Auf der Welt mache ich nichts mehr - Norbert Büchler - E-Book

Auf der Welt mache ich nichts mehr E-Book

Norbert Büchler

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Beschreibung

Oswald, ein ehemaliger Rockmusiker, lebt zurückgezogen in einem bayerischen Dorf und hängt weiter der Illusion nach, dass er als junger Gitarrist die Londoner Rockszene hätte aufmischen können, wenn die Briten ihn damals nur geholt hätten. Sein Eigenbrötler-Dasein kommt in Bewegung, als plötzlich sein Neffe Daniel vor der Tür steht, der über Nacht seine Frau verlassen hat, um ein Leben mit seiner neuen Liebe Sara zu beginnen, was aber missglückte. Er und Oswald nähern sich an und so erfährt Daniel irgendwann von einer alten Affäre seines Onkels, welcher dieser genauso nachhängt wie er selbst Sara. Achtzehn Jahre später nimmt Daniel das Wagnis auf sich, undercover an einem Schriftstellerkurs teilzunehmen, um zu erfahren, weshalb Sara ihn damals sitzen ließ. Danach tut er alles, um wieder in Kontakt mit ihr zu kommen, während der mittlerweile sechsundsechzigjährige Onkel Oswald ein furioses Comeback mit seiner Rockband plant. Beide wachsen mit ihren Vorhaben weit über sich hinaus, doch nicht immer mit Erfolg. In lockerem Tonfall erzählt Norbert Büchler von den Versuchen, sich den vertanen Chancen im Leben neu zu stellen. Eine humorvolle Huldigung an die unausrottbaren Essenzen des Lebens - die Liebe und die Musik.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Ankunft in Trudlhausen

Sara – das Ende vom Anfang

Vorhang auf für Helene

Undercover beim Schreibkurs

Ein Brief mit Mühe

Hoffen und Feiern

Oswalds wilde Jahre

Das Wiedersehen

Weihnacht in Trudlhausen

Tief über Straßburg

Trudlhausen goes London

Zölibatäre Bettflucht

Im Süden – Der schwarze Bikini

Oswalds Rückholplan

Die Chronik eines angekündigten Flops

Burning down the stage

Nachlese

Epilog

Prolog

Anfang der 1970er Jahre hegte mein Onkel Oswald keinerlei Zweifel daran, dass die Londoner Musikszene händeringend auf ihn wartete. Er sah sich berufen für jede bedeutende Rockband, es brauchte dazu nur einen Ausfall unter den ganz Großen, deren Lebenserwartung dank fahrlässiger Drogenexzesse ohnehin erfreulich niedrig war. Wen auch immer es treffen sollte – Oswald würde in dessen Lücke springen und den Briten dann zeigen, wie man Gitarre spielt. Doch trotz seiner Annoncen und etlicher Ausfälle – kein Anruf, kein Flugticket, kein London. Nichts. Die Lücke blieb aus.

An seinen Inseraten konnte es nicht gelegen haben, denn er ahnte schon früh, als Oswald Guntram Straßburger nicht weit zu kommen, aus seiner Sicht war das kein Name, sondern ein Verbrechen. Er schaffte Abhilfe, weshalb in den Londoner Annoncen stand:

Ozzy G. Streetburger – Giant Rock Guitar Virtuoso

An ihm, Ozzy, diesem Giganten, der die Zukunft der Rockmusik verkörperte, würde keiner vorbeikommen. Und es kam auch keiner vorbei, vielmehr ignorierte man ihn komplett. Daraufhin begann Oswald, die Londoner Szene als hoffnungslos rückständig zu beschimpfen, sprach den Briten plötzlich jegliche Ahnung von Musik ab und verstieg sich zu der Behauptung, dass man diese Insel mit zivilisatorischen Errungenschaften überhaupt erst in Berührung bringen müsse. In der Art ging es monatelang weiter und es stand zu befürchten, dass er es ernst meinte. Man riet ihm, mitsamt seiner Genialität doch einfach nach London zu ziehen, was er aber ablehnte, denn er gab mittlerweile andere, nämlich interkontinentale Ziele vor.

In Europa mache ich nichts mehr, lautete sein Credo. Doch für einen Aufbruch – egal wohin – fehlte ihm in Wahrheit der Mut, hinzu kam sein dünnhäutiges Wesen und ein fataler Hang zu Fehlentscheidungen, die er zwar hinnahm, Irrtümer aber nie eingestand. Keine Ahnung hatten immer nur die anderen, vorzugsweise die Briten.

Dabei verdankte er ausgerechnet ihnen jene Musik, auf die er alles setzte, auch wenn er später behauptete, diesen Musikstil erfunden zu haben, wofür es aber nicht den geringsten Beweis gab. Sein geliebter Progressive Rock bestach durch ellenlange Stücke, die eine ganze Vinylplattenseite und in Konzerten manchmal den halben Abend dauerten, dabei surreale Texte mit endlosen Instrumentalpassagen verband und von den Zuhörern ungeteilte Aufmerksamkeit oder einen total zugekifften Zustand erforderte. Klar, dass dieses Genre dem Untergang geweiht war – zu lang, zu kompliziert, nicht radiotauglich. Spätestens in den Achtzigerjahren wollte das kein Mensch mehr hören. Oswald hatte also einmal mehr auf die falsche Karte gesetzt, keiner irrte so konsequent wie er.

So verschlug es ihn in die tiefste bayerische Ödnis, und zwar in ein Dorf mit dem unsäglichen Namen Trudlhausen, nur achtzig Kilometer von seinem Geburtsort entfernt, wo er das Anwesen seiner Tante Julia erbte. Diese hatte ihren Neffen sehr gemocht, wenngleich sie in weiser Voraussicht verfügte, dass er das Haus dreißig Jahre selbst bewohnen müsse, bevor er es verkaufen dürfe. Der darüber wachende Testamentsvollstrecker war ein wenig umgänglicher Mann, der Oswalds Offerten bezüglich einer flexibleren Handhabung standhaft ignorierte.

So blieb ausgerechnet er, der mit Europa abgeschlossen hatte, inmitten der bayerischen Pampa hängen.

„Hier stirbt der Rock als Erstes, und zwar vollumfänglich.“

Diese missverständliche Bemerkung von Oswald über Trudlhausen, gefallen am Tag seines Zuzugs, machte rasch die Runde im Dorf, wo sie als Bekleidungsprognose jedoch auf Ratlosigkeit stieß. Der von Modetrends unberührte Einzelhandel in Trudlhausen beschränkte sich damals auf den Molkereiladen, in dessen Schaufenster lediglich ein vergilbter Preisaushang als Auslage diente.

Interkontinental sah anders aus, doch Onkel Oswald und der Irrtum, sie gehörten untrennbar zusammen. Auch wenn er behauptete, er irre sich stetig nach oben, blieb unklar, was dieses Oben für ihn bedeutete. Seine Karriere konnte er damit ebenso wenig meinen wie seine zwei gescheiterten Ehen, denen nur jeweils wenige Monate Glück beschert sein sollte. Zwar war er damals ein ansehnlicher Mann mit seinen knapp zwei Metern und einer verblüffenden Ähnlichkeit zu Mick Jagger. Doch fehlte ihm nicht nur dessen lümmelhafte Verwegenheit, sondern auch dessen Geld, weswegen der Jagger-Effekt schnell verpuffte, was ihm beide Frauen – gutaussehende Brünette vom Typ Uschi Obermaier – übel nahmen und nacheinander wieder verschwanden.

Dank Tante Julia war er mittlerweile zwar vermögend, auch wenn es nicht an die Kontostände eines Rolling Stone heranreichte. Mit den Frauen hingegen hatte er nach einem letzten gescheiterten Versuch namens Helene Geiger endgültig abgeschlossen, wie er mir später auf einer Ansichtskarte schrieb: In Frauen mache ich nichts mehr.

Doch auch hier sollte er sich irren.

Denn irgendwann tauchte ich, sein Neffe Daniel, bei ihm auf. Als braver Jazztrompeter und zwanzig Jahre jünger verband uns im Grunde wenig, am ehesten noch die Sache mit der Warterei. Denn so, wie in London niemand auf ihn gewartet hatte, erging es mir in Straßburg, nur anders herum. Dort wartete nämlich ich zwei Wochen lang, und zwar auf Sara, meine neuen Liebe, wegen der ich einer katastrophalen Ehe entflohen war. Doch obwohl sie mir eigentlich folgen sollte: Sara kam nicht, aus welchem Grund auch immer. So versank ich im Trübsinn und haderte mit meinem Leben.

Viele Jahre war ich ein Sorgenkind gewesen, geprägt durch die elterliche Bemerkung: „Er wird das schon irgendwie schaffen“, was aber so klang, als befürchte man genau das Gegenteil. Der Satz fiel ständig, unabhängig davon, ob es gerade etwas zu schaffen gab oder nicht. Das Irritierende war daher weniger der schwarzseherische Tonfall als vielmehr der ständige Zweifel. Wie etwas schaffen, wenn man nicht mal wusste, was?

Später, als ich es dann ahnte, war es mir – nur als Beispiel – dennoch nie gelungen, nach Konzerten mit meinem Jazzquintett eine Frau abzubekommen, obwohl ich mit meinen Trompetensoli am stürmischsten bejubelt wurde. Doch für Frauen schien ich jenseits der Bühne nicht zu existieren, während meine Musikerfreunde regelmäßig mit ihren Schönheiten davonzogen. Als dann endlich mal eine Frau für mich übrig blieb, machte ich den Fehler, sie sofort zu heiraten, womit ich aber die falscheste aller Frauen abbekam.

Sara hingegen, sie wäre die Richtige gewesen, doch in Straßburg, auf sie wartend, wurde ihr Eintreffen mit jedem Tag unwahrscheinlicher. Inmitten dieses Trübsals kam mir der Gedanke, dass es vielleicht besser gewesen wäre, gar nicht erst auf die Welt zu kommen.

Aber wie wiederum sollte das zu schaffen sein?

Man musste sich wohl frühestmöglich darum kümmern. Oswald etwa würde im abrufbereiten Zustand einfach ein Schild an seiner Wolke anbringen, worauf stünde Auf der Welt mache ich nichts mehr und darauf bauen, dass der Zuständige davon erfuhr. Ein Restrisiko jedoch blieb, auch im Himmel konnte einiges schief gehen.

Während ich in Straßburg also weiter vor mich hin verzweifelte, reifte der Entschluss, das Warten auf Sara zu beenden und Oswald aufzusuchen.

Auf dem Weg zu ihm fiel mir auf, dass uns neben der Warterei noch eine zweite Sache verband: unser Desaster mit den Frauen.

Bei Oswald waren es die vermasselten Ehen und Affären, welche ihm das Interesse an Frauen endgültig verhagelte, bei mir Saras unerklärliches Ausbleiben.

Diese Misserfolge würden Oswald und mich zusammenschweißen, auch wenn wir vorerst noch nichts davon ahnten.

So machte ich mich im Herbst 1998 auf den Weg von Straßburg nach Trudlhausen. Ich, der todunglückliche Jazzer, traf auf das zu Tode beleidigte Rockgenie.

Mehr Tod geht kaum. So dachte ich zumindest.

Ankunft in Trudlhausen

„Gäbe es mich nicht, es lebten nur Idioten auf der Welt.“

Diesen Spruch, vermutlich der größte seiner Irrtümer, hatte Oswald in eine Edelstahlplatte fräsen und über dem Eingang zu seinem Haus verankern lassen.

Der beauftragte Kunstschmied bestand auf Vorkasse, um gleich nach der Montage den Bürgermeister informieren zu können. Dieser erschien keine halbe Stunde später und forderte Oswald zur Beseitigung des Pamphlets auf, scheiterte jedoch an dessen Starrsinn. Das Objekt blieb hängen und im Dorf, wo man noch über das von ihm angekündigte Sterben der Röcke rätselte, entfaltete der Edelstahlspruch nach wochenlangen Irritationen schließlich die von Oswald erhoffte Wirkung: Man ließ ihn in Ruhe. Eine Ruhe, die ihm mittlerweile unverzichtbar geworden war. Ich, sein einziger Neffe, galt ihm als eine Art Ersatzsohn, allerdings nur, wenn es ihm in den Kram passte.

Im Grunde hatten wir selten Kontakt, doch in unregelmäßigen Abständen schrieb er mir Ansichtskarten, in denen er sich über die bayerische Rückständigkeit mokierte, die jener der Briten nur wenige Jahre voraus sei. Zudem trafen wiederholt Trauerkarten ein, auf denen er meiner Ehe kondolierte, vor der er mich von Beginn an gewarnt hatte. Einer der seltenen Fälle übrigens, in denen er mit seiner Einschätzung richtiggelegen hatte.

Nie fand ich auf diesen Karten eine Andeutung, dass ein Besuch von mir erwünscht sein könnte. Er hatte sich in seiner Einsiedelei eingerichtet, weshalb es mehr als ungewiss war, ob er mich eine Zeit lang bei sich aufnehmen würde.

Bei meiner Ankunft in Trudlhausen herrschte prächtiges Herbstwetter und Oswalds Stahlplatte über dem Hauseingang glänzte wie frisch poliert im Sonnenlicht. Ich läutete und hörte Schritte sowie Oswalds polternde Stimme. Die Tür öffnete sich und eine Frau verließ lachend und ohne mich weiter zu beachten das Haus. Ich sah ihr nach, wie sie mit kräftigen Schritten die Straße hinunter ins Dorf lief. Fast hätte man sie für einen Mann halten können, wären mir zuvor nicht ihr angenehm geschnittenes Gesicht und ihre sich unter dem engen T-Shirt abzeichnenden Brüste aufgefallen. Ich schätzte sie auf Anfang dreißig, also wenige Jahre älter als ich.

„Daniel, du hier?“

Oswald wirkte wenig begeistert, wie er plötzlich vor mir stand in seiner stattlichen Größe. Die Haare waren wie üblich nach hinten gebunden, aber auch sonst hatte er sich nicht verändert: das Flanellhemd über der alten Jeans und sein stechender Blick aus tiefschwarzen Augen. Für mich ging er noch immer als der große Bruder von Mick Jagger durch, dessen Mundpartie sich nahezu originalgetreu in Oswalds Gesicht wiederfand und dort Spott und Häme verbreitete, eine gleichsam von Geburt an installierte Werkseinstellung, die auch nicht verschwand, wenn er – was inzwischen öfters vorkam – in lammfrommer Gemütsverfassung war. Eben darauf hoffte ich nun, zumal ich eine gute Nachricht für ihn hatte:

„Ich habe meine Frau verlassen.“

Ein Strahlen glitt über sein Gesicht und er klopfte mir auf die Schulter.

„Hab ich dir’s nicht gleich gesagt? Von der ersten Sekunde an? Dass diese Frau dein Ende ist? Aber nein, du wolltest ja nicht auf mich hören.“

Das stimmte. Als ich ihn frisch verlobt zusammen mit ihr besuchte, waren noch keine fünf Minuten um, da nutzte er ihr Verschwinden im Bad, um mich aufzufordern, diesen Drachen unverzüglich in die Wüste zu schicken. Ich hätte auf ihn hören sollen, also gönnte ich ihm nun seinen Triumph und erwiderte:

„Du lagst goldrichtig damals, während ich blind war vor Verliebtheit.“

„Blind sind wir ohnehin und bei Frauen total immer.“

Das hätte auf einer seiner Ansichtskarten stehen können, jedenfalls stimmte ich ihm zu und hoffte, dass er mich endlich ins Haus ließ.

„Gut, dann wäre das ja geklärt“, sagte er, „war nett, dich wieder mal zu sehen.“

Noch bevor ich reagieren konnte, warf er die Tür zu. Ich klopfte mehrmals und rief seinen Namen, doch es rührte sich nichts. Da hörte ich Schritte, die Frau von eben kam zurück und fragte gut gelaunt:

„Na, lässt er dich nicht rein? Mach dir nichts draus, das geht allen so.“

„Aber ich bin sein Neffe.“

„Ah, du bist dieser übel verheiratete Trompeter.“

„Genau, aber seit Kurzem getrennt.“

„Gratulation! Weiß er das schon?“

„Ja, seit einer Minute.“

Sie sah mich lächelnd an.

„Klar, dass er sich verdrückt, vermutlich suchst du jetzt ja was zum Wohnen.“

Sie zog einen Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche und öffnete damit die Tür. Oswald stand regungslos im Flur.

„Er braucht ein Dach über dem Kopf“, sagte sie zu ihm.

„Und da kommt er ausgerechnet zu mir?“

„Schaut so aus.“

„Aber das kann er nicht machen.“

„Er macht’s aber. Außerdem ist er dein Neffe! Jetzt stell dich nicht so an, du hast doch genügend Platz.“

Kopfschüttelnd stand Oswald da, ratlos über meine Dreistigkeit, ihn einfach zu überfallen. Die Frau nahm meinen Koffer und führte mich in eines der Gästezimmer. Oswald folgte uns und sagte:

„Länger als eine Nacht schläft er hier aber nicht.“

„Da irrst du dich, er bleibt, solange er will!“, entgegnete sie und zwinkerte mir zu.

„Seit wann bestimmst du, wer hier wohnen darf?“, fragte er.

Nun griff ich selbst ein:

„Darf er auch mal was sagen?“

Oswald blickte mich an und brummte dann: „Meinetwegen.“

Damit hatte ich vorerst eine Bleibe. Ich bedankte mich bei der Frau und packte die Koffer aus, darunter meine heilige CD-Sammlung samt Discman und Kopfhörer. Dann legte ich mich aufs Bett und schlief ein, bis Oswald an die Tür klopfte und zum Abendessen rief. Benommen sah ich auf die Uhr, ich hatte über drei Stunden geschlafen.

Wir saßen in der Küche, auf dem Tisch stand edler Bordeauxwein, dazu gab es Baguette, Oliven und französischen Käse. Bayerisches Essen war in seinem Haus ebenso verpönt wie das der Briten, die außer Fish and Chips aber sowieso nichts Essbares kannten, wie er gerne lästerte.

Während wir unseren Hunger stillten, fragte er nicht viel, mein Auftauchen sowie das Ende meiner Ehe schienen für ihn bereits abgehakt zu sein, auch wenn er wenig von dem ahnen konnte, was die letzten Monate bei mir los gewesen war. Vor allem wusste er nichts von Sara, doch mir fehlte der Mut, ihm davon zu berichten, und so fragte ich ihn nach der Frau von heute Nachmittag.

„Das ist Marion, meine Erntehelferin.“

Oswald pflanzte im Garten Cannabis an. Dass er Hilfe benötigte, deutete auf eine Ausweitung der Anbaufläche hin.

„Und sie darf hier so einfach ein- und ausgehen, sogar mit Schlüssel? Woher dieses Privileg?“

„Erpressung.“

„Erpressung?“

„Ihr Bruder ist bei der Polizei.“

„So ein Mist.“

„Ja, das dachte ich zuerst auch.“

Unvermittelt stand er auf, brummte vor sich hin und verschwand in Richtung Arbeitszimmer, welches, wie ich von früher her wusste, für Gäste tabu war. Weitere Auskünfte über diese Marion würde ich ihm ein anderes Mal aus der Nase ziehen müssen. Ich räumte die Küche auf, zog mich in mein Zimmer zurück und hörte die halbe Nacht Musik von Chet Baker. Trotz seiner göttlichen Trompetensoli gelang es mir kaum, nicht an Sara zu denken.

Am nächsten Tag erwachte ich früh und ging nach draußen. Ein nebelverhangener Herbstmorgen, die Wege bedeckt mit Laub, deren modriger Duft das Nahen der kalten Jahreszeit ankündigte. Oswald wohnte am Ortsrand, eine von Birken gesäumte Allee führte an seinem Anwesen vorbei ins Dorf. Wild wuchernde Hecken umgaben seinen Garten, der von einem Jägerstand im angrenzenden Wald aus einsehbar war, was Oswald seit jeher störte, da jener Einblick sein kolumbianisches Kulturbeet, wie er sein Drogenanbaugebiet nannte, flächenmäßig stark eingrenzte. Die Hausfassade mit den Fensterläden sowie das neu eingedeckte Dach bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu der verwilderten Hecke. Ich lief die Allee entlang ins Dorf hinein, wo die Zeit stehen geblieben zu sein schien, nichts hatte sich verändert seit meinem letzten Besuch.

Oswald wohnte schon etliche Jahre in Trudlhausen. Sein Zuzug hatte dem Dorfklatsch zu einem Höhepunkt seiner an Bosheiten reichen Geschichte verholfen. Befeuert durch den Pfarrer, kursierten die absonderlichsten Gerüchte, bei denen es darum ging, wie Oswald seine Tante Julia beiseitegeschafft hatte, um ihr Anwesen erben zu können.

Die angesehene Witwe war in einem Flugzeug über den peruanischen Anden abgestürzt. Die offizielle Unglücksursache, ein Defekt am Triebwerk, wurde im Dorf angezweifelt und der Pfarrer heizte die Stammtischvermutungen zu Oswalds Erbschleicherei mit dem Hinweis auf die hinlänglich bekannte Korruptheit peruanischer Ermittler weiter an. Schließlich hatte er gute Gründe, Oswald nicht zu mögen.

Tante Julia war wohlhabend gewesen, die reichste Dame der Gemeinde und obendrein tief gläubig. Die Dorfkirche glänzte mit einer hochmodernen Orgel, deren Finanzierung ihr der Pfarrer mit Hilfe etlicher Flaschen Messweins aufgeschwatzt hatte. Den von ihr initiierten Orgelkonzertsommer gab sie nach einer mäßig besuchten ersten und einer desaströsen zweiten Saison wieder auf. Trotz aufwändiger Werbemaßnahmen konnte nur ein einziger Orgelsommer-Abonnent gewonnen werden und dies war ihr Neffe Oswald, der ungeachtet langer Anfahrtswege keines der Konzerte versäumte. Dabei schaffte er es, ihre Enttäuschung über die ausbleibenden Besucher mit seinen Erklärungen über die kulturelle Wüste rund um Trudlhausen, die jener einer Kanalinsel gleiche, aufzuheitern. Er arbeitete damals noch in München und mochte die Orgel allein ihrer Lautstärke wegen. Tante Julia belohnte sein verlässliches Erscheinen durch Änderung ihres Testaments, welches dann so unerwartet bald eröffnet werden musste. Der Pfarrer, damit um große Teile des bislang ihm zugesicherten Erbes gebracht, unterließ nach Oswalds Zuzug nichts, um ihn anzuschwärzen. Zusammen mit der bald darauf montierten Edelstahlbeschimpfung befeuerte dies noch lange die Stammtische im Dorf.

Dank der Erbschaft konnte Oswald die Unzumutbarkeiten geregelter Arbeit hinter sich lassen und mit einundvierzig Jahren als Privatier in den Ruhestand wechseln, wenngleich ein Hausverkauf und damit der Umzug ins Interkontinentale wegen Tante Julias Verfügung nicht möglich war. Nach dem Ende seiner Rockmusikerzeit war er zum Ertragen verschiedener Anstellungen gezwungen gewesen. Dieses Problems nun enthoben, schien ihm ein sorgloses Leben dennoch nicht zu gelingen. Zudem saß die Londoner Schmach noch tief.

Die Sonne stieg höher und ich beendete meinen Gang durch das Dorf. In Oswalds Haus schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Meine Großtante Julia liebte den französischen Landhausstil, und Oswald hatte seither nichts daran geändert. Äußerlichkeiten waren ihm gleichgütig.

Von meinem Zimmerfenster aus sah man den angrenzenden Wald samt Jägerstand. Im Garten gab es einen teils mit Schilfrohr eingefassten Teich, in dem ein halb versunkenes, an die Titanic erinnerndes Modellbauschiff lag. Auf dem Rumpf des Schiffes, der halb verwittert aus dem Wasser ragte, konnte ich Divinity entziffern, den Namen von Oswalds ehemaliger Rockband. Jenes Schiff war auf dem Cover ihrer ersten Langspielplatte abgebildet, die er mir einst schenkte. Insgesamt glich der Garten einer seltsam maroden Idylle. Jetzt erst fiel mir der neu errichtete Holzschuppen ins Auge, der als Sichtbarriere eine Ausweitung seiner Freiluftbeete erlaubte. Somit war auch klar, warum er Marions Hilfe benötigte. Neben dem Schuppen hatte eine Gartenzwergkolonie ihren Platz, was, wie ich später erfuhr, eine Idee von Marion war: Vom Jägerstand aus sichtbar sollten die Figuren zusätzlich vom dahinter betriebenen Drogenanbau ablenken.

Jene Marion kam fast täglich vorbei. Sie stellte in jeder Beziehung das Gegenteil von Sara dar. Marion war stämmig gebaut, sprach derbes Bayrisch und pflegte eher rohe Umgangsformen. Jedoch schien sie Oswalds Einsiedelei aufzuhellen, und obwohl er Frauen inzwischen als Zumutung betrachtete, schien er sich Marions guter Laune nicht erwehren zu können oder zu wollen. Sie hatte Oswald gut im Griff, ohne ihn dies spüren zu lassen. Wenn sie da war, lachte er viel.

Oswald hörte mich häufig Trompete üben und wusste von meiner Leidenschaft für den Jazz, auch wenn er diese Musik nicht sonderlich mochte. Dennoch schätzte er mein Spiel ebenso wie den Umstand, dass ich seit zwei Jahren an der Jazzakademie studierte, weshalb er mich schon bald in sein im Keller befindliches Heiligtum führte, welches ich bei früheren Besuchen nicht zu sehen bekommen hatte: ein schallisolierter Probenraum mit einem Schlagzeug sowie einer kompletten Musikanlage. Hinter einer Glasscheibe lag ein weiterer Raum, ausgestattet mit einem professionellen Mischpult und zwei Tonbandgeräten. In der Ecke des Probenraumes befand sich eine Glasvitrine, worin seine E-Gitarren, eine Fender Stratocaster und zwei Gibson Les Paul, standen. Daneben hingen eingerahmt die drei Langspielplatten von Divinity, darunter auch jene mit dem Schiff, welches nun havariert im Gartenteich vor sich hin rostete. Die restlichen Wände waren mit alten Konzertplakaten seiner Band vollgeklebt, auf denen von seinem einstigen Entschluss, Europa zu ignorieren, nichts zu sehen war. Die Vielzahl der Tournee-Orte, darunter auch haufenweise Großstädte, beeindruckte mich, wobei das Plakat ihrer Europatournee im Jahr 1979, dem Höhepunkt ihrer Karriere, herausstach.

Zudem hatte er auf einer riesigen Wandkarte alle Orte, in denen er jemals konzertiert hatte, mit Fähnchen markiert. Diese waren über ganz Europa verteilt, mit einer Ausnahme: Großbritannien, das auf dieser Karte nicht existierte. Dort, wo es hätte liegen müssen, war nichts als Wasserfläche zu sehen, lieblos überklebt mit einem Stück Pazifik aus irgendeiner anderen Karte, so dass ich in der Londoner Gegend eine winzige Insel mit dem Namen Isla Robinsón Crusoe entdeckte. Selbst Irland war Oswalds nachtragendem Wesen zum Opfer gefallen. Ich unterließ es, ihn darauf anzusprechen, und fragte stattdessen, ob Marion von seiner Vergangenheit wisse, worauf er meinte, mit Musik habe sie wenig am Hut, Marions Interesse sei auf das Gartenbeet und seinen Internetanschluss beschränkt. Letzterer war damals, im Herbst 1998, noch der einzige im ganzen Dorf. Wir gingen wieder nach oben und er begann von ihr zu erzählen.

Marion entstammte einer Bauernfamilie, die seit ewigen Zeiten im Dorf wohnte. Ihre fünf Brüder hatten im Umkreis von wenigen Kilometern gebaut und die drei Schwestern im gleichen Radius eingeheiratet. Marion indes war übrig geblieben, als Kollateralschaden eines auf das Dorf beschränkten Heiratsmarktes, in welchem die Bedenken gegen Fremde jene eines möglichen Inzests überwogen. Mit ihren zweiunddreißig Jahren galt sie als nicht mehr vermittelbar, zumal sie früh Interesse an fernöstlichen Selbstverteidigungstechniken zeigte und diese auf ein bedrohliches Niveau gesteigert hatte. Ihr Ruf als militante Jungfer war gefestigt, nicht zuletzt wegen eines T-Shirts mit der Aufschrift No-Area-for-farmers, welche unübersehbar ihre mächtigen Brüste umrahmte. Sie trug es bevorzugt auf Dorffesten. Dass sie keine ernstlichen Probleme damit bekam, verdankte sie den dürftigen Englischkenntnissen der Dorfbewohner und ihrem Wing Tsun.

Marion schien zufrieden mit sich und ihrem Leben. Sie verstand sich gut mit Oswald, nicht nur wegen seines Computers und dem Internetanschluss. Oswald machte ihr das Landleben erträglich und dies beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit, während über allem die Gefahr schwebte, dass ihr Bruder, ein Landpolizist mit Leib und Seele, das Drogenanbaugebiet mit samt seiner Schwester und Oswald strafrechtlich zur Strecke bringen würde. Doch dessen Behauptung, Marion würde ihn damit erpressen, war gelogen. Den größten Teil der Ernte verkaufte er über Marion an den CSU-Landtagsabgeordneten Kranzlmeier, der die Ware mit einem hochrangigen Beamten in der Münchner Staatskanzlei teilte. Marion und Kranzlmeier kannten sich seit der Grundschule, hatten ihren ersten Sex in einem Heuschober am Dorfrand, was sie bis heute trotz gegensätzlicher politischer Gesinnung zusammenschweißte. Oswalds Auflage, nichts an Jugendliche zu verkaufen, wurde damit eingehalten. Auch beruhigte es ihn, seinen Stoff in CSU-Kreisen zu wissen, da deren Realitätsverlust laut Oswald ohnehin durch nichts mehr zu steigern sei. Schlimmstenfalls würde etwas davon zur Jungen Union gelangen, aber auch denen sei nicht mehr zu helfen. Sollte Marions Bruder eines Tages fündig werden, so würde dessen Anzeige mit einem kurzen Anruf bei Kranzlmeier wieder aus der Welt verschwinden. Die Drogeneinkünfte aus München spendete Oswald an linke Bürgerinitiativen. Marion schätzte seine aufrührerische Seite sehr.

Ich lebte nun seit drei Wochen bei ihm und er nahm meine Anwesenheit weiterhin ohne zu murren hin. Tagsüber spazierte ich stundenlang durch die Wälder und trauerte Sara nach. Oder ich lag in meinem Zimmer, hörte Jazz, übte Trompete oder las mich durch Oswalds Gesamtausgabe von Karl May. Er wiederum ging, als wäre ich nicht vorhanden, seinem undurchschaubaren Tagesablauf nach. Mit meinen achtundzwanzig Jahren war vollkommen unklar, wie es mit mir weitergehen sollte. Mein bisher von den Schwiegereltern finanziertes Studium würde ich abbrechen müssen und das erhoffte Glück mit Sara war gescheitert und ich wusste nicht mal weshalb. Nun saß ich ohne Plan und Ziel in diesem Dorf und es wäre wohl noch ewig so weitergegangen, hätte nicht ein Anruf alles verändert.

Ich hörte das Läuten des Telefons bis in mein Zimmer. Kurz darauf tauchte Oswald auf:

„Deine Frau hat eben angerufen, sie habe eine schlechte Nachricht und wollte wissen, ob du bei mir untergetaucht seist. Ich habe ihr erklärt, du wärst mit den Oberkrainer Musikanten auf Asientournee, woraufhin sie bedauerte, dass du nur auf Jazz stehst und so etwas Vernünftiges nie machen würdest. Ich entgegnete, dass du aber auch nur auf kultivierte Frauen stehst und sie trotzdem geheiratet hättest. Da hat sie aufgelegt.“

Ich sah ihn verunsichert an:

„Und die schlechte Nachricht?“

„Keine Ahnung.“

Erneut klingelte es. Oswald eilte ins Wohnzimmer, bis er mit ernstem Gesicht zurückkehrte.

„Dein Vater ist gestorben, wir müssen nach Frankreich.“

Ich saß da wie betäubt, unfähig, mich zu bewegen.

„Daniel, jetzt müssen wir zusammenhalten, schließlich war er mein Bruder.“

Er umarmte mich, so etwas hatte es noch nie gegeben. Dieser Schicksalsschlag überlagerte meine Verzweiflung wegen Sara nicht etwa, im Gegenteil, ich vermisste sie noch mehr, gerade jetzt hätte ich sie gebraucht, ihren Trost, ihre Blicke, mit denen sie mich wortlos verstand.

Mein Vater war über zwanzig Jahre älter als Oswald, der eigentlich sein Halbbruder war. Er lebte in Frankreich, wo er in Tours eine Wohnung besaß und einen Jazzclub betrieb. Er hatte mir alles über seine zwei Leidenschaften, die Jazztrompete und den Wein, beigebracht, über Frauen hingegen hatte ich nichts von ihm gelernt. Laut meiner Mutter hätte ich darüber auch nur Unsinn gehört, sie lastete das Unglück ihrer Ehe ausschließlich ihm an. Zeit ihres kurzen Lebens hörte ich ihre Vorwürfe ihm gegenüber, was ihn schließlich zur Flucht nach Frankreich veranlasste. All die Jahre trug ich das Bedrückende dieser Ehe mit mir herum. Wahrscheinlich hatte ich gehofft, durch meine frühe Heirat davon loszukommen, doch letztlich sackte ich in genau dasselbe Elend ab. So tat ich es meinem Vater gleich und flüchtete, auch wenn ich erst durch Sara den Mut dafür aufbrachte.

Mein Vater war so umsichtig gewesen, einer seiner zahlreichen Freundinnen in Tours meine Telefonnummer zu geben, die sie im Falle seines Ablebens anrufen sollte. Sie hieß Rosalie und erreichte unter der Nummer meine Frau, die mich dann bei Oswald vermutete. Von meiner Trennung konnte Vater noch nichts erfahren haben, doch es wäre ihm sowieso gleichgültig gewesen. Wirkliches Interesse hatte er immer nur an meinem Trompetenspiel, dessen vielversprechenden Fortschritte die „Er wird das schon schaffen“-Bemerkungen irgendwann verstummen ließen.

In bedrückter Stimmung bereiteten Oswald und ich die Fahrt nach Frankreich vor, während Marion anbot, sich derweil um das Haus zu kümmern. Ich bekam wenig mit von der tausend Kilometer langen Reise in Oswalds Auto. Wir machten einen Zwischenstopp in der Nähe von Chablis, wo wir beim Essen sogar den Wein unberührt stehen ließen, weil uns beiden nicht danach war. Oswalds Erheiterungsversuche schlugen fehl, wenngleich ich mir aus Dankbarkeit ein Lächeln abrang.

„Lass Daniel, so schaust du ja noch trauriger aus.“

Er sorgte sich wirklich rührend um mich.

In Tours nahmen wir ein Hotel mit Blick auf die Loire. Ich meldete mich bei jener Rosalie und wir verabredeten uns in der Wohnung meines Vaters, wo ich ihn alle paar Jahre besucht hatte. Rosalie war eine umtriebige Endfünfzigerin, die das Etablissement neben dem Jazzclub betrieb. Wir kannten uns flüchtig von meinen gelegentlichen Auftritten auf Vaters Bühne.

So begannen wir, die Beisetzung zu organisieren. Die Rechnungen bezahlte Oswald diskret mit seiner Kreditkarte und ich versprach ihm, dass er alles zurückbekäme, doch er winkte nur ab. Da ich Vaters geerbte Wohnung nicht behalten wollte, machte Oswald die Adresse eines deutschsprachigen Anwalts ausfindig, der sich um den Verkauf kümmern sollte.

Das Ausräumen der Wohnung betrübte mich, ich fand alte Fotoalben von früheren Familienurlauben und einen Karton mit meinen Kinderzeichnungen, die er alle mit Datum versehen und chronologisch sortiert hatte. Beim Durchstöbern seiner Jazzplattensammlung stieß ich auch auf die Alben von Divinity. Ich zeigte sie Oswald, der bereits davon wusste.

„Er hat meine Musik nie gemocht. Am Telefon gestand er mir aber irgendwann, dass viele seiner Freunde, denen er meine Platten vorgespielt habe, begeistert gewesen seien.“

„Was hast du ihm geantwortet?“

„Ich gratulierte ihm zu seinen Freunden, die im Gegensatz zu ihm Ahnung von Musik hätten. Er erwiderte, dass sie seither nicht mehr seine Freunde seien. So stichelten wir weiter, am Telefon verstanden wir uns immer prächtig.“

Am Nachmittag fuhren wir zu Vaters Jazzclub, der sich in einer heruntergekommenen Vorstadtgegend befand. Als wir ausstiegen, kam Rosalie aus ihrem benachbarten Etablissement und überreichte mir die Schlüssel für den Club. Im Eingangsbereich klebten die Plakate für die Konzerte der nächsten Monate und Rosalie bot mir an, die Absagen zu übernehmen, sie habe Vater gelegentlich beim Organisieren geholfen und kenne sich im Büro aus. Dankend nahm ich an. Im Tresor lag seine Trompete, bis zuletzt hatte er einmal die Woche selbst auf seiner Bühne gestanden.

Er hatte den Wunsch hinterlassen, nach der Beerdigung eine Feier in seinem Jazzclub auszurichten. Auf seinen Sparbüchern lag eine Summe, mit der dies problemlos möglich war. Außerdem kündigte Rosalie an, mehrere Kartons Sekt beizusteuern.

Das Begräbnis fand an einem nebelverhangenen Novembertag statt, es kamen viele Musiker und Freunde meines Vaters, dazu Rosalies komplette Belegschaft, bei deren Anblick Oswald große Augen bekam. Die Damen machten ihn nervös, Trudlhausen hatte nichts Vergleichbares zu bieten, zudem war weltmännisches Auftreten noch nie seine Stärke gewesen. Schielte er anfangs nur gelegentlich hinüber, wich sein Blick während der Grabrede keine Sekunde mehr von ihnen. Da die Damen vermutlich von Rosalie wussten, dass Oswald der Bruder des Toten war, lächelten sie ihm charmant zu, schließlich hatte mein Vater ihr hartes Berufsleben durch sein immer für sie geöffnetes Haus angenehmer gemacht. So umarmten sie beim anschließenden Kondolieren nicht nur mich, sondern auch Oswald, was ihn zunehmend lockerer machte. Mit seinen spärlichen Französischkenntnissen fragte er eine der Damen, ob sie abends auch zu der Feier in den Jazzclub käme. Sie antwortete, dass sie alle da seien, er brauche sich daher noch nicht zu entscheiden, ob er sie oder nicht doch eine andere bevorzuge. Oswald blickte sie ratlos an und nickte, er hatte zum Glück kein Wort verstanden. Auf dem Weg zum Hotel fragte er mich dann, was die Frau zu ihm gesagt hätte, und ich gab vor, nicht zugehört zu haben.

Während der Feier spielten alle Musiker zu Ehren meines Vaters, sogar ein Kamerateam vom Lokalfernsehen war dabei. Ich hörte den ganzen Abend zu und versuchte, sowohl meine Trauer als auch Saras schmerzliche Abwesenheit zu überstehen. Von Oswald war den ganzen Abend nichts zu sehen, möglicherweise nahm er an der Stelle seines Bruders den Dank der Damen für all die Jahre guter Nachbarschaft entgegen. Um Mitternacht holte man mich auf die Bühne, wo ich mit der Trompete meines Vaters zusammen mit einigen Musikern den Jazzklassiker Round about Midnight spielte. Ich legte all meine Trauer in das Thema und stellte mir dabei vor, Sara säße vor der Bühne. Es gab lange anhaltenden Applaus.

Bei Tagesanbruch kamen wir zurück ins Hotel, wo Oswald bedauerte, seinen Bruder nie in Tours besucht zu haben, schließlich finde man selten so nette Nachbarinnen. Obwohl mein Vater ihn mit seinen Londoner Ambitionen immer nur verspottet habe, sei er im Grunde der einzige andere Nicht-Idiot auf dieser Welt gewesen. Immerhin habe er in mir einen würdigen Nachfolger hinterlassen. Noch bevor ich seine Auszeichnung als solche begriffen hatte, zog er sich auf sein Zimmer zurück. Nach Sara hatte ich nun auch meinen Vater verloren, Oswald war nun mein letzter Verbündeter und seine Bemerkung schenkte mir Trost.

Wieder lag ich lange wach und ich versank in den Erinnerungen, wie es mit Sara und mir begonnen hatte.

Sara – das Ende vom Anfang

Zum ersten Mal war ich Sara in der Hochschulmensa begegnet, wo sie in der Warteschlange vor mir stand. Sie gefiel mir auf Anhieb, ihr ausdrucksvolles Gesicht mit den dunklen Augen, alles an ihr sprach mich an.

Sara hörte einer rothaarigen Studentin zu, die lautstark über einen Klavierprofessor lästerte, welcher sich ihr gegenüber angeblich skandalös benommen hatte. Allein ihre Art zu klagen ließ mich auf der Seite des Professors stehen, worin mich die Blicke von Sara und zweier anderer Studenten bestärkten, das Lamentieren der Rothaarigen schien für sie nichts Neues zu sein. Obwohl ich selten zu Aktionismus neige, überkam mich der Impuls einzugreifen. Ich tippte der Rothaarigen auf die Schulter und unterbrach sie mit der Feststellung, dass sie einer bedauerlichen Fehleinschätzung aufsitze. Sie sah mich an und fragte, ob ich ein Problem hätte. Im Gegensatz zu ihr keines, entgegnete ich, doch ihre Nörgelei sei nicht zu überhören, da dränge sich gut gemeinter Rat förmlich auf, was von den Umstehenden einhellig bestätigt wurde. Da sind wir aber mal gespannt, spottete sie. Zu Recht, gab ich zurück und fuhr fort, anstatt am Anschlag ihrer linken Hand zu arbeiten, wie von ihrem Professor empfohlen, unterstelle sie ihm anzügliche Absichten, eine fatale Fehlinterpretation, aus der sie sich befreien sollte, sonst könne sie ihre Musikerkarriere vergessen. Sie solle lieber üben statt Opfer zu spielen.

Die Rothaarige warf mir einen vernichtenden Blick zu und mutmaßte, dass ich einer von diesen Klugscheißern aus der Jazzabteilung sein müsse. Eben wollte Sara eingreifen, doch ich kam ihr zuvor und pries die Rothaarige für ihren Scharfblick, der ihr ansonsten aber völlig abgehe. Sara bekräftigte nun, dass ich keineswegs falsch läge, was wiederum auf Zustimmung der Umstehenden stieß. Die Rothaarige blickte angewidert in die Runde und verließ wütend die Mensa. Sara bedankte sich für meine Aktion, ihre Stimme – dunkel und samtig – ging mir durch und durch. Dann wandte sie sich wieder ab und stand jetzt mit dem Rücken zu mir. Ihre Haare waren locker nach hinten gebunden, so konnte ich den Hals samt Schulteransatz aus nächster Nähe bewundern, vereinzelt herabfallende Haarsträhnen steigerten ihre Anmut noch. Was hätte ich dafür gegeben, jenes kleine Paradies zu berühren. Nun war sie an der Theke angelangt, nahm ihr Essenstablett und lief damit zu den Tischen. Ich sah ihr nach, Saras Art zu gehen hatte etwas Entspanntes, fast schon Lässiges. Zum Essen wählte ich einen Platz, von dem aus ich sie beobachten konnte. Sie jedoch sah kein einziges Mal in meine Richtung, obwohl ihr meine Aufmerksamkeit kaum verborgen bleiben konnte. Ich war drauf und dran, mich zu verlieben, und wollte sie unbedingt näher kennenlernen.

Doch das war nicht einfach, wir Jazzer galten an der Hochschule noch immer als Exoten mit wenig Berührungspunkten zum alteingesessenen Studium der klassischen Musik, in welchem ich Sara vermutete, da der kritisierte Professor dort unterrichtete. Zudem verbrachte ich die Abende trotz unserer trostlosen Ehe meist zuhause bei meiner Frau, so entging mir das nächtliche Studentenleben ebenso wie die Hochschulpartys und andere Gelegenheiten, Sara über den Weg zu laufen. Ihretwegen nun abendeweise loszuziehen, würde den Argwohn meiner Frau wecken, denn für gewöhnlich war ich nur bei Proben und Auftritten meines Jazzquintetts bis spät unterwegs. Und ein solcher Anlass war es schließlich auch, bei dem ich Sara wieder begegnete.

Unsere Fakultät veranstaltete regelmäßig Konzerte in einem Jazzclub, bei denen die Studenten Bühnenpraxis erwerben und zudem mit Profimusikern auftreten konnten. Bei dem Konzert mit meinem Quintett tauchte dann plötzlich Sara auf und setzte sich in die erste Reihe. Nach einer anfänglichen Konzentrationsschwäche begannen ihre Blicke, mich zu betören, die Musik strömte plötzlich aus den Tiefen meiner Seele und beflügelte mein Trompetenspiel, das Ton für Ton aufblühte und sich zum Himmel emporschwang. Ich schwebte mindestens zehn Zentimeter über der Bühne, vor der Sara saß – wunderschön anzusehen und abermals mit den nach hinten gebundenen Haaren, gleichsam ein Geschenk jenes Himmels, in dem ich mit geschlossenen Augen meine Trompete blies. Sie sind selten, solche Augenblicke.

Nach dem Auftritt kam Sara zu mir und war voll des Lobes für unsere Musik und meine Glanzleistungen an der Trompete, wie sie es nannte. Meine Art zu spielen habe sie berührt, mein Ton sei wirklich außergewöhnlich, viel runder und geschmeidiger als das, was sie von den Blechbläsern aus der Klassikabteilung so höre. Ich widersprach mit keiner Silbe und lächelte sie nur an, was sie zum Anlass nahm, das Thema zu wechseln. Sie hoffe, mich nicht irritiert zu haben, aber direkt vor einer Bühne sitzend habe man bezüglich der Blickrichtung wenig Alternativen. Dies unterscheide eine Bühne grundlegend von einer Mensa, wo es ziemlich peinlich sei, eine halbe Stunde lang angestarrt zu werden. Sie lachte dabei, weshalb ich auf eine Antwort verzichtete, die in meiner Aufregung sowieso danebengegangen wäre. Stattdessen erkundigte ich mich nach jener Rothaarigen, doch Sara winkte nur ab und meinte, die ginge mit ihrem schrägen Selbstmitleid fast allen auf die Nerven, mein Einsatz sei zwar lobenswert, aber vergebens gewesen. Vermutlich werde sie ihre Karriere über die Diskriminierungsschiene einklagen, im Grunde sei sie eine bedauernswerte Person. Dann fragte sie nach unseren nächsten Auftritten. Ich nannte ihr die Termine, die sie alle notierte, bevor sie sich mit einem vielsagenden Blick verabschiedete, der mich noch die halbe Nacht wachhielt.

Als wir uns zwei Tage darauf erneut an der Hochschule begegneten, lud ich sie auf einen Mittagskaffee ein. Die restlichen Vorlesungen ließen wir ausfallen, die Stunden vergingen wie im Flug und so verabredeten wir uns auch für den nächsten Tag zur Mittagspause, wo sie mich dann auf meinen Ehering ansprach. Ich erklärte, dass meine Ehe unglücklich und kinderlos sei. Sie sah mir während meiner Antwort in die Augen und nickte unmerklich, womit das Thema für sie vorerst erledigt zu sein schien, zumindest hakte sie nicht weiter nach.