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Es ist eine wahre Geschichte, die der Autor aufgeschrieben hat, nichts hinzufügte oder gar verschwieg. Als der Autor ins Buna-Werk strafversetzt wurde, war er noch überzeugt vom sozialistischen Weg. Doch die Arbeiter öffneten ihm Stück um Stück die Augen. So wurde er selbst zum Kritiker des sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staates und schließlich zum Gegner des SED-Regimes. Er und seine Familie sahen schließlich den einzigen Ausweg darin, das Land zu verlassen und in die Bundesrepublik überzusiedeln.
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Seitenzahl: 257
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Die Namen der handelnden Personen
wurden geändert, um deren Privatsphäre zu schützen
Wenn es etwas gab, das Oskar Winderle aus dem morgendlichen Gleichgewicht bringen konnte, dann war es der tägliche Weg zur Arbeit. Schon der Gedanke daran verdarb ihm die Laune am Frühstückstisch. Gar ein tiefer Seufzer entfuhr ihm an diesem Montagmorgen bei der Vorstellung, in der gerade erst beginnenden Arbeitswoche noch fünfmal mit den öffentlichen Verkehrsmitteln von Neustadt in die Bezirkshauptstadt Halle fahren zu müssen.
Seine Ehefrau Beate sah ihn zunächst mitleidig, aber nach einer Weile dann doch eher etwas missmutig an.
»Du wirst es wie immer überstehen, Oskar!« meinte sie schließlich gelassen.
Sie kannte ihren Mann nach 16 Ehejahren in dieser Hinsicht ziemlich genau. Unruhe und Hektik vertrug er nur begrenzt und frühmorgens schon gar nicht.
Oskar verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuss, wünschte ihr im Schulhort und den Kindern, die noch schliefen, in der Schule einen angenehmen Tag.
Der morgendliche Berufsverkehr glich wirklich einem wahrhaftigen Chaos. In dieser Spitzenzeit war er dem großen Menschenansturm bei weitem nicht gewachsen. Die langen Gelenkbusse waren übervoll. Die Menschen drängten, schoben, stießen und wurden dann selbst gedrückt, getreten, gestoßen.
Und Oskar stand mittendrin.
Er war wieder einmal auf diese Art des öffentlichen Personenverkehrs angewiesen, denn sein Dienstfahrzeug, ein kleiner Trabant 601, war in der Werkstatt zur Durchsicht und zur Reparatur.
An diesem Morgen stellte sich für Oskar das übliche bedrückende Bild dar. Ein dicker Menschenknäuel stürzte gerade auf die sich öffnenden Türen eines haltenden Busses. Beim nächsten Gelenkbus hatte er gerade noch Glück, sich hinter einer jungen Frau in den im Abfahren begriffenen Autobus zu zwängen. Oskar stand auf dem inneren Trittbrett mit dem Rücken zur Falttür, die beim automatischen Schließen unsanft über seinen Rücken schrapelte und ihn mit einem Stoß nach vorn drückte. Er suchte vergeblich nach Halt und wunderte sich dann, dass er nicht umfiel. Dafür aber war es viel zu eng.
Die blonde Frau vor ihm, auf die er sich notgedrungen mehr als schicklich lehnte, stöhnte laut. Ihren vorwurfsvollen Blick konnte er nur erahnen.
»Entschuldigen Sie bitte«, murmelte Oskar, »aber …« Er brachte den Ende, denn der Bus fuhr mit einem unerwarteten Ruck an. Die Fahrgäste im Wageninnern wurden noch mehr zusammengedrückt. Sie kreischten auf. Doch im Türraum, wo Oskar lehnte, entstand auf einmal ein wenig mehr Platz. Er drehte sich vorsichtig in Fahrtrichtung und konnte nun einen Blick auf die halb verdeckte Frontscheibe werfen.
An der nächsten Haltestelle fuhr der Busfahrer weit über die Markierungen hinaus. Einige wenige Leute zwängten sich dort aus dem Bus, aber niemand der vielen Wartenden konnte noch zusteigen. Auch an der Fahrzeugtür wurde es auf einmal wieder eng, weil ein dicker Mann, plötzlich aus dem Schlaf gerissen, in letzter Sekunde aufsprang und zum Ausstieg drängte. Oskar und die junge Frau traten für einen Moment ins Freie, um dem schnaufenden Dicken Platz zu machen.
Der Gelenkbus verließ auf der vierspurigen Hochstraße die Satellitenstadt. Ihre unförmigen Zementblöcke und die letzten Hochhäuser am Stadtrand verschwanden gerade aus Oscars engem Blickfeld, als sich vor ihm die Silhouette der Stadt an der Saale abzeichnete, der sie nunmehr ohne weiteren Halt entgegen fuhren.
Es war ein ungewöhnliches Bild, das sich jetzt bot: Halb war die Stadt in Morgenrot, ihre Türme in erstes Sonnenlicht getaucht, teils war sie in ihrem unteren Teil von morgendlichem Dunst überdeckt. Oskar verglich es in Gedanken mit einer Showbühne, auf der die Akteure im Scheinwerferlicht stehen, während über die Bühnenbretter wallender Nebel zieht.
Die Dunstschleier stiegen in der nahen Flussniederung der Saale auf, zogen zur Stadt herüber und legten sich behutsam auf die Dächer mit ihren zahlreichen kleinen Schornsteinen.
Als Oskar den Gelenkbus an der Endhaltestelle endlich verlassen konnte, atmete er erleichtert auf. Doch im selben Augenblick hatte er den unverkennbaren Geruch des nahen Flusses mit seinen Chemieabwässern und den Qualm schlecht brennender Kohlefeuer in der Nase.
Ein breiter Menschenstrom aus Neuankömmlingen verschiedener Buslinien bewegte sich langsam durch die enge Straße in Richtung Innenstadt. Oskar schaute zur Uhr. Beruhigt stellte er fest, dass er in der Zeit noch recht gut lag. Ihn fröstelte ein wenig, da er nicht zu seinem gewohnten Laufschritt finden konnte. Auf dem unteren Hallmarkt verliefen sich die Menschenmassen ein wenig. Oskar beschleunigte seinen Schritt so gut es möglich war, vorbei ging es an alten Bürgerhäusern mit grauen Fassaden, deren Glanz schon lange erloschen war. Doch der matte Schein der Sonne traf sie leicht dunstverschleiert und verlieh ihnen noch einmal ein ehrwürdiges Aussehen.
Obwohl Oskars Straßenbahn gerade quietschend aus einer Seitenstraße auf den Marktplatz einbog, entschied er sich doch angesichts der vielen wartenden Leute und mit einem flüchtigen Blick zur großen Turmuhr, den Rest des Weges weiterhin zu Fuß zurück zu legen. Sein jetzt eiliger Schritt führte ihn in eine enge Gasse und dann durch eine langgezogene schmale Straße, vorbei an kleinen Geschäften mit dürftigen Auslagen sowie an mehreren ungepflegten Häusern mit stark abblätternder Farbe und herabgefallenem Putz. Erst eine Grünanlage, deren langer Streifen sich vor Post und Theater ausbreitete, bot ihm einen freundlicheren Anblick. Oskar freute sich über einen zaghaften Sonnenstrahl, wie er gerade während des Vorübergehens den Morgendunst durchbrach und, als hätte ein Beleuchtungsmeister die Hand im Spiel, die Frühlingsblumen auf dem Rondell ins rechte Licht zu setzen wusste.
Im oberen Teil wurde die Straße mit ihren schmutzig-grauen Wohnhäusern wieder merklich unansehnlicher. Überall roch es nach Rauch und aus den Toreinfahrten nach abgestelltem Müll.
Oskar erreichte endlich einen großen freien Platz, der von zahlreichen mehrspurigen Straßenbahnschienen aus den verschiedensten Richtungen durchkreuzt wurde. Und dreieckförmig schlossen sie einen Haltepunkt ein, von wo aus die wuchtigen Tatrabahnen ratternd und bebend, kreischend und quietschend in alle Stadtteile fuhren.
Oskar steuerte jetzt auf einen großen halbrunden Gebäudekomplex aus rotem Ziegelstein zu und verschwand unter einem großen Torbogen. Er war endlich am Ziel. Das Gewerkschaftshaus, wie die Schilder außen verkündeten, war der Sitz mehrerer Bezirks- sowie Kreisvorstände und Oskars Arbeitsstelle seit nunmehr zwei Jahren.
*
»Morgen Oskar!« schallte es ihm aus der Pförtnerloge entgegen, noch ehe er selbst den weiß- haarigen Mann begrüßen konnte. Unverhohlene Wiedersehensfreude stand im Gesicht des Alten.
»Guten Morgen, Paul, mein Lieber!« rief nun auch Oskar erfreut aus. »Wie kommt’s denn, dass du schon wieder im Dienst bist? Hast du als Rentner nichts Besseres zu tun, als aufzupassen, damit niemand das alte Gewerkschaftshaus stiehlt? Oder bist du womöglich von daheim ausgerissen?«
»Doch, doch«, erwiderte er ruhig, »ich habe mit meinem Kollegen Herbert nur heute die Schicht getauscht. Der Junge hat doch auf dem Amt etwas Privates zu erledigen, da bin ich eben mal eingesprungen.«
Paul reichte Oskars Schlüssel herüber und ließ sich den Empfang in einem ausliegenden großen Buch quittieren.
»Und warum bist du schon so früh auf Achse? Gefällt dir dein Zuhause nicht mehr?« wollte er scheinheilig wissen. Oskar sah in sein verschmitztes Gesicht und wusste wie immer Bescheid.
»Ja, mein Alterchen, du hast gut lachen. Du schwingst dich eins, zwei, drei auf dein Fahrrad und bist im Nu auf Arbeit.« Oskar lehnte sich etwas zu ihm herüber, ehe er weitersprach. »Ahnst du denn überhaupt, was es heißt, täglich von den Tücken und Zufällen des öffentlichen Berufsverkehrs abhängig zu sein? Da passiert es schon hin und wieder, dass man auch mal überpünktlich auf Arbeit erscheint.«
»Oskar, du tust mir wirklich dolle leid!« Doch seine Anteilnahme war nur gespielt, denn sein hinlänglich bekannter spitzbübischer Blick verriet das ganze Gegenteil.
Oskar war auf jeden Fall vor dem, was nun noch von ihm kommen mochte, gewarnt.
»Ich bin direkt besorgt um dich«, brachte er ganz bedächtig hervor. »Wenn du heute eine Viertelstunde früher auf Arbeit bist, da pass’ nur schön auf, dass du dich womöglich nicht noch überarbeitest!«
»Du alter Schlawiner«, konterte Oskar, »du weißt genau so gut wie ich, dass hier noch keiner am Schreibtisch wegen Überarbeitung gestorben ist.« Im Gehen fügte er noch hinzu: »Und in dieser Pförtnerloge wohl auch nicht!«
Paul lachte ungezwungen und rief ihm nach: »Frohes Schaffen, Oskar, frohes Schaffen!«
Oskar strebte über den großen Innenhof der eigentlichen Eingangstür zu. Auf dem Hof stand nur ein einziges Fahrzeug einsam und verlassen. Das wird sich in den nächsten zehn Minuten schlagartig ändern, wusste er erfahrungsgemäß, denn dann rollten nämlich hier die Dienstwagen mit den Vorsitzenden, ihren Stellvertretern, den Sekretären und den Abteilungsleitern heran. Je nach Dienststellung lassen sie sich chauffieren oder sind als Selbstfahrer unterwegs. Bald wird auf dem Hof Auto an Auto stehen. Sein Dienstfahrzeug, ein kleiner Trabant, zählte nicht dazu. In einem erst kürzlich verteilten Rundschreiben wurde mit Nachdruck darauf verwiesen, dass nur mit einer Sondergenehmigung auf dem Gewerkschaftsinnenhof geparkt werden dürfe. Alle Pförtner wurden nachdrücklich verpflichtet, die exakte Einhaltung dieser
Weisung strengstens zu kontrollieren. Pauls augenzwinkender Kommentar dazu:
»Wo kämen wir denn sonst mit den Vergünstigungen hin, wenn jeder kleine Mitarbeiter von dem Kuchen ein Stück abschneiden wollte!?«
Darum ließ Oskar an Tagen, die keinen operativen Einsatz erforderten, das Auto in Halle-Neustadt, nahm lieber die Strapazen des öffentlichen Berufsverkehrs auf sich, als mit dem Auto im Stau zu stehen und in Halle lange nach einem Parkplatz suchen zu müssen. Allerdings musste er sich auch ehrlich eingestehen, dass sein Benzinkontingent für diesen laufenden Monat, einer Sparmaßnahme, die mit der Ölkrise verordnet wurde, fast ausgeschöpft war.
Im ersten Obergeschoss betrat Oskar das gemeinsame Arbeitszimmer der Gruppe für operative Einsätze. Es war ein kärglich eingerichteter Raum, in dessen Mitte vier alte Schreibtische ein Karree bildeten. Ein zweitüriger Aktenschrank einfache Holzstühle, nur ein Telefon für mehrere Mitarbeiter, eine Neonleuchte an der Zimmerdecke und ein paar ausgeblichene Übergardinen komplettierten die spärliche Einrichtung. Dagegen wirkten geradezu grotesk die bunten Plakate an den Wänden mit ihren Losungen zum 1. Mai.
Oskar nahm gewohnheitsgemäß von alledem keine große Notiz mehr. Er setzte sich an einen Schreibtisch in Fensternähe, packte seine Schreibutensilien aus und breitete sie wohlgeordnet, beinahe pedantisch vor sich aus. Dann erst griff er nach seinen Aufzeichnungen, um sich nun gedanklich auf den fälligen Wochenbericht zu konzentrieren, den er bis zur Frühstückspause, wie immer jeden Montag, seinem unmittelbaren Chef, dem stellvertretenden Vorsitzenden, vorlegen musste.
Das plötzliche Klingeln des Telefons schreckte ihn auf. Am anderen Ende der Leitung war sein Freund Anton.
»Du störst«, fiel er dem Anrufer gleich ins Wort. »Ich sitze an einem wichtigen Bericht«.
»Papier ist geduldig«, meinte Anton lakonisch. »Ich will dich nicht lange aufhalten, sondern dir nur mitteilen, dass wir morgen Mittag im Klubhaus der Gewerkschaften sind. Komm’ doch mal vorbei, dann kannst du sie endlich kennenlernen.«
Gemeint war seine Berufskollegin Barbara Buchert aus dem Kombinat Leuna.
»Wenn ich es möglich machen kann, sehe ich morgen einmal vorbei«.
»Gut Oskar! Noch ganz schnell einen Spruch der Woche: Wer für alles offen ist, der kann nicht ganz dicht sein.«
Er kannte Anton aus der gemeinsamen Arbeit im Chemiewerk Elbe, einem Betrieb mit rund 2000 Beschäftigten. Dort leitete er eine kleine Gewerkschaftsbibliothek. Seine einzige Mitarbeiterin macht allerdings die Hauptarbeit bei der Buchausleihe, da er nur Hans Dampf in allen Gassen ist und auf vielen Hochzeiten tanzt. Er hält Vorträge, arbeitet mit an der Betriebschronik und genießt es, eine kleine Einheit der Kampfgruppe zu kommandieren.
Oskar war vor Jahren im gleichen Werk Redakteur der Betriebszeitung, die alle 14 Tage einmal erschien. Für sie schrieb Anton zahlreiche Beiträge, interessierte sich auch für alle technischen Belange der Zeitungsfertigung und wurde somit Oskars beste Vertretung im Urlaub und bei Krankheit. So entstand langsam eine kleine Männerfreundschaft.
Einmal in der Woche gingen sie gemeinsam in die Sauna, aßen danach in einer Dessauer Gaststätte Abendbrot und tranken nach der Schwitzkur ein wohlverdientes Glas Bier, auch zwei oder drei, wie es eben der Durst für notwendig erachtete.
Anton Szamitek wohnte in Dessau an der Mulde, war dort in zweiter Ehe, übrigens auch mit einer Bibliothekarin, glücklich verheiratet und stolzer Vater eines kleinen Sohnes.
Anton war treu. Wenn er immer wieder von Bärbel Buchert schwärmte, so in erster Linie deshalb, weil diese Frau ihm beruflich überaus imponierte. Sie leitete die größte Gewerkschaftbibliothek der Republik mit 16 Mitarbeiterinnen und einem eigenen Buchbinder. Das waren Maßstäbe für ihn.
Nach Beratungen saßen sie des öfteren noch bei einer Tasse Kaffee in einem hallischen Lokal , fachsimpelten oder erzählten über Dinge des Alltags. Antons Lieblingsthema war dabei stets, wie es ihm wieder, mit Briefen an übergeordnete Leitunen gelungen ist, dass mehr betriebliche Mittel für seine Bibliothek zur Verfügung gestellt werden mussten, Gelder für Buch- und sonstige Anschaffungen.
Danach, darauf konnte man immer warten, schwärmte er von seiner Geburtsstadt Königsberg, die er als Zwölfjähriger in Begleitung seiner Mutter mit einem letzten Sonderzug wegen des baldigen Herannahens der Roten Armee verlassen musste. Er bedauerte sehr, dass die Stadt militärisches Sperrgebiet ist und Russland leider keine Einreisegenehmigungen erteilt.
*
Am nächsten Tag klappte es in der Mittagszeit und Oskar fuhr zum Klubhaus. Er betrat die Gaststätte, in der an drei zusammengeschobenen Tischen eine fröhliche
Frauenrunde saß. Und mittendrin, wie ein Hahn im Korbe, platzierte sich wohlgefällig Anton.
Doch Oskars Blick fiel sofort auf die kleine zierliche Frau an der Stirnseite der Tische und sah in ein wunderschönes Gesicht mit leuchtend blauen Augen, das ihn anlächelte.
Wenn Psychologen sagen, dass sich bei einer Begegnung in den ersten 30 Sekunden entscheidet, ob man sich sympathisch ist oder nicht, dann ging es bei ihnen weitaus schneller. Sie begrüßten sich überaus freundlich. Anton stellte ihn dann allen Kolleginnen vor und vergaß nicht fortwährend zu betonen: »Das ist mein Freund Oskar vom Bezirksvorstand!«
Er trug natürlich wieder seinen alten abgetragenen grauen Anzug, dessen überaus beanspruchte Stellen erheblich glänzten. Seine schon etwas graumelierten Haare waren glatt nach hinten gekämmt. Dadurch kam die hohe Stirn noch stärker zur Geltung.
Oskar wurde aufgefordert, mit den Bibliothekarinnen anzustoßen. Er lehnte dankend ab, da er mit dem Auto unterwegs und auch noch im Dienst sei.
»Aber beim nächsten Zusammentreffen«, versprach er gönnerhaft, »werde ich auch eine Flasche Schampus spendieren.«
»Das erwarten wir auch«, meinte Anton , »denn schließlich wird der Mann Ende April 40 Jahre alt.«
»Auf den Sekt freuen wir uns schon sehr«, bemerkte nun auch Frau Buchert.
Sie erhob ihr Glas und prostete ihm überaus freundlich zu.
»Bärbel, guck’ nicht so gierig!« warnte Oskar scherzhaft.
Doch sie musste das letzte Wort haben: »Ich gucke nicht nur gierig, ich bin auch so gierig!«
*
Am Vormittag seines Geburtstages kamen enge Mitarbeiter um zu gratulieren. Seine Frau bot Kanapees und frisch gebrühten Kaffee an. Nachmittags waren seine Schwiegereltern aus Köthen zu Gast. Zusammen mit seiner Ehefrau und den Kindern wurde es eine frohe Runde.
Einige Tage nach seinem Geburtstag erlebte er auf Arbeit eine freudige Überraschung. Der stellvertretende Bezirksvorsitzen bot ihm für den bedeutsamen Bereich Kader und Organisation die Stelle eines Abteilungsleiters an. Ohne lange zu überlegen stimmte Oskar zu. Seine Operationsgruppe blieb in seinem Verantwortungsbereich. Er musste
nur einen neuen Gruppenleiter nach Rücksprache mit den Kollegen seinem Chef vorschlagen, damit der das abnicken konnte.
Seine neuen Arbeitsräume kannte er bereits von Beratungen bei dem Vorgänger, der auf eigenen Wunsch ausschied und den Vorsitz eines Kreisvorstandes übernahm.
Eine breite Schrankwand mit zahlreichen Drechsel- und Schnitzarbeiten beherrschte den Raum, dazu passend ein massiver Schreibtisch. Der moderne Drehsessel dahinter fiel etwas aus dem Rahmen, bestach jedoch mit seiner Bequemlichkeit.
Ein langgestreckter Tisch mit sechs hochlehnigen Stühlen bot Platz für Beratungen in eher kleiner Runde. Dagegen wartete auf Besucher eine Sitzecke mit zwei Polstersesseln, eingerahmt von großen Kübelpflanzen.
Im Vorzimmer saß eine freundliche junge Sekretärin, die ihm gleich berichtete, dass sie in der nächsten Woche heiraten werde. Warum erzählt sie mir das so vordergründig? fragte sich Oskar. Eilt ihm hier ein schlechter Ruf voraus? Dabei waren Frauen aus seinem unmittelbaren Arbeitsbereich immer ein Tabu für ihn. Sie fanden schnell zu einer guten Zusammenarbeit, denn sie wachte über seine Termine und war eine vorzügliche Stenotypistin.
Er arbeitete an seinem Schreibtisch, als sie ins Zimmer trat und eine Frau Buchert ankündigte.
»Darf ich sie hereinbitten? Oder soll ich mit ihr einen Termin vereinbaren?« Sie sah ihn mit leicht geneigtem Kopf abwartend an.
»Aber nein, nur herein mit der Frau!« überspielte er sein Erstaunen.
Bärbel Buchert betrat den Raum mit einem verlegenen Lächeln. Dabei war sie in ihrem knöchellangen dunklen Mantel und der etwas schief sitzenden Baskenmütze zauberhaft anzusehen.
»Da ich im Haus zu tun hatte«, begann sie zaghaft, »wollte ich es nicht versäumen, dir zu deinem runden Geburtstag recht herzlich zu gratulieren.« Sie hatte Antons Ankündigung nicht vergessen, überlegte er gedankenschnell. Sie überreichte ihm ein kleines Päckchen mit rotem Schleifenband, das er allerdings erst später öffnen sollte.
Oskar bedankte sich höflich und bat sie, mit Anton einen Termin auszuhandeln und ihm telefonisch mitzuteilen, wann sie einen gemeinsamen Ausgang unternehmen können. Er wolle unbedingt mit ihnen auf seinen 40. Geburtstag anstoßen.
Das Päckchen, das er erwartungsvoll ganz behutsam öffnete, enthielt ein Büchlein mit illustrierten Liebesgedichten.
Der Zeitpunkt eines Treffens im hallischen Haus der Presse war schnell übermittelt.
Als sie vor der breiten Treppe standen, die zur Gaststätte hinaufführte, nahm Oskar die überraschte Bärbel auf beide Arme und trug sie kurzerhand die Stufen empor. Auf halber Höhe kam ihnen ein Mann entgegen, der ganz erstaunt guckte und verhalten grüßte. Bärbel erklärte später, dass es der Dr. Feldbusch von der Universität gewesen sei, der im Klubhaus einen Literaturzirkel leitet.
»Macht nichts«, meinte Oskar gelassen, »vielleicht regt ihn das nicht nur auf. sondern auch an!«
Anton tat den Hebeakt als Imponiergehabe ab. Es wurde dennoch ein lustiger Abend.
Beim nächsten Zusammentreffen der beiden Männer mahnte Anton seinen Freund zur Besonnenheit.
»Die Frau ist verheiratet und du bist Vater von vier Kindern, also lass die Finger von ihr!«
Im Mai gab es für Bärbel eine freudige Überraschung. Sie wurde vom Minister für Kultur der DDR »In Würdigung ausgezeichneter Leistungen im Bibliothekswesen« mit dem Titel Bibliotheksrat geehrt. Natürlich zählten nach ihrer Rückkehr aus Berlin auch Oskar und Anton zu den Gratulanten.
Auf diese Weise lernten sie auch erstmals ihre Arbeitskolleginnen und andere Beschäftigte des Kulturhauses kennen.
Bärbel trug eine teure rothaarige Perücke aus Echthaar, die ihr aber nach Oskars Geschmack überhaupt nicht stand. Doch Bärbel lächelte schon leicht angeschwipst und musste immer wieder hervorheben, wie wunderbar es sei, dass auch sie beide als Gratulanten gekommen sind.
In den folgenden Wochen verabredeten sich Bärbel und Oskar des öfteren, natürlich ohne Antons Wissen. Sie trafen sich nach Arbeitsschluss in Halle oder machten Autofahrten in die nähere Umgebung. Einmal begleitete sie ihn an ihrem Hausarbeitstag auf einer Dienstfahrt. Da erfuhr er erstmals von ihr fast unglaubliche Dinge über ihre Ehe. Sie erzählte davon nicht vordergründig oder eine bestimmte Absicht verfolgend. Bärbel wollte einfach nur einem vertrauensvollen Menschen ihr Herz ausschütten. So erfuhr er einen erschreckenden Teil ihrer Lebens– und Leidensgeschichte der letzten Jahre.
Ihr Ehemann, ein überaus erfolgreicher Hochschulstudent, übernahm nach dem Pädagogikabschluss eine Lehrstelle in Halle. Doch der Stress an der Erweiterten Oberschule, das Einerlei des Alltags und alte Trinkgewohnheiten als ehemaliger
Hochsehfischer ließen ihn nach der Flasche greifen. Erst ein Gläschen, dann zwei Gläser und schließlich die ganze Flasche. Es verging übrigens kaum ein Tag, den er nicht in der nahen Gaststätte verbrachte. Bärbels mehrfache Versuche, ihn nach Hause zu holen, endeten seinerseits mit übelsten Beschimpfungen.
An manchen Tagen kam er zu fortgeschrittener Stunde nach Hause, holte sie und die Kinder aus den Betten, »um den Überblick zu behalten«, wie er es nannte. Dann war er wieder fort, nicht spürend, dass er den klaren Durchblick für sich schon lange verloren hatte.
Einmal bei einer seiner Stippvisiten verprügelte er seinen Sohn völlig grundlos, aber so sehr, dass sein Blut gegen die Wände des Flurs spritzte. Öfters liefen ich oder die Kinder zur nahen Dienststelle der Polizei. Zwei Wachhabenden kamen dann auch mit in die Wohnung, um sich nach einigem Zügern doch zu dem Entschluss durchzuringen, Herrn Buchert mit in die Ausnüchterungszelle zu nehmen. Aber am nächsten Morgen war er wieder da und alles begann von neuem.
An einem Abend als die Polizisten kamen, drohte er, aus dem Fenster springen zu wollen. Bärbel machte die breite Balkontür weit auf. Die beiden Polizisten erschraken.
»Haben Sie keine Angst«, beruhigte ich sie, »der tut nur so, feige wie er ist, springt er nicht.«
Oskar hatte aufmerksam zugehört. Er war aber eher verwundert denn entsetzt. Seine Anteilnahme hielt sich vorerst in Grenzen. Er stoppte das Fahrzeug und ging zu ihrer Autotür.
»Und warum hast du dich von so einem Mann nicht scheiden lassen? Jedes Gericht hätte dem sofort zugestimmt.«
»Weil ich Angst habe, dass er mir und den Kindern etwas antut .«
*
An einem Wochenende im Juni, einem wunderschönen Frühsommertag, fuhren sie wieder einmal gemeinsam übers Land. Diesmal war der Fläming, eine beeindruckende Landschaft Ostelbiens, ihr Fahrziel. In einem größeren Ferienobjekt, mitten im Wald gelegen, hatte der Kreisvorstand, mit dem er einmal beruflich verbunden war, zu einer Schulung eingeladen.Die Wiedersehensfreude war groß.
»Wie geht es einem Emporkömmling?« wollten sie scherzhaft vom ehemaligen Kollegen wissen.
Aber dann wandte sich das Interesse, vor allem der Kollegen, seiner hübschen Begleiterin zu. Eine Blondine trat dagegen ganz nah an Oskar heran und raunte ihm leise ins Ohr:
» Na, wieder eine neue Eroberung gemacht?« Sie grinste unverschämt.
Oskar wollte widersprechen, doch sie wehrte nur ab: »Lass nur, mein Lieber, ich glaube dir ja sowieso kein Wort mehr!«
Auf der Rückfahrt bog Anton kurzerhand in einen schmalen Waldweg ein, fuhr eine ganze Strecke und hielt dann an. Er nahm seine blaue Badetasche aus dem Auto und fasste nach Bärbels Hand.
»Gibt es hier eine Badestelle?« wollte sie wissen.
»Nein« , antwortete er trocken. Er musste eine Entscheidung herbeiführen. Hier und jetzt wollte er sie spüren lassen, dass es an der Zeit für mehr als Händchenhalten sei. Immerhin kannten sie sich nunmehr fast ein Vierteljahr. Doch sie wich ihm immer wieder aus, weil sie dazu noch nicht bereit sei.
Oskar bog auf eine kleine Lichtung und breitete an der schattigen Seite seinen Bademantel aus. Dann erst nahm er Bärbel in den Arm, drückte sie fest an sich und spürte, wie ein Zittern ihren ganzen Körper durchdrang. Er kniete nieder und zog sie ganz sacht zu sich herab, knöpfte ohne Gegenwehr ihre Bluse auf und streichelte ihre kleinen wohlgeformten Brüste.
Sie bemühte sich indes, ihren Slip abzustreifen, was im Liegen und mit hochhackigen Schuhen gar nicht so einfach war, so dass Oskar ihr dabei behilflich sein musste.
Ein inniger Kuss überschüttete sie mit Glücksgefühlen. Sie versanken beide in einen lang ersehnten Liebesrausch. Als sie davon erwachten, waren sie beide schweißüberströmt. Oskar griff in seine Badetasche und holte ein Handtuch hervor. Gegenseitig rubbelten sie sich einigermaßen trocken, allerdings immer wieder von Küssen unterbrochen oder, wenn man so will, liebevoll belohnt.
Arm in Arm gingen sie zum Auto zurück. Beim Wenden auf dem schmalen Waldweg rutschten die Antriebsräder in eine kleine Bodensenke. Der Moskvich hing fest trotz seiner 220 PS. Die Räder drehten durch und gruben sich immer tiefer in den weichen Boden. Auch kleine Reiser, die sie unterlegten, und selbst das Badetuch vermochten es nicht, frei zu kommen. Als die Kupplung schließlich leicht verbrannt zu riechen begann, gab Oskar die Bemühungen auf. Sie machten sich auf den Weg zur Straße und hatten Glück, denn schon das dritte Fahrzeug hielt an, weil der Fahrer Oskar von der gemeinsamen Arbeit im Chemiewerk Elbe kannte. Mühelos zog er den Moskvich frei. Die zehn Mark, die Oskar ihm reichte, wollte er partout nicht annehmen, so dass er sie ihm einfach in die Jackentasche steckte.
An diesem Abend war es schon dunkel, als sie in Neustadt ankamen. Oskar hielt wieder einen Block on dem ihren entfernt. Mit einem Küsschen verabschiedeten sie sich. Ihre Lust auf ein intimes Zusammensein war mit diesem ersten Mal natürlich nicht gestillt, sondern ganz im Gegenteil, erst richtig entfacht. Bärbel sprach von körperlicher Liebe, weil sie andere schmutzige Worte dafür verabscheute. Ihre neue Beziehung war jetzt einzig und allein auf die Befriedigung lang ersehnter sexueller Wünsche, auf die Stillung ihrer Lust gerichtet.
Es fehlte noch die Innigkeit der Beziehung, die Tiefe ihrer Gefühle und der Umgang mit ihnen.
Bei den nächsten Treffen ließen sie keine Möglichkeit aus sich körperlich zu lieben. Die Lust auf Liebe weckten einsame Parkanlagen, das Bett im Kornfeld und bei schlechtem Wetter der Autorücksitz. An einem total verregneten Tag schlug Bärbel vor, nach Wettin, ihrem ersten Wohnsitz in dieser Gegend, zu fahren und dort ein bekanntes Ehepaar zu besuchen . Sie wurden sehr freundlich aufgenommen. Nach dem Kaffeetrinken wurde für die Frauen ein selbst gemachter Kirschlikör vom Hausherren serviert. Er selbst rührte bereits seit Jahren nach einer Entziehungskur keinen Tropfen Alkohol mehr an. Oskar lehnte als Kraftfahrer ab. Es wurden angeregte Gespräche geführt, noch ein Schnäpschen eingeschenkt, bis dann die Hausfrau den Vorschlag machte, bei ihnen zu übernachten.
So schnell hat Oskar noch nie einen doppelten Schnaps ausgetrunken.
Im Obergeschoss des Einfamilienhauses bezogen sie ein freundliches Gästezimmer. Bärbel kam aus dem Bad zurück, hatte sich in ein Handtuch gewickelt und lächelte Oskar an. Natürlich spürte sie, wie aufmerksam er sie betrachtete. Mit einem Ruck ließ sie die ganze Hülle fallen, hielt eine Hand an den Hinterkopf, mit der anderen fuhr sie wie ein Covergirl an ihrer Taille entlang.
»Ja, 37 Jahre alt, Mutter zweier großer Kinder und immer noch Konfektionsgröße 36!«
Oskar konnte sich nicht an ihrem schönen Körper sattsehen, den er erstmals völlig unbekleidet vor Augen hatte. Mit einem Sprung war sie im Bett, zog das Betttuch bis unter die Nasenspitze und seufzte herzzerreißend: »Beeil’ dich bitte, mir ist kalt. Ich warte auf dich ganz sehnsüchtig!«
*
Bärbel kam den nächsten Tag nicht zu dem vereinbarten Treff. Sie ging auch nicht an ihr Telefon in der Bibliothek. Schließlich erreichte er eine ihrer Mitarbeiterinnen und erfuhr, dass sie mit einer schweren Gallenkolik ins Elisabeth-Krankenhaus eingeliefert wurde.
In seiner Frühstückspause am nächsten Morgen war er im Krankenhaus und erfuhr, dass sie gerade operiert würde. Am nächsten Morgen besuchte er sie dann mit einem kleinen unauffälligen Blumenstrauss, klein deshalb, um jeden Verdacht von einem eventuellen Liebhaber zu nehmen.
Vierzehn Tage zog sich ihr Aufenthalt im Krankenhaus hin, bis sie an einem Wochenende entlassen wurde. So konnte Oskar sie bequem mit dem Auto abholen.
»Darf ich dich einladen, mit mir noch einen Tag zu verbringen?« fragte er sie während der Fahrt.
»Oskar, ich war zwei Wochen nicht daheim. Meine Kinder warten. Es geht wirklich nicht!«
»Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es doch nun auch nicht mehr an«, drängte er weiter. «Eine Nacht, bitte! Wir waren so lange nicht zusammen.«
Sie wurde schwach und gab seinen Bitten nach. Oskar fuhr in ein Weißenfelser Hotel. Natürlich bekamen sie kein Zweibettzimmer, denn da achtete man in Ostdeutschland sehr streng darauf, ob Paare verheiratet waren oder nicht. Oskar buchte also ein Zwei- und das ganz am Ende des Flurs gelegene Einbettzimmer. Wen störte das? Benutzt wurde doch nur der größere Raum.
Nach so langer Enthaltsamkeit waren sie begierig aufeinander. Doch Oskar war dennoch ständig bemüht, nicht gegen das breite Pflaster auf ihrem Bauch zu drücken, und fragte allentwegen, ob er ihr auch nicht weh täte. Bärbel schüttelte den Kopf, stöhnte leicht auf, doch mehr aus Freude und Lust.
»Frag doch nicht immer. Es ist schön. Aber eine Pause wäre auch angebracht, denn ich habe seit dem Frühstück im Krankenhaus nichts mehr zu essen bekommen.«
In der Hotelgaststätte aßen sie Abendbrot, ausgiebig und gut. Über die Straße hinweg erklang Tanzmusik und tatsächlich in der Gaststätte gegenüber wurde getanzt. Diese Möglichkeit, erstmals miteinander zu tanzen, ließen sich die beiden natürlich nicht entgehen. Bärbel tanzte leicht wie eine Feder, ließ sich gut führen und nichts deutete bei ihr darauf hin, dass sie erst kürzlich eine Operation überstanden hatte.
*
Nach ein paar Tagen hatte Bärbel den Wunsch, ihre Schwester Eva, deren Familie und den bei ihr wohnenden Vater in der Uckermark wiederzusehen, aber ganz ehrlich ging es ihr vielmehr darum, Oskar dort vorzustellen und Eindrücke von ihm aus berufenem Munde zu hören.
Beide Schwestern hatten in Hinterpommern, ihrer Heimat, bei Kriegsende schlimme Dinge erleben müssen. Ihre Mutter starb an Typhus, da die medizinische Versorgung bereits zusammengebrochen war. Vater und großer Bruder waren an der Front. Die 17-jährige hatte nun die ganze Verantwortung für ihre zehn Jahre jüngere Schwester und für den kleinen Bauernhof.
Als die russischen Truppen immer näher rückten, suchten sie ihren Onkel im Nachbardorf auf, für den der Fronteinsatz mit einer Beinamputation zu Ende gegangen war, und unterbreiteten ihm ihre Fluchtpläne. Er hielt sie davon ab, denn auf dem Mühlberg schlugen bereits erste Granaten ein.
»Ihr kommt nicht weit«, mahnte er, »die russischen Panzer werden euch überrollen.«
Sie blieben gemeinsam mit einem französischen Kriegsgefangenen, der auf ihrem Hof eingesetzt war und wie ein Familienmitglied behandelt wurde. Er hielt dann auch mit seinen Russischkenntnissen die zuerst einrückenden Soldaten von ihrem Hof ab. Doch er wollte auch verständlicherweise so schnell wie möglich nach Hause und verabschiedete sich.
Danach wurde ihr ganzes Vieh aus dem Stall getrieben. Nur einer Kuh passte das so gar nicht, denn sie kehrte zweimal zurück und stand frühmorgens wieder in ihrem Stall.
Einem Polen wurde ihr kleines Anwesen übertragen. Folter und Hunger hatten den Mann im nahen Konzentrationslager schwer gezeichnet und zu einem geistig Behinderten gemacht. Er wollte Eva immer heiraten, schenkte ihr dann wieder einen Apfel aus dem eigenen Garten und freute sich darüber wie ein kleines Kind.
Dann kam die Aufforderung, dass alle Deutschen das Land umgehend zu verlassen hätten. Hinterpommern und Schlesien wurden von den westlichen Alliierten und der Sowjetunion bis zum rechtsseitigen Ufer von Oder und Neiße den Polen zugeschlagen. Nun waren Eva und Barbara Tuchmann tatsächlich auf der Flucht. Von ihrem Geburtsort nahe Kolberg führte sie der Weg Richtung Westen, eine Strecke unmenschlicher Anstrengungen und Strapazen, des Hungerns und des Bettelns, der bösen Beschimpfungen, Erniedrigungen. So gelangten sie nach Tagen und Wochen in die Uckermark, ganz in der Nähe von Prenzlau. Bei einem Großbauern fand Eva eine Beschäftigung als Magd, natürlich ohne jede Bezahlung, nur für Unterkunft und Verpflegung. Die kleine Bärbel musste jeden Tag stundenlang die Gänse hüten.
Das gesamte Gesinde litt unter den Launen der Großbäuerin, die mehrfach in der Woche mit ansehen musste, wie ihr Mann die Kutsche anspannen ließ, um zu anderen Frauen und Trinkgelagen zu fahren. Das Pferd brachte ihn immer sicher zurück, wenn er volltrunken in der Kutsche lag.
Schließlich fand ihr Vater über das Deutsche Rote Kreuz den Weg aus der Kriegsgefangenschaft zu ihnen. Auch er war auf dem Gutshof willkommen, denn er war Bauer und niemand hatte den starken Bullen, der sich immer wieder losriss, so gut im Griff wie er.
Schließlich fand auch der große Bruder den Weg zu ihnen, gerade zu jener Zeit , als es hieß »Junkerland in Bauernhand«. Der Vater übernahm eine Neubauernstelle, die von der ganzen Familie erfolgreich bewirtschaftet wurde. Stück für Stück schufen sie sich eine neue Existenz.
Der große Bruder, 16 Jahre älter als Bärbel, nahm wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung seiner kleinen Schwester. Wenn Erziehung Vorbild und Liebe, sonst nichts ist, wie ein großer Pädagoge das einmal formulierte, dann erfüllte er das in vollem Maße. Er förderte ihre Entwicklung, wo er nur konnte, hielt Unannehmlichkeiten von ihr ab und reagierte auf blaue Briefe der Schule, die wirklich unberechtigt waren. Gegen den Willen des Vaters setzte er auch durch, dass sie die Oberschule besuchte, um einmal frei über ihren Berufsweg entscheiden zu können. Der Vater hätte sie viel lieber an einen Bauernsohn verkuppelt.