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Wer ist dieser Friedrich Engels Junior, der später einmal, zusammen mit seinem engsten Freund Karl Marx, zu einer Weltberühmtheit gelangt, die bis heute anhält, die durch aktuelle weltpolitische Entwicklungen eine neue Brisanz und Aktualität erfährt? Wie verbringt dieser so vielbegabte Friedrich seine Jugend? Wer und was prägt ihn und lässt ihn zu so einer illustren Persönlichkeit werden? Geboren ist er 1820 "Auf Bruch" in Barmen, das, zusammen mit Elberfeld und einigen angrenzenden Orten, das Wupper-Tal zu einem bedeutenden Zentrum der europäischen Textil-Industrie entwickelte. Ende des 18. Jhds wurde die Welt in mehrfacher Hinsicht revolutioniert. Einerseits die geistig-politischen Impulse durch die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika und durch die Französische Revolution andererseits bahnbrechenden Erfindungen wie die Dampfkraft, die für eine ungeahnte industrielle Revolution sorgten. Speziell in Manchester in England kam die neue Technik zum Einsatz. Von dort holten sich ehrgeizige Textil-Fabrikanten wie Friedrich Engels Senior das Fachwissen und entwickelten das prosperierende Wupper-Tal zum Manchester Deutschlands! Was hat das alles mit dem jungen Friedrich zu tun, der mit 14 Jahren auf das Gymnasium kam? Sein Vater hatte seinen Ältesten, zu seinem Nachfolger bestimmt. Doch Friedrich hatte völlig andere Pläne: Schon in jungen Jahren durch seinen Großvater mütterlicherseits in die fantastische Welt der Literatur eingeführt und von zu Hause aus musisch geprägt, wollte er lieber kreativ sein: Er schrieb Gedichte und Geschichten, übte sich im Karikieren und wollte sogar komponieren. Aus sehr betuchtem Elternhaus stammend, richtete sich Friedrichs Blick aber auch schon früh auf die Arbeitenden, vor allem Kinder, die unter zum Teil unwürdigsten Umständen, im Textil-Gewerbe schufteten. Wie kann man diesen Menschen helfen, wie kann man die Folgen und Auswüchse der Industriellen Revolution in den Griff bekommen? Ein junger Mensch, mit Zeitphänomenen konfrontiert, die in ihren Auswirkungen verblüffend den heutigen Gegebenheiten ähneln: Statt Industrialisierung nun Digitalisierung. Dieses Buch erzählt drei hochbedeutende, prägende Jahre im Leben von Friedrich Engels: seine Gymnasialzeit, abrupt von seinem Vater, kurz vor dem Abitur, abgebrochen. Drei Jahre, voll mit hoch emotionalen und dramatischen Erlebnissen. Drei Jahre, in denen schon das pulsiert, was diese Persönlichkeit zu dem wohl bekanntesten und bedeutendsten Wuppertaler reifen lässt.
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Seitenzahl: 293
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DIRK WALBRECKER wurde in Wuppertal geboren und zog nach dem Abitur nach München. Dort studierte er in mehreren Anläufen Germanistik, Theaterwissenschaften und schließlich Pädagogik, Psychologie und Grundschuldidaktik. Nach vieljähriger Tätigkeit in der Filmbranche arbeitete er einige Jahre als Lehrer. Mit 42 beschloss er, endlich freiberuflicher Autor zu werden. So entstanden u. a. weit über 50 Kinder- und Jugend-Bücher, inzwischen in 15 Sprachen übersetzt, einige auch mit Preisen ausgezeichnet.
In den vielen letzten Jahren wird der Autor in allen deutschsprachigen Ländern häufig zu Lesungen bzw. Autoren-Begegnungen eingeladen, außerdem zu, meist einwöchigen, Schreibwerkstätten – in den letzten Jahren auch zu mehreren Großprojekten im Rahmen von KULTUR MACHT STARK.
DIRK WALBRECKER ist Vater von drei Töchtern, lebt seit einigen Jahren mit seiner Frau in Landsberg am Lech und hat seit 3 Jahren Wuppertal wieder zu seinem Zweitwohnsitz erkoren.
… den Verleger Thomas Helbig, der mir den Anstoß zu diesem Buch gab
… Dr. Michael Knieriem, der mir dank seines profunden ENGELS-Wissens mit seinen Büchern und in mehreren Gesprächen viel Inspiration schenkte
… die hoch engagierte Lektorin und Kollegin Manuela Sanne sowie die Verlags-Assistentin Fabienne André
… den Buchbinder und Lebenskünstler Kurt Atti Reinartz für allerbeste Wohn- und Arbeitsatmosphäre in seinem Atelier in der Friedrich-Engels-Allee
… meine Gattin Isabella und ihre Kinder, meine Schwester Hedda, meine Töchter Minouche, Mona und Rebecca für viel Geduld und liebevolle Unterstützung
… nicht zuletzt an einen Wuppertaler Freund und großzügigen Mäzen, der namentlich nicht genannt werden möchte!
1834
Auf Bruch
Aufbruch
Im Gymnasium
Die Engels
Pferde, Pferde, Pferde
Überraschungen
14 Jahre gelebt – und nun?
Gedichte, Gedichte, Gedichte
Hexen-Einmal-Eins
Elberfeld
Wandern ...
Barmen
Die Hardt
Kurz erzählt, lang gebaut: Die Barmer Allee
Garnnahrung
1835
Wippern und wuppern
Ginkgo Biloba
An der Wupper
Der Angler
Die Gedanken sind frei
Orgel, Orgel, Orgel
Alexander
Mein kleiner Bruder Wilhelm
Vater
Vater, Vater!
Auswandern?
Auswandern!
Noch ein Abschied
Der Coup ist (fast) gelungen
Bitte kein Geburtstag!
Der Stein des guten Glücks
1836
Künstler-Schicksal
Konkurrenten
Ein Junge namens Till
Eine echte Freundschaft
Ostereier
Sie haben sich lieb
Barmer Markt
Onkel Karl Wilhelm Moritz Snethlage
Der Rhein ... und ein nerviger Emil
Eine Seeräubergeschichte I
Auf Schienen unterwegs
Das Los entscheidet
Geburtstag: Sechzehn!
Eine Seeräubergeschichte II
Geburtstag: Ludwig
Sehnsucht
Weihnachten naht
Gen 1837
1837
Pläne, Pläne
Eine Seeräubergeschichte III
Manchester
Bergisches, Burgen und Brücken
Tiefe Trauer
Neue Pläne
Ferdinand Freiligrath – Ein Vorbild?
Gen Konfirmation
Eine Seeräubergeschichte IV
Ode an der Freude
Elisabeth Franziska Mauritia Engels
Vor 150 Jahren
Lore-Ley
Musik, Musik, Musik
Engelskirchen
Eine Seeräubergeschichte V
Pietismus ... Glauben im Wupper-Tal
Wupperthal in Afrika
Zufall ... Magie ... Schicksal?
Magie der Zahlen – Marie und Till
Schock
Aufbruch: Meine Gedanken bleiben frei!
Lebenslauf Friedrich Engels
Quellennachweis
Breviarium
Endlich, endlich ... eine neue Lebensetappe beginnt: Ich bin im Evangelischen Gymnasium in Elberfeld angemeldet! Diese Schule wurde als Lateinschule gegründet und gilt als eine der besten in Preußen. An ihr sollen verschiedene qualifizierte Pädagogen und Fachlehrer unterrichten. Ich werde viele, viele neue Anregungen bekommen und mein Ziel ist klar: Ich will das Abitur machen! Ich will unbedingt studieren ... vielleicht Literatur, möglicherweise auch Jura ... Hauptsache etwas Geistvolles und Bereicherndes!
In den Ferien ist genug Zeit, um über die Vergangenheit nachzudenken: Fast 14 Jahre habe ich nun in Barmen, genauer gesagt: Auf Bruch, in der Brucher Rotte verbracht. Hier ist meine Familie, das heißt, die meines Vaters, seit Urzeiten angesiedelt. Ihr Besitz ist enorm. Unzählige Wohnhäuser, Fabrikgebäude, Handwerksbetriebe, Pferdeställe und vor allem weitläufige Wiesen zum Garnbleichen sind Engels-Besitz. Für Letzteres war und ist die Wupper mit ihren flachen Ufern die ideale Voraussetzung.
In einem der schönsten und am edelsten eingerichteten Häuser Auf Bruch habe ich meine Kindheit verbracht. Meine Mutter war erst 23 Jahre, als sie mich am 28. November 1820 zur Welt brachte, mein Vater gerade mal ein Jahr älter. Ich bin der Erstgeborene, der so genannte ‚Stammhalter‘ – daran werde ich seit Jahr und Tag von meinem Erzeuger mit bedeutungsvoller Miene erinnert. Dabei ist unser Engels-Haus inzwischen voll von Blagen. Seit Kurzem sind es gar vier Schwestern und drei Brüder, die mich fast alle reichlich nerven.
Die letzten vier Jahre waren für mich aber vor allem von der Schule geprägt. Längst nicht jedes Kind in unserem Wupper-Tal hat die Möglichkeit, regelmäßig Unterricht zu bekommen. Zwar gibt es seit einiger Zeit eine Schulpflicht – doch die allermeisten meiner Altersgenossen haben vorrangig ganz andere Pflichten. Sie müssen unter den schäbigsten und gemeinsten Umständen malochen – oft zehn, zwölf Stunden am Tag. Wer kann sich danach bitte noch auf den Unterricht konzentrieren?
Für mich war es der Luxus pur, mit neun Jahren in die Höhere Stadtschule von Barmen aufgenommen zu werden. Natürlich konnte ich damals längst Lesen, Rechnen und Schreiben – dafür hatten vor allem meine Mutter und ihr verehrter Vater gesorgt. Er ist nämlich ein Gymnasiallehrer, der seinen geliebten Enkel mit einem ungeheuren Wissen und einer unübertrefflichen Erzählfreude beglückt.
Nun allerdings, in der Schule, wurde es ernst und ich gestehe: Bei aller Begeisterung für die meisten Fächer war ich zeitweise überfordert. In jeder Stunde etwas Neues: Deutsch, Englisch, Französisch, Latein. Dann Schönschreiben, Religion, Naturlehre, Geografie und Algebra. Dazu noch Gesang und mein Lieblingsfach: Zeichnen.
Für Letzteres musste mein Vater noch extra Schulgeld entrichten. Offenbar hatte er bemerkt, mit welcher Leidenschaft ich alles und jedes, auch meine Schulhefte, vollkritzelte. Ab der dritten Klasse kam auch noch Geschichte und Algebra dazu – da machte ich irgendwann schlapp. Die vorletzte Klasse musste ich wiederholen, damit war ich jedoch längst nicht der Einzige ...
Wenn ich mich erinnere, wie viel Zeit ich allein damit verbrachte, Bibeltexte und Kirchenlieder auswendig zu lernen! Im Gesangsunterricht galt es, mehrstimmig Choräle einzuüben – dies allerdings war kein Problem. Ich war von klein an gewohnt zu singen, schließlich wuchs ich in einer Familie auf, in der Glauben, Gebet, Kirchgang eine hoch bedeutsame
Rolle spielten. In diesem Wupper-Tal gibt es wahrscheinlich so viele Strenggläubige und religiöse Fanatiker wie nirgends auf der Welt. Vor allem können sie, speziell unter den Evangelischen, streiten wie die Kesselflicker, wer nun die Bibel richtig versteht oder auslegt – ich kann und will da nicht mithalten!
Doch wehe, es kommt zu Hause auf dieses Thema zu sprechen. Speziell die Familie meines Vaters hat es schon immer als ihre Glaubenspflicht gesehen, einen beachtlichen Teil ihres Unternehmer-Einkommens für den Kirchenbau (übrigens auch für Schulen!) zu spenden – das darf man nicht kritisieren ...
Packen, packen, packen ...
Ich bin in diesen Oktobertagen vor der Neueinschulung unsagbar aufgeregt. Eigentlich weiß ich ja durch meinen Großvater in Hamm alles rauf und runter über ein Gymnasium – nun aber alsbald selber so ein illustres Gebäude zu betreten, das ist etwas ganz anderes!
Mein Vater, dem meine gehobene Ausbildung sehr am Herzen liegt, hat mir schon frühzeitig einen edlen neuen Ledertornister geschenkt. Dazu gibt es spezielle Bücher und die Aufforderung, mit unserem Hausmädchen eine Tasche mit reichlich Wäsche zu packen. Wofür in Gottes Namen brauche ich mehrmals am Tag frische Strümpfe, Unterhosen, Hemden und all dieses Zeugs?
Meine Mutter kann und will ich nicht belämmern. Sie hat erst vor wenigen Wochen ihre vierte Tochter, die süße Elisabeth, zur Welt gebracht und verbringt wie immer in solch stressigen Situationen viel Zeit in Hamm, wo ihre Mutter ihr mit besonderer Fürsorglichkeit zur Seite steht.
Am ehesten könnte ich ja noch meine kleine große Schwester Maria – die ich meistens Marie oder Mariechen nenne – an meiner Verwirrung teilhaben lassen. Doch die träumt sich mal wieder durchs Leben und will wohl nicht zeigen, wie sehr sie mich in Zukunft missen wird ...
Und wie!
Der Schock kommt, als ich höre, wie mein Vater mit unserem Kutscher spricht:
»Wann muss ich den Fritz in Zukunft nachmittags abholen?«, fragt der.
»Freitag am späten Mittag! Manchmal vielleicht auch erst am Samstag. Ich kenne seinen Stundenplan noch nicht.«
Der nette Kerl, der uns schon seit vielen Jahren zu Diensten ist und mehrere Kutschen und im Winter auch die Pferde-Schlitten zu betreuen hat, ist wohl nicht weniger überrascht als der junge, lauschende Friedrich:
»Und an den anderen Tagen?«
»Die üblichen Dienstfahrten natürlich, wie sonst auch. Ich werde sicher öfter nach Hamm müssen ...«, entgegnet Friedrich Senior.
»Vater!« Ich bemühe mich, unaufgeregt und höflich zu wirken. »Wer fährt mich denn an den anderen Tagen? Oder muss ich den weiten Weg nach Elberfeld und zurück bei Wind und Wetter zu Fuß gehen?«
Mein Vater lächelt hintergründig: »Genau dies wollen wir dir ja ersparen ...«
Ich stehe wortwörtlich im Regen, denn es fängt soeben an zu plätschern – wie so oft in diesem Wupper-Tal im Herbst. Ausgerechnet jetzt kommt Marie gerannt. Mal wieder hat sie das richtige Gespür.
»Fritze, geht es dir nicht gut?«, fragt sie. Ihr Blick geht hin und her, um die Stimmung zwischen Vater und Sohn zu erheischen.
»Ich versuche grad deinem Bruder zu erklären, wie seine Schulzeit ablaufen wird«, vernehme ich wie durch ein verstopftes Hörrohr.
»Was ist daran so kompliziert?«, wundert sich Marie. »Vormittags Unterricht. Nachmittags Hausaufgaben. Abends so früh wie möglich mit mir und den anderen spielen, singen, musizieren ...«
Genau jetzt kommt Hermann, mein ältester Bruder, aus dem Garten gerannt: pitschnass, von oben bis unten dreckverkleckert – wahrscheinlich hat er sich mal wieder auf seine Art im Pferdestall vergnügt.
»Komm mal her!«, ruft mein Vater ungehalten. Ich ahne, was nun passiert und was ich oft genug selber erlebt habe: »Runter mit den Drecksklamotten! So kommst du mir nicht ins Haus!«
Und es sind nicht nur Worte, mit denen mein Vater seiner Autorität Ausdruck verleiht ...
Marie und ich versuchen, die Situation zur Flucht zu nutzen. Mein Vater jedoch übernimmt mal wieder die Regie:
»Maria, ab in dein Zimmer! Und du, Friedrich, kommst mit mir in den Salon!«
Es lässt sich leicht zusammenfassen, was für mich keineswegs leicht zu verkraften ist: Mein Vater schmeißt mich, ohne auch nur mit einem Wort meine Meinung zu erfragen, quasi aus dem Haus!
»Du wirst unter der Woche in der Wohnung von Dr. Hantschke, dem Direktor der Schule, übernachten. Du hast dort ein kleines eigenes Zimmer. Du wirst dort verköstigt. Und du hast dich verlässlich an seine Anweisungen zu halten!«
So also gestaltet sich mein Aufbruch in eine neue Lebensetappe ...
Was es heißt, von heute auf morgen mit 100 fremden Jugendlichen konfrontiert zu sein, muss ich wohl niemandem erläutern. Ja, ein paar Typen bin ich beim Gottesdienst, in Theateraufführungen oder in den wenigen Konzerten, die ich besuchen durfte, begegnet. Alle kommen natürlich aus wohlhabenden Verhältnissen – reiche Familien gibt es im Wupper-Tal ja einige.
Der älteste Engels-Sohn ist natürlich einigen der Mitschüler auch kein Unbekannter. Dies bedeutet keineswegs immer Sympathie und lockerer Umgang miteinander. Im Gegenteil: In Barmen wie in Elberfeld herrscht auch gehörig Rivalität und Neid im Kreise der Unternehmer – oft übertüncht vom Glauben und den guten Geboten, die mit großem Eifer gepredigt werden. Zudem spalten sich diese eifrigen Kirchgänger auch noch in x verschiedene Glaubensrichtungen, manche auch mit eigenen Gemeinden. Die Katholiken sind eh eine Minderheit, die von vielen nicht wohl gelitten ist. Von den wenigen Juden in der Stadt mal abgesehen ...
Ein gutes Beispiel für diese Problematik ist mein Hausherr mit dem illustren Namen Dr. Johann Carl Leberecht Hantschke: Dieser nicht einmal vierzigjährige Lehrer darf sich an unserer Reformierten Gemeindeschule nur stellvertretender Direktor nennen, da er ein Lutheraner ist – welche Schmach!
Aber das alles interessiert mich zunächst nicht. Ich muss mich mit dem wenigen Hab und Gut in meinem kargen Zimmer einrichten. Hauptproblem: Wo ist genug Platz für meine Bibliothek, die vor meinen Augen schon gigantische Ausmaße annimmt? Wunschträume darf man ja haben!
Über die Fächer, die mich in den nächsten vier Jahren gen Abitur bringen sollen, weiß ich schon reichlich Bescheid – eigentlich kein so wesentlicher Unterschied zu dem, was ich aus der Barmer Schule kenne. Allerdings muss ich mich jetzt auf bis zu 36 Wochenstunden einstellen – für eine allzeit lesende Nachtratte nicht so einfach! Die Sprachen, die gelehrt werden, sind die gleichen. Vorrang haben nun Latein und Altgriechisch – allerdings soll in der Secunda Hebräisch dazukommen.
Mathematik und die Naturwissenschaften werden mich gehörig fordern und auf ein Fach freue ich mich, im Gegensatz zu den meisten Altersgenossen, ganz besonders: Philosophie. Darüber weiß ich durch meinen Großvater und natürlich die alten Sprachen schon so einiges – der Unterricht soll leider erst in der Prima beginnen.
Dafür kann ich mich vom ersten Jahr an auf Musisches freuen: Gleich in der Tertia starten wir mit Zeichnen und Kalligraphie und in den oberen Klassen wird auch Gesang gelehrt! Da werde ich die musikalische Marie mit neuem Liedgut beglücken können und mich interessieren vor allem die Choräle. Ich wage es kaum zu sagen: Einer meiner zahlreichen Herzenswünsche für die Zukunft ist, einmal selber zu komponieren ...
Nun aber wird es gleich ernst: In der Tertia, im Deutsch-Unterricht, ist es Gepflogenheit, sich den Mitschülern mit einem ausführlichen Referat vorzustellen. Es soll ausführlich und nicht oberflächlich sein. Man soll nicht nur von sich persönlich erzählen – auch die Herkunft, die familiären Hintergründe sind gefragt. Erst einmal fühle ich mich überfordert: Ich will keinesfalls als der Angeber Friedrich Engels Junior gesehen werden! Aber kann man nicht dazu stehen, aus einer erfolgreichen Familie zu stammen? Einer Familie, die dieses Wupper-Tal – genauer gesagt, Barmen – über Generationen wesentlich mitgeprägt hat?
Eigentlich muss ich im 17. Jahrhundert beginnen, als in unserem Tal hauptsächlich Landwirtschaft betrieben wurde – und dies unter schwierigsten Bedingungen. Die Wiesen entlang der Wupper waren größtenteils sumpfig, der lehmige Boden wenig fruchtbar.
Manchmal aber braucht es eine zündende Idee und mit der verändert sich das Leben vieler Menschen oder lockt gar andere an. Die feuchten Niederungen am Wupperufer und ebenso die Wiesen am Brucher Bach, der in die Wupper mündet, eigneten sich ideal, um Garn zu bleichen! Und ich nehme es vorweg: Diese Tätigkeit sollte ein Beruf werden, der meine Heimat fortan geprägt hat und Voraussetzung für eine frühindustrielle Textilwirtschaft war. Damals, vor jetzt etwa 200 Jahren, gab es im Bruch noch etwa 22 Bauernhöfe bzw. sogenannte Kotten. Es lebten kaum mehr als 100 Menschen hier, inzwischen sind es mehr als dreieinhalbtausend!
Einer der Urahnen von mir, der groteskerweise Benjamin Engels hieß, hatte sich dort angesiedelt. Dank eines komplizierten Erbvorgangs über mehrere Generationen gelang es dann meinem 1715 geborenen Urgroßvater den alten Familienbauernhof erst zu pachten und dann endgültig auf seinen Namen Johann Caspar Engels I. zu erwerben.
Und welche familienprägende Idee hatte er? Auf seinen Wiesen entlang der Wupper und des Kothener Bachs begann er, Garn zu bleichen. Mehr noch: Er ließ sich eine Kiepe, also ein Tragegestell aus Korb, anfertigen. Mit der zog er durch die Lande, von Haus zu Haus, und verkaufte sein Garn mit gutem Gewinn. Man stelle sich vor: Irgendein findiger Barmer kommt in 100 oder mehr Jahren auf die Idee, mit einem von ihm hergestellten Produkt von Haustür zu Haustür zu ziehen und es den neugierigen, kauflustigen Menschen anzubieten! Besser noch: Er ist gar nicht mehr selber unterwegs, sondern er schickt seine Helfershelfer durch die Lande ...
Doch zurück zu meinen findigen Vorfahren: Mein Urgroßvater, der in seinem späteren Leben neben der Bleicherei schon eine Spitzenmanufaktur gründete, hatte drei Söhne. Der erste war Benjamin (mal wieder ein solcher!), der seinen Wohnsitz in der Brucher Rotte hatte und Stifter der Schule am Lichtenplatz in Barmen wurde. Der dritte war ein gewisser Johann Peter, geboren 1754, ebenfalls Stifter einer Schule – diese direkt im Bruch. Diese beiden wurden jeweils Teilhaber der Firma CASPAR ENGELS SÖHNE. Vor ihm aber kam noch mein Großvater, Johann Caspar Engels II., auf die Welt. Er war wohl der weitaus Findigste des Brüder-Trios und wurde ein enorm erfolgreicher Manufakturbesitzer. Seine erste Frau verstarb in jungen Jahren und so heiratete er eine gewisse Ida Louise Friederike Noot, die später meine Großmutter väterlicherseits wurde. Leider kann ich mich an beide nicht erinnern, denn sie starben, als ich noch ein Baby bzw. Kleinkind war.
Was nun (er)schaffte dieser zweite Caspar, der alles andere als ein Kasperle war? Wenn mein Vater voller Achtung und Stolz von dessen Lebenswerk und ganz konkret von seinen zahlreichen Werken sprach, dann kam ich mir als kleiner Junge manchmal wie in einer Märchenstunde vor: Dies alles soll ein einziger Mensch gehändelt haben?
Ja, ich muss einfügen: Vater redete zwar voller Bewunderung von seinem Zeuger. Doch er vergaß nie zu erwähnen, dass dieses ehedem so kleine und unbedeutende Barmen diverse sehr erfolgreiche Männer, speziell auch Unternehmer, hervorgebracht hat. Und fast schalkhaft fügte er hinzu: »Es werden noch viele folgen! Das Wupper-Tal ist ein magischer Ort. Hier entstehen in der Zukunft garantiert noch so manche Wunderwerke!« Bei diesem Ausspruch war ich mir nie sicher, ob er damit nur Fabrik-Werke meinte oder noch ganz andere Erfindungen ...
Wenn ich aufzählen muss, welche Ideen mein Großvater hatte und auch tatsächlich größtenteils umsetzte, dann kann ich mir sicher sein, dass mir längst nicht alles einfällt. Abgesehen von all dem, was an Fabriken zur Textil-Herstellung und -Verarbeitung gehörte, entstanden Unternehmen, deren Zuordnung einem erst mal kaum gelingen wird.
War mein Großvater auch der Erbauer oder Finanzier des großen Heilbrunnens, dem ‚Barmer Mineralbad‘?
Weshalb wollte er in der Werther Rotte eine Dampfziegelei errichten?
Wieso beteiligte er sich mit einem seiner Brüder an einem kleinen Kohlebergwerk in Hasslinghausen?
Was wollte er mit der Pottasche-Fabrik im Springen, die ihm schon im Alter von Zwanzig übertragen wurde?
Warum auch noch eine eigene Schmiedewerkstatt und eine Schreinerei?
Wie kam es bei diesen Engels zu immer mehr Grundbesitz? Heute gehören tatsächlich sage und schreibe mehr als vierzig Häuser meiner Familie!
Natürlich ging und geht es immer zentral um das prosperierende Textilgewerbe, welches stetig kompliziertere Herstellungsverfahren entwickelte. Das letztlich so simpel zu praktizierende Garnbleichen, das keinen Profit mehr versprach, wurde durch Fabrikationen ersetzt, bei denen Handarbeit nicht mehr nur mit einem Werkzeug oder einem Spinnrad und dergleichen geschah. Stattdessen Maschinen, Maschinen, Maschinen ...
Und für diese benötigt man immer größere Fabriken. Und in diesen immer mehr Arbeiter und leider auch Kinder, die unter teilweise unwürdigsten Umständen die Maschinen bedienen. Und diese Menschen, die unseren ehemals so beschaulichen und kleinen Bruch zunehmend bevölkern, brauchen Wohnraum ...
Wenn mein Großvater noch leben würde, er käme aus dem Staunen nicht mehr heraus: Die Industrialisierung nimmt immer mehr an Fahrt auf. Wir sind hier im Wupper-Tal schon ganz schön innovativ – doch wenn wir zum Beispiel nach England blicken ...
Übrigens: Mein Vater tut das ständig und ich halte mir manchmal die Ohren zu, wenn er von all seinen verrückten Plänen spricht – sein Vater jedenfalls wäre sehr stolz auf ihn!
Ich sollte noch etwas über meinen Großvater Johann Caspar Engels erzählen. Er muss in vieler Hinsicht ein besonderer Mensch gewesen sein – leider verstarb er ja, als ich ein Winzling war.
Der Vater meines Vaters war wohl nicht nur extrem geschäftstüchtig, er war vor allem auch ein Tierliebhaber, speziell der Pferde. Jeder weiß, wie bedeutsam diese Vierbeiner in unserer Kultur sind: Größere Äcker und Felder werden von ihnen bestellt. Sie dienen als Zugtiere für kleinere oder größere Wagen und natürlich für unsere Kutschen – gezogen von ein oder zwei oder gar mehr Pferdestärken, im Winter entsprechend die Schlitten.
Wie sollten wir sonst Post aus der Ferne erhalten oder die Gebildeten ihre Zeitungen aus anderen Städten?
Wie anders hätten kriegerische Auseinandersetzungen ausgesehen, wenn man nicht die armen Tiere für die Kavallerie missbraucht hätte. Welches Wesen kam da schon unverletzt oder lebendig wieder in den heimischen Stall zurück?
Und dann das Reiten – zum Vergnügen oder bei der Jagd. Dies fasziniert mich auch und ich möchte es unbedingt später mal zu einer gewissen Perfektion darin bringen.
Meine Schwestern, klein und groß, sind zuweilen kaum aus unseren Ställen herauszukriegen: Noch ein Streichler, noch eine Möhre ... und wehe, es gibt Nachwuchs: Jede Neugeburt ist ein großes Ereignis!
Was hat dies alles mit meinem Großvater zu tun? Wieso werden in der Familienrunde ständig Anekdoten über seine vorbildliche Liebe für Tiere und speziell für Pferde erzählt? Einer meiner Onkel meint, es habe mit dem berühmten Dichter und Philosophen Arthur Schopenhauer zu tun. Der war der Meinung, dass des Menschen Verhältnis zu den Tieren auf seinen Charakter schließen lasse. Wer grausam und gemein zu einem Tier sei, der könne auch kein guter Mensch sein – davon bin ich ebenfalls überzeugt!
Dass es mein Großvater nicht nur bei Worten beließ, bezeugt noch heute eine Pferdetränke, die er für die erschöpften Tiere errichten ließ. Wenn sie über den sogenannten Barmer Kohleweg das so lebenswichtige Brennmaterial vom Ennepetal über Oberbarmen und Heckinghausen gen Solingen und Remscheid transportierten, dann mussten sie den steilen Weg nach Lichtscheid schaffen. Dort oben, wo es keinen Fluss gibt, mussten sie sich von dem Anstieg unbedingt erholen – also musste eine anständige Tränke gebaut werden. Auch dafür spendete Johann Caspar Engels das Geld, also nicht nur für Kirchen und Schulen!
Übrigens gibt es dort oben zwei Denkmäler, die ebenfalls mein Großvater finanzierte: eines für den oben genannten Tierschützer Schopenhauer, das andere mit der Aufschrift: ‚Christus heilt ein misshandeltes Tier‘.
Es tut gut, solche Vorbilder in der Familie zu haben ...
Ja, ich bin ausquartiert. Ich lebe zwar noch im Wupper-Tal – aber Elberfeld ist eine ganz andere Stadt als Barmen – wahrscheinlich wird das immer so sein. Hat es damit zu tun, dass man hier etwas näher am Rhein, diesem gigantischen Strom, ist? Spürt man in Barmen mehr das, was einen Westfalen angeblich auszeichnet: weniger Temperament und dafür in manchen Dingen eine tüchtige Sturheit? Ich will mich auf solche Vergleiche und Klischees eigentlich nicht einlassen. Das ist genau das, was die Pietisten hier so gerne praktizieren: eine Bibel und hundert Auslegungen. Bringt uns das wirklich weiter, macht uns das echt glücklicher??
Ich versuche, mein Glück anders zu finden: in meinen Büchern, beim Zeichnen, beim Fantasieren. Und dann kommt so ein Glücks-Moment, wenn man ihn überhaupt nicht erwartet: »Besuch für Sie, Herr Engels!«, hör ich im Haus Hantschke. Herr Engels ... das klingt gut! Aber Besuch? Wer bitte weiß, dass ich hier lebe??
Ich gehe nach unten und traue meinen Augen nicht: Da steht unsere Familien-Kutsche und auf dem Bock sitzt grinsend unser Kutscher. Will der mich etwa wieder abholen?
»Ein Päckchen für Sie! Exklusiv für den Fritze!!«
Er zeigt auf den Sitz neben sich und ich muss hochklettern, um das Päckchen, mit einer feinen roten Seidenschleife verschnürt, zu erreichen.
»Finger weg! Dat is für mich!!«
Hinter mir ist ein größerer Junge aufgetaucht – notdürftig lumpig bekleidet, ungekämmt und mit einem Gesichtsausdruck, der nicht gerade vertrauenerweckend ist. Er versucht, mich beiseite zu drängen, um an das Päckchen zu kommen. »Mach die Fliege, Knabe!«, ruft der Kutscher und lässt haarscharf neben dem dreisten Burschen die Peitsche knallen.
Der hat begriffen: »Wohl wat Besseres, der Piefke, oder?«
Er spuckt einmal aus, ich rieche seine unangenehme Alkohol-Fahne und weg ist er!
Weg ist auch der Kutscher und ich sitze mit Herzklopfen auf meinem Bett. Diese türkischrote Seidenschleife kenn ich: Made bei Engels. Den Geruch, der aus dem Päckchen dringt, kenne ich auch: Original Bergische Waffel – nach einem Spezialrezept meiner Lieblingsköchin zu Hause. Weg mit dem edlen Einpackpapier – und was ist das?
Ein Briefumschlag, mit einem wohlbekannten Absender: Von deiner lieben Marie ...
Erst die Waffel oder erst der Brief? Es geht beides gleichzeitig:
Der Mond ist aufgegangen,
Und Du sitzt da gefangen,
In Elberfeld so fern!
Ich sitze hier und weine
Im Barmer Bruch alleine.
Ach komm doch wieder her!
Mir kommen die Tränen und die Waffel wird salzig: Ach Mariechen! Auf der Rückseite steht noch mehr:
Geliebter großer Bruder!
Unsere Mama hat aus Hamm geschrieben: Mir geht es
schon viel besser, das neunte Kind ist wohl das schwerste!
Bald könnt Ihr das kleine Lieschen streicheln! Allerliebste
Grüße an den Großen!
Deine/Eure Euch liebende Mama
Dem ist wohl nichts hinzuzufügen ...
Ich bin an diesem Tag aufgeregt, na klar!
Es gibt gleich nach dem Aufstehen ein vielstimmiges Geburtstagslied – schließlich habe ich ja reichlich Geschwister, die sich als Chor versuchen können. Meine Mama begleitet mit Gitarre und ihrer so wohlklingenden Stimme. Und im Hintergrund sehe ich schon, wie mein Lieblings-Apfelkuchen, mit vierzehn Kerzen versehen, von unserer Magd hereingetragen wird ... es wird bald noch ein zweiter folgen! Ich werde (fast zu) reichlich abgeküsst und es gibt Geschenke. Am meisten freuen mich die Bilder von den Kleinen und die selbstgebastelte Schatulle von Marie, meiner Lieblingsschwester. Sie hat sie mit farbigen Bändern, Kordeln, Litzen beklebt – all das, was in unserem Wupper-Tal so reichlich hergestellt wird.
Mein Vater fehlt noch. Er ist wie immer früh in seinem Kontor – zudem ist er auch keiner, mit dem man den ganzen Tag spielend und tobend verbringen könnte. Umso feierlicher sein Auftritt am Abend. Als Geschenk gibt es tatsächlich die von mir sehnlich gewünschte lederne Reitgerte! Und dann folgt das, was ich schon geahnt hatte – eine Rede, die mir fast wortwörtlich im Gedächtnis bleibt:
»Mein verehrter Sohn, du frisch gekürter Gymnasiast! Nun bist du endgültig auf dem mühsamen Weg ins Erwachsenenalter und dir ist bekannt, was dein Vater und viele in unserer Engels-Familie von dir erwarten. Du hast schon reichlich darüber gehört, wie sich die Engels zu dem entwickelt haben, was sie heute im Bruch, in Barmen, im Wupper-Tal und auch weit darüber hinaus darstellen. Du weißt, wie sehr ich, gemeinsam mit meinen beiden Brüdern, bemüht bin, das zu erhalten, was mein Großvater und mein Vater geschaffen haben. Mehr noch: Mit Gottes Hilfe soll das Imperium noch wachsen und gedeihen und ich möchte alles mir Mögliche tun, um den Herausforderungen der neuen Zeit, der schier galoppierenden Industrialisierung, gewachsen zu sein. Dabei kommt auf die junge Generation, zu der du gehörst, eine bedeutsame Aufgabe zu: Ihr müsst all den technischen Neuerungen gewachsen sein, ihr könnt und müsst sie weiter entwickeln. Und dazu hast besonders du eine Chance. Du bist dank deiner Erstgeburt dazu auserkoren, irgendwann einmal mein Nachfolger zu werden ... wie sich deine jüngeren Brüder, der Hermann, der Emil und der kleine Rudolf da einfügen, wird sich zeigen. Ich möchte deinen heutigen Geburtstag dazu nutzen, dir einmal ganz kompakt zu erzählen, wie mein Werdegang war, wie ich zu dem werden durfte, der ich heute bin.«
So fing es an mit der guten väterlichen Belehrung. Vieles, was folgte, war mir natürlich bekannt. Doch noch nie hatte mein Vater sich so konzentriert und umfassend über seinen Werdegang geäußert.
»Anders als du, lieber Friedrich, wuchs ich ja nur mit drei Geschwistern auf: mit deinem Onkel Caspar, der vier Jahre älter als ich ist, mit dem kaum zwei Jahre jüngeren Onkel August und mit meiner drei Jahre jüngeren Schwester, deiner Tante Louise. Ich besuchte zuerst die Brucher Schule, anschließend ging es auf die Barmer Stadtschule. Kein Gymnasium wie du – stattdessen nach der Konfirmation mit 16 ab nach Frankfurt, in eine Lehre bei einem Wollkaufmann. ‚Die Gottseligkeit ist zu allen Dingen, also auch zum Lernen der Comptoir-Geschäfte nützlich!‘, oder so ähnlich schrieb mir mein lieber Vater sozusagen als Aufmunterung.
Es folgten fortlaufend Mahnungen aller Art und der Wunsch, ja die Verpflichtung, ihn regelmäßig über meine Ausbildung zu unterrichten. Dabei hatte ich großes Glück: Wahrscheinlich, weil ich aus wohlhabendem Hause stamme, musste ich nur von 14 Uhr bis 19 Uhr im Kontor sein. Dafür hatte ich mich morgens gleich um 7 Uhr bei meinem Sprachlehrer einzufinden, um Französisch und Italienisch zu pauken. Danach ging es zum Klavier-, Cello- oder Fagott-Unterricht. Später kam noch Fecht- und Tanz-Unterricht dazu. Zudem war ich angehalten, kreuz und quer mit der Verwandtschaft in Brief-Kontakt zu sein und am Abend natürlich lernen, lernen, lernen ...
Für die Briefkontakte bekam ich strenge Auflagen. Wie du weißt, war das die Zeit, in der Napoleon mit seinen Truppen überall unterwegs war und mit reichlich Auflagen und Gesetzen über unser Leben hier bestimmte. Ich durfte wegen der Briefzensur nichts Politisches berichten – aber ich hatte mir eine schlaue Taktik ausgedacht: Ich legte mir eine Tarnadresse zu und firmierte unter dem schönen Pseudonym Haberstroh & Leberecht. Nicht schlecht, oder?«
So ging der Geburtstags-Vortrag weiter und ich war bemüht, ein williger Zuhörer zu sein.
»Ohne Übertreibung, dein Vater war ein fleißiger Lehrling. Er bekam sogar ein Lehrjahr erlassen und dann ging‘s zurück nach Barmen, in die Firma ‚Caspar Engels Söhne‘.
Über diese neue Herausforderung kann ich dir ein anderes Mal erzählen – das steht dir ja auch alles bevor. Von größter Bedeutung für uns, eigentlich für die ganze Familie, war der Einfluss, den die Franzosen in allen Belangen ausübten: politisch, wirtschaftlich, kulturell – noch gar nicht zu reden von Glaubensdingen. Für unsere Familie, mit einer eher preußischen Gesinnung, war das eine gehörig schwierige Zeit. Dein Großvater und einige seiner Freunde wurden gar als Geiseln nach Düsseldorf zitiert. Doch dank des Abmarsches der Franzosen beziehungsweise ‚durch Gottes Wohltat‘, wie mein Vater es ausdrückte, kam die Befreiung aus dieser wahrlich lebensbedrohlichen Situation. Ich, dann schon einundzwanzig, wurde zum Militär einberufen. Um die Wehrzeit zu verkürzen, meldete ich mich freiwillig bei der Reitenden Artilleriebrigade in Düsseldorf. Diese Zeit war weniger hart, als ich erwartet hatte: Ich konnte, sozusagen als privilegierter Kaufmannssohn, in einem Hotel und später mit zwei Kameraden hier aus dem Tal in einer Privatwohnung absteigen. Zudem hatte ich genug Freizeit, um mich weiterzubilden, der Musik zu widmen und sogar eine Abhandlung über die Geschichte des Artilleriewesens zu schreiben.
Nach dieser Lebensetappe wurde es spannend für mich: Ich durfte reisen! Mein Vater sah es für meine berufliche Zukunft als sehr sinnvoll an, in der weiten Welt Erfahrung zu sammeln. Mit der Kutsche ging es in den Süden von Deutschland, nach Österreich, in die Schweiz und weiter gar bis nach Venetien. Strenge Auflage war dabei: Ich musste akribisch über meine Begegnungen und Erlebnisse nach Hause berichten!
Danach, mit gerade mal zweiundzwanzig, wurde ich vollwertiger Mitarbeiter unseres großen Barmer Familienbetriebs. Unserem Herrgott und meinem Vater sei gedankt: Ich konnte fast gleichberechtigt mit ihm, seinem Bruder Benjamin und meinem älteren Bruder Johann Caspar die Firma leiten und zu neuer wirtschaftlicher Bedeutsamkeit entwickeln. Man hatte gar so viel Vertrauen in mich, dass man mir die alleinige Verantwortung für die familieneigenen Schreinerwerkstätten übertrug. Und unsere Schmieden durfte ich, wie du ja längst weißt, zu einer feinmechanischen Werkstatt ausbauen! Du hörst heraus: Die industrielle Entwicklung schreitet voran und unser Wupper-Tal braucht Impulse und konkretes ‚Knowhow‘, wie man später vielleicht einmal sagen wird, von außen! Dies wurde auch der Grund für weitere Reisen ins Ausland – nach Frankreich, nach Italien und vor allem nach England ... doch darüber mehr an einem anderen Tag!«
Ich muss nicht erzählen, wie erschöpft ich nach diesem Vortrag war. So offen hatte mein Vater tatsächlich mir noch nie sein früheres Leben dargestellt und viele Fragen lagen mir auf der Zunge. Mehr noch: Am liebsten hätte ich ihn gleich gefragt, ob er mich später auch ins Ausland ziehen lässt. Dies unterließ ich tunlichst, denn die Bedingungen waren ja schon herauszuhören: Friedrich Junior muss oder soll dann mit Friedrich Senior und Gott weiß wem zusammen dieses Engels-Imperium – so empfinde ich unseren Besitz inzwischen – führen ...
Gute Nacht!
Ich müsste eigentlich sehr glücklich sein: Schon als Zwerg – mein Vater nannte mich ‚Herzenstippel‘, weil ich wohl so zappelig und lebhaft war – wurde ich mit lustigen Versen, Liedern und kleinen Gedichten unterhalten. Vor allem meine Mutter konnte mich so ein wenig zur Ruhe bringen: Ich musste dann gut zuhören, um das Gereimte möglichst schnell auswendig zu lernen.
Eines der ersten Lieder, an das ich mich erinnern kann, ist das über den ‚Butzemann‘:
Es tanzt ein Butzemann
In unserem Haus herum di dum
Er rüttelt sich, er schüttelt sich,
Er wirft sein Säckchen hinter sich.
Es tanzt ein Butzemann
In unserm Haus herum.
Natürlich hab ich jahrelang in allen Ecken unseres Hauses nach dem Butzemann gesucht. Vor allem hätte mich interessiert, was er in seinem Säckchen drin hatte ...
Da es ja in unserer fruchtbaren Engels-Familie nach mir fast alle zwei Jahre neuen Nachwuchs gab, konnte ich ein Geschwisterchen nach dem anderen mit diesen Reimen beglücken. Und dabei merkte ich schon bald, dass in mir selber offenbar ein Dichter schlummerte, der aber zu schüchtern war, das zu gestehen.
Je origineller die Texte, desto mehr fühlte ich mich angesprochen:
Warum?
Darum.
Warum denn darum?
Um die Krumm.
Warum denn um die Krumm?
Weil’s nicht grad ist.
Erst viel später erfuhr ich den Titel des Buches, in dem die berühmten Schriftsteller Achim von Arnim und Clemens Brentano solche Texte gesammelt und aus altem deutschen Volksgut überliefert hatten: ‚Des Knaben Wunderhorn‘. Genau solch ein Wunderhorn wünschte ich mir schon als kleiner Junge. Die einzige Person, der ich solche Gedanken offen anvertrauen konnte, war Marie. Sie war zwar über drei Jahre jünger als ich – doch schon in jungen Jahren war sie mir am nächsten von allen Geschwistern. Und wenn sie nachsang, was Mama uns Kindern oft mit einem hintergründigen Schmunzeln beim Schlafengehen vortrug, dann war ich gerührt und musste oft eine Träne verdrücken:
Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?
Das sind die lieben Gänslein, die haben kein‘ Schuh‘.
Der Schuster hat’s Leder, kein Leisten dazu.
Drum gehen die lieben Gänse und haben kein‘ Schuh‘.
Ja, so ist das mit den Gänsen ...
Doch schon damals sah ich die vielen armen Kinder in unserer Stadt, die bei Wind und Wetter und gar bei Eis und Schnee ohne vernünftiges Schuhwerk unterwegs sein mussten – wie ungerecht ist eigentlich diese Welt!?
Ich selber versuchte mich heimlich an der Dichtkunst, unter anderem angeregt durch Ferdinand Freiligrath, der später auch in Barmen lebte. Gerade mal 10 Jahre älter als ich, verdiente er seine Brötchen als Kaufmannsgehilfe. Längst nicht so begabt wie die großen Goethe und Schiller, war er dennoch ein Weltgeist, ein Mann mit ausgefallenster Fantasie und vor allem ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Und ich, als gerade mal Fünfzehnjähriger, versuchte ihm nachzutun:
Mir dämmert in der Ferne
So manches holde Bild,
Wie durch die Wolken Sterne
Leuchten zart und mild.
Sie nahn sich – ich erkenne
Schon ihre Gestalt,
den Tell seh‘ ich, den Schützen,
Siegfried, den Drachen ungestalt,
mir nahet Faust der Trotz’ge,
Achilles tritt hervor,
Bouillon, der edle Degen
Mit seiner Ritter Chor,
es naht – lacht nicht, Brüder –
Don Quixote der Held, der auf dem edlen Rosse
Durchzieht die weite Welt.
So kommen sie und schwinden
Wie sie vorüber ziehn;
Kannst du sie binden?
Hemmen ihr schnelles Fliehn?
Oft mögen sie dir erscheinen,
Der holden Dichtung Gebild,
Daß sie die Sorgen zerstreuen,
wie sie dir nah’n so mild!
Muss ich mehr sagen zu dem, was mich damals beschäftigte, und wer meine bewunderten Helden waren? Der einzige, der mich verstehen würde und dem ich so viele dichterische Anregungen verdanke, ist mein verehrter Großvater in Hamm. Der allerdings ist momentan sehr krank und ich darf ihn nicht besuchen – ungemein bedrückend!