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Einen Tag vor ihrem siebzehnten Geburtstag wacht Charlie in einem dunklen Raum auf. Sie hat keine Ahnung, was passiert ist. An der Wand entdeckt sie schließlich eine Liste mit sechzehn Mädchennamen. Dann hört sie eine verzerrte Stimme: »Es geht gleich los. Versuch nicht zu fliehen! Du wirst es nicht überleben, genauso wenig wie all die anderen vor dir ...« Die Stimme erteilt ihr Aufträge, und Charlie hat nur ein paar Stunden Zeit, um diese zu erfüllen. Der Deal: Wenn sie es schafft, wird sie freigelassen. Wenn nicht, droht ihr der Tod. Doch die Aufträge verlangen Unmögliches von Charlie, und schnell wird aus Fassungslosigkeit Panik. Aber es muss doch einen Weg für sie geben, um zu entkommen?
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Seitenzahl: 192
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Titel
Trigger
Widmung
3 Tage vorher
Donnerstagmorgen 07:15 Uhr
Donnerstagmorgen 08:29 Uhr
Donnerstagmorgen 10:45
BEFRAGUNG 1
Donnerstagnachmittag 14:49 Uhr
Donnerstagnachmittag 15:21 Uhr
Donnerstagnachmittag 16:07 Uhr
BEFRAGUNG 2
Donnerstagabend 18:52 Uhr
2 Tage vorher
Freitagmorgen 09:10 Uhr
BEFRAGUNG 3
Freitagnachmittag 16:33 Uhr
BEFRAGUNG 4
Freitagnachmittag 16:56 Uhr
Freitagabend 18:22 Uhr
BEFRAGUNG 5
BEFRAGUNG 6
FÜR CHARLIE
TRIGGERWARNUNG
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
Mel Wallis de Vries
Auf der Mauer,auf der Lauer
Übersetzung aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Liebe Leser:innen, dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Dazu findet ihr eine Triggerwarnung am Ende des Buches. ACHTUNG: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch. Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis. Euer Team vom ONE-Verlag
Für alle, die mit der Wahrheit umgehen können.
Auch der über sie selbst.
Und sorry für den Schock, den du noch Tage nach dem Lesen der letzten Seite spüren wirst ...
Mal angenommen, ich könnte mein jüngeres Ich treffen, das von vor zehn Jahren. Fünf Minuten in so einer Art Zeitportal. Was würde es mich dann fragen?
»Charlie, bin ich immer noch das fröhliche, unbefangene Mädchen, das immer lacht und am liebsten im Eisköniginnenkleid zur Schule geht?«
»Nein, schon lange nicht mehr. Du weißt jetzt ganz genau, was man anzieht und was lieber nicht, mit wem du Umgang hast und mit wem nicht. Und darin bist du ziemlich gut geworden.«
»Wie geht es Oma und Opa?«
»Opa ist leider vor ein paar Jahren gestorben. Er fehlt dir sehr. Und du hast von mehr Menschen Abschied nehmen müssen, bei denen du es nicht erwartet hättest.«
»Will ich immer noch Kinderärztin werden und im Ausland studieren?«
»Nein, den Traum hegst du schon lange nicht mehr. Du hoffst jetzt vor allem, dass du nächstes Jahr deinen Schulabschluss schaffst, denn du stehst superschlecht da mit fünf Sechsen.«
»Bin ich glücklich?«
»Das hängt davon ab, wie du Glück definierst. Du überstehst die Tage, wenn du das meinst.«
»Hast du noch Tipps für später?«
»Ja, mach bitte nicht dieselben Fehler.«
»Wie meinst du das?«
»Vielleicht muss ich offener zu dir sein: Du wirst es nicht überleben.«
Der Wald ist ein dunkles Loch mit Klauen. Äste und Dornen schneiden mir in die Haut, mit der Schulter streife ich einen Baum. Aber ich bleibe nicht stehen. Nicht einmal als ein spitzer Ast meine Schuhsohle durchbohrt und ich Galle hinten im Rachen schmecke.
Anhalten ist keine Option. Anhalten wäre mein Tod. Und auch ihrer ...
Also renne ich weiter, während die Tränen nur so über meine Wangen strömen.
Hinter mir höre ich jemanden schreien, knackende Zweige. Ich wage es nicht, mich umzusehen, und laufe immer weiter. Aber es ist wie in einem Albtraum, in dem nichts gelingt. Wegen der dicken Blätterschicht komme ich kaum voran, und es fühlt sich an, als käme ich keinen Schritt weiter. Mein Instinkt übernimmt, lenkt mich mitten durch die Bäume, lässt mich ohne ersichtlichen Grund nach links abbiegen.
Dieser dämmrige Wald ist zu meiner neuen Wirklichkeit geworden, alle anderen Erinnerungen sind weg.
Ich weiß nur noch, dass ich durch einen abscheulichen, finsteren Ort gelaufen bin. Irgendwo in der Ferne schimmerte Licht, und ich wusste, das ist meine einzige Chance. Geschrei. Ein lauter Knall dicht hinter mir. In Panik rannte ich auf den verschwommenen Lichtschein zu. Ich sah Himmel. Bäume. Es sah aus wie draußen.
Und dann hörte ich ihre Stimme ...
Sie schrie, rief meinen Namen.
Ich begann zu rennen. Und rannte immer weiter. Ich rannte, ohne zu schauen, wo ich vorbeikam.
Hör gut zu, Charlie, hier gilt nur eine einzige Regel. Du darfst das Gebäude nicht verlassen. Verstehst du das?
Ich hatte wieder nicht gehorcht ...
Also renne ich weiter und versuche, nicht an die schnellen Schritte hinter mir zu denken. Schweiß rinnt über mein Gesicht, gemischt mit Tränen. Hilf mir, bitte, denke ich. Oh, lieber Himmel, bitte hilf mir.
Und dann stürme ich auf eine Lichtung. Gehetzt schaue ich mich um. In welche Richtung muss ich? Wo ist -
»Ch-Charlie!«
Ich höre ihre Stimme, bevor ich sie sehe. Sie steht auf der gegenüberliegenden Seite zwischen den Bäumen. Reglos, als könne sie sich nicht bewegen.
»Nicht näher kommen!«, ruft sie. »D-Das hat er gesagt.«
Ich sehe ihre Brust, die sich ruckhaft hebt und senkt, ihre weit aufgerissenen Augen.
Vergib mir, bitte, denke ich. Was habe ich getan?
Strauchelnd mache ich einen Schritt in ihre Richtung. Meine Beine zittern, und ich muss mich sehr anstrengen, in der Senkrechten zu bleiben.
Wortfetzen treiben auf mich zu, aber ich kann sie nicht zusammenbringen. Alles kostet so viel Kraft.
Ihr Mund öffnet sich; ich glaube, sie ruft um Hilfe.
Ich bin fast da, sage ich lautlos. Halte durch, bitte.
Im selben Moment höre ich einen dumpfen Knall.
Es ist, als würde die Zeit stehenbleiben, als würde sich alles verlangsamen.
»Nein!«, schreie ich, aber meine Worte sind zu langsam. Sie werden eingeholt vom abscheulichen Geräusch einer Kugel, die durch die Luft schnellt.
Den Bruchteil einer Sekunde später bricht sie zusammen. Steh auf, denke ich, lauf weg! Doch sie bleibt bewegungslos auf dem Rücken liegen, die Augen halb geöffnet.
Ich stolpere nach vorn. Meine Muskeln flehen mich an, es aufzugeben. Aber ich muss zu ihr. Einen Moment lang hoffe ich, dass sie nur bewusstlos ist. Aber dann sehe ich das Blut, das an ihrer Schläfe hinunterrinnt, und die Erde neben ihrem Gesicht, die sich langsam schwarz färbt.
Und ich weiß, dass alles vorbei ist.
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Oder vielleicht doch, irgendwie. Aber es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Ich möchte, dass du mich verstehst, dass ihr mich versteht. Dass du nicht denkst, ich bin verrückt oder egoistisch oder ein Monster. Ich habe mir ein Heft gekauft, um alles aufzuschreiben, und starre jetzt auf die weißen Seiten. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, doch alles läuft kreuz und quer.
Eins weiß ich jedoch genau: Es muss aufhören. Vielleicht glaubst du jetzt, dass ich dich hasse und dir wehtun will. Aber das stimmt nicht. Ich liebe dich. Ich liebe euch alle sehr. Aber manchmal fällt es schwer, den Unterschied zwischen Hass und Liebe zu erkennen. Sogar jetzt, wo es fast so weit ist, schießen die Gefühle in alle Richtungen. Die Zeit vergeht schnell und langsam zugleich. Ich habe alles so gut vorbereitet, aber trotzdem schreckliche Angst.
... I want you to know ... I'm a mirrorball ... I'll show you every version of yourself tonight ...
Wäre ich nur irgendwo anders! Könnte ich doch einfach an einen anderen Ort verschwinden. Oder noch besser: in ein anderes Leben. Dann müsste ich jetzt nicht in die Schule, sondern säße vielleicht mit Olaf neben mir an einem tropischen Strand. Er würde mir ins Ohr flüstern: »Charlie, you're amazing, ich liebe dich wirklich, egal, was die Leute sagen. Glaubst du mir?«
»Ja, und ich liebe dich auch«, würde ich sagen und seinen Kuss erwidern.
Ich rolle mich auf die Seite und prüfe auf meinem Handy, ob Olaf zufällig in diesem Augenblick auch an mich denkt. Aber ich habe nur drei Nachrichten von Isolde und zwölf in der Gruppe Charlies Sweet Seventeen, wahrscheinlich mit der Frage, ob ich schon ein Partythema habe. Seufzend klicke ich mein Display schwarz. Wenn ich die Nachrichten jetzt lese, muss ich sie auch gleich beantworten, sonst sehen sie, dass ich online war. Und darauf habe ich morgens um Viertel nach sieben keine Lust. Irgendwie war es ziemlich entspannend, als ich mein Handy letzte Woche für einen Tag verloren hatte.
Ich starre zu meinem Fenster hinüber. Zu beiden Seiten des Vorhangs fällt das erste Morgenlicht ins Zimmer. Ich halte den Atem an, bis schwarze Flecken vor meinen Augen tanzen. Ob das auch so ist, wenn man stirbt? Wird alles immer schwärzer, bis man kein Licht mehr sieht? Und was würde man in dieser allerletzten Millisekunde empfinden? Bedauern? Wut? Blinde Panik?
Reiß dich zusammen, Charlie. Gehst du dir eigentlich nie selbst auf die Nerven? Hol einfach Luft!
Mit einem tiefen Seufzen wälze ich mich auf den Rücken. Ich der Küche höre ich jede Menge Geräusche. Wahrscheinlich ist meine Mutter schon seit Stunden wach.
»Sind die Schoko Pops alle?«, ertönt Finns helle Jungenstimme.
»Im Schrank steht eine neue Packung, Schatz.«
»Danke schön, Mami.«
Ich höre, wie sie lachen.
Manchmal bin ich neidisch auf Finn. In der Grundschule ist das Leben noch so einfach. Nur war mir das damals leider nicht bewusst.
Die Küchentür öffnet sich, und ich höre Schritte im Flur.
»Charlie!«
Die Stimme meiner Mutter klingt jetzt um einiges unfreundlicher und lauter.
»Du muss jetzt aufstehen, sonst kommst du wieder zu spät.«
Sie hat recht. Meine morgendliche Routine kostet mich bestimmt eine halbe Stunde: Haare waschen, föhnen, stylen mit einer Lockenbürste, Make-up und anziehen.
»Charlie, ich will nicht schon wieder einen Anruf von deinem Tutor kriegen.« Kurze Pause. »Bitte, ich habe keine Lust, nach oben zu kommen!«
»Jahaaa, ich bin schon aufgestanden«, rufe ich schnell zurück, während ich aus dem Bett rutsche. Ich klinge heiser, und mein Mund ist trocken. Ich sollte weniger rauchen, denke ich, während ich einen BH und ein Oberteil vom Boden aufhebe.
Im Flur ist es eiskalt, und ich habe überall Gänsehaut, bis ich im Bad bin. Schnell drehe ich die Dusche auf und stelle das Thermostat auf 40 Grad Celsius. Charlie, ist dir eigentlich klar, wie teuer Duschen geworden ist? Du musst das Wasser keine halbe Stunde laufen lassen, das mache ich auch nicht, höre ich meinen Vater in Gedanken sagen. Selbst in meinem Kopf klingt es wie eine Litanei. Er ist so reich, dass ich echt nicht kapiere, wieso er sich über mein Duschritual aufregt.
Zitternd steige ich unter das warme Wasser und schließe die Augen. Ich überlege, welche Stunden ich heute habe, aber es will mir nicht einfallen. Manchmal kommt es mir so vor, als wären alle Tage gleich, wie ein endloser grauer Strom.
Eine Dreiviertelstunde später laufe ich die Treppe hinunter in Richtung Küche. Meine dunkelblonden Haare liegen in leichten Wellen über meinem neuen kurz geschnittenen Pullover, dessen dunkelblauer Ton meinen Teint besonders gut zur Geltung bringt. Über die Handykamera checke ich zum letzten Mal mein Make-up. Mascara, Highlighter, Concealer, Lipgloss. Alles perfekt aufgetragen. Trotzdem sehe ich müde aus. Ich strecke mir selbst die Zunge raus und verstaue mein Handy in meiner Gesäßtasche.
Ein paar Sekunden bleibe ich vor der verschlossenen Küchentür stehen.
Ich habe absolut keine Lust, hineinzugehen. Auf der anderen Seite der Tür höre ich meine Mutter und Finn reden. Sie fragt, ob er noch mehr Schoko Pops will, und er antwortet etwas Unverständliches.
Widerwillig drücke ich die Klinke herunter. Meine Mutter starrt mich an, als könne sie es nicht glauben.
»Schau an, wen haben wir denn da? Es ist ein Wunder«, sagt sie. »Du hast noch exakt drei Minuten zum Frühstücken. Hättest du nicht etwas früher aufstehen können?«
»Mein Handywecker hat nicht geklingelt«, behaupte ich, ohne sie dabei anzusehen. »Ich verstehe auch nicht, wie das möglich ist.«
»Ich dachte, du bist krank«, sagt Finn mit vollem Mund. Er hat einen Kakaoschnurrbart.
»Nein, Zwerg, mir geht's super.« Ich streichele ihm lachend über den Kopf. »Sind sie lecker?«
»Die sehen aus wie braune Kotze, guck«, sagt er und zerdrückt die Kügelchen in der Milch.
»Finn!«
»Tschuldigung, Mami«, murmelt er in wenig schuldbewusstem Ton.
Ich nehme einen Apfel aus der Obstschale und beiße hinein.
Den Blick meiner Mutter sehe ich sehr wohl. Ich weiß, dass es sie ärgert, wenn ich mich nicht an den Tisch setze, um in Ruhe zu frühstücken, aber ich weiß auch, dass sie nichts dazu sagen wird, weil sie keine Lust auf noch mehr Streit hat.
Sie seufzt tief. »Ich soll dich von deinem Vater fragen, ob du die endgültige Gästeliste für dein Geburtstagsessen hast.«
»Hm«, murmele ich, während ich den Apfelbissen runterschlucke. »Ich maile ihm die Namen heute Nachmittag.«
»Das Fest ist in zehn Tagen, Charlie, und Sonntag hast du schon Geburtstag. Wir müssen unbedingt das Catering bestellen und Tische mieten. Du kannst nicht erwarten, dass all diese Leute ...«
»Jahaa, ich mache es heute Nachmittag«, falle ich ihr ins Wort. »Papa ist doch jetzt sowieso in Dubai.«
Mein Vater arbeitet ständig. Und wenn er nicht im Büro ist, sitzt er hier im Arbeitszimmer in irgendeinem wichtigen Call mit einem Investor. Früher hat er mir oft bei Hockeywettkämpfen zugeschaut oder wir haben lange Spaziergänge am Strand gemacht und anschließend heißen Kakao mit Sahne getrunken. Dann konnten wir stundenlang reden. An das letzte Mal, dass ich richtig mit ihm geredet habe, kann ich mich kaum erinnern. Es ist, als wären wir alle zu kleinen Inseln geworden. Wir sind noch immer da, doch wir leben alle in unserer eigenen Welt.
»Mailst du ihm dann auch, wie viele Gänge du willst?« Meine Mutter kommt auf mich zu.
Ich drehe mich schnell um und stopfe den Apfel in meine Schultertasche.
»Charlie ...«
»Mam, ich muss jetzt echt los.«
»Du hast Oma doch nicht vergessen?«, fragt meine Mutter.
Einen Moment lang habe ich keine Ahnung, wovon sie spricht. »Äh, nein, ich glaube nicht.«
Sie schüttelt den Kopf. »Charlie, Oma kommt heute Nachmittag vorbei. Das habe ich dir schon dreimal erzählt. Du weißt, wie gern sie euch sehen möchte.«
Ich zucke mit den Schultern. Wenn Oma da ist, will sie die ganze Zeit mit mir reden. Was soll ich sagen, wenn sie wissen will, wie es mir geht?
»Sie bleibt bis gegen sechs. Vielleicht kannst du nach der Schule ...«
Ich gehe in den Flur und bringe meine Mutter damit zum Schweigen.
»Ja, ist gut!«, rufe ich. »Sorry, aber ich muss jetzt echt los.« Noch kurz bevor ich die Küchentür zuwerfe, sehe ich, dass meine Mutter die Augen niederschlägt. Mit einem miesen Gefühl verlasse ich das Haus.
Manchmal weiß ich nicht, warum ich so unfreundlich zu ihr bin. Das ist zu einer Art Automatismus geworden. Ich beiße mir auf die Lippe und schiebe mein Rad von seinem Platz unter dem Vordach zum Bürgersteig.
Ein weißer Lieferwagen fährt die Straße hinunter. Ich höre, wie der Nachbar seinen Müllcontainer über den Kies zieht. Das schwache Tageslicht berührt zart mein Gesicht. Noch ein paar Wochen, und es ist Mitte November. Und dann ist es genau ein Jahr her ...
Plötzlich sehe ich ihn. Auf der anderen Straßenseite schlendert ein Junge vorüber, die geparkten Autos versperren teilweise die freie Sicht auf ihn. Er trägt eine dicke Winterjacke, die Kapuze hat er weit ins Gesicht gezogen, als würde es heftig regnen.
Spinnt der?, denke ich und kann ein Lachen nicht unterdrücken. Es ist, als würde er spüren, dass ich über ihn lache, denn plötzlich dreht er mir den Kopf zu. Im Schatten der Kapuze ist sein Gesicht kaum zu sehen.
Ich fühle mich ertappt und springe schnell auf mein Rad. Erst nach einigen Minuten traue ich mich, einen Blick über die Schulter zu werfen. Der Junge ist weitergegangen.
Was für ein Trottel ...
Ohne mich noch mal umzusehen, fahre ich weiter. Schlenkernd angele ich mein Handy aus der Hosentasche. Ich habe noch exakt acht Minuten, um alle Nachrichten zu lesen und zu beantworten.
Isolde und Stella sind schon da, als ich in den Klassenraum komme. Sie sitzen nebeneinander, die Köpfe vorgebeugt, als hätten sie sich etwas zu erzählen, was der Rest der Klasse absolut nicht hören darf. Das ist der Nachteil, wenn man als Letzte reinkommt, dass ich jetzt allein sitzen muss ... Zum Glück sind die beiden Tische vor Isolde und Stella noch frei ...
»Hi«, sage ich, als ich mich auf den Stuhl schiebe.
Das Gespräch bricht sofort ab, und beide schauen mich an. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass sie gerade über mich gesprochen haben.
»Hey, Charlie!« Isolde lächelt mich an.
Stella nickt mir zu. »Hast du einen neuen Pulli?«
»Ja.« Ich ziehe meinen Laptop aus der Tasche. »Am Wochenende bei Zara gekauft.«
»Schöne Farbe.« Sie lächelt ebenfalls. »Vielleicht kaufe ich den auch.«
»Hm, im Ernst?«, fragt Isolde. »Ich glaube, dir steht ein etwas längeres Model besser.«
Die Bemerkung an sich ist nicht unfreundlich, aber trotzdem sehe ich, wie Stella kurz die Stirn runzelt. Nach ein paar Sekunden beginnt sie zu lachen, als wäre nichts gewesen. »Ja, du hast recht. Bauchfreie Tops sind nicht so ganz mein Ding. Wir können aber trotzdem in der Stadt gucken, ob es noch andere hübsche Modelle gibt, okay?«
Wir kennen uns schon seit der ersten Klasse der Orientierungsstufe, doch manchmal herrscht so eine Art unterschwellige Konkurrenz zwischen uns, die ich nicht genau benennen kann, aber durchaus spüre.
Für die Außenwelt sehen wir uns vermutlich ähnlich, weil wir denselben Kleidungsstil haben, ähnliche Frisuren tragen und zu denselben Partys gehen, aber wir sind dennoch sehr verschieden.
Isolde ist von Natur aus schön, vielleicht die Schönste aus unserer Gruppe. Sie hat wegen ihrer mandelförmigen Augen und den kerzengerade gestylten blauschwarzen Haaren etwas Geheimnisvolles an sich. Die Jungs schauen ihr immer hinterher. Mädchen im Übrigen auch, aber dann mit neidischem Blick, weil sie auch so aussehen wollen.
Stella muss sich für alles ein bisschen mehr anstrengen. Ich habe sie noch nie ohne Make-up gesehen. Sie hat ihre rötlichen Haare genauso schneiden lassen wie Isolde, aber bei ihr sind die Curtain Bangs zu einem strähnigen Pony geworden. Außerdem versucht sie schon seit Jahren, ein paar Kilo abzunehmen. Sie weiß gar nicht, wie schön sie eigentlich ist, glaube ich.
Stella schubst Isolde an. »Wir müssen auch zu H&M und Brandy Melville. Und zu Douglas, ich will diesen Cleanser von The Ordinary.«
»Ich muss um sechs zu Hause sein.« Isolde fährt sich mit einer Hand durch die Haare. »Ich habe Mathenachhilfe, dafür hat meine Mutter gesorgt.«
»Aber warum? Du stehst auf einer 3,7!«, ruft Stella.
»Für meine Eltern ist das ein Ungenügend«, sagt sie. »Du weißt doch, wie sie sind.«
Trotz ihres Lächelns wirken ihre Augen matt. Wahrscheinlich haben ihre Eltern ihr wieder eine Predigt gehalten wegen ihrer Noten. Sie sind nicht gerade leicht zufriedenzustellen. Isolde zieht es immer ein wenig ins Lächerliche, aber ich weiß, wie sehr es sie trifft. Das hat sie letzten Sommer auf Texel erzählt, als wir zu dritt dort gezeltet haben. Die Sonne schien, der Himmel war blau, niemand kannte uns dort. Das fühlte sich so frei an. So sorglos. Es war, als könnten wir alles miteinander teilen, auch die Dinge, die wir uns noch nie erzählt hatten. Als trauten wir uns plötzlich auch alles. Auf der Rückfahrt mit der Fähre sagte Isolde: »Dieser ... diese Ferien waren toll. Es fühlt sich so an, als könnte ich nur bei euch ich selbst sein.«
Wir legten alle drei die Hände übereinander und sagten: »Best friends forever.«
Ein Versprechen, das lange her scheint. Alles ist in letzter Zeit so kompliziert geworden.
»Okay, dann machen wir es so«, höre ich Stella sagen. »Wir gehen gleich nach der letzten Stunde. Und Starbucks lassen wir aus, sonst schaffen wir das nie.«
»Kommt nicht infrage, du hast mir eine Karamell-Macchiato versprochen«, sagt Isolde mit einem Grinsen. »Du hast doch auch nach der Siebten Schluss, Charlie?«
»Äh ja, wieso?«
»Wir gehen shoppen für Yasmins Party, das haben wir doch schon vor zwei Wochen abgesprochen. Oder hast du das vergessen?«
Offenbar sieht Isolde meinen erschrockenen Blick, denn sie seufzt tief.
»Charlie, das ist nicht dein Ernst.«
»Ich ... ich kann heute Nachmittag nicht.« Ich beiße mir auf die Lippe und schmecke noch immer den Apfel. »Ich bin mit Olaf verabredet.«
»Schon wieder? Dann sag ab!«
Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll. Ich weiß, dass sie ihn nicht mag, aber dafür gibt es gar keinen Grund. Er geht nicht mal auf unsere Schule, sie kennt ihn nur vom Fußball.
Ich will ihr sagen, dass es mir leidtut. Dass ich weiß, dass ich in der letzten Zeit seltener für sie und Stella da bin. Und dass mein Kopf manchmal überquillt wegen aller Anforderungen an mich. Aber sobald ich bei Olaf bin, entfällt das alles, weil er nichts von mir erwartet.
Das alles will ich ihr sagen, aber es klappt nicht.
Stattdessen schnauze ich sie an: »Jetzt hör aber auf. Das ist erst unsere zweite Verabredung, das weißt du genau.«
Es wird still.
»Hm«, meint Stella. Für einen kurzen Moment fürchte ich, dass sie es mir auch übelnimmt, weil der Ton, in dem sie es sagt, kühl und distanziert ist. Und dafür hat sie allen Grund, Charlie ...
Aber dann beginnt sie zu lachen.
»Mach nicht so ein Gesicht. Dann gehen wir eben ein anderes Mal zu dritt shoppen, kein Thema.«
Sie wendet sich Isolde zu. »Ich will auch noch zu Subdued, denn die haben ein Kleid ...«
»Guten Morgen.« Westerveld betritt den Klassenraum. In einer Hand hält er einen Kaffeebecher, in der anderen seine Jacke. Sein Kopf ist rot und glänzt leicht, als wäre er gerade ein paar Runden um die Schule gejoggt.
»Heute machen wir mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung weiter«, sagt er, während er seine Jacke über den Stuhl hängt.
Alle seufzen.
»Wahrscheinlichkeitsrechnung, das ist wirklich so öde«, flüstert Isolde. »Wer hat sich die Mathematik bloß ausgedacht?«
»Irgendein Idiot«, flüstert Stella zurück, und ich höre sie kichern.
»Haben alle die Hausaufgaben gemacht?«, fragt Westerveld.
In der Klasse wird es mucksmäuschenstill.
»Leute, das finde ich jetzt aber echt nicht gut von euch.« Westerveld verschränkt die Arme. »Nächste Woche habt ihr einen Test. Die Noten aus diesem Jahr zählen schon zum Teil für euren Abschluss. Eine erwachsenere Arbeitshaltung fände ich angenehm. Hausaufgaben macht ihr für euch selbst, nicht für mich.«
Es bleibt noch immer still.
Mit einem Seufzer dreht er sich zum Digiboard um und klickt den Bildschirm an. Eine lange Rechnung mit roten und weißen Murmeln ist zu sehen, von der ich rein gar nichts verstehe.
»Dann werden wir die Hausaufgaben eben hier lösen«, sagt er mit dem Rücken zu uns. »Ihr bekommt fünf Minuten für die Ausarbeitung des ersten Betrags. Danach wird eine oder einer von euch hier vorn ihren oder seinen Lösungsweg erläutern. Und bitte achtet auf den Unterschied, ob eine Murmel genommen und wieder zurückgelegt wird oder nicht.«
Westerveld geht zu seinem Stuhl und lässt sich drauffallen, als hätte er jetzt schon genug von uns.
Taschenrechner werden in Betrieb genommen, und alle fangen an, leise miteinander zu reden.
»Kapierst du das?«, höre ich Stella im Flüsterton Isolde fragen. »Ich sterbe, wenn ich vor die Klasse kommen muss, das ist so peinlich.«
»Vielleicht weiß Ravi es. Psst«, zischt Stella dem Jungen zu, der schräg vor uns sitzt und den sie normalerweise nicht einmal grüßt. »Weißt du, wie man das ausrechnet?«
Ravi dreht sich um. In seinen Augen liegt Erstaunen. »Äh ja, du musst erst die Anzahl ...«
Westerveld klatscht in die Hände. »Liebe Leute, vielleicht war ich vorhin nicht deutlich genug, aber wir werden diese Rechnungen allein lösen, also ohne Hilfe. Ich möchte in den nächsten fünf Minuten nichts hören, verstanden?«
Ein leises Murren erklingt, und dann wird es still im Raum.
Ich starre auf mein leeres Heft. Ich stehe auf einer Sechs in Mathe, das hier ist vollkommen sinnlos. Ich werde nie in die Abschlussklasse versetzt.
Dann musst du noch ein Jahr länger zu Hause bleiben, Charlie. Das überlebst du nicht ...