Es gab auch folgende nachdenkliche Äußerung von Nyse: „Wenn das wirklich jemand getan hat, hoffentlich war sie wach genug, um es zu merken, und hoffentlich hat der dann was zu ihr gesagt, so in der Art: Das war’s jetzt. Das hast du dir verdient. Damit sie’s verstanden hat. Hoffentlich, dann war’s wenigstens für was gut.“

Aber er fand es weiterhin schwierig, parteiisch zu denken. Nyse war sein erklärter Liebling, aber auch Pet seine Tochter gewesen. Den Zugang zu ihr hatte er versäumt. Gab das der Jüngeren Vorrechte? Jetzt war es nicht mehr nachzuholen.

Aber wahrscheinlich war auf dieser Welt Platz nur für eine der Schwestern. Soviel war einzusehen. Half es weiter, der Überlebenden etwas übelzunehmen? Dann hatte er beide verloren. Trotzdem fiel es ihm schwer, sich zu ihr weiter zu stellen wie bisher.

Obwohl gerade sie Trost zu brauchen schien. Ob nun deshalb, weil sie eine schlimme Tat verwinden mußte, ob nur, weil sie eben auch empfand, daß es eine Familie war und sogar die böse Schwester eben doch die Schwester. Sie war merklich angeknickt.

Sie konnte auch nicht sagen: Ich habe sie umgebracht, ich habe mindestens richtig gefunden, daß sie tot ist, das ist auch schon so gut, als hätte ich es getan. Ich bin böse, verhau mich noch mal. Zu diesem Anlaß hätte er es vielleicht sogar wieder getan. Und dieses Mal hätte es wahrscheinlich beiden geholfen. Aber das war vorbei. Um so mehr, als Nyse selbst den Vorfall als vielleicht schlimm empfand, aber offenbar gar nicht als Schuld. Gerade dafür hätte sie eine Ahndung nicht verstanden.

*

Die Schulmedizin hatte natürlich die Erklärung: Placebo. So hieß das Mittel offen und ehrlich. Was mehr besagte es? Im Grunde war es die Bestätigung, auch die der eigenen Hilflosigkeit.

Wallner wollte damit nichts zu tun haben, aber jetzt hatte er damit zu tun und konnte kaum mehr zurück. Er hätte sich im Betrieb der Heilindustrie treu und brav verstecken können, aber das wollte er schon gar nicht.

Denn soviel verstand auch er: Wenn es ausreicht, einen Patienten zu heilen, daß man ihm sagt, man heile ihn, dann haben in seinem Fall alle Ärzte vorher versagt. Dann kann er nämlich nicht richtig krank sein, sondern hat sich umgekehrt das nur eingebildet. Der Fehler ist schon lange vorher passiert, aber worin nur besteht er?

Placebo ist immer die Ausrede, wenn ein Patient trotz ärztlicher Behandlung gesund wird. Placebo ist immer das Wort, wenn die Ärzte nichts verstehen, die Ausrede für alles und jedes. Wenn jemand so ungehorsam ist, gegen alle Prognose gesund zu werden, wenn er es ohne Medikation schafft: Placebo. Wenn die Statistik etwas nicht erklären kann: Placebo. Wir Ärzte haben versagt, vielleicht hat auch der Patient versagt, weil er sich eine Krankheit eingebildet hat, und jetzt wird er trotzdem gesund. Wie unverschämt!

Aber wenn im Grunde jeder aus eigenem Entschluß und nichts weiter gesund werden kann, mindestens so viele, wozu braucht man dann noch Ärzte? Jetzt legte Hilfrich seinem Erzeugnis einen Mondkalender bei, jede Packung war ausgewiesen auf die astrologischen Bedingungen, unter denen die Füllung entstanden war, und man sollte doch bitte je nach eigener Krankheit und Lage gezielt vorbestellen. Das machte php nicht gerade billiger, aber darin bestand das Anliegen ganz und gar nicht.

Vor Reichtum konnte sich Hilfrich nicht mehr retten. Und wann wollte Wallner endlich zu ihm überlaufen? Die Klinik war dringlich.

*

Soviel ergaben die Ermittlungen:

Fetzen von Gesprächen, soweit die Familie ausgesagt hatte: Nyse hatte Pet eingeladen, sie empfing sie an der Tür, und honigsüß tauschten beide Wangenküßchen aus, die sie wohl beide empfanden wie Ohrfeigen.

Pet sagte so etwas wie: „Na, wir werden uns doch wie immer friedlich einigen.“

Dann, nach ein paar Wortwechseln: „Doch, du hast recht. Jetzt hast du mich ertappt. Das Geschenk war von mir. Freut mich, daß ich endlich mal das Richtige getroffen habe.“

Wir wissen, daß in diesem Haus nie etwas offen besprochen wurde. Beim Abendessen mußten alle vorsichtig sein, nur in Andeutungen zu reden. Von den Geschäften der Töchter mochte der Rest etwas ahnen, aber niemand wollte es wissen. Aber jedenfalls hatte Nyse anscheinend ein Stichwort: „Ja? Du hast Videos davon? Toll! Gib mir bitte den Link, damit ich sie ’runterladen kann.“

Welches Geschenk eigentlich? Nur Nyse konnte auf die Nachforschungen antworten. „Ach, eigentlich nur ein freundschaftlicher Wink. Ich habe wirklich gedacht, sie will sich versöhnen. Eine Art Ständchen, das mir unbekannte Freunde gebracht haben.“ Unbekannt eben; man konnte sie nicht fragen. Sie öffentlich angebunden in einem zugänglichen Haus, rundum begrapscht; nein, das konnte sie nicht erzählen.

Das muß Pet gewußt haben. „Du willst das ins Netz stellen? Überleg dir das gut. Wie willst du dann noch in Yale studieren?“

„Ach, das weiß ich noch nicht. Vielleicht mach’ ich das auch ganz anders. Die bürgerliche Arbeit überlaß’ ich dir; du kannst das besser.“

Vor der Polizei behauptete Nyse, dabei sei es nicht mehr um das Geschenk, sondern um die Kinderpornos gegangen, die Pet von ihr gedreht hatte. Die selbst unwiderruflich öffentlich machen? Nein, das habe sie nur gesagt, um Pet zu blocken. Die sollte denken, sie sei nicht erpreßbar: Dann mache ich das doch gleich selbst. Du kannst mir gar nichts.

Später muß Pet ihrer Schwester noch Namen von Lehrern zugezischt haben; die schien zu wissen, was gemeint war. So erinnerten sich Miriam und Ron. Dann verlangte sie von der ganzen Familie nicht mehr oder weniger, als daß alle nun einzig an ihrer Karriere zu arbeiten hätten, denn sie sei nun einmal die Erbin. Sie begründete es nicht weiter; das stehe ihr zu. Auch Ron sei auf ein Stichwort blaß geworden; das stand in keinem Polizeiprotokoll, das wußte Urban von Nyse. Ein Name, wie noch? Eine Bank, ein Mitarbeiter dort.

Ungefähr soweit ließ sich widerspruchsfrei die Vorgeschichte aufspüren. Danach wollten, wie gesagt, alle ins Bett gegangen sein.

Was fiel Nyse dazu ein, wie viele Menschen es braucht, nur einmal angenommen, Pet sei nicht von allein erstickt?

Sie dachte lange nach. „Wenn jemand die Decke quer ums Bett festgebunden hätte. Nicht mit schmalen Schnüren. Ganze Laken drüber. Damit sie sich keine Spuren einschneidet, wenn sie kämpft. Dann schafft das einer allein. Könnt’ ich mir denken. Was soll ich wissen? Ich war ja nicht dabei.“

„Das Bett steht frei?“

„Auf Lücke an der Wand. Du kennst es doch.“

„Das ist schon lange her, daß ich eure Schlafzimmer gesehen habe.“

Und dann noch drei Decken darüber . . . Urban dachte an das Rätsel, wie man eine glitschige Flüssigkeit von einer Kellertreppe schnell wieder entfernen kann, ohne daß jemand etwas davon merkt. Warum denn eine Flüssigkeit? Das erzählt man nachher, um abzulenken. Eine dünne, durchsichtige Folie, die mit den Füßen abrutscht. Gefaltet, so daß zwei Lagen aufeinander gleiten. Wenn das Opfer auf sie tritt, ist sie nachher nicht mehr dort zu finden, wo sie gewirkt hat, und es gibt keinen Verdacht. Das ist gewöhnlicher Müll im Keller. So könnte man das zumindest machen, meinte Papp. Wer weiß? Wenn es nicht gleich beim ersten Mal wirkt, kann man den Versuch ja geduldig wiederholen.

Aber was wußte er denn? Er war ja nicht dabeigewesen.

„Wenn man unbedingt hinter jedem Unfall gleich einen Mordanschlag vermuten will . . .“ sann Nyse vor sich hin. Und sie stießen auf ungeklärte Kriminalfälle an.

*

Laumann fragen? Albrecht hatte eine eigenartige Hemmung davor. Er ahnte wohl, was der sagen mußte.

Es war ja nicht so, daß Ulla ihn irgendwie aufgemuntert hätte. Sie war immer noch ein braves Mädchen aus dem Volk. Elfie nun aber, mit Begeisterung im Gesicht, als er mit ihr bei verfänglichen Taten war, bestärkte immer mehr, diese Verbindung brauche das Volk. Und dann zwang sie ihm ungefragt einen Lehrgang dafür auf, wie man ahnungslose Frauen verführt. Natürlich nicht solche gut geschulten Luder wie sie selbst, die stehen über den Dingen oder holen sich ab, was sie wollen, noch ehe sie verführt werden. Wenn nicht beides dasselbe war. Sie auf sinnlich-erotische Gedanken einstimmen, am besten einfach und allgemein, ohne von ihnen beiden selbst zu reden. Ihre Gefühle am Verstand vorbei wecken, noch ohne ihnen ein Ziel zu geben. Am Ende die reife Frucht vom Baum pflücken.

Sie erzählte ihm Einzelheiten über weibliche Empfindungen, die noch nicht einmal Kolle gewußt hätte. Nun ja, der war ja auch nur ein Mann. Wie es sich von der Spitze her ausbreitet. Wie es spannt und kneift und zur Gier wird. Wie es weh tut und nach Erlösung schreit. Dann nur noch da sein und sich überreden lassen. Sie rücksichtsvoll und zartfühlend anfassen, einladen zur Anlehnung. Am Ende nicht fragen, sondern mitnehmen.

„Und das würdest du gut finden, wenn ich andere Frauen aufreiße?“ fragte er sie.

„O ja! Wenn du so ein toller Hecht bist.“

Da ließ er sich herbei und zeigte ihr die Aufnahme von sich und Aurora. Nein, Elfie war nicht eifersüchtig. Stattdessen sah sie geradezu begierig auf das Bildschirmchen seines Tragerechners.

„Irrsinn! Von der kann sogar ich noch lernen. Mir scheint, die kann noch besser Sex als laufen.“

Aber ein paar Geheimnisse wollte auch er für sich behalten. „Schritt für Schritt“, sagte er nur. Immerhin fand sie: „Ich teile einen Mann mit der da. In der Liga spiele ich mit. Das spricht doch für mich, meinst du nicht?“

*

Die Beerdigung war unvermeidlich, auch, daß sich nach langer Zeit der Rest der eigentlichen Familie wieder traf. Nyse hielt sich die ganze Veranstaltung über auffallend nahe beim Vater auf. Ihre fast ärmellose enge Rüschenbluse war eine Herausforderung: schwarz, aber so gar nicht traurig, mit einem zwar sparsamen, aber tückisch tief reichenden Ausschnitt, eindeutig: ohne Halter. Dazu ein Minirock, keine Strumpfhose, hochhackige Schuhe. Eigentlich war es für solche Kluft zu kühl noch vor dem eigentlichen Frühling, aber das kannte man ja von ihr; immerhin stand sie mit den Beinen auf Lücke, was nur Eingeweihte richtig deuten konnten. Nicht einmal ein Jäckchen zur Sicherheit hatte sie dabei, sie war eingekleidet für Kirche und Leichenschmaus. Um so stärker war die Wirkung: Sie trotzte sichtlich der Trauer. Und daß man Begräbnisse auch zu anderen Zwecken nutzt, als nur jemanden unter die Erde zu bringen, ist ja allgemein bekannt.

Einen Auftrieb an Familie gab es mehr von Miriams Seite; die hielten besser zusammen. Aber wirklich bekümmert sah niemand aus. Anscheinend hatten auch andere manches erlitten. „Aufstrebend, unbeirrbar, einer verheißungsvollen Zukunft entgegensehend“; der Pfarrer wußte übliche Sprüche. Beim Essen saß die eigentliche Verwandtschaft nahe zusammen. Und Miriam konnte es doch nicht ganz lassen hinüberzusticheln.

„Daß es soweit kommen mußte. Die Erziehung war deine, und du weißt das.“

„Du hattest die Kinder immer bei dir. Jetzt mach mir das nicht zum Vorwurf.“

„Ja, du wolltest sie ja nicht. Aber bei mir haben sie nur gewohnt. Die Erziehung hast du mir abgekauft, und das hast du genau gewußt. Du hast sie eingeladen auf deine Ausschweifungen. Mich haben sie doch nicht ernstgenommen. ,Papp weiß, wie man Erfolg hat‘, haben sie mir ins Gesicht gesagt. Ron mal wörtlich: Halt dich da ’raus, du verstehst nichts vom Leben. Immer Luxus auf Kosten anderer, und sie haben es geschafft. Denen konnte ich nichts mehr sagen. Ich hab’ ihnen das Essen hingestellt, das war’s.“

Keine Frage, auch Miriam glaubte nicht an einen natürlichen Tod, das ergab sich unvermeidlich daraus. Denn was hatte Urbans Erziehung damit zu tun, wenn jemand sich betrunken in die Bettdecke wickelt?

Urban sah ihr gerade ins Gesicht und fragte: „Wer ist in diesem Fall wirklich unschuldig?“

Sie sah ebenso unbeirrt zurück. „Daß es soweit kommen mußte, meine ich. Daß sie so geworden ist. Ob sie deshalb getrunken hat, was sonst war, das ist das Gleiche.“

Keine Antwort ist auch eine Antwort. Er hätte doch gern gewußt, ob Nyse allein es getan hatte, ob die anderen es mindestens wußten, ob sie geholfen hatten.

Zwei junge Herren verbrüderten sich zum Ausklang an der Bar. Urban konnte lange Ohren machen und hörte: „Ich wollte nur sicher sein, daß sie wirklich unter der Erde ist. Daß sie nie wieder ’rauskommen kann.“ Der andere nickte, und sie stießen mit Whisky-Tumblern an.

Nyse wußte: Diese beiden galten als Pets Verlobte. Und zwar gleichzeitig. Und das schon bei einer jungen Dame, die gerade eben ihr Abitur gemacht hatte, die viel zu schnell in einer amerikanischen Elite-Universität studieren durfte. Niemand forschte nach, was sie ihnen angetan hatte.

*

Gerti war einfach zu gut.

Nicht nur, daß sie trotz aller Bedenken ihrer Kollegen es durchaus fertigbrachte, in ihren Stringpants auf die Straße zu gehen; dazu oben herum ein kurzes Jäckchen, gerade bis unter den Nabel, um die fast vollständige Nacktheit unten desto mehr herauszustreichen. Man drehte sich nach ihr um und raunte. Der Auftritt wurde bemerkt; polizeifähig war er gerade noch nicht. So erschien sie nun doch auch zur Arbeit.

Dabei wieder aufgewärmt von den früheren Hot Pants: Die Taschen, die nach unten heraushängen, unvermeidlich ganz frei baumelnd am Gürtel, aber jetzt auch hinten. Nur ganz nackt ist auch ein hübscher Hintern vielleicht doch etwas langweilig anzusehen. Und auch weiterhin läßt sich allerhand schmückendes Beiwerk anhängen, gut zu verkaufen als zusätzliches Geschäft.

Der nächste Einfall für diesen Laden, der ausdrücklich nichts verkaufen wollte, kam von ihr unter aller Vorsicht, denn sie wollte dringlich darauf beharren, daß er unter ihrem Urheberrecht lief. Schon wieder: Sie hätte ihn nie verraten, wenn sie nur gewöhnliche Angestellte gewesen wäre.

Wie konnten andere nur so dumm sein? Beschäftigt beim Großkonzern, und der Arbeitsvertrag besagt unter anderem, sämtliche Einfälle, die einer hat, gehören der Firma, sogar dann, wenn sie mit dem eigentlichen Arbeitsgebiet nichts zu tun haben, auch alles, was jemand in der Freizeit austüfteln könnte. Wissen die Personalanführer nicht, wie diese Firmen es selbst machen? Erfindungen aufkaufen, um sie vom Markt fernzuhalten. Wer wird seinen Einfall opfern, wenn er nichts dafür bekommt und danach keine Rechte daran hat? Man hält ihn natürlich geheim.

Wie viele wertvolle Neuerungen bleiben der Menschheit dadurch vorenthalten, daß sie aufgekauft werden? Wie viele aber auch dadurch, daß ein halbwegs wacher Mitarbeiter seinen Einfall doch vernünftiger für sich behält, als ihn zu verschenken. Er wird ihn in der Schublade lassen, bis er von seinem Arbeitgeber wieder freikommt. So klug war man bei vv&v gewesen, Gerti das eigene Recht zu gewähren. Denn auch dies hätte sie vor der Zeit niemals verraten:

Laßt euch dafür bezahlen, daß ihr nicht werbt! Erst einmal brave Haushalte mit Reklame überschütten, ihre E-Mail-Adressen verstopfen; dafür gibt es Programme und technische Hilfsmittel, zum Beispiel die PCs ahnungsloser Nutzer als Bodenstationen ausbeuten, die online Spam überallhin verteilen.

Dann die Freistellung verkaufen. Zahlen Sie einen bestimmten Betrag, und Sie bekommen von uns keine Werbung mehr. Natürlich nicht als einmaliger Freikauf, sondern monatlich im Abonnement. „Gegen eine Gebühr von 5 Euro streichen wir Sie künftig aus unserem Postverteiler, und Sie erhalten keine Werbung mehr von uns.“ Allein damit könnte eine Firma heute gut leben, die nichts anzubieten hat als die Entlästigung von sich selbst. Nichts anbieten und das verkaufen, so verstand sich der Name der Firma und auch ihr Leistungsumfang.

Es gibt die „Robinson-Liste“. Aber sie hat den Fehler, daß sie kostenfrei ist. Wo etwas ist, muß man abschöpfen.

Aber Kaul und Paller waren vorsichtig. Man wollte ja ehrbar arbeiten. Wie weit war so etwas nach Lage der Gesetze möglich? Da gründete man doch lieber eine Firma irgendwo in der Karibik, die das übernehmen konnte.

Wofür wirbt man? Darauf kam es nicht an. Gar nicht käufliche Erzeugnisse, Lufterfindungen. Damit konnte man zusätzlich den Markt erforschen: Krause Dinge ausdenken, irgendeine Mailadresse, unter der man Bestellungen sammelte und auszählte, welchen Unfug unbedarfte Leute tatsächlich kaufen wollten. Bildschirmfenster, die sich alle paar Sekunden öffnen oder mindestens eine Meldung anregen, Achtung, Popup geblockt. Dann, nach einer Weile die Aufforderung: Soundsoviel da und dorthin überweisen, Dauerauftrag, und diese Werbung kommt nicht mehr. Schutzgeld in seiner saubersten Form. Die nächsthöhere Stufe: Überweisen Sie mehr für unser Luxus-Paket, und wir geben Ihre Daten außerdem nicht mehr weiter an Geschäftspartner. Wir müssen uns doch schadlos halten, wenn wir unser Wissen nicht auswerten. Sich die Masche schützen lassen. Als Lizenz natürlich zu vergeben an beliebige andere Firmen: Zahlt etwas, dann werben wir nicht mehr. Dann regelmäßig eine Zahlungsbestätigung, und hinten herum ist sie doch wieder eine Nachricht von der gesperrten Firma.

Bei vv&v ergab sich ein Grundsatzgespräch: Wem gehören persönliche Daten eigentlich? Etwa demjenigen, über den sie etwas aussagen? Nicht doch. Dem, der sie erhebt. Auch die Rechte am Paßbild hat der Fotograf, nicht derjenige, der darauf zu sehen ist. Auf diese Weise haben wir die schöne Masche, daß man mit dem Eigentum anderer handeln und Geld verdienen kann. Das ist demnach erlaubt: Ich verkaufe das Auto meines Nachbarn oder vermiete sein Haus. Mit seiner Adresse handeln darf ich jedenfalls. Der Einstieg ist gemacht, das Verfahren läßt sich erweitern.

In irgendwelchen Gesetzen steht etwas von „informationeller Selbstbestimmung.“ Welch gute Pointe! Die Sehl lachte aus vollem Hals wie selten einmal. „Deutschland nennt sich ja auch immer noch ,Soziale Marktwirtschaft‘“, wußte sie, „und China ,kommunistisch‘. Das ist der Humor unserer Zeit.“ Ja, Neusprech.

Aber das Prinzip hatte dieses kleine Büro gut verstanden. Nichts darf sich bewegen, ohne daß jemand abschöpft. Zum Beispiel der unerträgliche Zustand, daß in den Zeiten des Sozialkitsches die Rentenversicherungen sich bis auf geringe Verwaltungskosten selbst trugen, dieser Skandal wird mehr und mehr abgeschafft. Alle Beiträge wurden vorher ausschließlich zurück an die einzahlenden Arbeitnehmer vergeudet; so konnte das natürlich nicht bleiben. Es kann doch nicht sein, daß Leute Geld bezahlen und niemand etwas davon privat abgreift! Auch die Renten kauft man sich bis auf einen Rest gegen Gebühr wie alles sonst. Für alles, was geschieht, muß irgend jemand Schutzgeld einziehen. Wo kämen wir denn da hin, wenn an irgend etwas niemand verdienen könnte?

Also auch die „informationelle Selbstbestimmung“, also auch vieles andere, was noch wartete. vv&v war immer einfallsreich gewesen.

*

Nyse lümmelte sich vor ihrem Vater in einer Weise herum, wie das ordentliche Töchter nicht zu tun pflegen; er sah daraus den Vertrauensbeweis. Schon deshalb, weil sie nicht mehr durch die Nase maulte. So lagerte sie sich auch in gewohnt unzureichender oder gar keiner Kleidung auf der Couch herum, sie hörte nicht einmal mit netten Selbstbehandlungen auf, nur weil er gerade in der Nähe war, wenn sie sich angemessen gestimmt fühlte. Dann sah sie ihm auch auf der Höhe mitten ins Gesicht.

Gerade so hatte er sie doch erzogen: Keine falsche Rücksicht. Und daß sie sich so offen und rückhaltlos vor ihm gab, zeigte Zutrauen, heute zum Beispiel in wirklich gar nichts als einem kurzen Hemdchen. Hier war das nicht herausfordernd, sondern einfach bequem. Auch daß er als Vater auf Fragen, oft auch ohne Anstoß sämtliche erotischen Geheimnisse von ihr erfuhr, verstand er als gutes Zeichen. Freundinnen für solchen Austausch hatte sie nicht; dafür war ihre Einstellung zu wenig bürgerlich. Oder welches Mädchen erzählt anderen, wie sie erwachsene Männer dazu bringt, sie zu kraulen oder zu lecken? Welche fragt die anderen, wie das geht? Doch, das zweite tun sie, und von Nyse bekamen sie Anworten.

Daß sie als Ergebnis ihre Sinnlichkeit so heftig entdeckt hatte, das war nicht seine Absicht gewesen. Aber es war wohl eine notwendige Folge. Schäm dich nicht, dann schämen sich die anderen für dich. Sie war aufgeschlossen, sobald etwas keimte, hatte darauf gewartet und freute sich, als es sich einstellte, statt daß es ihr unheimlich oder peinlich war. Aber sie hatte bisher das Beste daraus gemacht. Wie war das mit Pet gewesen? Sie hatte nur ein Geschäft darin gesehen. War das auch ein Erfolg für den Vater? Aber das ließ sich jetzt nicht mehr klären.

Da kam es vor, daß Nyse zu Hause erschien und berichtete, gerade habe sie sich im Kino zwei Stunden lang von einem zufällig aufgerissenen Burschen richtig umgraben lassen; sie im Minirock, bald ohne Höschen, mit geknöpfter Bluse, die sich schnell öffnen ließ, damit er leicht überall hin kam, und, ach, war das schön gewesen. Jetzt mußte sie sich den Nachklang abarbeiten, den Abdruck von Männerpranken, die sie noch überall auf sich fühlte. Sie zog sich aus, legte sich rücklings auf die Couch und bediente sich an sich selbst, vor seinen Augen, sie redete sogar noch dabei weiter mit ihm. Noch nie hatte sie Verrichtungen vor ihm verheimlicht, sie teilte alles mit ihm. Auf dem Klo schloß sie nie ab. Er wußte es ja doch, was sollte sie verstecken? Nein, er hätte sich nur gewundert, wenn sie nicht den Finger in sich gesteckt hätte, wie es doch alle gesunden jungen Mädchen tun, jedenfalls hatte er immer so geredet. Sie beruhigte ihn damit: Siehst du, bei mir ist alles in Ordnung.

Und da fiel ihm ein, sie dabei zu filmen. Sie lachte ihm zu. Danach reichte er ihr den Chip aus der Kamera: „Nicht daß du denkst, ich mache irgendwas damit. Ich heiße nicht Pet. Nur für dich“. Und sie bedankte sich. Nein, von ihm hätte sie nie Mißbrauch erwartet.

Und ebenso bewies es Vertrauen, daß sie keine Angst hatte, er könne ihre Urheberrechte stehlen.

Denn sie hatte wieder einen Geschäftseinfall, und den untermalte sie durch vielsagende Gesten und Bewegungen.

„Papp, du weißt doch, wie gern ich das habe, wenn mich jemand anfaßt. Ich meine, so richtig.“

„Ja, und damit solltest du vorsichtig sein. Nicht daß du dich selbst einwickeln läßt.“

Sie lachte hell. „Das hast du mir schon gut genug beigebracht. Keine Sorge. Ich hab’ ja gelernt, daß eine Frau sich das nie anmerken lassen darf. Das kann ich gut. Die sind mir dankbar, wenn sie an mir grapschen dürfen, und ich habe heimlich etwas davon. Glaubst du nicht, daß ich heucheln kann?“ Sie schien fast beleidigt zu sein.

Da zahlte sich vor allem für sie aus, daß Urban seine Kinder ohne jede Ehrfurcht erzogen hatte. Hedonistisch, vor allem auf den eigenen Gewinn aus; daß Schamgefühle den guten Ruf einer Frau bis heute ausmachen, das galt natürlich für die anderen. Aber warum sollte sie für sich selbst so dumm sein?

„Ich hab’ mir Folgendes gedacht: Es macht ja nur Spaß, wenn die Männer das richtig können. So hinpatschen, das ist natürlich nicht schön. Wenn man blaue Flecken kriegt. Obwohl, doch, das kann manchmal auch Spaß machen, so richtig raufen, aber nackig, wenn jeder überall hinfassen darf. Da könnte man auch was draus machen, so wie es Nacktrodeln gibt und solche Sachen.“

„In Neuseeland spielen sie Nackt-Rugby-Turniere“, wußte Urban. „Da sind manchmal auch einzelne Frauen dazwischen.“

„Ja, wie schön! Das würde ich gern mal sehen. Noch besser mitmachen. Wenn ich mir das vorstelle: Zwischen lauter nackten Kerlen, und alle fassen sich gegenseitig an. Beim Rugby muß man doch raufen. Ach, wär’ das geil! Nein, ich meine etwas anderes. Machen wir ein Lokal auf oder gleich eine ganze Kette in allen großen Städten. Für anonymes Anfassen. Auf der einen Seite kommen die Männer ’rein, auf der anderen die Frauen, und die kriegen irgendwas über den Kopf gesetzt, oder sie stehen oder sitzen so da, daß die Körperteile frei sind, an denen sie was haben wollen. Zum Beispiel ein Ausschnitt in der Wand, in den sie die Brust halten kann, und von der anderen Seite greift ein Mann durch.“

„Aber du mußt sehr aufpassen, daß es keinen richtigen Sex gibt. Sonst ist das sofort ein Puff und braucht ganz andere Genehmigungen.“

„Auch nicht mit dem Finger? Zum G-Punkt?“

„Weiß ich nicht. Das müssen Juristen nachprüfen. Ich nehme an, du brauchst einen Slip-Zwang.“

„Scheiße. Na ja, weiter. Bei jeder Frau gibt es eine Textlaufzeile, da kann sie ’reinschreiben, was sie will, wo und wie. Keiner sieht sie.“

„Und die Männer kennt jeder?“

„Muß nicht. Und dann nehmen wir Eintritt oder verkaufen Getränke. Das braucht natürlich Regeln, so eine Art Höflichkeit. Zum Beispiel, daß jede Frau, die da ist, ein Recht auf Anfassen hat, auch wenn sie vielleicht nicht so hübsch ist. Und wenn ein Mann zu grob wird, dann schmeißt ihn das Personal ’raus. ’Rein und wieder ’raus kommen die Leute durch winkelige Gänge und Seitentüren, damit niemand was sieht. Die Männer behalten was an, damit sie nichts Dummes machen können. Drinnen ist Schummerlicht, falls jemand die Frauen schon im Bikini gesehen hat und an der Blinddarmnarbe erkennen könnte.

Verstehst du, ich glaube, viele Menschen träumen von sowas ohne Puffpreise. Wir sind nur so teuer wie eine Eckkneipe.“

„Ich fürchte nur, das ist so neu, das glaubt keiner. Und dann kommt die Mafia. Sowas wäre viel zu ehrlich. Vor allem: Du weißt viel darüber noch nicht, wie die Gesellschaft geschaltet ist. Die Menschen sollen nicht so einfach kriegen, was sie wollen. Darauf beruht alles. Genau das, wenn du billig bist, das wird es schwierig machen.“

„Aber wir haben doch Marktwirtschaft.“

Urban schnaubte abfällig. „Das sollen die Leute glauben. Man bietet ihnen etwas mehr an, als sie brauchen, und ein bißchen Auswahl, das sieht dann aus wie Freiheit. In Wirklichkeit bestimmt die Werbewirtschaft, was es überhaupt gibt. Ich hab’ euch nicht so erzogen, euch alles einreden zu lassen. Das habt ihr doch besser verdient, finde ich. Aber die anderen sollen alles glauben. Zum Beispiel darf Sex gar nicht billig sein. Die Menschen müssen sich schämen. Damit halten wir die Preise hoch. Du hast doch zur Yso selbst gesagt, du hast den Vorteil, wenn die anderen Bikini-Oberteile tragen.“

Denn sie lebten ja in der Zeit des Neuen Miefs.

„Ja, mein ,Alleinstellungsmerkmal‘. Aber ganz allein mach’ ich sowas doch nie. Rückversicherung. Ich mach’ mich immer erst als zweite nackig. Na ja, gut, die knappsten Shorts von allen trag’ ich doch.“

Der Vater erklärte weiter: „Und wenn sie sich alle nicht trauen, auch nicht eine oder zwei, dann wollen es aber trotzdem die meisten und tun es auch, und der Untergrund setzt Unmengen von Geld um und ernährt viele Leute.“

„Ja, geprügelte Nutten. Die werden auch nicht reich. Und Zuhälter.“

„Eben. Darum ist es gut, daß du nicht zum Milieu gehörst. Du verstehst so viel noch nicht, zum Beispiel, daß es immer die oben und die unten geben muß. Geprügelte Nutten, gemobbte Bürokräfte, das ist nicht wirklich ein Unterschied. Du hast die Herkunft für oben, also bleib da. Da kommt’s nicht auf das Milieu an. Mach sowas wie deinen Grapschclub für Frauen, aber mach’s teuer. Dann wirst du reich.“

„Ich seh’ schon, dir gefällt mein Vorschlag nicht. Ich hab’ gehört, wie muffig das nach dem letzten Krieg gewesen ist und daß es immer freier und besser geworden ist. Also muß es doch möglich sein, daß man heutzutage mit mehr Freiheit Geld verdient. Und du sagst doch selbst, das Geld muß man von der Masse holen. Von jedem wenig, aber von vielen.“

„Was ist ,besser‘ geworden? Ganze Wirtschaftszweige sind dadurch weggebrochen. In Hamburg gab es mal ein billiges Sex-Theater, wo auch Zuschauer mitspielen konnten, das ,Salambo‘. Das haben wir mühsam totgekriegt, Zwischendurch hat’s schon mal jemand abgefackelt. Die Behörden haben auf Moral gejault, damit wieder gutes Geld ’reinkommt. Was meinst du, was teurer Sex an Steuern bringt? Deshalb sind wir dran, das wieder zurückzudrehen. Dafür sind ja Leute wie du aufgeklärt: Du mußt eben wissen, daß nicht für alle da sein kann, was man sich nimmt. Es geht nur, wenn einige die Alpha-Tiere sind. Und du mußt eben eins sein.

Aber gut; wenn du das meinst, warum sollst du das nicht trotzdem versuchen? Du hast ja schon deine Neger-Agentur, warum nicht auch das? Ich schick’ dich mal zu meinen Leuten von vv&v, und du erklärst das denen. Du wirst ihnen ja nicht sagen, daß du selbst sowas magst.“

„Warum nicht?“

Auch wieder wahr. „Stimmt; warum nicht. Wenn die das vermarkten können, dann bitte sehr, dann mach’ ich dir den Geschäftsführer, bis du volljährig bist. Oder ich suche dir jemand dafür. Aber ich sag’ dir gleich, du wirst viel Widerstand kriegen. Das ist so wie die Glühbirne, die nicht mehr als tausend Stunden brennen darf.“

„Ich will das ja nicht als Sexbude verkaufen. Das soll sowas sein wie erotische Nachbarschaftsmassage. Man kann es ja mit indischer Musik machen oder so. Ich sage, die Menschen brauchen körperliche Nähe, so heißt das doch. Das ist Heilkunst, kein Schmuddelzirkus. Vielleicht kriegen wir Emanzen mit dazu, die das gut finden, weil die Männer da brav sein müssen. Sie werden ja bedient.“

„Und wie lassen sich deiner Meinung nach Männer anfassen? Brauchen die nichts?“

„Siehst du, das ist es doch. Die zahlen jetzt schon viel dafür, das kann so bleiben. Aber für uns gibt es sowas noch nicht. Das ist ein ganz neuer Markt, dann ist er doch schon billig besser als gar nicht. Dann holen wir Frauen uns auch mal, was wir brauchen.“

„Jetzt verstehst du mich schon besser. Gut, ziehen wir Emanzen mit ’rein, dann könnte vielleicht was gehen.“ Urban notierte sich ein paar Zeilen. „Schön; ich versuch’s mal.“

Sie sprang auf und umarmte ihn. Das tat sie neuerdings gern. „Danke, Papp!“ Das sagte sie in letzter Zeit auch öfter; früher war es nie vorgekommen. Nur: „War’s das schon?“

Er vermutete: „Du willst das ja wohl vor allem deshalb aufmachen, damit du selbst hingehen kannst.“

„Genau! Es ist ja einträglich, wenn man die Leute immer austrickst, aber sie wissen dann, wer man ist, und es ist anstrengend, wenn man immer eine Rolle spielt. Sowas wäre sehr erholsam, sicher nicht nur für mich. Verstehst du: Keine muß sich vor den Nachbarn schämen. Aber so: Ich gehe hin, lasse mich eine Stunde lang abkrabbeln und gehe zufrieden wieder nach Hause. Und keiner weiß was.“

„Weißt du, verkaufen kann man fast alles. Neben den Swingerclubs sieht das nicht nach viel neuer Kundschaft aus. Aber man braucht nur das richtige Marketing, dann wird man auch Mineralwasserschorle los. Ich weiß zwar nicht, ob dein Einfall wirklich gut ist, aber darauf kommt’s ja gar nicht an. Versuch’s also mal.“

Aber eigentlich war der Zweck ihres Besuches dieses Mal ein anderer: Urban hatte beschlossen, Yso einen großen Teil seines politischen Stoffes zuspielen zu lassen. Nyse sollte eine USB-Kapsel überbringen, angeblich eine Raubkopie. Sie habe auch Papps Codes geklaut; Klartext auf den Speichern, die bei der Tochter lagerten, hätte Yso nie geglaubt. Es mußte nach krimineller Energie aussehen. Darum auch merkwürdige Formate, ein bißchen Arbeit, um die Nüsse erst zu knacken. Wenn die Untergebene glaubte, ein Geheimnis entdeckt zu haben, mochte sie sich etwas darauf einbilden, und bei ihrem zugespitzt machtbewußten Charakter durfte man erwarten, daß sie die richtigen Schlüsse daraus zog. Urban hatte den Vorteil, daß er wußte, was sie wußte. Und Nyse stand vor ihr endgültig als die neue Verbündete da.

Jetzt spielte Papp also den Datenträger voll und ließ Nyse ohne Einwände neben sich sitzen, während er auswählte. Sie sagte gar nichts dazu, auch nicht zu seinen Entwürfen zur Kindernutzung, die er streifte, aber Yso nicht zeigen wollte. Er hätte sich damit erpreßbar gemacht. Sie sah in alle seine Geheimnisse; es war viel Stoff, zum Teil gut ausgearbeitet für Seminare, die er im Auftrag des TIK gehalten hatte, Denkschriften, Gutachten, aber auch ganze Stapel eigener Notizen und Vorbereitungen, zum Beispiel der Entwurf des Gesetzes zum Konsumzwang und der Rahmen seiner scheinbar freiwilligen Vermarktung, so wie derzeit ja auch alle widerspruchsfrei denken, der stalinistische Zwangskindergarten und ein ganztägiger Schulknast seien gut für die Kinder wie auch für die Eltern. Oder die Studie darüber, wie man die breite Bevölkerung überzeugt, ständige Überwachung aller Bewegungen und Inhalte sei ein Segen für jeden; das setzte er auf zwanzig Jahre an.

Alles zusammen ergab mehrere Bücher, wenn man es ausdruckte; die Dame hatte zu tun. Auch fügte er Quellenangaben bei, mindestens für solche Themen, zu denen er Yso anlernen wollte; sie sollte die Gelegenheit haben, ihn von sich aus anzusprechen, ohne Nyse bloßzustellen, so als hätte sie den Stoff aus eigener Bemühung finden können. Dann konnte sie um so mehr als fleißige Kraft glänzen.

*

Solche Fortbildung bekamen auch Berufspolitiker, wenn sie das wünschten. Begleitumstände wie Bedienung durch freundliche Damen mit oder ohne Reizwäsche änderten daran nichts. In gehobenen deutschen Seminarhotels irgendwo am Alpenrand oder Ostseestrand, Häusern mit weltweit gern gehörtem Namen geschah das nur fast, nicht ganz so offen wie irgendwo in Asien oder Südamerika. Eigentlich war der Unterschied nur, daß die Fräuleins als Sekretärinnen oder Referentinnen ausgewiesen waren, und in den öffentlichen Räumen wie Restaurant und Halle trugen sie einigermaßen geordnete Kleidung. Aber jedes solche Haus hat auch eine Sauna und andere Nebenkammern.

Eindrucksvoll war ein Vortrags-Wochenende, bei dem ausgerechnet eine schwarze Gastrednerin, eine amerikanische Universitätsprofessorin für Geschichte und politische Wissenschaften über „die Ausbeutung der afrikanischen Urbevölkerung bis heute“ sprach. Sie war keine sogenannte „schwarze“ Amerikanerin, wo sie ja in Wirklichkeit nur noch ziemlich hellbraune Mulatten sind und in ein paar Generationen zwischen Latinos unbemerkt als nicht mehr eigene Gruppe untergehen werden, sie war kein Abkömmling von Sklaven. Nein; sie war richtig dunkel, kakaoviolett nahe beim Ton von Ruß. Denn sie stammte unmittelbar aus Afrika, aus einer reichen Familie, hatte in den USA englisch gelernt und studiert und war jemand. Deshalb redete sie auch einen sehr gequetschten amerikanischen Akzent, und zwar den der weißen Oberschicht in Neuengland.

Ihr Name war Nancy Downing-Ugudu, der erste Teil des Namens vorübergehend angeheiratet, und ob „Nancy“ wirklich in ihrem Geburtsschein stand, so etwas fragt in den USA niemand, sie war dort auch Staatsbürgerin geworden. Nun nahm sie aber durchaus nicht Partei für ihre eigene Herkunft. Nein; sie erläuterte ausgiebig, daß schon in Afrika die einen immer die anderen als Sklaven gehalten hatten. Es gab keinen Zusammenhalt der Hautfarbe; als arabische und später abendländische Händler kamen, verkaufte man ihnen die eigenen Kriegsgefangenen und Armen gern als Ware. Schon immer war der größte Teil der Afrikaner unterdrückt und ausgebeutet gewesen, so wie ja auch die mitteleuropäischen Bauern als Leibeigene. Deutsche Fürsten hatten ihre Bauernsöhne zwar nicht als Sklaven verkauft, aber als Söldner. Das war auch für Afrikaner die selbstverständlich bekannte Lebensform im Unterschied zu den amerikanischen Ureinwohnern, die Mrs. Downing-Ugudu durchaus mit dem Ehrentitel „erste Nationen“ zu belegen geruhte, obwohl ihr Vortrag im übrigen politisch völlig unkorrekt blieb. Die sogenannten Indianer nämlich konnten als Sklaven nicht leben; sie starben lieber, als für andere zu arbeiten.

Sicher hätte auch sie „Neger“ gesagt, wenn sie deutsch gesprochen hätte, „wir Neger“. Amerikanisch „negroes“ erwähnte sie durchaus. Ihre Vorlesung war streng sachlich, aber zwischen den Zeilen kam sehr deutlich heraus: Sie hatte keineswegs etwas gegen Sklaverei und die Unterdrückung eines Teils der Bevölkerung einzuwenden. Die einzige Bedingung war für sie, daß sie zu den Haltern, nicht zu den Sklaven gehören mußte. Das hing aber nicht von der Hautfarbe ab. Wenn ihre Rassegenossen so dumm waren, sich ausbeuten zu lassen, dann hatten sie es nicht besser verdient. Es hatte auch immer die schwarzen Herrscher gegeben, die Herrenmenschen, die ganz und gar nicht unterwürfig waren. Jenen Stall, aus dem auch sie kam.

Entsprechend betonte sie ihre echte Hautfarbe sehr bewußt und stolz in einem ärmellosen weißen Kleid.

Im übrigen zeichnete sie sachlich die Geschichte nach. Auch die Frage: Mit welchen Mitteln lassen sich Afrikaner erfolgreich unterdrücken; dazu eine historische Untersuchung, welche Denkweisen das möglich gemacht haben. Entwickelte afrikanische Gesellschaften seien schon immer stark geschichtet gewesen. Aber wo auf der Welt war das anders?

Es betraf sie selbst nicht wirklich, denn sie war im Gegensatz zu vielen anderen erfolgreich und sich dessen sehr deutlich bewußt. Damit bewies sie hinreichend, daß sogar schwarze Frauen, also Negerinnen es zu etwas bringen können. Und das genügte ihr völlig, denn was sollte Solidarität in einer Welt, in der allemal jeder jeden ausbeutet, ob weiß oder schwarz?

In der Diskussion wagte Albrecht einen Vorstoß, wie er ihn bisher nur im Bundestag als populistische Pointe angewandt hatte. Hier fragte er: „Gibt es demnach auch schwarze Nazis?“

Rundum beifälliges Gelächter, die Professorin schmunzelte selbst, dann kam: „Selbstverständlich, wenn sie das Wort nicht zu national fassen. Der eigentliche Nazi legt Wert darauf, ein ,Arier‘ zu sein, und definiert sich dadurch. Das kann er mit dunkler Haut naturgemäß nicht. Aber eine Haltung, die man so bezeichnen könnte, gibt es nicht nur ganz selbstverständlich, sondern auch weit verbreitet. Ich erinnere an den Rassismus in Ruanda, an Figuren wie Idi Amin und Bokassa und deren Umkreise, die Gefolgsleute oft mehr als die Anführer selbst. Die haben genau so gedacht wie Nazis. Bisher hat ihnen nur der wirklich charismatische Führer gefehlt wie Hitler. Der Zuluhäuptling Tschaka war nur Militarist, kein Rassist. Aber warten wir auf den ersten schwarzen Hitler, und die Welt wird sich wundern. Das können wir ganz sicher auch, wenn wir es wirklich mal versuchen.“

In diesem Kreis nahm man das mit Heiterkeit auf.

In der weiten Öffentlichkeit galt diese Frau eher als Kämpferin für die Rechte schwarzer Afrikaner. Aber wer genau las, fand doch bei ihr immer nur Bestandsaufnahme, keine Partei. Sie analysierte sehr scharf, was das einfache schwarze Volk seit jeher falsch gemacht hatte, aber nirgends stand, daß sie mißbilligte, diese Schwächen auszunutzen. Denn wozu sonst sind Schwächen da?

Beim nachfolgenden Kamingespräch schweifte man von der Sonderfrage Afrikas schnell wieder ab und wurde allgemein, dies unter kräftiger Mitwirkung der Gastrednerin.

Zum Beispiel bestätigte diese heftig die Aussagen eines europäischen Halb-Diktators:

Demokratie hat sich überlebt; in ihr bestimmen vor allem die Versager, denn sie sind immer die Mehrheit. Eine Erfolgsgesellschaft kann sie sich nicht leisten. Wer sind die Erfolgsmenschen? Das regelt sich wie nach Darwin: die Geld verdienen.

Aber auch die ausgewiesen lupenreinen Demokraten im Kreis nickten dazu.

Die Welt braucht Diktaturen, und wir müssen sie darum stützen, weil wir andernfalls bei uns selbst nicht durchgreifen können. Das vertrat auch eine führende Politikerin.

Andernfalls würde Anarchie ausbrechen, war die schnell gefundene Übereinkunft.

Anarchie? Das Schlimme ist: Die könnte funktionieren. Albrecht war vorläufig verblüfft. Wie das?

Alle bürgerlichen Selbstverwaltungen, sobald sie nicht ideologisch sind, arbeiten wirksam. Das fängt mit Wohnbaugenossenschaften an, geht weiter mit Bürgerinitiativen, die leider sehr erfolgreich in politische Entscheidungen hineinreden. Sie haben verraten, daß die Privatisierung öffentlicher Versorgung aus Sicht der Endkunden schädlich ist; denen hätte sie ja auch nie nützen sollen, aber ihnen das zu erzählen, das hatte viel Schaden an der neuen Ordnung angerichtet. Nur, für diesen Zusammenhang: Diese lästigen Leute wußten, wie man etwas erreicht. Auf solche Weise sind arabische Diktatoren gestürzt worden. Man muß auf sie mißtrauisch achten.

Das sagte eine ausländische Kollegin von Albrecht: „Würde man die Bürger ihre Belange untereinander selbst regeln lassen, dann könnten sie es. Wir dürfen es nie soweit kommen lassen, daß es herauskommt. Stellen Sie sich vor, die Menschen merken, daß sie auf sich allein aufpassen können! Der einfache Mensch muß immer ein Kind bleiben, das eine Tante braucht, die ihm die Regeln des Kindergartens vorschreibt.“

Denn wo immer Menschen echte Anarchie versuchen, schaffen sie es solange sehr gut, bis ein begabter Diktator sie wieder zur Ordnung ruft.

Albrecht lernte staunend: „Wir müssen Moskau dankbar sein für die Diktatur. Damit ist der Kommunismus gestorben.“ Menschen glauben immer nur den äußeren Anschein, darum ist ihnen Diktatur und Kommunismus das Gleiche, und niemand denkt jemals mehr daran, man könnte auch demokratischen Kommunismus versuchen. Lenin und Stalin sei Dank! Nein, seien wir glücklich, daß diese Wirtschaftsordnung niemals durch die Bürger bestimmt worden ist, darum kommt keiner darauf, sie könnte demokratisch möglich sein. Denn kein vernünftiger Grund spricht dagegen, eigentlich sogar weniger als im Kapitalismus, so mußte Albrecht verblüfft hören.

Nein, demokratische Politiker haben nichts gegen Diktatoren. Sie machen gute Geschäfte mit ihnen. Und die meisten beneiden sie um ihre Freiheit der Entscheidungen. Oder warum sonst reden sie alle so höflich mit ihnen? So wörtlich sagte Frau Ugudu das nicht, aber doch deutlich genug umschrieben. Etwa so: „Wir müssen uns fragen, ob unseren vorhandenen Demokratien heute eine rundum demokratische Welt wirklich förderlich wäre. Wir brauchen die Referenzebene, und wir brauchen vor allem unter Bürgern demokratischer Gemeinwesen ein Gefahrenbewußtsein und ein dauerhaftes Gefühl der Dankbarkeit. Sie dürfen nie vergessen, daß sie in einer privilegierten Situation leben. Deshalb muß es Gemeinwesen ohne solche Privilegien unbedingt weiterhin geben. Andernfalls, da gebe ich Ihnen recht, müssen wir mit Anarchie rechnen.“ Gar nicht ausdrücklich erwähnte sie, daß auch sie die nicht wollte.

Deutschland ist weltweit auch deshalb beliebt, weil es so freundlich zu Diktaturen ist, so mild und verständnisvoll. Gewaltherrscher kaufen nun einmal mehr Waffen.

Aber die anderen wußten auch:

Gewöhnlich bleiben solche Erkenntnisse innerhalb der unterrichteten Kreise. Man macht Ausnahmen. Der sehr, sehr alte Uralt-Kanzler hatte einen Demenzbonus, auch wenn er immer noch ein besonders klarer Kopf war, aber der durfte der Welt doch einmal aus seinen Rauchschwaden verkünden: Menschenrechte sind nur eine kulturelle Marotte unseres kleinen Häufleins Europäer und Amerikaner. Nein, der Amerikaner auch nicht mehr, das sagte er nicht. Wie kommen wir paar Europäer dazu, der restlichen Welt erklären zu wollen, wir wüßten es besser?

„Es gibt die Menschenrechte nicht in der Bibel, es gibt sie nicht im Islam. Niemals hat die Vorstellung von Menschenrechten eine Rolle gespielt bei den Inkas in Lateinamerika, bei den Tolteken oder den Azteken, niemals bei den alten Ägyptern, niemals bei den alten Römern.“ 1 Bei Dschingis Khan gab es keine Menschenrechte, was also wollen wir? Nein; Menschen in aller Welt haben ein Recht auf ihre Kultur, sie haben ein Recht darauf, unterdrückt zu werden, auch dann, wenn die ganz große Mehrheit unter ihnen gar nicht unterdrückt werden will.

Es gibt weit mehr unterdrückte Chinesen als besserwissende Europäer. Allein das gibt ihnen das demokratische Recht auf weitere Unterdrückung, denn ihre Machthaber überstimmen uns allein durch die Zahl der Opfer So widerlegt sich Demokratie erfolgreich selbst.

Daß zum Beispiel in China eine große Zahl von Kämpfern gern unsere Einmischung hätte, weil sie diese kulturelle Marotte dummerweise mit uns teilen, das zählt auch nicht; sie sind demnach Verräter an ihrer eigenen Herkunft. Man hätte auch sagen können: Daß wir uns ausreichend ernähren, ist eine Mode bei uns. Anderswo in der Welt hungern die Menschen, und die meisten überleben doch irgendwie. Wie kommen wir zu der Anmaßung, ihnen allen genug zu essen geben zu wollen? Hunger gehört doch zu ihrer Kultur!

Albrecht dachte nach. Er hatte noch immer damit zu tun, sich in seiner neuen Welt zurechtzufinden. Früher wäre er entsetzt gewesen; so hatte er es einmal gelernt. Zuhören, lernen.

Es ist also nichts als eine europäische Laune, wenn ein Mensch sich vor Folter geschützt wissen darf, wenn er ein Recht darauf hat, sich frei zu bewegen, nur nach geschriebenem Gesetz mit Gerichtsbeschluß und zugesicherter Hilfe eines Anwalts eingesperrt werden darf, Ansprüche auf Gesundheit und Bildung hat, wenn die Bürger selbst entscheiden dürfen, wer ihnen diese Rechte zu gewähren und zu gewährleisten hat, wenn jeder ungestraft sagen darf, was er denkt, und es überall lesen kann, alle diese dekadenten Freiheiten sind demnach nur der Luxus von uns paar verwöhnten Westvölkern. Wie kommen wir auf den dummen Einfall, auch anderswo in der Welt wünschten die Leute sich das? Und selbst wenn sie es wünschen sollten, was bringt uns zu der Besserwisserei zu behaupten, sie hätten dann auch ein Recht darauf? Wie kommen wir dazu, sie zur Freiheit zwingen zu wollen, ihnen Schutz vor Zumutungen aufzudrängen, ihnen das einzureden, auf was sie doch offenbar hoffen?

Richtig; alle angestammten und bewährten Maßnahmen und Übergriffe gegen modische Rechtsansprüche sind nötig, wenn man strenge Ordnungen bewahren will. Und die sind doch ein Wert an sich, wie jeder Politiker weiß.

Ja, der nahöstliche Haustyrann will weiterhin seine Frau verprügeln und wegsperren und seinen Kindern vorschreiben, wen sie heiraten sollen; gut, also ist wünschenswert, daß er das weiterhin darf, und die Frau soll sich nicht beschweren, weil es in ihrem Land nun einmal so ist, das Kind hat schön brav zu gehorchen. Nein, sie sollen uns dankbar sein, daß wir die Sitten ihrer Heimat achten als das, wovon wir uns folglich anmaßen, es ihnen als ihre eigenen Rechte aufzwingen zu wollen: Bleibt gefälligst bei euren Sitten.

Er hatte vergessen aufzuzählen, wie es sich umgekehrt verrechnet; ein solcher Fuchs war er trotz seines Alters, daß er wußte, wie man derart hilfreiche Propaganda verpackt. Zum Beispiel: Es gab Sklaverei im ganzen alten Mittelmeerraum, in England, in Nordamerika, es gibt sie heute noch unter Landarbeitern in Brasilien und auf Baustellen wie auch in Zulieferbetrieben für neckische Spielelektronik in China. Menschenopfer waren weltweit üblich, Kannibalismus kannte man überall in der Welt; das ist sehr einfach wie früher möglich, wenn man erst Menschenrechte wieder für unwichtig hält. Alles dies war Teil herkömmlicher Kulturen, und nur wir Europäer haben uns erlaubt, alle diese örtlichen Sitten zwangsweise abzuschaffen, unsere überhebliche eigene Kultur stattdessen einzusetzen. Die damals ihrerseits Folter und Todesstrafe einschloß. Dies alles, was wir ihnen genommen haben, waren gute Rechte ihrer Kulturen, in die wir uns nie hätten einmischen dürfen.

Nein, dafür war der sehr alte Mann zu geschickt, darauf hinzuweisen, was sein denkwürdiger Vorstoß bedeutet, wenn man ihn folgerichtig zu Ende rechnet. Das ist Nachfolgern mit Greisenbonus überlassen, die sich dann äußern dürfen, wenn der erste Schritt einmal gemacht ist: Wenn wir wieder anerkennen, daß Menschenrechte ein überflüssiger Luxus sind, mehr noch, unsere Zumutung für angestammte Kulturen.

Nein, wörtlich hat er alles dies nicht gesagt, wahrscheinlich auch nicht daran gedacht, was es wirklich bedeutet. Aber die Folgerungen sind unausweichlich. Endlich spricht es einmal jemand aus: Nein, wir wollen gar nicht, daß alle Menschen weltweit ihre Rechte ausleben dürfen. Und wenn wir ihnen unterstellen, sie wollten es selbst, ist das nur unsere Überheblichkeit.

Der Versuch war erfolgreich: Dieser weise Mann wurde allgemein gefeiert, vielleicht nicht für solche Aussagen, sondern trotz ihrer, aber er hatte es geschafft, sie wieder gesellschaftsfähig zu machen. Er durfte auch Dinge aussprechen, für die ein Jungspund sofort gefeuert worden wäre, so wie zum Beispiel für den Vorschlag, reichen sogenannten „Leistungsträgern“ ein doppeltes Stimmrecht zu geben.

Hat auch schon einmal jemand so gedacht: Wir hatten 200.000 Jahre lang keine Technik, keine moderne Medizin, keine Autos. Wie kommen wir dazu, so etwas wie Fortschritt heute einführen zu wollen? Aber nein; das würde ja den Belangen der Lobbies widersprechen. Da wendet man die gleiche Denkfigur doch nicht an. An Menschenrechten verdient niemand, an Autos sehr viel. Das weiß sogar noch ein Uralt-Kanzler.

Albrecht verstand, daß er noch allerhand zu lernen hatte. Solches Gedankengut entrüstet zurückzuweisen hatte man ihm einmal nahegelegt; jetzt galt das Gegenteil. Das war die neue Erkenntnis seines Lebens.

Die übernächste Stufe wird dann sein zu verkünden, da wir wie alle anderen auch ein Anrecht auf unsere einst gewachsene Kultur haben, müssen auch wir wieder die Leibeigenschaft einführen. Denn die Leibeigenen haben ein Recht darauf, auch wenn sie gar nicht Leibeigene sein wollen.

Man sagt ja auch: Eine frühere Monarchie, eine gegenwärtige Diktatur sei für die Demokratie noch nicht reif. Warum nicht? Weil sie noch keine Demokratie ist. Also wird ein Volk, das nicht seit Urzeiten demokratisch ist, auch nie reif werden für die Demokratie. Denn anders als durch Demokratie kann niemand Demokratie üben. Das ist sehr geschickt; manch eine Befreiung läßt sich damit erfolgreich abwürgen. Solch nützliches Zeug im Geist der neuen Ordnung predigte zum Beispiel der alte Kämpfer Dieter Toll-Lajour sehr gern.

Nancy lachte schallend dazu.

Wie schaffen lupenreine Demokraten die Demokratie wieder ab? Sie waren schon sehr weit damit fortgeschritten. Ungarn baute sie in aller Öffentlichkeit gerade wieder zurück, und die EU sah gelassen zu, während sie noch vor wenigen Jahrzehnten einen rechtsverdächtigen Staatspräsidenten in Österreich mit heftigem Räuspern begleitet hatte. Aber demokratisch so schwächliche Organe wie die in Brüssel und Straßburg haben keinen Grund, eine Mitbestimmung des Volkes womöglich zu fördern, wo sie doch von deren Mangel so gut gedeihen. Das übrige Europa kümmert sich wenig um Ungarn, denn dieses fremdartige Volk steht darin ziemlich allein. Also darf man dort schon einmal damit vorangehen, die Diktatur wieder zum Regelfall zu machen.

Weiterhin: Nachdem der Osten untergegangen ist, braucht der Westen den Traum von Freiheit nicht mehr; auch er mußte als Irrtum entlarvt werden. Zwar verlangte das eine akrobatische Kapriole, denn gerade der Westen hatte dieses Wunschbild gepflegt, der Osten noch kaum davon gelogen, sondern sich auf Gleichschaltung für das Versprechen von Sicherheit der Versorgung verlegt. Nun war eine der Aufgaben für die Propaganda, diesen Begriff von Selbstbestimmung und eigener Entscheidung auch dem versunkenen Reich des Bösen anzulasten, wie Ronald Reagan es genannt hatte, ihn um- und abzuwerten und dann auf den Kompost der Geschichte zu werfen.