Auf Erden - Anne Kanis - E-Book

Auf Erden E-Book

Anne Kanis

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Väter, Freundinnen und Graffiti: Nach der Krankheit und dem Tod ihres geliebten Vaters gerät das Leben von Sunny aus den Fugen. Die Beziehung mit Erik geht in die Brüche, eine ihrer engsten Freundinnen fällt ihr in den Rücken. Was bleibt, sind die Erinnerungen an ihren Vater, an ihre Familie, an das Nest, das sie hatte und das sich nun verändert hat. An die aufregenden, teils gefährlichen Jugendjahre im brodelnden, wiedervereinigten Berlin der Neunzigerjahre. Und an ihre Freundinnen Jessi, Alma und Katharina, die alle so ganz andere Väter hatten als sie. Mit viel Einfühlungsvermögen und Empathie erzählt die Schauspielerin Anne Kanis in ihrem ganz persönlichen Roman von einem tiefen Trauer- und Erinnerungsprozess. Von dem Glück, in eine liebevolle Familie hineingeboren zu werden, und dem Schmerz, wenn geliebte Menschen das Leben auf Erden verlassen. Von Streifzügen mit den Freundinnen durch eine aufgebrochene Stadt. Und von einer sich anbahnenden neuen Liebe. Das gleichnamige HörErlebnis, gelesen von der Autorin selbst, erscheint als Digital-only bei GOYALiT.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 257

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anne Kanis

Auf Erden

Roman

Das Buch

Nach der Krankheit und dem Tod ihres geliebten Vaters gerät das Leben von Sunny aus den Fugen. Die Beziehung mit Erik geht in die Brüche, eine ihrer engsten Freundinnen fällt ihr in den Rücken. Was bleibt, sind die Erinnerungen an ihren Vater, an ihre Familie, an das Nest, das sie hatte und das sich nun verändert hat. An die aufregenden, teils gefährlichen Jugendjahre in dem brodelnden, wiedervereinigten Berlin der Neunzigerjahre. Und an ihre Freundinnen Jessi, Alma und Katharina, die alle so ganz andere Väter hatten als sie.

Mit viel Einfühlungsvermögen und Empathie erzählt Anne Kanis von einem tiefen Trauer- und Erinnerungsprozess. Von dem Glück, in eine liebevolle Familie hineingeboren zu werden, und dem Schmerz, wenn geliebte Menschen das Leben auf Erden verlassen. Von Streifzügen mit den Freundinnen durch eine aufgebrochene Stadt. Und von einer sich anbahnenden neuen Liebe.

 

Die Autorin

Anne Kanis ist eine Berliner Filmschauspielerin, Sprecherin und Autorin. Als Tochter einer Bühnenschauspielerin und eines Pantomimen wurde sie von ihrem künstlerischen Elternhaus stark geprägt, sprach als Kind ihr erstes Hörspiel und stand mit sechzehn Jahren das erste Mal vor der Kamera. Seitdem ist sie in mehr als 80 Film- und Fernsehproduktionen zu sehen, darunter Haupt- und Nebenrollen in Serienformaten wie In aller Freundschaft oder SOKO Leipzig, Spielfilmen wie Tatort oder Rauhnächte und Kinoproduktionen wie Anonyma oder Adam und Evelyn. Ihre Begeisterung für Literatur brachte sie zum Schreiben. Auf Erden ist ihr zweiter Roman.

Prolog

In der Ecke steht das leere Bett. Die Ecke wankt nicht, sie steht am Bettpfosten und bleibt bis zur Zimmerdecke aufrecht und gerade. Unsere Rücken sind krumm. Mein älterer Bruder zieht die Beine an und legt das Kinn auf die Knie. Mein jüngerer Bruder zieht die Daunendecke vom Bett und legt sie sich über den Kopf. Meine Mutter steht auf. Sie nimmt die Streichhölzer vom Tisch, zündet die Kerze an und stellt sie ins Fenster. Jetzt wissen die Nachbarn Bescheid.

 

Wenn ich zu lange auf einen Fleck starre, springen die Erinnerungen an meinen Vater in meinem Kopf hin und her. Ohne Sinn und Ordnung. Und meine Augen sehen statt Jessi und Alma und Katharina am Ufer der Spree meinen Vater gehen, stehen oder sitzen, mal jung, mal älter, mal nah, mal fern, immer den Kopf ein wenig schief gelegt und immer ein liebevolles Blinzeln im Gesicht. Das muss ich meinen Freundinnen nicht sagen, weil sie meinen Vater kannten. Und weil ich Jessis und Almas Väter kannte. Und Katharinas Vater fortging, als sie klein war.

Vom Fluss her zerreißt das Tuten eines Dampfers die Bilder meines inneren Blicks. Ein weißer Bug schiebt das Spreewasser zur Seite und lässt die Spanholzplättchen mit den Teelichtern taumeln, die wir aufs Wasser gesetzt haben. Die Flammen hüpfen auf und ab.

Diesseits

Nach den Krankenhausbesuchen bei meinem Vater war ich immer so traurig und von der Traurigkeit so durchgefroren, dass ich an der ersten U-Bahn-Station vorbeiging, um die nächste zu nehmen und mich durch das Gehen aufzuwärmen. Das klappte nicht. Einmal ging ich auch an der Station danach vorbei und lief durch eine Gegend, in der ich noch nie war. Hier wuchsen die Häuser als Blöcke in den Himmel. Sehr hoch und sehr gerade. Der Himmel dazwischen war quadratisch.

An einem der Häuserblöcke klebte am Erdgeschossfenster eine zerfranste Sonne aus Plastik. Ein Sonnenstudio, vor dessen Eingang eine stark gebräunte junge Frau stand. Sie hatte schwarz umrahmte Augen, sehr lange Fingernägel, eine Menge Tattoos und sah mich skeptisch an. Ohne Entschluss blieb ich einfach stehen.

»Der Kopf soll draußen bleiben und nur fünf Minuten?«, fragte mich die stark gebräunte junge Frau und guckte, als würde sie noch überlegen, ob ich nur komisch, aber harmlos oder plemplem und gefährlich war. Ich ließ die Sachen an. Ich klappte den Sonnenliegen-Deckel nicht herunter, aber das UV-Licht ging an. Das Licht war heiß und gleißend wie in einer Wüste.

 

Ein andermal holte Katharina mich vom Krankenhaus ab. Sie trug den alten Wollmantel, den sie schon als Jugendliche getragen hatte, und ihre selbst gestrickte Mütze. Den gelben Schal, den sie in ihren Händen hielt, schlang sie mir mehrfach um den Hals. Er war warm und weich und verbarg mein Gesicht bis zu den Wangen.

Das Auto, das sie sich irgendwo geliehen hatte, knatterte und schepperte und fauchte. Aus den Lautsprechern drang das letzte Lied einer festgefahrenen Dire-Straits-CD: »Brothers in Arms«. Katharina hatte mir den Beifahrersitz bis auf die Rückbank nach hinten geklappt. Ich lag lang gestreckt, wie auf einer Liege, und sah durch das milchige Schiebedachglas in die flackernde Nacht.

Ich löste meinen Blick nicht vom Lichtgemisch über mir, dem Laternenlicht, Ampellicht, Fensterlicht, den Sternen, ich hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen.

»Wie geht’s deinem Vater?«, fragte Katharina, und das Auto knatterte in ihre weiche Stimme.

»Schlecht.«

»Keine Chance auf Besserung?«

»Keine Chance.«

»Was kann ich tun, für dich? Irgendwie tun?«

»Einfach nur fahren, Katharina, von mir aus im Kreis, bis der Tank leer ist.«

Katharina bog in die Nebenstraßen und fuhr kreuz und quer und irgendwo durch die Stadt, was uns an damals erinnerte, als wir uns als Mädchen treiben ließen, durch diese und jene Straßen, helle und dunklere Kieze, auch solche, vor denen wir Angst hatten, aber in die uns die Neugier hineintrieb, hineinzog, wie lange unsichtbare Finger eines rastlosen, unentrinnbaren Stroms.

Damals hatte ich gedacht, dass Freundschaften, die einmal sehr intensiv waren, immer intensiv bleiben würden. Dass Jessi, Alma, Katharina und ich für immer das enge Viererkleeblatt bleiben würden. Wir hatten unser Lachen gekannt, unser Weinen und unser Fluchen. Wir hatten das echte vom künstlichen Lachen unterscheiden können. Wir hatten gewusst, welche Pullover jede von uns hatte, welche Hosen und wie viele Paar Schuhe. Als wir Hand in Hand durch die Straßen zogen, waren uns die Hände der anderen, die Feuchtigkeit in Almas Handflächen, die Unruhe von Jessis Fingerspitzen, Katharinas lange, schmale Fingernägel, vertraut gewesen.

Wir kannten den Geruch der anderen, das Haarshampoo, das Waschmittel, die Parfümproben aus den Zeitschriften, den Schweiß. Wir kannten das Zittern in Almas Stimme, wenn sie die Fragen der Lehrer beantwortete, sogar dann, wenn sie die Antwort sicher wusste. Wir kannten Katharinas ernsthaften Blick, wenn sie einer von uns aufmerksam zuhörte oder irgendjemand anderem. Wir kannten die zusammengezogenen Augenbrauen, wenn Jessi von ihrem Vater sprach.

 

Heute weiß ich, dass auch intensive Freundschaften verblassen können, sich reduzieren oder ganz verschwinden. Dass man ein Stück des Weges gemeinsam gehen kann und dann doch einer einfach anders abbiegt. Dass die Tatsache, dass man viel voneinander weiß, für den, der sich gerne erinnert, ein Segen sein kann, und für den, der vergessen will, vielleicht ein Fluch.

Abschied

Meine Brüder und ich liebten unseren Vater, und unser Vater liebte uns. Das sollte das Normalste der Welt sein, ist es aber, wie ich von Jessi und Alma und Katharina weiß, und wie ich bei ihnen sehen konnte, nicht. Deren Väter produzierten Steine, anstatt sie aufzuheben, kleine und große, die sie ihnen vor die Füße und auf die Schultern legten, als wir klein waren und auch als wir größer wurden. Meine Freundinnen hatten Gewichte zu räumen und zu schleppen, die mir vollkommen fremd waren. Ich schämte mich manchmal vor ihnen für mein Glück.

 

Vierzig Jahre hatte ich einen ganz besonderen Vater. Vierzig Jahre Stärkung ohne Aufdringlichkeit, ohne Eifersucht, ohne Forderungen und ohne Vorwürfe. Wenn ich ihn brauchte, war er sofort da, wenn ich ihn nicht brauchte, war er nicht beleidigt. Das Wissen darum, dass er da war und mir jederzeit helfen würde, hatte ich verinnerlicht. Es floss durch meine Adern.

 

Auf einem kleinen Friedhof, nahe der Wohnung meiner Eltern, unter einer Birke mit flirrenden Blättern, liegt er nun begraben. Meine Brüder und ich stehen mit den Rücken an der Birke und den Schultern aneinander vor dem Grab. Hinter unserer Mutter und uns und der flirrenden Birke stehen zweihundert Leute. Sie kennen unseren Vater als Freund, als Kollegen, als Nachbarn und irgendwie, sie kennen ihn nicht als Vater. Meine Brüder und ich drücken unsere Arme fester gegeneinander. Wir wissen, was uns verloren gegangen ist.

 

Später, in der Wohnung unserer Eltern, gibt es Brot und Suppe und Kaffee und Wein. Die Gäste stehen in allen Zimmern so dicht, als wäre eine Demo hineingelotst worden. Es ist auch genauso laut.

Ich schlüpfe aus der Küche durch die niedrige Tür in die winzige Kammer daneben. In dieser Kammer ist nur die Waschmaschine eingezwängt, und wenn man sich hinaufzieht, sieht man durch ein windschiefes schmales Fensterchen die tippelnden Tauben auf dem Hinterhof. Nach der ersten OP hatte ich Sonnenblumenkerne auf das Fensterbrett vors Fenster von Vaters Krankenhauszimmer gestreut. Er konnte noch ein wenig den Kopf drehen, es kamen Spatzen und Meisen und eine Amsel.

 

Vorsichtig geht die Tür auf, mein jüngerer Bruder sieht mich an, mein älterer Bruder steht dahinter. Ich rutsche so dicht es geht gegen das Fensterchen und schlage die Beine übereinander und die Arme umeinander, um meinen Brüdern Platz zu machen.

»Wo ist eigentlich Erik?«, fragt Mikis, mein jüngerer Bruder.

»Passé.«

»Passé?«

»Seit wann?«, fragt Jakob, der ältere.

»Nach Papas zweiter OP. Kommt’s dicke, kommt’s noch dicker.«

»Und du sagst nichts …« Meine Brüder schütteln die Köpfe, blasen die Backen auf und ziehen die Augenbrauen hoch, wie sie es früher getan haben, wenn sie ein Geheimnis gelüftet oder eine Geschichte erfahren hatten, die zurücklag, in denen sie mir irgendwie hätten beistehen wollen.

»Du kannst mit zu uns kommen, wenn du magst«, schlägt Jakob vor, »Hanne und die Kinder würden sich freuen!«

»Oder zu uns«, sagt Mikis.

»Danke, danke, ich hab eine Wohnung. Wie geht’s Klärchen?«, frage ich Jakob. »Gut. Wir haben alles ambulant machen lassen, der Bruch ist gut geschient und gut verpackt. Das heilt zu Hause. Hanne verwöhnt sie. Und Max und Lotti haben alle Pixie-Bücher zu ihr ans Bett geschleppt und lesen ihr vor. Max tut zumindest so, als könnte er schon lesen.«

 

Meine früheste Kindheitserinnerung ist schrecklich und schön zugleich: Mein Vater löst die Mullbinden von meinen Handgelenken, mit denen ich am Krankenhausbett fixiert bin, damit ich nicht aufstehen kann, und die sich bei jeder kleinen Bewegung fester ziehen. Er hält die Plastiktasse mit dem rauen, abgeplatzten Schnabel an meinen Mund, an die ich nicht herankam. Und ich trinke und trinke. Zwei im weißen Kittel reden energisch auf ihn ein, schimpfen, als er mich hochnimmt und mit mir zur Tür geht: »Gegen ärztlichen Rat, Herr Bauer, gegen ärztlichen Rat«, und mich hinausträgt, aus dem weißen Zimmer, dem langen Flur, durch die breite orangefarbene Glastür, durch den sommergrünen Park, durch tausend Straßen, bis nach Hause. »Atte katte nuwa«, singt mein Vater mir leise ins Ohr, »atte katte nuwa, emi, sademi, sadula misa de …« Ich war damals so alt wie das jüngste Kind von Jakob, so alt wie Klärchen jetzt, erst zwei.

 

»Ihr seid auch tolle Väter«, sage ich.

Mikis krümmt sich, er lehnt den Kopf auf meine Schulter und greift sich einen Daumen von mir und einen Daumen meines älteren Bruders, wie früher, als er drei oder vier Jahre alt war und schlechte Träume hatte. Seine Hand ist kalt. Ich drücke meine Stirn gegen das Fensterglas und sehe die Tauben verschwommen über den Hof spazieren. Wir hören die Stimmen der Gäste als Rauschen vor der Tür. Mal stößt ein Ellenbogen dagegen, mal ein Schuh. Meine Schulter wird nass.

»Wird das irgendwann mal besser?«, fragt Mikis.

In meiner Brust schwingt ein schweres Eisen, in meinem Hals klemmt ein Knoten, in meinem Kopf entsteht ein Bild meines jüngeren Bruders als Kind. Er kam nach seinem ersten Schultag nach Hause, seine Haare waren damals noch lockig, wie die unseres Vaters, sein Körper spindeldürr, seine Augen groß, der Ranzen schwer. Er stellte genau dieselbe Frage: »Wird das irgendwann mal besser?« Damals konnten wir nicken und sagen: »Ja, irgendwann«, und unsere Schokolade mit ihm teilen.

»Ich weiß nicht«, antworte ich diesmal.

Und Jakob sagt: »Ich denke nicht.«

Wir schweigen. Wir klemmen in der Kammer auf der Waschmaschine aneinander zwischen den Wänden. Wir spüren den Atem, den Puls voneinander, als gäbe es nur den einen. In der Küche fällt ein Glas, wir hören das Klirren auf dem Boden, das Scharren der Schuhe, das Klappern der Kehrschaufel. Kurz Stille, dann wieder Gemurmel.

»Und du, Schwesterchen, wärst eine tolle Mutter.«

»Zu spät.«

»Heutzutage doch nicht.«

»Ist gut.«

»André hat nach dir gefragt.«

»Ist gut jetzt.«

Ich will nicht daran denken, wie Erik zur Tür gegangen ist. In der Jacke, den Jeans, den Schuhen, wie jeden Morgen, aber mit den zwei großen Rollkoffern, unserer Lampe und seinem Rucksack. Er legte den Schlüssel auf die Kommode, sah an mir vorbei und dann auf seine Schuhe. An seinem Rücken hing ein loses blondes Haar von mir. Die Tür schlug zu.

Ich will nicht daran denken, dass ich mir ein Kind mit ihm hätte vorstellen können, an die große Hoffnung und Zuversicht Richtung eigener kleiner Familie, die mit ihm in mein Leben gekommen war und jetzt ging. Einfach wieder ging.

Vielleicht hatte irgendein Gott beschlossen, dass es mit dem Glück für mich jetzt mal genug sei. Hatte vor einem Jahr gedacht: Zu viel des Guten. Mein Vater wurde ganz plötzlich krank. Dass es nicht Heilung, nur etwas Aufschub gäbe, wurde uns vom ersten Tag an mitgeteilt. Wir kamen mit dem Verstehen nicht hinterher, aber funktionierten, wie aufgezogen. Mir kommt es vor, als wäre es gestern gewesen, dass er in seinem liebevollen Blick ein dünnes Flackern zu verstecken versuchte und sich an den Nacken fasste und uns ansah, als ob er sich entschuldigen müsste.

 

»Wird deine Ausstellung stattfinden?«, fragt Jakob.

»Ja«, sage ich, »auch wenn ich die Bilder nicht mehr sehen kann.«

Ich hatte an der Bilderserie zu arbeiten begonnen, bevor mein Vater krank geworden war. Ich wusste nicht, dass mir die leuchtenden Farben, die geschwungenen Formen und zarten Linien bald in die Seele stechen würden. Die Bilder sind nicht mehr schwungvoll und fröhlich, sie sind höhnisch. Und ihre spöttischen Blicke richten sich auf mich mit dem ersten Schritt über die Schwelle.

Das ganze Atelier ist seit der Diagnose meines Vaters auf der Seite der Bilder. Das große helle Fenster, der Ofen, die Staffelei, sogar die Kaffeekanne. In allem steckt seitdem das höhnische, von oben herab- und von unten heraufschauende Grinsen. Nur dass der Kiez drum herum heruntergekommen ist, das letzte unsanierte Stückchen Prenzl’ Berg, melancholisch und unperfekt, beruhigt mich.

 

»Lasst uns doch bald mal wieder Musik zusammen machen«, sagt Jakob. »Wir haben Strom in die Scheune gelegt, es ist Platz, man kann alles anschließen. Die Ferienwohnung ist frei und auch die Dachkammer, wäre doch schön.«

Wir nicken.

»Kommt einfach öfter, ja? Tick, Trick und Track.«

Nach Vaters Diagnose war mein älterer Bruder jeden zweiten Tag aus der Uckermark nach Berlin gefahren und saß mit uns im Krankenhaus. Wir waren immer zu zweit oder zu dritt da. Unsere Mutter kam morgens und abends. Vaters Bettnachbar gewöhnte sich an uns, schließlich grüßte er uns grinsend, wenn wir kamen. Der Bettnachbar hatte nur einen gutartigen Tumor, schlimme Zuckerwerte und eine versteckte Kuchenschachtel unterm Bademantel im Schrank. Mein Vater konnte nicht mehr sprechen, aber über die Kuchenschachtel lachte er. Der Bettnachbar zeigte sie ihm: »Du kannst es ja nicht mehr verraten, Kumpel.«

Mein Vater redete mit Händen, Füßen und Blicken. Wir interpretierten mit Logik, Verstand und Emotion. Und mit der Vertrautheit der vergangenen Jahrzehnte. Wir diskutierten manchmal ewig darüber, was er meinen könnte. Vaters Bettnachbar nannte uns »Tick, Trick und Track« oder »Die drei Fragezeichen«, und manchmal klatschte er. Und mein Vater lächelte erschöpft, wenn einer von uns schließlich aussprach, was er uns mühsam hatte mitteilen wollen.

»Warum ausgerechnet er?«, fragt Mikis, »warum nicht all die Brutalos, Folterer, Diktatoren?!«

»Die brauchen wohl gerade einen Guten da oben … bei dem, was so los ist in der Welt.«

Wir hören ein leises Klopfen an der Tür, aber keiner von uns kann sich rühren.

»Wir kommen gleich«, ruft Jakob.

Unterm Fenster tippeln die Tauben auf und ab. Eine fliegt auf.

»Scheiße«, flüstert Mikis, »ist doch absolute Scheiße.«

 

Nachdem die Gäste gegangen sind, ist die Wohnung so chaotisch und unsere Mutter so müde, dass sie sich mit ihrer besten Freundin und einem Glas Wein auf den Fußboden legt und meine Brüder zusammen mit Steffi, der Frau meines jüngeren Bruders, und ihrem großen Sohn Paul um sie herumschleichen und Teller und Gläser aufräumen. An der Wand neben der Spülmaschine, aus der ich das saubere Geschirr nehme, hängt ein Foto meiner Eltern von vor einem Jahr. Lächelnd, Hand in Hand, und die Sicherheit im Blick, sich nicht mehr zu verlieren. Ich muss mich wegdrehen.

»Willst du wirklich nicht mit zu uns?«, fragt Jakob.

»Oder zu uns?«, werfen Steffi, Paul und Mikis direkt ein.

»Ich bin noch verabredet.«

»Oh! Schön!«

»Nicht so, wie ihr denkt, Jessi ist da.«

»Bei dir? Warum ist sie nicht hier?«

»Nicht bei mir. In der Stadt. Arbeitstermine. Zur Beerdigung konnte sie nicht.«

»Okay. Pass auf dich auf, Sunny! Bis bald.«

»Bis bald, ihr Lieben.«

 

In der S-Bahn lehne ich den Kopf an die Scheibe und stelle mein Handy an. Keine Nachricht von Jessi. Ich schließe die Augen und denke an den Abend am Ufer der Spree vor drei Wochen. Jessi kam im Business-Kostüm, auf hohen Absätzen über die aufgeweichte Wiese, so elegant und stolperfrei, als wäre es ganz alltäglich. Sie lächelte, wir hatten uns ewig nicht gesehen.

Ihr braunes Haar war jetzt rotblond gefärbt, und an den Mundwinkeln saßen erste kleine Fältchen, aber unter den sorgfältig geschminkten Augenlidern flackerte der gleiche helle Blick wie früher. »Ach, Sunny, es tut mir so leid!« Alma verteilte Spanholzplättchen und Filzstifte. »Schreibt was Schönes an den Rand, in die Mitte kleben wir die Teelichter.« Katharinas Augen irrten vom Holzplättchen in ihrer Hand zur Spree. »Ich kann’s nicht glauben«, sagte sie, »ausgerechnet dein Vater.«

Vor das Bild der vierzigjährigen Jessi im Business-Kostüm schiebt sich das Bild der zwölfjährigen Jessi, die wie Katharina, Alma und ich neu an die Schule am Torbogen kam, im Westteil unserer seit einem Jahr wiedervereinigten Stadt. Jessis Halbschuhe waren zu groß für ihre Füße. Sie kam in die Aula und hob die Schuhe nicht an beim Gehen, um sie nicht zu verlieren, schob ihre Schritte voreinander übers Parkett, wie auf einer Schlittschuhbahn.

»Hier«, rief ich, »hier ist noch ein Platz frei.« Da blieb sie stehen, da musterte sie mich mit ihrem hellen Blick von oben bis unten. »Ich bin auch neu.« Jessi zog ihre Hände in die Ärmel. »Jessica«, sagte sie. Dann setzte sie sich neben mich, zweite Reihe, ganz links an den Rand, ihr rechter Pulloverärmel verrutschte ein wenig. Ich sah feine weiße Linien quer über ihrem Unterarm und hörte den Schulleiter: »Guten Morgen, liebe Schüler und liebe Neue aus der DDR.« Ich guckte nach vorne, zur Bühne, wo der Schulleiter so klein war, dass ich über den Köpfen der Reihe vor mir nur seine glänzende Stirn sah.

Und ich muss an meinen Vater denken, wie er sein Buch zur Seite legte und mich aufmerksam ansah, seine immerwährende Ruhe und einen traurigen Ernst im Blick, als ich ihn nach Jessis Unterarmen fragte.

 

Mein Handy klingelt.

»Jessi! Schön, dass du anrufst, ich steig jetzt in den Bus und bin dann gleich zu Hause.«

Jessi trägt um ihre Unterarme mittlerweile Schlupfstulpen aus Seide. Alma hat sie ihr genäht. Ich erinnere mich daran, dass ich sie das erste Mal an Jessi sah, als sie sagte, sie gehe nach Frankfurt.

»Sunny …« Die S-Bahn fährt quietschend in den Endbahnhof ein. Vor mir Menschen, die aussteigen, hinter mir Menschen, die aussteigen, ich mittendrin. Ich werde mitgespült, den Bahnhof entlang. Die verlassene S-Bahn drückt von hinten, die Bushaltestelle zieht von vorne. Ich kann Jessis Stimme nicht hören, presse das Handy fester an mein Ohr.

Mein Ohr versucht sich zu konzentrieren, alles andere auszublenden. Mein Ohr zweifelt an den Worten, die es aufschnappt. An Jessis Worten. Weil es nicht glauben kann, dass Jessi unser Treffen gerade absagt, ausgerechnet heute, dass sie gleich wieder in ihr Meeting zurückmuss, sie wüsste nicht wie lange, open end sozusagen, und morgen früh gleich wieder raus, zurück nach Frankfurt, leider.

»Es tut mir leid, Sunny. Ich bin bald wieder in Berlin. Nimm’s mir nicht krumm, ja? Du bist doch die Stärkste von uns vieren, das Glückskind, du packst das schon. Sunny? Sunny??«

Der Bus steht an der Haltestelle. Ich steige vorne ein, gehe einmal hindurch und steige hinten wieder aus. Und laufe.

Das beruhigt mich. Und vor die Enttäuschung über die Absage der viel beschäftigten Jessi rutscht die Erinnerung an die anderen Jessis, die, die mit Ende zwanzig Angst hatte, ihr Studium nicht zu schaffen, und bei McDonald’s jobben musste, die, die beim Feiern kein Ende fand und immer das entscheidende Glas zu viel trank. Die, die als Teenager aus dem Fenster kletterte und dabei fiel, aber nicht schrie, um unser Treffen nicht zu gefährden. »Wenn man so Hürden hat wie ich«, sagte sie damals, »gewöhnt man sich ans Fallen und Wieder Aufstehen. Und wenn die Hürden immer höher werden, werden die Beine immer länger.« Und ich denke an die Jessi, die in der Aulatür stand und mit schlurfenden Schuhen übers Parkett ging.

 

Alma war auch in der Aula. Sie saß schräg vor uns und schaute hoch zur Bühne. Sie hielt einen spitzen Bleistift in der Hand. Auf ihren Knien lag ein weißer Block. Sie machte sich Notizen, während der Schulleiter sprach. »Streberin«, flüsterte der Junge neben ihr, riss ihr den Block weg und las. Almas Blick blieb dabei zur Bühne gerichtet, ihre Hand erstarrte. Also trat Jessi von hinten gegen die Wade des Jungen. Der Junge sah sich um, und ich zog den Block weg. Die Schrift darauf war gleichmäßig und schön. Nicht rund, wie viele Mädchenschriften, nicht kantig, wie die der meisten Jungs. Jetzt drehte Alma sich um, und wir lächelten uns an.

Katharina habe ich erst später wahrgenommen. Als aus dem blassen, unscheinbaren Mädchengesicht aus der hintersten Klassenzimmerbank ein überraschend klarer Widerspruch zu einer Behauptung der Lehrerin kam, mit dem keiner gerechnet hatte. »Intelligenz und Wissen sind aber zweierlei, Frau Merz. Wer alle Bücher zur Verfügung hat, ist nicht zwangsläufig klug, der, der sie nicht hat, nicht zwangsläufig dumm. Ein Ossi ist nicht dümmer als ein Wessi, Klugheit und Dummheit gibt es überall.«

Der unsichtbare Riese

Ich bin jetzt schon öfter zum Friedhof gefahren. Jedes Mal sah ich meine Mutter durch den Zaun. Ihre ausgestreckten Arme pflanzten kleine, zarte Blumen, der Saum ihres Mantels war voller Sand. Es war mir nicht möglich, durch das offene Tor und an der Kapelle entlang zum Grab zu gehen. Jedes Mal zog sich eine Schlinge um meinen Hals zu, und ein unsichtbarer Riese schlug mit einem Vorschlaghammer blindlings auf mich ein.

Ich bin immer früh dort, meine Mutter wäscht sich am Friedhofsbrunnen die Hände und geht dann zu Fuß zur Arbeit. Einmal trat ich zwischen den Autos hervor, hinter denen ich gestanden hatte, und winkte. Wir gingen eine Viertelstunde gemeinsam, bis zu der Ecke, wo im Souterrain eines alten Backsteinhauses der Teeladen ist, in dem meine Mutter Tee und Teeblätter verkauft und frischen Tee serviert. Ich wartete noch, bis sie die Tür aufschloss und mir der irrlichternde Duft von tausenderlei Blüten, Blättern und Kräutern entgegenfloss, dann ging ich zur S-Bahn.

 

»Lass das doch alles einmal raus, Sunny. Dann geht’s dir besser.«

»Geht nicht. Hilft nicht.«

»Kannst du nicht weinen?«

»Klar kann ich weinen. Einmal habe ich es bis ans Grab geschafft. Der unsichtbare Riese, der auf mich wartet, hat auf mich eingeschlagen und nicht wieder aufgehört, und ich habe geheult wie ein Schlosshund und nicht wieder aufgehört. Drei Stunden, dann bin ich nach Hause gefahren. Alles rauslassen funktioniert bei mir nicht, weil dieses ›alles‹ anscheinend nie zu Ende ist, ein Fass ohne Boden, ein Brunnen, der nicht versiegt.«

»Mir hilft das Weinen.«

»Mich dreht’s nur durch die Mangel.«

»Da sind wir wohl verschieden.«

»Macht doch nichts, Mama.«

 

Der Verlust meines Vaters schmerzt mich so sehr, dass er nicht mit Tränen herauszuwaschen ist. Auch nicht zu betäuben. Die Tränen sind ein Strudel, der mich hinabzieht, und die Ruhe darin ist nicht sanft. Nur die Möglichkeit zu verdrängen hilft mir und lässt mich weiter einen Schritt vor den anderen machen. Das letzte Foto meines Vaters kann ich mir nicht aufstellen, auch wenn andere das nicht verstehen können. Seine Augen schauen, sein Mund lächelt. Die Traurigkeit ist nur ein Hauch darin und doch anwesend genug, um mich die Ohnmacht spüren zu lassen, die schon ein Teil von ihm war, weil er wusste, er würde nicht aufhalten können, was kommt, und uns allein lassen müssen, und die jetzt ein Teil von mir ist, weil ich nicht aufhalten konnte, was kam und er nicht mehr da ist.

Bilder

Das erste Mal seit Vaters Beerdigung betrete ich jetzt mein Atelier. Es ist stockdunkel, und alle Bilder sind es auch, denn ich lasse die Lampen aus. Ich ziehe mir trotzdem mein Arbeitshemd an, schiebe mir trotzdem eine Leinwand zurecht. Getrocknete Farbe liegt glatt auf der Palette, die Tuben fühlen sich kühl an in meiner Hand. Ein Auto fährt vorüber. Es streicht einmal Licht über alles. Ein bewegliches Licht, einen langen, erst länger und dann wieder kürzer werdenden Fleck. Huscht über die leere große Leinwand und verschwindet in der Ecke aus dem Raum. Ich strecke meine Hand aus und taste nach einem Pinsel. Und taste mit dem Pinsel auf der Palette die frische Farbe. Und taste mit der Farbe am Pinsel über die Leinwand.

 

Auf dem Weg vom Atelier nach Hause begleitet mich ein Gedankenschleier. Erinnerungen an meinen Vater schweben durch meinen Kopf. Das letzte Krankheitsjahr drängt sich länger und dominanter auf als all die schönen Jahrzehnte zuvor.

Ein Ball rollt vor meine Füße, und ich stolpere. »Entschuldigung«, ruft eine Stimme. Neben dem Weg ist ein Spielplatz, der gehört am Vormittag den kleinen Kindern, am Nachmittag den älteren Kindern und am Abend den Jugendlichen. Der Spielplatz ist zu jeder Uhrzeit ein anderer. Die Holzburg ist am Vormittag ein unbezwingbarer Koloss im weiten Sand, am Nachmittag ein Kletterparadies, am Abend Torwand, Trimmpfad und Sitzgelegenheit. Ich werfe den Ball in die Dunkelheit, irgendjemand fängt ihn.

 

Ich bleibe stehen und zünde mir eine Zigarette an. Dann erinnern mich die Türme der Holzburg, die schwarz im Abendhimmel stehen, die Fahne, die auf einem von ihnen flattert, an das Holzschiff. An das Spielschiff, das mein Vater uns einmal gebaut hat, in unserem Kinderzimmer, Tag für Tag und Monat für Monat und Stück für Stück.

Immer, wenn wir von unserem Sommerurlaub an der Ostsee zurückkamen, vermissten wir das Meer und den Strand und die Schiffe, weil wir nicht wieder in den Alltag, die Schule und den Herbst zurückwollten. Dann wurde mein Bruder Jakob sehr ernst, mein Bruder Mikis krank und ich wütend, jedes Mal. Irgendwann brachte mein Vater ein großes Brett mit nach Hause. Er würde uns ein Holzboot bauen, zum Spielen, versprach er, als Erinnerung an den Urlaub, die Sonne und das Meer. Wir umringten ihn neugierig und guckten.

Jeden Tag brachte mein Vater nun ein Stück Holz, ein Brett oder ein abgebrochenes Stuhlbein mit nach Hause. Manchmal auch nur eine Schraube oder einen Nagel. Es gab ja in Ostberlin damals keine Baumärkte, alles wurde am Straßenrand gefunden oder abgezweigt. Obwohl es über ein Jahr dauerte, bis unser Boot fertig war, verfolgten wir jeden Hammerschlag, jeden Handgriff, jede veränderte Nuance genau und gespannt. Und mit Geduld.

Während ich an meiner Zigarette ziehe, während ich am Burg-Spielplatz vorbei und von ihm weg durch die Straßen gehe, während ich einem betrunkenen Mann ausweiche und die große Kreuzung überquere, während ein Lastwagen erschreckend laut einen Motorradfahrer anhupt und ein Hund zu bellen anfängt, entsteht vor meinem inneren Auge unser Holzschiff im Kinderzimmer, der Bug zum Fenster ausgerichtet, ein deckenhoher Mast mit einem blauen Segel und einem roten Fähnchen, drei Kojen mit Bullaugen aus altem Fensterglas, eine geknüpfte Strickleiter, ein Steuerrad.

Wir kletterten jeden Tag bis zur Erschöpfung auf unserem Schiff herum. Wir brachten alle drei unsere Schätze, zerbrochene Schlüssel, Glasmurmeln, Silberdraht oder sonst was in den Kojen unter, flüsterten und fühlten uns auf einer besonderen, geheimen Reise. Wir wollten die Meere erforschen, auch die, die außerhalb der DDR lagen, die mit den Palmen und den springenden Delfinen. Und immer genau dann, wenn unsere Mägen knurrten, stand unsere Mutter im Zimmer und reichte Butterbrote und die gluckernde orangefarbene Thermoskanne über unsere Reling.

 

Ich hole mein Handy aus der Tasche, bleibe stehen, schreibe eine Nachricht an Jakob und Mikis: »Könnt ihr euch noch an unser Schiff erinnern?«, gehe weiter, weiche einem Fahrrad aus, gucke erneut aufs Handy.

Mikis hat schon geantwortet: »Na klaro!«

Jakob schickt ein Foto aus seinem Garten mit einem riesigen Holzschiff, Rutsche und Schaukel. »Habs nachgebaut, nur etwas größer.«

»Wie toll«, schreibe ich.

»Tausendsassa«, schreibt Mikis, »wann werden wir eingeladen?«

»Jederzeit, und diesmal lasse ich euch auch an das Steuerrad, versprochen!«

Ich biege in meine Straße, sehe das Licht einer kaputten Laterne flattern und gegenüber, auf der anderen Straßenseite, einen Mann an einen Baum pinkeln, seelenruhig, als wäre er alleine in dieser Straße, in dieser Stadt, in dieser Welt. Als wäre die nächste Kneipe, die nächste öffentliche Toilette meilenweit entfernt, statt an der nächsten Ecke.

Über dem Mann reckt sich eine Skulptur in den Himmel. Es ist der Straßenbaum, der seine Zweige vor die erleuchteten Fenster eines Hauses streckt und einen zerrissenen Drachen zwischen seinen Herbstblättern hält. Ein Fenster hat einen gelben Vorhang, ein Fenster hat einen weißen Vorhang, ein Zimmer hat eine große, runde orangefarbene Lampe. Ein krummer Ast geht über in das hohe Rechteck eines Schornsteins, eine Astgabel reckt sich an einen vorspringenden Balkon. Es fließen Linien und Blöcke ineinander. Farben und Schattenspiel.

Schon als Kind faszinierten mich solche Momentaufnahmen, deren zufällige Schönheit vergänglich war und von niemandem geplant. Dass der, der es sieht, den Moment in sich aufnehmen kann und mit sich mitnehmen und vielleicht ein andermal wieder hervorrufen, irgendwo und irgendwann.

Um- und Aufbrüche

Einen Tag nach der Maueröffnung, als die Menschen- und Autoschlangen noch immer endlos waren, reihten sich meine Eltern mit meinen Brüdern und mir auf der Rückbank in unserem Trabi auf der Bornholmer-Brücke Richtung Westberlin ein. Wir warteten lange, aber wir hatten Geduld, weil wir alle beieinander und weil wir neugierig waren. Wir beobachteten alles um uns herum, saugten jeden Eindruck auf, die Gesichter, die skeptisch aussahen, die Gesichter, die jubelten, die Gesichter der Betrunkenen und die der Soldaten. Mein älterer Bruder war dreizehn Jahre alt, mein jüngerer zehn und ich elf, und wir fingen eine Süßigkeitentüte mit grünen, süßsauren Fruchtgummiringen.

Der Wedding hatte ähnliche Häuser und Straßen wie unser Prenzl’ Berg, nur schien alles greller, voller und unübersichtlich. Wir hatten noch nie so viele Leuchtschilder und Reklamen gesehen, wir versuchten im Vorbeifahren die halb zerrissenen, herunterhängenden Plakate zu verstehen. Die Leute im Wedding hatten es alle ziemlich eilig, manche sahen unseren Trabi, winkten und blieben kurz stehen. In der Hand etwas Essbares oder Plastikflaschen oder Getränkedosen oder Plastiktüten, große und kleine, in allen Farben.