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Nichts ist so wichtig im Leben, wie den Menschen zu finden, der für einen bestimmt ist … Durchgefallen! Weil Lauren den College-Stress nicht mehr aushält, vergeigt sich absichtlich alle Prüfungen. Erleichtert zieht sie wieder zu Hause ein. Doch es gibt noch einen zweiten Grund für ihre Rückkehr, den sie niemandem verrät: Rob Conrad! Seit sie denken kann, schwärmt Lauren insgeheim für den älteren Bruder ihrer besten Freundin. Bislang hat er sie zwar kaum eines Blickes gewürdigt, aber Lauren ist entschlossen, das zu ändern. Sie will ihm zeigen, dass sie anders ist als seine Exfreundinnen, und nicht nur eine kurze Affäre mit ihm möchte, sondern das volle Programm …
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Seitenzahl: 554
Ann Aguirre
As Long As You Love Me
Roman
Aus dem Amerikanischen von
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der amerikanischen Originalausgabe: As Long As You Love Me Copyright © 2014 by Ann Aguirre erschienen bei: HQN Books, Toronto
Published by arrangement with Harlequin Books II. B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln Umschlaggestaltung: büropecher, Köln Redaktion: Mareike Müller Titelabbildung: Harlequin Books II. B.V./S.àr.l. ISBN ebook 978-3-95649-528-1
www.mira-taschenbuch.de
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Es gab Leute, die behaupteten, ich wäre gescheitert. Tja. Ich hatte nicht die Absicht, ihnen zu widersprechen. Wäre mir auch ganz schön schwergefallen.
Mit meinen einundzwanzig Jahren hatte ich es geschafft, ein College-Stipendium zu verlieren, einem tollen Typen einen Korb zu geben und wieder bei meiner Mom einzuziehen. Die freute sich zwar, mich zu sehen, aber es war definitiv nicht die glorreiche Heimkehr, von der ich geträumt hatte, als ich vor drei Jahren meine Sachen gepackt hatte. Trotzdem, auch wenn ich ein wenig Bedauern verspürte, war ich glücklich darüber, wieder zu Hause zu sein. Der kleine Ort Sharon in Nebraska war lediglich ein winziger Punkt auf der Landkarte, der nicht mehr als sechs Läden an der Hauptstraße zu bieten hatte. Es gab kein einziges Einkaufszentrum, jedenfalls nicht im Umkreis von vierzig Meilen, wenn man einmal den Walmart außer Acht ließ. Es gab McDonald’s und Pizza Hut, eine Kneipe, zwei Bars, und ein wenig überraschend waren sie auf Pfannkuchen spezialisiert. The Grove war das einzige etwas vornehmere Restaurant, ein restauriertes historisches Gebäude, in das mich jedoch noch keiner der Jungs, die mit mir ausgegangen waren, eingeladen hatte. Da der Ort so klein war, kannte jeder jeden, doch irgendwie war diese Vertrautheit und der Klatsch und Tratsch auch tröstlich.
Im Augenblick war mein Leben ziemlich durcheinander – aber während ich den letzten Umzugskarton auspackte, seufzte ich erleichtert. Ich musste keine Seminare mehr besuchen und brauchte auch meiner besten Freundin und Mitbewohnerin Nadia nicht länger vorzumachen, ich wäre an meiner vermeintlichen Zukunft interessiert. Es war höllisch schwer gewesen, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, während mein Leben dabei war zu implodieren. Doch obwohl ich das, was in mir vorgegangen war, nicht mit ihr hatte teilen können, würde ich Nadia vermissen; sie war noch immer in Michigan, während ich nach Hause zurückgekehrt war, um einen Neuanfang zu wagen.
Meine Mom klopfte an die offene Tür. „Ich habe wirklich nichts verändert. Wir können neu streichen, falls du willst, und ich könnte dir auch neue Gardinen nähen.“
„Das hört sich gut an.“ Es sollte nicht sarkastisch klingen. Dieses Zimmer war seit meinem dreizehnten Lebensjahr tatsächlich nicht mehr renoviert worden, und all das Lavendelblau war ein wenig zu viel des Guten. Ganz zu schweigen von dem vorherrschenden Prinzessinnen-Stil. Die Möbel waren weiß und goldfarben, der Teppich flauschig und lila, und in den Regalen standen all meine Plüschtiere sowie reihenweise Fantasy-Romane, in denen edle Ritter und verwaiste Erbinnen die Hauptrolle spielten. Die mit Blümchen bedruckte Tagesdecke auf dem Bett und die Vorhänge lösten in mir den Wunsch aus, mich unter besagter Decke zu verstecken und dort zu bleiben.
„Was schwebt dir vor?“, fragte Mom.
Sie sah fantastisch aus. Seit Thanksgiving, als ich Mom das letzte Mal besucht hatte, war die Veränderung noch deutlicher geworden. Es war jetzt Februar, und sie hatte weitere zwanzig Pfund abgenommen – und war jetzt dünner als ich. Das sollte mir vermutlich zu schaffen machen, aber es freute mich, dass sie sich so gut erholt hatte. Nachdem mein Dad uns verlassen hatte, war meine größte Sorge gewesen, dass Mom nie wieder auf die Füße kommen würde.
„Weiße Wände und rot karierte Vorhänge?“
„Das könnte hübsch aussehen. Und die Tagesdecke?“
„Die sollte zu den Vorhängen passen. Oder wär das schon zu viel?“
Sie neigte den Kopf und dachte darüber nach. „Wahrscheinlich nicht, solange du das Muster nicht auch noch für die Kissen verwendest.“
„Das hatte ich nicht vor.“
„Ich bin so froh, dass du hier bist. Selbst wenn es bedeutet, dass es am Mount Albion nicht geklappt hat.“ Mom bemühte sich sehr, es nicht laut auszusprechen – dass ich wegen ungenügender Leistungen vom College geflogen und sozusagen in Schande nach Hause zurückgekehrt war – zumindest war es das, was man sich in der Stadt erzählte. Die ehrenwerten Kirchgängerinnen setzten natürlich noch eins drauf und verbreiteten das Gerücht, dass ich schwanger sei.
„Danke.“ Ich drückte Mom kurz. „Kann ich mir das Auto ausleihen?“ Echt merkwürdig, darum zu bitten. „Ich brauche ein paar Sachen.“
„Kein Problem. Kannst du Milch und Eier mitbringen?“ Ihre Augen funkelten vergnügt, sowie sich unsere Blicke trafen, weil Mom sich genau wie ich daran erinnerte, wie oft wir diese Art von Unterhaltung geführt hatten, als ich noch auf der Highschool gewesen war.
„Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“ Ich machte eine kleine Pause, so wie sie erwartet hatte, und fügte dann hinzu: „Ach nein, warte. Das Mindeste, was irgendjemand tun kann, ist ja eigentlich gar nichts. Aber dafür würde ich wohl kaum die Autoschlüssel bekommen.“
„Genau.“ Sie ging mit mir zusammen nach unten und ließ die Schlüssel in meine offene Handfläche fallen. „Und wo wir schon mal beim Thema sind: Tue nichts, was ich nicht auch tun würde.“
Ich grinste und deutete auf meine nachlässig hochgesteckten Haare und die schäbige graue Jogginghose. „Es wird schwierig, wenn man so aussieht. Doch ich verspreche dir, dass ich mein Möglichstes machen werde, keine Herzen zu brechen.“
Mom grinste. „Bis später, Lauren.“
Es war halb vier am Samstagnachmittag, als ich die Stufen zur Veranda hinunterhüpfte. Das Haus, ein einstöckiges, langgestrecktes Gebäude mit zwei Schlafzimmern, hatte lange nicht so gut ausgesehen. Obwohl meine Mom es noch nicht zugegeben hatte, vermutete ich, dass gelegentlich ein Mann vorbeischaute, um ihr bei Reparaturen und so zu helfen. Vielleicht auch noch aus anderen Gründen. Möglicherweise war es ihr peinlich, mir zu erzählen, dass sie sich mit jemandem traf. Meiner Ansicht nach jedoch wurde es höchste Zeit. Mein Dad war seit zehn Jahren weg, und die Scheidung war seit acht Jahren durch. Da konnte man nun wirklich nicht von einer plötzlichen Entwicklung sprechen.
Ich stieg in den alten Plymouth und ließ den Motor an. Es wäre sinnvoll, mir einen eigenen Wagen zuzulegen, aber das konnte ich mir momentan leider nicht leisten. Zehn Minuten später fuhr ich auf den Safeway-Parkplatz. Da ich Bodylotion und Deo brauchte, konnte ich hier gleichzeitig Milch und Eier kaufen. Es bestand keine Veranlassung, wegen einer größeren Auswahl noch weiter zu fahren. Als Jugendliche hatten wir hier auf dem Parkplatz ziemlich viel Mist gebaut, hauptsächlich deshalb, weil es nichts anderes zu tun gab. Ich erinnerte mich noch daran, dass wir hinter dem Laden Alkohol getrunken hatten und Nadia mich im Einkaufswagen durch die Gegend schob, bis der Filialleiter rausgestürmt kam und uns anschrie.
Eine Welle der Nostalgie schwappte über mich hinweg. Egal, wohin ich ging, dies würde immer mein Zuhause bleiben. Auf viele Menschen wirkte ein Ort wie Sharon vermutlich bedrückend, man hatte hier absolut keine beruflichen Möglichkeiten. Dennoch hoffte ich bei irgendeiner IT-Firma einen Job als Freelancer zu ergattern. Computerprogramme und Apps hatten mich – im Gegensatz zu meinen Freunden – schon immer interessiert. Ursprünglich hatte ich natürlich auch mal die Welt verändern wollen. Daher hatte ich mich am College für Politikwissenschaften eingeschrieben. Leider musste ich dann aber ziemlich schnell feststellen, dass ich mein Studienfach genügend hasste, um noch mal neu anzufangen – selbst wenn es bedeutete, dass ich in meiner akademischen „Karriere“ zurückgeworfen wurde. Niemand wusste das – und ich würde es auch niemals zugeben –, doch der Grund, warum ich das College verlassen musste, war, dass ich aufgehört hatte, mich anzustrengen. Dabei stank es mir gewaltig, dass die Leute mich immer für blöd hielten, nur weil ich blond und kurvig war.
Auf dem Parkplatz standen sechs Autos – ich zählte sie, während ich den Laden betrat. Da ich nicht viel besorgen musste, verzichtete ich auf einen Einkaufswagen und schnappte mir stattdessen einen Korb. Nachdem ich die Sachen für Mom eingeladen hatte, ging ich in die kleine Kosmetikabteilung. Um prompt auf Nadias Bruder zu treffen.
Sofort schoss mein Puls in die Höhe, und ich bekam weiche Knie. So hatte ich bei seinem Anblick schon immer reagiert; nur schade, dass er mich stets wie eine kleine Schwester behandelte.
So, wie es aussah, war er dabei, sich zwischen zwei Körpersprays zu entscheiden. Sie gehörten jedoch beide zu dieser übel riechenden Sorte, von der die Werbung behauptete, sie würde einen Mann unwiderstehlich machen, während er in Wahrheit wie eine tote Bisamratte stank. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, und hörte auf, ihn heimlich zu beobachten.
„Keins von beiden“, meinte ich und trat hinter dem Regal hervor. „Also wirklich! Hab Erbarmen, ernsthaft.“
Überrascht blickte Rob auf. „Die taugen nichts?“
„Dein Schweiß riecht besser, das kann ich dir versprechen.“
„Wenn du das so sagst, klingt das ziemlich merkwürdig, Lauren.“ Seine Miene war schwer zu deuten, aber das überraschte mich nicht. Nadia verglich ihren Bruder immer mit einem Baumstamm.
Ich vermutete, dass er eher wie einer dieser riesigen Mammutbäume war: Egal, wie gut du klettern kannst – du schaffst es nie bis ganz nach oben. Und was weiter unten vor sich geht, kannst du auch nur vermuten.
Was das Schlimmste an Robert Conrad war? Tja. Damals, in der achten Klasse, war ich ganz schrecklich in ihn verknallt. Er gehörte zu den älteren Jungs, war ein super Football- und Basketballspieler, während ich nichts weiter als ein pummeliger, pickeliger Teenager mit einer Zahnspange war. Und jedes Mal, wenn Rob mich ansprach, fing ich an zu stottern. Diese peinliche Zeit war zum Glück vorbei. Trotzdem … wenn ich ihm zufällig begegnete, fühlte ich mich wieder wie dreizehn und bekam das große Nervenflattern.
In manchen Fällen ging die Zeit an Highschool-Athleten nicht spurlos vorüber. Sie verloren nicht nur ihre Haare, sondern büßten auch ihre Muskeln ein. Doch bei Rob war das genaue Gegenteil eingetreten. Er arbeitete zusammen mit seinem Dad auf dem Bau. Und jetzt, mit fünfundzwanzig, waren seine Schultern so breit, dass ich das Bedürfnis verspürte, auf ihn zu klettern. Allerdings nicht, wie es kleine Mädchen tun. Rob war ein einziges Muskelpaket, mit einem echten Sixpack und unglaublich ausgeprägten Deltamuskeln. Nahm man noch die kantigen Gesichtszüge, das kräftige Kinn, die blauen Augen und die dunklen Haare hinzu, fiel es einem schwer, nicht in Verzückung zu geraten. Aber natürlich ging es gar nicht, so über den Bruder meiner besten Freundin zu denken. Ich hatte keine Ahnung, ob er damals etwas von meiner Verliebtheit mitgekriegt hatte. Falls ja, dann war er nett genug gewesen, diese Schwärmerei zu ignorieren und mich nicht damit aufzuziehen. Inzwischen hatte ich mit einigen Männern geschlafen und den Sex auch sehr genossen, dennoch kribbelte es jedes Mal ganz gewaltig in meinem Bauch, wenn ich Rob sah.
Ja, aber dieses Geheimnis nehme ich mit ins Grab.
„Du starrst mich an.“
Scheiße. Tat ich wirklich.
„Entschuldige, ich habe mir gerade ein paar bessere Optionen für dich überlegt, was die Düfte betrifft. Ich glaube jedoch nicht, dass du hier etwas findest.“
Er seufzte und stellte die beiden Sprays zurück. „Dann muss Avery sie eben kaufen. Ich habe nämlich keine Ahnung, wovon sie geredet hat.“
„Was hat sie denn gesagt?“
Meine Hand ballte sich zu einer Faust, eine automatische Reaktion auf die Erwähnung seiner Freundin. Die beiden hatten im Herbst angefangen, miteinander auszugehen, und waren anscheinend noch immer zusammen. Zu Thanksgiving war ich mit Nadia nach Hause gefahren und war von ihr ins Casa Conrad zum Essen eingeladen worden. Als ich Rob mit Avery entdeckt hatte, musste ich mich sehr beherrschen, um ihr nicht die Haare auszureißen. Sie sah so fantastisch aus – dünn wie ein Model, mit roten Haaren (nicht gefärbt), grünen Augen und einem Gesicht, das man nur als ätherisch bezeichnen konnte; würde sie sich als Elfenkönigin Titania verkleiden, könnte sie die Rolle überzeugend spielen. An Thanksgiving hatte Rob sich rührend um Avery gekümmert, hatte ihr den Teller gefüllt, stets darauf geachtet, dass sie etwas zu trinken hatte und niemals allein und einsam herumsaß. Das hatte mir echt einen Stich versetzt.
„Sie möchte, dass ich ein bisschen mehr Stil bekomme.“
„Wie so ein Nobelrestaurant?“
Meiner Meinung nach brauchte an Rob nichts verbessert zu werden. Die Levi’s, die er zusammen mit einem blau karierten Hemd und einer blauen Daunenweste trug, stand ihm fantastisch. Sicher, er war kein GQ-Model, aber warum zum Teufel sollte irgendeine Frau das von ihm erwarten? Außerdem verspürte ich das dringende Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen, wenn er meinte, bei Safeway was „Stilvolles“ kaufen zu können.
Er lachte. „Wohl kaum.“
Es ging mich vielleicht nichts an, aber … „Ändere dich nicht für sie, okay? Du bist großartig, so wie du bist.“
Sein Blick begegnete meinem. Nicht zum ersten Mal bemerkte ich, dass Robs Augen strahlend blau waren und von lächerlich langen schwarzen Wimpern umrahmt wurden. In einem Gesicht mit einer weniger kräftigen Nase, einem weniger prägnanten Kinn hätten diese Augen viel zu hübsch gewirkt. Wenn ich früher bei Nadia übernachtet hatte, damals zu Highschool-Zeiten, hatte ich mir immer vorgestellt, dass Rob mir auflauern und mich gegen eine Wand pressen würde, überwältigt von seinem unausgesprochenen Verlangen. Das war im Grunde meine Lieblingsfantasie mit sechzehn, doch Rob hatte leider niemals erkennen lassen, dass er unter unkontrollierbarer Leidenschaft litt.
Zu schade aber auch.
„Das stimmt nicht“, meinte er leise.
Ein kleiner Schatten, der sich über seine Augen legte, und das leichte Verziehen seiner Lippen weckten in mir den Eindruck, dass er unglaublich traurig war. Er besaß kein sehr ausdrucksstarkes Gesicht, und um ehrlich zu sein, sein normaler Gesichtsausdruck vermittelte den Anschein, als würde sich da oben in seinem Oberstübchen nicht viel abspielen. Seit ich mich erinnern konnte, nannten ihn die Leute hinter seinem Rücken einen Trottel. Das Mädchen, mit dem er in der Highschool zusammen gewesen war, hatte immer von seinem Körper geschwärmt, doch irgendwelche Charaktereigenschaften hatte es nie erwähnt. Trotz all der heißen Fantasien hatte ich mir auch nie Gedanken über sein Innenleben oder seine Gefühle gemacht, und als ich ihn jetzt anschaute, meldete sich mein schlechtes Gewissen.
„Da muss ich dir widersprechen. Aber du solltest nicht unbedingt auf mich hören“, entgegnete ich munter. „Ich bin ja nur die Idiotin, die vom Mount Albion College geflogen ist.“
„So ein Quatsch. Zusammen mit Nadia hast du immer zu den besten Studenten gehört. Du bist nur hier, weil du es wolltest.“
Einige Sekunden lang war ich zu verblüfft, um etwas zu erwidern. Doch dann hatte ich mich wieder gefasst. „Das ist ja mal eine mutige Aussage. Was ist mit dem unehelichen Kind, das ich erwarte?“
Langsam und abschätzend ließ er den Blick über mich gleiten. „Auch Quatsch.“
Ich wünschte, ich hätte etwas anderes als eine Jogginghose an, wünschte, meine Haare würden nicht aussehen wie ein Vogelnest. Aber er kannte mich, seit ich sieben war, und hatte mich nie als potenzielles Irgendwas betrachtet, also war es sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Selbst ein Kleid oder eine andere Frisur würden an einem lebenslangen Desinteresse jetzt nichts mehr ändern.
„Ich muss los“, sagte ich. „Meine Mom wartet auf die Milch und die Eier.“
Na toll. Der Preis für die geistreichste Bemerkung ging damit wohl an mich. Aber Rob nickte, als würde ich nicht wie eine komplette Vollidiotin klingen, die sich darauf spezialisiert hatte, sich in Gegenwart von Jungs äußerst merkwürdig zu benehmen. Was eigentlich völlig absurd war; auf dem College war das Einzige, was ich wirklich ausgesprochen gut beherrscht hatte, geistreiches Geplänkel gewesen. Ich hatte die Jungs zum Lachen gebracht und war verdammt beliebt gewesen am Mount Albion.
„Hast du heute Abend schon was vor?“, fragte er.
Was? Irgendwie schaffte ich es, dass mir die Kinnlade nicht runterfiel. „Nee, eigentlich nicht. Ich habe inzwischen alles ausgepackt, und die meisten meiner Freunde von der Highschool wohnen … äh … nicht mehr hier.“
„Avery besucht dieses Wochenende ihre Cousine in Omaha. Also dachte ich, wir könnten vielleicht eine Pizza essen gehen? Ich habe keine Lust zu kochen.“
Wow. Das ist definitiv kein Date.
„Hört sich gut an“, erwiderte ich. „Wann denn?“
„Halb sechs?“
„Klar. Weißt du noch, wo ich wohne?“ Er hatte mich ein paarmal nach Hause gefahren, wenn Nadia ihn angerufen hatte, um uns von einer Party zu retten, die aus dem Ruder gelaufen war. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihm meine Adresse im Gedächtnis geblieben waren.
Zu meiner Überraschung nickte er. „Noch immer drüben in der Dover Road, oder?“
„Stimmt genau.“ Nachdem ich ihm noch einmal freundschaftlich zugewinkt hatte, zog ich meinen Korb an ihm vorbei und marschierte zur Kasse.
Ich schaffte es, meine Aufregung im Zaum zu halten, bis ich im Wagen saß. Dann allerdings stieß ich einen Freudenschrei aus. Eine meiner liebsten Highschool-Erinnerungen war diese Party, die irgendjemand auf der Farm seiner Eltern gefeiert hatte. Als Rob uns damals abgeholt hatte, war der ganze Hof voller betrunkener Teenager gewesen. Ich stolperte mit einem Typen durch die Gegend, der schon so blau war, dass er ein Nein als Antwort nicht mehr akzeptierte. Der Kerl presste mich gegen das Garagentor und bedeckte meinen Hals mit feuchten, schlabberigen Küssen, während ich erschaudernd versuchte, ihn von mir zu stoßen. Im nächsten Moment befummelte er mich jedoch nicht mehr. Rob hatte ihn fortgerissen und ihn mit einem gut platzierten Schlag außer Gefecht gesetzt. Anschließend legte Rob mir sanft einen Arm um die Schultern und half mir ins Auto. Er hatte mich schon immer wie eine kleine Schwester beschützt, aber ich reagierte anders darauf als Nadia. Sie hasste diesen Beschützerinstinkt und stritt sich deswegen häufig mit Rob. Ich dagegen sehnte mich danach, mit ihm statt mit den Jungs aus meiner Klasse herumzuknutschen. Hin und wieder hatte ich ihn beobachtet, wenn er seine Freundin geküsst hatte, und das hatte meine Fantasien für mindestens zwei Jahre beflügelt.
Nachdem ich mich ermahnt hatte, nicht so albern zu sein, fuhr ich nach Hause und stellte Milch und Eier in den Kühlschrank. Mom machte sich für eine Verabredung zurecht, was meine Vermutung bezüglich des Handwerkers wohl bestätigte. Ich lehnte mich gegen den Rahmen der Badezimmertür und sah ihr zu, während sie Lippenstift auftrug.
„So, so, und wann lerne ich ihn kennen?“
Sie errötete. „Es stört dich nicht?“
„Natürlich nicht. Ich freue mich, dass du so glücklich aussiehst.“
„Im Kühlschrank sind noch ein paar Reste …“
„Ach, mach dir keine Gedanken. Rob holt mich in einer Stunde ab.“
„Nadias Bruder?“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Ist er nicht mit diesem schrecklichen Jacobs-Mädchen zusammen?“
Unser kleiner Ort hatte keine großartige Oberschicht vorzuweisen, aber Avery Jacobs gehörte ihr definitiv an. Sie trug ausnahmslos Markenklamotten und war in jüngeren Jahren ständig herumchauffiert worden, damit sie auch ja niemals den Bus nehmen musste. In der Schule hatte sie die Nase so hoch getragen, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie nicht in einem Gewitterschauer ertrunken war. Nadia war ganz früher mal mit ihr befreundet gewesen, ich allerdings hatte Avery noch nie sonderlich gemocht. Diese Abneigung hatte sich noch verstärkt, als Avery, ohne mit der Wimper zu zucken, Nadia fallen ließ, sobald sich die Cliquen in der Junior-Highschool zu bilden begannen.
„Sie ist zurzeit nicht in der Stadt. Außerdem gehen Rob und ich ja nur Pizza essen. Wahrscheinlich tue ich ihm leid, wo doch sogar meine Mom ein aufregenderes Privatleben hat als ich.“ Ich grinste, um ihr zu zeigen, dass ich Spaß machte.
Sie bewarf mich mit einem Wattebausch. „Das ist nicht lustig. Wenn du wüsstest, wie lange ich mit mir gerungen habe, ob ich dir von Stuart erzählen soll …“
„So heißt er also.“
„Er verkauft Versicherungen“, erzählte Mom. „Man könnte meinen, dass er deshalb ziemlich langweilig ist, aber er ist sehr süß.“
„Mich musst du nicht überzeugen. Ich müsste allerdings mal duschen, wenn du hier fast fertig bist.“
„Kein Problem. Ich kann mich in der Küche fertig schminken.“
Verdammt. Sie zieht ja wirklich alle Register.
Obwohl ich ja nicht zu einem Date wollte, tat ich dasselbe. Eine Stunde später trug ich meine beste Jeans, ein blaues Sweatshirt, das meinen Busen perfekt zur Geltung brachte, und dazu meine Lieblingslederjacke. Meine Augen waren nicht dezent, sondern glamourös geschminkt, ich hatte mir die Haare geglättet und ein Paar Hammerstiefel angezogen, die bis zum Knie reichten. Rob kam pünktlich die Auffahrt hoch, also rief ich meiner Mom ein Bye zu und lief die Treppen hinunter. Er hatte einen ziemlich neu wirkenden roten Pick-up, wobei ich allerdings nicht genügend über Autos wusste, um sagen zu können, um welche Marke oder Modell es sich handelte.
Er trug noch immer sein blaues Flanellhemd, aber ich hatte auch nichts anderes erwartet. So wie früher, wenn er uns von den Partys abgeholt hatte, ging er um den Wagen herum und öffnete mir die Tür. Es gab kein Trittbrett, und ich war klein, fast dreißig Zentimeter kleiner als er; ehe ich also da raufklettern konnte, hatte Rob mir die Hände auf die Taille gelegt, mich hochgehoben und mich auf den Beifahrersitz gesetzt. Und das alles mit einer lässigen Kraft, die mir den Atem raubte.
„Warte, entschuldige, ich hätte dich um Erlaubnis fragen sollen, ehe ich dich so hochhebe.“ Er schien das völlig ernst zu meinen. Offenbar hatte er Angst, mich beleidigt zu haben.
„Alles in Ordnung.“ Na ja, zumindest sobald dieses Zittern aufhören würde. Noch immer spürte ich den Druck seiner Hände, mit denen er mich an der Taille berührt hatte.
„Du bist nicht so empfindlich wie Avery“, meinte er. „Ich habe ihr im vergangenen Monat wirklich nichts recht machen können.“
Vielleicht ist sie nicht die Richtige für dich. Aber wenn ich das laut sagte, hätte ich dabei definitiv Hintergedanken, denn mir würde unweigerlich auf der Zunge liegen, vielleicht solltest du dich stattdessen lieber nackt mit mir vergnügen. Daraufhin müsste ich dann vor Scham im Boden versinken wegen der peinlichen Stille, die unweigerlich folgen würde. Im schlechtesten Fall handelte es sich hier um eine Mitleidspizza; bestenfalls um eine Besser-als-allein-essen-Pizza.
„Hat sie irgendwelche Sorgen?“, fragte ich neugieriger, als ich zuzugeben bereit war.
Er zögerte einen Moment, und seine Miene verdüsterte sich. „Scheint so, doch ich kann sie nicht dazu bringen, es mir zu erzählen.“
Da ich selbst auch nicht gerade zu den Leuten gehörte, die ihr Herz auf der Zunge trugen, konnte ich ihre Zurückhaltung verstehen. Was mich irgendwie sauer machte. Ich wollte kein Mitgefühl mit Avery empfinden. „Vielleicht hat sie Angst, dass du schlecht von ihr denkst, wenn sie wegen ihrer Probleme rumjammert.“
„Ich muss ihr wohl mal sagen, dass das nicht so ist.“ Er stieß langsam den Atem aus, offenbar erleichtert, dass es vielleicht eine einfache Lösung für das Problem gab.
„Wie auch immer, da ist nichts, worüber ich mich aufregen müsste. Ich bin vertikal gehandicapt, du hast mir in den Wagen geholfen. Alles ist gut.“
Dafür bekam ich ein Lächeln geschenkt, das sowohl seine Augen leuchten ließ als auch kleine Lachfalten an seinen Augenwinkeln hervorrief. Er joggte um den Pick-up herum, stieg ein und legte den Arm über die Rückenlehne, um die Auffahrt wieder hinunterzufahren. Es herrschte wenig Verkehr, daher waren wir in Nullkommanichts am Restaurant. Im großen Innenraum von Pizza Hut waren fast alle Tische belegt, hauptsächlich von Familien und ein paar Highschoolschülern. Wir hatten jedoch Glück und konnten eine kleine Nische für zwei Personen hinten in der Nähe der Toiletten ergattern. Als ich noch die Highschool besucht hatte, war es quasi eine Sensation gewesen, als sie hier die winzige Salatbar eingerichtet hatten.
„Also, was hättest du gern?“, fragte Rob, ohne sich die Mühe zu machen, die Speisekarte aufzuklappen.
Dich wäre die naheliegende Antwort gewesen, aber ich war nicht nach Hause zurückgekehrt, um mich erneut nach meiner Jugendliebe zu verzehren. Das war sowieso aussichtslos. Also erwiderte ich: „Reichlich Fleisch.“
Das war für ihn anscheinend die beste Nachricht des Tages. Rob starrte mich an, als hätte ich verkündet, er wäre der heißeste Mann auf Erden. „Ah, also die Pizza für Fleischliebhaber. Sollen wir auch einen Salat bestellen?“
Ich grinste. „Sollen oder wollen, das ist hier die Frage. Ich glaube, ich werde heute mal gefährlich leben.“
„Die Stützräder sind ab, was?“ Er lächelte; der Anflug von Traurigkeit, den ich im Supermarkt bemerkt hatte, schien verflogen zu sein.
Einen Moment lang vergaß ich, wer er war, und antwortete herausfordernd lächelnd: „Oh, die sind schon lange ab. Du hast ja keine Ahnung, wie gut ich inzwischen auf gewissen Gebieten bin.“
Schockiert starrte er mich an, während ich mich davon abhalten musste, mit dem Kopf auf die Tischplatte zu schlagen. Doch dann überraschte er mich, indem er leise anfing zu lachen. „Na, fast wäre ich drauf reingefallen. Nicht schlecht, Lauren.“
Tja, so bin ich eben. Zum Totlachen. Schickt die Clowns rein. Oh nein, wartet, ich bin ja schon hier.
Letztlich waren wir ganz leichtsinnig und bestellten beide die Fleischliebhaber-Pizza sowie einen Krug mit Rootbeer. Bisher hatte ich noch nie allein mit Rob gegessen, aber solange ich mir stets bewusst machte, dass er keinerlei Interesse an mir hatte, war alles gut. Ich aß zwei Stück Pizza und trank ein Glas Rootbeer, während er den Rest verputzte. Sein Stoffwechsel musste phänomenal sein.
„So, und nun?“, fragte ich, während wir uns die Rechnung teilten. Oder besser gesagt ließ Rob mich immerhin ein Viertel zahlen, da er ja mehr gegessen und getrunken hatte als ich.
Es war eher eine allgemeine Frage als die Aufforderung, mir jetzt seinen Lebensplan zu offenbaren, doch Rob richtete sich auf und wirkte leicht angespannt. „Was meinst du?“
„Bringst du mich jetzt nach Hause, oder wollen wir noch um die Häuser ziehen und richtig einen draufmachen?“ Das war eher unwahrscheinlich, doch als Rob sich wieder entspannte und den Kopf schüttelte, war ich froh, dass ich mich für eine alberne Antwort entschieden hatte.
„Ich wollte dich nach Hause fahren und dann weiter an meinem Esszimmer arbeiten“, antwortete er.
„Na klar. Ich denke, ich gehe nach Hause und mache dasselbe. Ich könnte es bestimmt hinbekommen, dass mein Esszimmer auch etwas stilvoller wird … es müsste sich nur ein bisschen mehr Mühe geben und nicht von morgens bis abends fernsehen.“
Das entlockte ihm ein leises Lachen, und auf einmal fiel mir auf, dass ich Rob heute das erste Mal wirklich lachen gehört hatte. Dieser tief aus seinem Inneren kommende Laut sandte mir einen wohligen Schauer über den Rücken, und am liebsten hätte ich sofort eine Wiederholung provoziert. Dafür wäre ich sogar in ein Clownskostüm geschlüpft, hätte mir eine rote Nase aufgesetzt und riesige Schuhe angezogen. In der Vergangenheit hatte ich Rob höchstens mal lächeln sehen; meist war er sehr zurückhaltend, sehr vorsichtig, was seine Mimik anging – warum, war mir nicht so ganz klar.
„Ich habe mir im Dezember ein Haus gekauft. Als du das letzte Mal hier warst, habe ich ja noch bei meinen Eltern gewohnt. Das Haus ist sanierungsbedürftig, aber sobald ich es einmal aufgemöbelt habe, werde ich es wohl wieder verkaufen.“
„Das heißt, du restaurierst es, bis es richtig toll aussieht, und vertickst es dann mit Gewinn weiter?“ Ich hatte ein paar dieser Heimwerker-Shows im Fernsehen gesehen.
„Hoffentlich. Allerdings weiß ich nicht, ob das hier der geeignete Ort dafür ist.“
„Stimmt, vermutlich ist der Immobilienmarkt nicht sonderlich vielversprechend.“
„Wenn ich es nicht verkaufen kann, dann habe ich aber immerhin ein nettes Haus, um selber drin wohnen zu können. Also ist es auf keinen Fall ein Fehler.“ Es klang so, als müsste Rob sich verteidigen, als hätte er das schon öfter erklärt, ohne allerdings auf große Zustimmung zu stoßen.
„Hört sich doch vernünftig an. Außerdem kannst du dir auf diese Weise das Haus so zurechtbauen, wie du es haben willst.“
Er nickte und wirkte auf einmal ganz aufgeregt. „Ich habe schon eine Wand im Erdgeschoss rausgerissen, sodass eine großzügige Küche mit Essbereich entstehen kann.“
„Und was hast du sonst noch alles gemacht?“
Diese Frage wirkte auf Rob, als hätte man einen Schlüssel im Schloss herumgedreht. Er öffnete sich und erzählte mir alles, was er bisher getan hatte und welche Projekte noch auf ihn warteten. Als er schließlich verstummte, war ich beeindruckt, denn ganz offensichtlich hatte er alles gut überlegt und genauestens geplant. Darüber hinaus war er entschlossen, nicht eher aufzuhören, bis er das Haus völlig fertig renoviert hatte.
„Es ist ein bisschen schwierig, dort jetzt auch zu leben“, meinte er seufzend. „Mit all den Werkzeugen und dem Dreck überall. Daher konnte ich Avery bisher noch nicht davon überzeugen, auch nur einen Fuß in das Haus zu setzen. Sie meint, sie würde sich das Ergebnis ansehen, wenn ich fertig bin.“
„Ich wette, so schlimm ist es gar nicht.“ Hauptsächlich sagte ich das, um anderer Meinung zu sein als seine Freundin. Ein höchst befriedigendes Gefühl.
„Möchtest du es dir anschauen?“ Seine Einladung war ein überraschender Bonus.
„Sicher. Dann kann ich mir viel besser vorstellen, was du mir erzählt hast.“
„Super.“ Rob schaute auf die Rechnung und runzelte die Stirn, vermutlich weil er überlegte, was er an Trinkgeld geben sollte. Also nahm ich sie ihm aus der Hand, blickte auf die Endsumme und ließ vier Dollar auf den kleinen Teller fallen.
„Du hast ja schon den Großteil des Essens bezahlt“, sagte ich, als wäre das der Grund.
„Danke.“ Glücklicherweise ließ er das Thema fallen.
Rob wartete, dass ich vor ihm zur Tür ging, eine höfliche Geste, die dazu beitrug, dass ich ihn noch mehr mochte. Was ich definitiv nicht brauchte – diese alte Verliebtheit aus der Schulzeit lastete schließlich noch immer auf mir. Wenn er darauf bestand, lieb und nett zu sein, dann wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte. Genau wie vorhin hob er mich wieder auf den Beifahrersitz, ehe er quer durch die Stadt in Richtung Westen fuhr, statt die Dover Road anzusteuern.
Sein Grundstück lag am Randgebiet von Sharon, abseits des Highways. Die Auffahrt war eine viertel Meile lang, und das Haus stand auf einer kleinen Lichtung, umgeben von schneebedeckten Bäumen. Es war zu winterlich, um einen richtig guten Eindruck von der Landschaft zu bekommen, aber mir gefiel der Bungalow mit den Seitengiebeln, angefangen bei den Dachvorsprüngen bis hin zu dem großen Schornstein. Besonders schön war die Veranda mit den schmalen Säulen vor dem Haus. Sie war nicht riesig, aber auf jeden Fall groß genug für eine Hollywoodschaukel.
„Pass auf, wo du hintrittst“, warnte Rob mich, als er mir aus dem Pick-up half.
Ernsthaft, ich könnte mich daran gewöhnen, dass Rob mich berührte. Mein Puls geriet aus dem Häuschen, als er seine Hände so lange auf meiner Taille liegen ließ, bis er sicher war, dass ich nicht kopfüber in den schmutzigen Schneehaufen fallen würde, den er an der Seite der Auffahrt zusammengeschoben hatte. Ich konnte gar nicht anders, ich musste ihn einfach anlächeln, und er reagierte mit einem Strahlen, wie ich es selten bei ihm gesehen hatte. Wenn er mit seinen Kumpeln beim Sport herumalberte, dann öffnete er sich auf diese Weise, aber bei anderen Menschen nur höchst selten.
Er ging voran, um die Tür aufzuschließen, und trat dann zur Seite, damit ich reingehen konnte. Schnell schaltete er die Decken beleuchtung ein, und mir wurde klar, wo Averys Problem lag. Alles war mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, und überall lagen Werkzeuge herum. Vieles war mit Plastikplanen abgedeckt. Das kalte Licht einer Glühbirne schien durch die Öffnung, wo Rob die Wand herausgerissen hatte, und in der Küche lag lediglich ein vorläufiger Bretterboden, während die Holzdielen im Wohn-und Esszimmer abgeschliffen werden mussten. Aber ich sah das Potenzial in all dem Chaos; langsam drehte ich mich im Kreis. Rob hatte bereits eine Menge geschafft, wenn man sich überlegte, dass er das Haus erst vor wenigen Monaten gekauft hatte.
„Es ist das reinste Chaos“, meinte er und wirkte dabei ganz niedergeschlagen, so als hätte er erwartet, schon mehr Fortschritte gemacht zu haben.
„Nein, ich kann mir gut vorstellen, wie es irgendwann einmal aussehen wird. Was muss im Esszimmer als Nächstes erledigt werden?“
Einige Sekunden lang musterte er mich, vermutlich um zu schauen, ob ich das Interesse nur heuchelte. Schon im nächsten Moment stürzte er sich jedoch in einen Monolog über die Fußleisten, und man konnte sehen, wie sehr er sich für das Projekt begeisterte. Er erklärte mir den Unterschied zwischen Achtzig- und Hundert-Korn-Schleifpapier, dass man mit einem Spachtel gut in die Ecken kam und wie wichtig es war, dass man mit Schmirgelpapier anfing, das zu dem Holz passte. Ich hatte null Ahnung, was handwerkliche Tätigkeiten anging, aber die Sache hörte sich ganz ansprechend an. Was vielleicht auch an Rob lag, der echt unglaublich heiß wirkte.
Als ihm schließlich die Puste ausging, sah er mich bekümmert an. „Aber das wolltest du bestimmt gar nicht alles hören. Tut mir leid, wenn ich dich gelangweilt habe.“
„Klar wollte ich, sonst hätte ich ja nicht gefragt.“
„Du bist ein merkwürdiges Mädchen.“ Er schüttelte den Kopf und lächelte.
„Darauf bin ich auch stolz.“ Vorsichtig ging ich ein paar Schritte weiter in die Küche hinein und grinste Rob an. „Ah, jetzt verstehe ich. Als du gesagt hast, du hättest keine Lust zu kochen, meintest du, dass du dir hier auf der einzelnen Kochplatte keine Suppe aufwärmen willst.“
Seine Küche konnte man kaum noch als Küche bezeichnen – es gab keinen Herd, nur einen Campingkocher und einen uralten Kühlschrank, der schief auf dem provisorischen Fußboden thronte. Wahrscheinlich gab es nicht mal fließend Wasser. Die Schränke waren abgebaut und mit Plastikplanen abgedeckt worden, was dem Raum eine Art Serienkiller-Atmosphäre verlieh. Aber okay, bevor mein Dad uns damals verlassen hatte, waren auch bei uns genügend Handwerker im Haus gewesen. Daher war mir klar, dass man unter solchen Umständen nichts anderes erwarten konnte.
„Mehr oder weniger. Obwohl, du solltest so eine einzelne Herdplatte nicht unterschätzen. In einem Wok kann man leckere Sachen zubereiten.“
Lächelnd neckte ich ihn: „Erzähl mir mehr.“
„Du machst dich über mich lustig.“ Die Wärme verschwand aus seinem Gesicht, und erst in diesem Augenblick, als sozusagen das Licht ausging, wurde mir bewusst, wie sehr mir das Leuchten gefallen hatte.
„Tue ich nicht. Ich bin echt total beeindruckt, dass du überhaupt etwas auf einer Herdplatte kochen kannst.“
„Na ja, so was Besonderes ist das ja nun auch nicht“, erwiderte er zögernd, und ich fragte mich, ob er schon immer so unsicher gewesen war.
Soweit ich mich erinnern konnte, war Rob noch nie eine Plaudertasche gewesen. Er war nicht der Anführer, wenn er mit seinen Sportkumpeln zusammen war, und er sagte auch nicht viel, wenn sie herumalberten. Daher hatte ich wenige Anhaltspunkte, kein Gefühl dafür, wie er wirklich tickte. Vielleicht war er immer so?
„Hör auf damit, mir vorschreiben zu wollen, was mich erstaunt.“ Ich stieß ihm meinen Ellenbogen in die Seite. „Ich schnappe auch bewundernd nach Luft, wenn ich Affen auf dem Fahrrad sehe oder wenn Papageien auf Portugiesisch fluchen.“
„Wer tut das nicht?“ Aber seine Augen leuchteten wieder, und ein kleines Lächeln umspielte seinen Mund, der mit diesen perfekt geschwungenen maskulinen Lippen wie geschaffen war zum Küssen.
Wenn ich mir nicht schnell etwas einfallen ließ, würden die nächsten Worte aus ebenjenem Mund allerdings Ich bringe dich nach Hause lauten. „Wenn du willst, helfe ich dir beim Schleifen. Das ist doch eine Arbeit, die auch Anfänger hinkriegen, oder?“
Rob starrte mich an. „Es ist Samstagabend. Bestimmt hast du was Besseres zu tun.“
Ich war zwar nicht für Heimwerkerarbeiten gekleidet, aber ich wollte noch nicht gehen. Das erinnerte alles sehr an eines der Szenarien, die ich mir unzählige Male während der Highschoolzeit erträumt hatte. Gleichzeitig ermahnte ich mich: Er hat eine Freundin. Bleib cool. Du kannst mit Rob befreundet sein. Ist doch keine große Sache.
„Darüber ließe sich streiten. Mom ist unterwegs, also würde ich wahrscheinlich einfach nur fernsehen.“
„Wenn du meinst.“ Rob klang skeptisch, holte aber das Schleifpapier und zeigte mir, wie man es benutzte.
Ich zog meine Jacke aus und blickte an meinem Oberteil hinab. „Hast du irgendwas, was ich drüberziehen könnte?“
Obwohl ich nicht vorhatte, seine Aufmerksamkeit auf meine Brüste zu lenken, folgte er meinem Blick. Wenn mich nicht alles täuschte, verharrten seine Augen einen Moment zu lange dort, bevor sich eine leichte Röte auf seinem Gesicht ausbreitete … bis hin zu den Ohren. Nur relativ wenigen Jungs in meinem Alter wäre das peinlich; die große Mehrheit war in der Hinsicht völlig unverfroren. Ich fand es großartig, dass Rob nicht so war. In ihm steckte eine solide Gutherzigkeit, die mich an Nadia erinnerte.
„Klar, ich hole dir ein Arbeitshemd.“
Sobald er mir ein kariertes Flanellhemd, ganz offensichtlich seine Lieblingsbekleidung, gebracht hatte, ging ich in die Küche und zog mich um. Damit hatte Rob nicht gerechnet, daher riss er die Augen auf, als ich wieder um die Ecke kam und die Ärmel hochrollte. „Das könntest du ja als Kleid tragen“, platzte er heraus.
„Ich vermute, da würde mir doch ein wenig kalt werden.“
„Soll ich uns Musik anmachen?“
„Gute Idee.“
„Was magst du gern?“ Es war das zweite Mal heute Abend, dass er mich das fragte. Häufiger als jeder andere Mann, mit dem ich je ausgegangen war, um ehrlich zu sein.
„Überrasch mich einfach.“
Er steckte seinen iPod in die Docking-Station, die geschützt auf einem hohen Regal stand. Im Esszimmer befand sich ein altes Holzschränkchen, und ich konnte mir schon gut vorstellen, wie es aussehen würde, wenn Rob es erst einmal aufgemöbelt hatte und es trotz seines Alters wieder glänzen würde. Es war der perfekte Platz, um zum Beispiel das „gute“ Geschirr auszustellen. Nicht, dass ich so was besaß, aber ich mochte Dinge, in denen viel Sorgfalt steckte. Rob fummelte an der Musikanlage herum, und dann ertönte Blue October aus den Lautsprechern. Ich hatte „Hate Me“ schon mal gehört, aber es war ein Lied, das ich nicht unbedingt mit Rob in Verbindung gebracht hätte. Bei ihm hätte ich eher auf unkomplizierte Countrymusik getippt – Garth Brooks oder jemand wie Shania Twain.
„Das gefällt mir“, sagte ich. „Obwohl es ja ziemlich traurig ist. Hast du auch ‚Sound of Pulling Heaven Down‘?“
Er nickte. „Kommt als Nächstes.“
Ich freute mich darauf herauszufinden, was Rob noch so hörte, wenn er allein war. Und er hat gesagt, dass Avery noch nie hier war, also erfahre ich etwas über ihn, was sie nicht weiß.Nachdem ich meine Stiefel ausgezogen hatte, machte ich mich an die Arbeit und schliff das Holz so ab, wie Rob es mir gezeigt hatte. Mein Rücken und meine Knie taten weh, aber es war merkwürdig befriedigend, den Schaden zu beseitigen, der durch jahrelange Vernachlässigung angerichtet worden war.
Nachdem wir eine Weile schweigend gearbeitet hatten, sagte ich: „Hier sind ein paar tiefere Kratzer, die bekomme ich nicht weg.“
Rob hielt inne und kniete sich neben mich, um sich die Fußbodenleiste anzuschauen. „Normalerweise schleift man in Maserrichtung, aber du kannst auch mal in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel schmirgeln, um die wegzubekommen. Wir müssen hinterher sowieso noch einmal mit feinerem Schleifpapier drübergehen.“
Wir? Innerlich stellte ich dieses Personalpronomen infrage, aber ich war nicht so dumm, es laut zu tun. Dann würde Rob nur wieder dichtmachen. Wenn er nichts dagegen hatte, würde ich definitiv noch mal zum Helfen vorbeikommen. Doch obwohl ich eine Website im Schlaf konzipieren konnte, war ich mir jetzt nicht ganz sicher, was er meinte – ein Neunzig-Grad-Winkel war eine richtige Ecke, also …
„So?“
„Fast.“ Er legte seine Hand auf meine und zeigte mir, wie es ging. Seine Handflächen waren groß und rau und bedeckten meine Finger vollständig. Bis zu dieser Minute war mir gar nicht klar gewesen, wie sehr mir große, breitschultrige Männer gefielen. In Michigan hatte ich hauptsächlich windschnittige Schönlinge gedated – falls man das so nennen konnte. Meine Spezialität war eher, auf Partys zu gehen und mich auf kurze Affären einzulassen statt auf Beziehungen. Nachdem ich jahrelang das Elend meiner Mutter beobachtet hatte, hielt ich es nicht für ratsam, einen Mann zu nahe an mich ranzulassen.
„Okay, jetzt hab ich’s.“ Meine Arme taten mir inzwischen ganz schön weh, weil ich so viel Druck ausüben musste. Aber okay. Wenn ich Rob half, würde ich gleichzeitig noch meinen Bizeps trainieren. „Danke.“
„Kein Problem.“ Er ging wieder in seiner Ecke an die Arbeit, und der iPod spielte weitere fünf Lieder, eine vielseitige Mischung aus David Gray, Josh Ritter, Good Old War – eine Band, von der ich noch nie gehört hatte – sowie Snow Patrol und, am überraschendsten, Enya. Als sie ertönte und vom Abendstern sang, hob ich erstaunt den Kopf und starrte Rob an. Darauf wäre ich nie im Leben gekommen; ich fragte mich, ob seine Football-Kumpel das wohl wussten.
Er begegnete meinem Blick mit einem selbstironischen Achselzucken. „Ihre Stimme ist einfach unglaublich.“
Dem konnte ich nicht widersprechen, auch wenn mein Musikgeschmack sich eher an den Top 40 orientierte. „Ich bin kein Musiksnob, du Dummkopf. Ehrlich gesagt habe ich bei meinen Freunden schon längst verspielt, weil ich neun von zehn Liedern, die im Radio gespielt werden, mag, auch wenn die Kritiker sie schrecklich finden.“
„Miley Cyrus?“, meinte er herausfordernd.
„Hey, ‚Wrecking Ball‘ ist echt klasse. Und ich hab schon meine Badewanne zu ‚Party in the U.S.A.‘ geschrubbt.“ Mir war es nicht peinlich, dass ich Popmusik mochte, daher störte mich sein Grinsen auch nicht.
„Ke$ha?“
„Gehört nicht unbedingt zu meinen Favoriten, aber ich hasse sie auch nicht. Das Duett mit Pitbull ist ganz eingängig, obwohl der Text keinen Sinn ergibt.“
Während wir weiterschliffen, fragte Rob mich noch nach anderen Bands und Sängern aus, bis ich zugab, dass es eigentlich nur drei Popsongs gab, die ich ausschaltete: „Blurred Lines“ von Robin Thicke, „Barbra Streisand“ von Duck Sauce und „Loca People“ von Sak Noel. Ansonsten war ich kein Musik-Nerd und fand auch nicht, dass einige Bands cooler oder wichtiger waren als andere.
„Aus irgendeinem Grund dachte ich, du wärst so wie Nadia. Sie steht ja mehr auf die Sachen, die noch nicht entdeckt wurden.“
„Willst du damit sagen, sie sei ein Hipster?“
Rob hob eine Schulter. „Wenn der Schuh passt …“
Angesichts der Vorliebe meiner besten Freundin für Indie-Rock und Bier aus Mikrobrauereien hatte er damit nicht ganz unrecht. Trotzdem wollte ich ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen. „Das sagt ja der Richtige. Bevor du dieses Lied von Good Old War gespielt hast, hatte ich von denen noch nie gehört.“
„‚Looking for Shelter‘? Das ist doch ein toller Song. Und übrigens, Nadia hat die auch schon gehört, ehe sie aufs College gegangen ist. Also …“
„Du leugnest also, etwas mit ihrer Entdeckung zu tun zu haben. Sehr verdächtig.“ Ich kniff die Augen zusammen und musterte ihn übertrieben skeptisch. „Ich wette, du könntest auch ein paar Indie-Bands aufspüren, wenn du dir Mühe geben würdest.“
„Zum Glück brauche ich das nicht. Nadia schickt mir immer E-Mails mit Wiedergabelisten, die sie zusammengestellt hat. Irgendwelches Zeug, von dem sie glaubt, dass es mir gefällt. In der Hälfte der Fälle trifft sie ins Schwarze.“
„Das wusste ich nicht.“
Er neigte den Kopf. „Warum solltest du auch?“
Sobald er die Frage ausgesprochen hatte, kam ich mir wie ein Vollidiot vor. „Da hast du vermutlich recht.“
Da mir Schweigen jetzt die sicherste Lösung zu sein schien, arbeitete ich mich weiter bis zur Ecke vor. Die Fußleiste sah schon viel besser aus, nachdem ich sie geschliffen hatte. Rob hatte zwei Wände geschafft, während ich eine vorzuweisen hatte. Als ich mich auf die Fersen setzte, richtete er sich auf und kam herüber, um mir aufzuhelfen. Mühelos zog er mich hoch. Und ehe ich mich versah, war ich ihm auf einmal ganz nahe. Ich stieß gegen seine Brust und einen kurzen, verwirrenden Moment lang atmete ich seinen frischen Duft ein, eine angenehme Mischung aus Sägespänen und Winterluft.
„Oh, tut mir leid. Wir sollten eine Pause einlegen, sonst verkrampfst du dich noch. Willst du ein Bier?“
„Eigentlich nicht. Lieber ein Wasser.“
Rob öffnete sich ein Bier und holte mir ein Glas mit Eiswasser, bevor er hinüber zur Treppe ging und mir ein Zeichen gab, ihm zu folgen. Neugierig folgte ich ihm nach oben. Der Flur war dunkel und kalt, aber dann öffnete Rob eine Tür, und ich sah den einzigen Raum, den er schon fertiggestellt hatte. Das Zimmer hatte eine vernünftige Größe und war in einen Schlaf- und einen Wohnbereich eingeteilt, was im Moment natürlich Sinn ergab. Hier verbrachte Rob vermutlich seine Zeit, wenn er nicht arbeitete. An der gegenüberliegenden Wand neben dem Fenster stand ein großes Doppelbett mit einem Nachtschrank daneben. Am Fußende des Bettes hatte Rob ein Bücherregal als Raumteiler aufgestellt. Ein paar Stühle standen auf der anderen Seite und waren in Richtung des kleinen Fernsehers ausgerichtet, der sich links neben der Tür befand.
Keines der Möbelstücke hier im Zimmer war so ein Fertigteil aus Plastik. Stattdessen gab es viel echtes Holz, das auf Hochglanz poliert war. Über dem Dielenboden, der ebenfalls glänzte, lag ein grüner Teppich und ich vergrub meine Zehen in dem weichen Plüsch. Rob hatte die Wände in einem Karamellton gestrichen, obwohl er es bestimmt Hellbraun nennen würde, und an den Fenstern hingen Jalousien, im Gegensatz zum Rest des Hauses. Ein elektrischer Kamin war an einer Wand aufgestellt und sorgte für Licht und Wärme. Ich ging durchs Zimmer, um mit der Hand über den Tisch zu gleiten und die glatte Oberfläche zu bewundern.
„Gefällt er dir?“, fragte Rob.
„Und wie! Der ist großartig.“ Es gab keine Schubladen, sondern nur eine zusätzliche Ablagefläche unter der Tischplatte, aber Rob hatte ja auch nicht viel Krimskrams. Im Regal lagen nur ein paar Zeitschriften sowie einige Münzen, Bons und Kleinkram, den er vermutlich aus seinen Hosentaschen genommen hatte.
Sein Lächeln richtete merkwürdige Dinge bei mir an. „Der Tisch war das erste Möbelstück, das ich gemacht habe. Das Bett ist auch von mir. Ich hab’s aus Altmaterialien zusammengebaut.“
Erstaunt sah ich es mir genauer an. Das Kopfteil bestand aus einzelnen Latten, die dunkel lasiert worden waren, und daran schloss sich ein großes Bett auf hohen Füßen an. Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, dass Rob zwei Eisenbahnschwellen genommen und mit Sperrholz verkleidet hatte. Richtig genial.
„Wow, du könntest ja echt Möbel designen.“
„Das ist mein Traum.“ Aber er klang nicht so, als würde er daran glauben, dass irgendjemand ihn dafür bezahlen würde. Dabei sah das Bett solide und richtig gut aus, genau wie Rob.
„Was würde es kosten, wenn du mir so ein Bett baust?“
Meine Frage überraschte ihn so sehr, dass er sich fast an seinem Bier verschluckte. „Ernsthaft?“
„Ja, wie viel? Meine Mom und ich haben gerade darüber geredet, dass wir mein Zimmer neu machen wollen.“ Wir hatten nicht von einem neuen Bett gesprochen, aber es war ja mein Geld.
„Einzel- oder Doppelbett?“
„Einzel.“ Es ärgerte mich ein bisschen, dass ich das sagen musste, denn das klang nach einem Kinderbett. Aber ich konnte mir kein größeres Bett samt neuer Matratze leisten. Wenn es so weiterging, dann würde Rob mich für immer und ewig nur als kleines Mädchen sehen.
„Einen Hunderter.“
Ich runzelte die Stirn. „Das klingt aber billig.“
Das quittierte er mit einem herzerwärmenden Lächeln. „Du kriegst den Freundschafts- und Familienrabatt … Und hey, für mich springt dabei ja auch was raus. Ich genieße die Befriedigung, eine erste Kundin gewonnen zu haben.“
Irgendwie schaffte ich es, nicht mit ihm zu flirten und nichts von all den Sachen zu sagen, die mir auf der Zunge lagen. Er hat eine Freundin. Das heißt, er ist tabu.
Ich würde mich damit zufriedengeben müssen, dass Rob mir ein Bett baute, denn hinein würde ich ihn niemals bekommen.
Am Montag betrieb ich ein bisschen Internetrecherche und schickte meinen Lebenslauf an ein Dutzend Firmen.
Große Hoffnungen machte ich mir nicht, was einen Job anging, da ich ja leider kein Auto besaß. Aber ich würde durchdrehen, wenn ich die ganze Zeit nur herumsitzen musste, bis das Sommersemester begann. Ich hatte mich schon dagegen entschieden, mich wieder in einem normalen College einzuschreiben. Aus diversen Gründen hasste ich es, an Vorlesungen und Seminaren teilzunehmen, daher waren die Online-Kurse der University of Nebraska genau das Richtige für mich. Ich hatte vor, mich für Informatik einzuschreiben und meine bisher erworbenen Creditpoints aus den Grundkursen anrechnen zu lassen. Auf diese Weise konnte ich mich spezialisieren und vielleicht noch ein paar zusätzliche Wahlfächer belegen, je nachdem, wie sich die Dinge entwickelten. Auf der Internetseite der Uni erfuhr ich, dass ich mir bis zu vierundsechzig Stunden aus dem Mount-Albion-College anrechnen lassen konnte, was mehr als die Hälfte der erforderlichen Stundenzahl abdeckte. Wenn ich das Studium sozusagen in Teilzeit betrieb, weil ich nebenher arbeitete, konnte ich es wahrscheinlich erst in drei Jahren abschließen. Aber das war okay, vor allem, wenn es mir gelang, einen Job zu finden, für den ich nicht wegziehen musste.
Das Ganze kostete mich ungefähr eine Stunde Zeit. Mom war heute Morgen zur Arbeit gefahren, und ich hatte kein Auto. Mir selbst eins zu kaufen blieb ein Traum, jedenfalls bis ich mir das Benzin und die Versicherung leisten konnte. Als Nadia auch noch hier gewesen war, hatte ich mir darum nie Sorgen zu machen brauchen; während der Highschoolzeit hatte ich sie einfach immer angerufen, wenn ich mal irgendwo hinmusste, und genauso war es in Michigan abgelaufen. Es versetzte mir einen Stich, als ich daran dachte, wie traurig sie gewesen war, als sie erfahren hatte, dass ich das College hasste. Aber je länger wir in Mount Albion studiert hatten, desto klarer war mir geworden, dass es ihr Traum war, nicht meiner. Ich war ihr einfach nur gefolgt. Je schlechter meine Noten wurden, desto mehr trank und feierte ich, in der Hoffnung, so mein Elend zu verstecken.
Bis es nicht länger ging.
Auf meinem Konto waren noch fünfhundert Dollar, weil ich gerade meinen letzten Gehaltsscheck eingelöst hatte, aber die Hälfte davon schuldete ich meinem ehemaligen Mitbewohner Angus, der so nett gewesen war, mir mein Flugticket nach Hause zu bezahlen. Leichtsinnigerweise hatte ich jetzt ja auch noch Rob einen Hunderter versprochen, wenn er mir ein Bett baute. Da blieb mir nicht mehr viel übrig, bis ich einen Job gefunden hatte. Ich würde vor Scham im Boden versinken, wenn Mom versuchen sollte, mir ein Taschengeld zu zahlen. Überhaupt lief die ganze Sache nicht so einfach, wie ich gehofft hatte. Obwohl ich froh war, wieder zu Hause zu sein, fiel es mir doch schwer, die neugierigen Blicke und die Spekulationen einfach abzutun.
Seufzend schrieb ich also den Scheck für Angus Starr aus. Immer wieder hatte ich ihn damit aufgezogen, dass er mit diesem Namen eigentlich ein Pornostar sein sollte. Du fehlst mir, Angus! Wie es meinen drei Ex-Mitbewohnern wohl ging? Sie waren eigentlich das Einzige, was ich vermisste, wenn ich an Michigan dachte. Ich knutschte die Briefmarke, als ich sie auf den Briefumschlag klebte, und schrieb noch eine Karte zu dem Scheck. Auch wenn Angus über ein so dickes Bankkonto verfügte, dass er ein paar Hundert Dollar mehr oder weniger gar nicht bemerken würde, wollte ich mich nicht von meinen Freunden aushalten lassen. Traurigerweise war meine heutige To-do-Liste abgehakt, nachdem ich den Brief in den Kasten geworfen und die Flagge hochgestellt hatte.
Ich vergrub mich tiefer in meiner Daunenjacke und wollte gerade wieder zurück zum Haus gehen, als ein roter Wagen langsamer wurde und in unsere Einfahrt abbog. Ich erkannte Rob sofort; allerdings hatte ich keine Ahnung, was er an einem Montag um zwei Uhr hier wollte. Vom Himmel fielen zarte Schneeflocken, doch wenn der Boden nicht schon gefroren war, würde die weiße Pracht wohl nicht liegen bleiben.
„Ich habe ein paar Muster für Lasuren mitgebracht“, sagte er statt einer Begrüßung.
Ach so, es ging um das Bett. „Dann bringst du sie am besten rein. Es ist echt kalt.“
„Danke.“ Er folgte mir ins Haus, während ich überlegte, wie schrecklich ich auf einer Skala von eins bis zehn wohl aussah. Definitiv besser als Samstagnachmittag, als ich ihm im Safeway begegnet war, aber längst nicht so gut wie am Samstagabend.
Im nächsten Moment tat ich diese Überlegung als völlig absurd ab. „Möchtest du einen Kaffee?“
„Gern, wenn es dir nicht zu viel Mühe macht.“
„Überhaupt nicht.“
Nachdem ich den kalten Kaffee, den Mom heute Morgen gekocht hatte, weggeschüttet hatte, brühte ich frischen auf und schenkte Rob einen Becher ein. Er legte ein paar kleine Holzstücke auf den Tisch, und während er jedes einzelne berührte, nannte er den entsprechenden Namen. „Eiche, Kiefer, Ahorn, Rote Kastanie, Kirsche, Walnuss.“
„Die Rote Kastanie sieht schön aus.“
„Okay.“ Rob steckte die Muster wieder ein, trank einen Schluck Kaffee und lehnte sich mit einem zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht zurück.
„Wir könnten auch ein Stück Kuchen dazu essen, wenn du magst.“
„Als würde ich jemals ein Stück Kuchen ausschlagen.“
Ich nahm das als Einladung, im Kühlschrank herumzukramen, wo ich noch zwei Stücke Schokoladenkuchen fand, mein absoluter Lieblingskuchen. Mom hatte ihn vor ein paar Tagen gebacken, zu Ehren meiner Rückkehr. Vermutlich sollte ich mich dafür schämen, dass nur noch zwei Stücke übrig waren. Aber egal. Ich zuckte innerlich mit den Schultern und servierte Rob den Kuchen auf dem guten Porzellan.
„Wie kommt es, dass du gar nicht bei der Arbeit bist? Ich weiß, warum ich es nicht bin.“ Ich deutete auf mich und flüsterte: „Arbeitslos“, so als wäre es ein Schimpfwort.
„Im Winter ist auf dem Bau nie viel los“, erklärte er und schien überrascht. „Frühling und Sommer sind sehr viel besser für Bauleute, und ich muss zusehen, dass mein Geld das ganze Jahr reicht. Darin bin ich … nicht sehr gut.“
Hm. Rob war nicht der Erste, der Probleme mit Geld hatte. Allerdings mussten die meisten Leute in meinem Freundeskreis nicht ganz allein ihren Lebensunterhalt verdienen. Auf dem College bestanden Geldsorgen eher in der Frage, ob man sich ein paar neue Bücher oder doch lieber die nächste Runde Getränke leisten sollte.
„Du musst nur dein Gesamteinkommen durch zwölf teilen und dir ausrechnen, was du jeden Monat ausgeben kannst. Es hilft, wenn du dir deine festen Kosten aufschreibst und einmal festhältst, wofür du das übrige Geld ausgibst. Ich könnte dir eine Kalkulationstabelle erstellen.“
„Das hört sich kompliziert an.“
Nicht für eine Computerfachfrau. Ich war insgeheim ein kleiner Nerd, daher liebte ich Kalkulationstabellen, Torten- und Liniendiagramme sowie alles, was mit Zahlen zu tun hatte. Einmal hatte ich sogar ein Sex-Ablaufdiagramm über all die Typen erstellt, mit denen ich geschlafen hatte, sowie über deren Partner, soweit sie mir bekannt waren. Aber das wurde dann doch zu abgedreht, daher hatte ich die Datei gelöscht. Ich würde dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen.
„Es macht mir nichts aus, dir dabei zu helfen“, sagte ich, vor allem, weil ich nicht zugeben wollte, wie einfach das war. Schon gar nicht, solange Rob mich ansah, als hätte ich ihm gerade offenbart, dass ich Altgriechisch beherrschte.
„Was würdest du dafür brauchen?“
„Grundsätzlich erst einmal deine Kontoauszüge. Und du würdest mir helfen müssen, deine Ausgaben aufzulisten.“
„Wenn du das machst, dann kann ich dich nicht für das Bett zahlen lassen.“
Oh, wunderbar, das ist die perfekte Entschuldigung, um ganz viel Zeit mit Rob zu verbringen, rief mein Highschool-Ich begeistert, während es gleichzeitig daran rummäkelte, was das für ein bescheuerter Grund war, um mit ihm abzuhängen. Ein monatliches Budget zu erarbeiten klang nun wirklich überhaupt nicht sexy.
„Na, bei diesem Handel habe ich eindeutig den besseren Deal gemacht.“
Er nickte und aß seinen Kuchen auf. „Avery kommt erst nächsten Monat aus Omaha zurück, also wäre das jetzt eine gute Zeit, um das zu klären.“
„Ich dachte, sie ist nur übers Wochenende zu einer Cousine gefahren?“
Ihm entschlüpfte ein Seufzer. „Tja, da habe ich was falsch verstanden. Sie ist früher gefahren, um noch Zeit mit ihrer Cousine zu verbringen. Aber heute fängt ein Management-Trainingsseminar für sie an. Sie kommt erst im März zurück, glaube ich.“ Er klang nicht so, als wäre er sich wirklich sicher. „Ich scheine sie echt tierisch zu nerven, dass sie in diesem Ton mit mir redet.“
„In was für einem Ton?“
„‚Herrgott noch mal, hörst du mir jemals zu, wenn ich was sage?‘“ Er gab ihren eisigen, schnippischen Tonfall so perfekt wieder, dass mich ein Schauder überlief.
Ich fasse es nicht, dass sie so mit ihm redet.
Ehe ich mir überlegen konnte, wie ich darauf reagieren sollte, fuhr er fort: „Ist schon ganz gut, dass ich so ein heißer Typ bin, was?“ Unter normalen Umständen hätte ich das für eine großspurige Bemerkung gehalten, die mich zum Lachen gebracht hätte. Aber diese Traurigkeit, die mir schon mal bei ihm aufgefallen war, trat wieder zutage, und er wirkte total deprimiert.
Ich überdachte meine Antwort, ehe ich sagte: „Das ist nicht alles, was du bist, Rob.“
Er stand auf und brachte seinen Teller zur Spüle. „Du kennst mich gar nicht gut genug, um das beurteilen zu können.“
Geschockt zuckte ich zusammen. Das waren haargenau dieselben Worte, die ich zu einem Mann in Michigan gesagt hatte, der gerne mit mir zusammen gewesen wäre. Zum Glück hatte Rob mir den Rücken zugewandt, sodass er nichts von meiner Reaktion mitbekam. Schnell riss ich mich wieder zusammen, und als er sich umdrehte, war ich dabei, den Tisch abzuräumen.
„Ich kenne dich länger als Avery.“ Während die beiden seit Oktober zusammen waren, ging ich seit der zweiten Klasse in seinem Elternhaus ein und aus.
„Das stimmt.“
In einem Tonfall, den ich auch für ein Referat benutzen würde, fuhr ich fort: „Als ich in der vierten Klasse war, hast du mir für eine Ausstellung mein naturwissenschaftliches Projekt in die Turnhalle getragen, obwohl du anschließend noch sechs Blocks bis zu deiner Schule gehen und hinterher nachsitzen musstest. Im selben Jahr hast du dich mit Ellis Whitcomb wegen Melissa Fredricks geprügelt. Sie war später deine erste Highschool-Freundin, wenn auch nicht die letzte. Diese Ehre wurde Katie Everett zuteil, mit der du gegangen bist, bis sie aufs College wechselte.“
Und dann ist sie verschwunden, ohne auch nur einmal zurückzublicken. Vielleicht sollte ich noch einen drauflegen.
„Als ich in der Mittelstufe war, hast du Kent Walker für mich verprügelt, und als ich in der Abschlussklasse war, bist du mit mir zu meinem Dad gefahren, den ich da das erste Mal seit sieben Jahren wiedergesehen habe.“
Meine Mom wusste nichts von dieser Sache, denn im Nachhinein schämte ich mich doch etwas dafür. Ich war damals schrecklich sauer auf sie und überzeugt davon, dass Dads Verschwinden allein ihre Schuld war. Meine Wut wechselte in dieser Phase ständig die Richtung: Mal gab ich meiner Mutter die Schuld, mal meinem Vater. Es ging hin und her – wie bei einem Newton’schen Pendel. Rob fuhr damals noch ein anderes Auto, so ein altes grünes, das er noch von seinem Großvater geerbt hatte. Aus irgendeinem Grund hatte er dem Ding den Spitznamen Tessa Green-tea verpasst. Warum, das wusste wohl nur Rob selbst. Wie auch immer – an diesem Tag hatte ich Rob jedenfalls in seiner Garage, wo er am Motor rumgebastelt hatte, in die Ecke getrieben. Nadia war oben und machte Hausaufgaben. Ich hatte behauptet, ich würde in die Küche gehen, um mir einen Snack zu holen. Stattdessen war ich nach draußen geschlichen und hatte in der Garage mit den Füßen gescharrt, bis Rob sich aufgerichtet und mich angeschaut hatte.
Mit einundzwanzig war er noch schmaler gewesen, mit weniger Muskeln als jetzt, wo er auf dem Bau arbeitete. „Brauchst du was?“
„Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.“
„Kommt drauf an, was es ist.“
Vor lauter Aufregung sprudelten die Worte aus mir heraus. „Ich muss unbedingt meinen Dad sehen. Ich muss mit ihm reden.“
Ich hatte einen schrecklichen Streit mit Mom gehabt. Ihre Apathie und der offensichtliche Mangel an Selbstachtung – die Tatsache, dass sie kaum den normalen Alltag bewältigen konnte – hatten mich dazu gebracht, sie anzuschreien. Guck dich doch mal an. Kein Wunder, dass er dich verlassen hat. Ich hatte vor, zu meinem Dad zu flüchten, um ihm zu sagen, dass ich jetzt alles verstehen würde. Mein Plan war, ihn anzuflehen, dass er mich doch bitte an seinem tollen neuen Leben teilhaben lassen sollte. Ein Neustart, weit weg von all den Gerüchten über die geistige Gesundheit meiner Mutter, klang einfach zu verlockend. Es war das, was ich mir sehnlichst wünschte.
Nachdem ich Rob erklärt hatte, dass ich meinen Dad treffen wollte, wischte er sich die Hände an einem Lappen ab und fragte: „Was hat deine Mom dazu gesagt?“