Auf den Günther! - Kerstin Liemann - E-Book

Auf den Günther! E-Book

Kerstin Liemann

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Beschreibung

Sven Ackermann, Violinist, 32 Jahre jung, ist gerade erst ins Dorf gezogen und will nach dem Wochenende seine neue Stelle an der Neuen Philharmonie in der Nachbarstadt antreten. Er hat seinen alten Job und seine Freundin verlassen und ist froh, endlich seine Ruhe zu haben. Am heutigen Freitag freut er sich auf sein erstes Frühstück im neuen Zuhause. Als er vor der Bäckerei in der Schlange steht, um frische Brötchen zu kaufen, soll aber alles ganz anders kommen. Es wird dauern, bis er heute feste Nahrung zu sich nimmt. Was er bis dahin erlebt, ist das Gegenteil von Ruhe, denn die Dorfbewohner sind offensichtlich ziemlich speziell...

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Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind, andere gibt’s nicht.

Konrad Adenauer

Inhaltsverzeichnis

Kapitel EINS

Kapitel ZWEI

Kapitel DREI

Kapitel VIER

Kapitel FÜNF

Kapitel SECHS

Kapitel SIEBEN

Kapitel ACHT

Kapitel NEUN

Kapitel ZEHN

Kapitel ELF

Kapitel ZWÖLF

Kapitel DREIZEHN

Kapitel VIERZEHN

Kapitel FÜNFZEHN

Kapitel SECHZEHN

Kapitel SIEBZEHN

EINS

Der Zufall hatte mich in dieses Dorf gespült. Nach meinem Studium an der Musikhochschule und einigen Jahren der Dozententätigkeit, hatte ich mich endlich ins wahre Leben stürzen wollen. In drei Tagen sollte es starten.

Ich hatte mich erfolgreich auf die Stelle an der Neuen Philharmonie in Rikelingen beworben, wo man scheinbar einen neuen Violinisten brauchte. Eine Aufgabe, auf die ich mich wirklich freute. Alles war neu, denn ich hatte nicht nur die Großstadt, sondern mit ihr auch gleich meine Freundin verlassen, die in den letzten Monaten nicht müde geworden war, mich von der Idiotie meiner Pläne zu überzeugen. Sie hatte nicht verstehen wollen, warum ich den Ausblick auf eine glänzende Universitätskarriere zugunsten einer kleinen Violinisten-Stelle in Westfalen aufgeben wollte. Sie war im Grunde immer unerträglicher geworden, und letzten Endes war ich eigentlich nur noch froh, meine Zukunft ohne sie zu planen.

Auf der Suche nach einer Bleibe hatte ich mich bewusst für den dörflichen Ortsteil ganz im Osten der Stadt entschieden und war im Laufe der Woche in die Erdgeschosswohnung eines Zweifamilienhauses gezogen.

Mein Freund Bernd hatte mich noch gewarnt.

„Zieh da nicht hin! In so ’nem Dorf kriegst du kein Bein an die Erde! Glaub mir – da kannst du nicht glücklich werden.“

Aber er wusste ja nicht, wie sehr ich die Nase voll hatte von der ständigen Hektik und dem täglichen Kampf ums Überleben mit dem Fahrrad im Großstadtverkehr. Hier, so stellte ich es mir vor, würde ich das bekommen, was ich wollte, nämlich meine Ruhe. Und wenn die Dorfbewohner mit mir nichts anfangen konnten, dann sollte mir das nur recht sein.

So kam es, dass ich mich an diesem Freitagmorgen in der Schlange vor der alten Bäckerei wiederfand, entspannt und voller Vorfreude auf mein erstes Wochenendfrühstück im neuen Zuhause.

Dass dann alles ganz anders kommen sollte, konnte ich nun wirklich nicht ahnen.

ZWEI

Die Bäckerei lag mitten im Dorfkern und offensichtlich hatte irgendwer das Schild aus den Anfängen der Corona-Pandemie am Eingang einfach hängen lassen. Anders war es nicht zu erklären, warum sich an diesem noch kühlen Aprilmorgen tatsächlich immer nur zwei Frühstückswillige im Verkaufsraum aufhielten und der Rest der Dorfgemeinde geduldig vor der Tür wartete. Ich zählte vier Menschen vor mir und registrierte drei weitere hinter mir, von denen einer soeben an sein Handy ging.

„Ja, Heinz hier. Ach du lieber Himmel! Was ist passiert? Ja, wie kommt das denn? Hmmm. Nein! Eine Katastrophe! Da kannste mal sehen, wie schnell das geht. Mannmannmann. Hörmal, Elsbeth, ruf doch bitte die Ingrid an. Sag‘ ihr, Frühstück fällt aus. Ich muss jetzt gucken, wie wir das hinkriegen. Viel Zeit ist ja nicht. Gut, soll nicht deine Sorge sein. Sag‘ ihr, wir treffen uns dann um kurz vor elf vor Ort. Und jetzt erstmal gute Besserung an den Wilfried, hörst du?! Halt‘ die Ohren steif!“

Ich drehte mich ein wenig zur Seite, um mir einen verstohlenen Blick auf den Handymann zu ermöglichen, was aber gründlich misslang, denn ich stellte fest, dass der mich tatsächlich bereits von oben bis unten musterte und mir dann unverwandt in die Augen schaute.

„Sie tragen schwarz“, bemerkte er, völlig zu Recht.

Ich hatte irgendwann beschlossen, einfach immer nur schwarze Klamotten zu kaufen, das vereinfachte vieles. Und so stand ich hier mit meinem verwaschenen, schwarzen Lieblings-Hoodie unter einer schwarzen Cordjacke über schwarzer Jeans und den obligatorischen DocMartens an den Füßen.

„Ja“, antwortete ich folgerichtig, „Sie aber auch.“

„Und Sie sehen kräftig aus.“

Ich ließ das unkommentiert, dachte aber, dass für den älteren Herrn vor mir vermutlich so ziemlich jeder Mann über einssiebzig einen regelrechten Hünen darstellen musste.

„Sagen Sie, haben Sie heute schon was vor?“, fragte er.

„Naja – frühstücken.“

„Sonst nix?“

„Sonst nix.“

Langsam fragte ich mich, worauf das Ganze hinauslaufen würde. Es war schon verrückt – auf eine Ansprache dieser Art wäre in der Stadt, in der ich bis gestern gelebt hatte, niemand gekommen.

„Das ist gut“, sagte er, „das ist sehr gut!“

Er zog mich an meinem Ärmel aus der Warteschlange, zurück auf den Gehsteig. „Sie müssen uns helfen! Wir brauchen einen sechsten Mann. Kommen Sie!“

Ich blieb natürlich stehen, als er vorauseilte, und blickte ihm hinterher.

„Worum geht es denn bitte? Was soll das?“, fragte ich in seinen Rücken. Er wandte sich um.

„Der Wilfried ist ins Krankenhaus gekommen und wir müssen doch gleich den Günther unter die Erde bringen! Das geht nicht mit fünf Mann – da kippt der nachher noch vor der Grube um.“

„Bitte was?“ Ich musste mich kurz sammeln. Hatte ich das gerade richtig verstanden?

Er kam die paar Schritte zurück, baute seine Einmetersechzig vor mir auf und schaute mich an, als sei ich schwer von Begriff.

„Mann! Der Günther ist vor vier Tagen tot umgefallen – Herzinfarkt, mit 83. Also wird er heute unter die Erde gebracht und natürlich werden wir ihn als alte Kumpels auf seinem letzten Weg nicht allein lassen. Eigentlich wären wir noch genau sechs gewesen, das reicht, um ihn ordentlich ins Grab fahren zu lassen. Aber jetzt ist vorhin der Wilfried ins Krankenhaus gekommen – ham‘ se doch gehört, Mann! Ich habe doch gerade mit seiner Frau telefoniert. Die ist völlig fertig, die Elsbeth. Ja, und ich kann jetzt zusehen, wo ich schnell einen sechsten Mann herkriege. Da kommen Sie mir grade recht!“

Er blickte mich verzweifelt an und faltete seine Hände in schönster Dürer-Manier. „Bitte, Sie müssen uns helfen! Für den Günther!“

Das war ja nicht zu glauben. Ich blickte zum Himmel und atmete erst einmal ein und aus. Als ich wieder nach unten blickte, hatte sich an der Ausgangssituation allerdings nichts geändert. Er stand da und blickte mich immer noch genauso flehend an. Und noch bevor ich überhaupt etwas entgegnen konnte, griff er wieder beherzt meinen Jackenärmel und zog mich zu einem nicht mehr ganz taufrischen Mercedes.

„Aber ich habe nicht mal gefrühstückt“, war alles, was ich noch entgegenzusetzen hatte. Ich konnte nicht fassen, dass ich mich tatsächlich von diesem Hutzelmännchen die Straße hinauf zergeln ließ.

„Macht nichts“, antwortete er schnell, während wir beide in die alten Ledersitze sanken, „glauben Sie mir – nachher gibt es genug zu essen! Das soll Ihr Schaden nicht sein!“

Und schon schmiss er die alte Kiste an und wir fuhren, wie von allen guten Geistern verlassen, die Dorfstraße hinauf, Richtung Friedhof.

DREI