Auf Wiedersehen - Jasmin Ramadan - E-Book

Auf Wiedersehen E-Book

Jasmin Ramadan

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Beschreibung

Ben hat seine Ehe an die Wand gefahren, seitdem sitzt der Geist seiner Mutter auf dem Badewannenrand. Marlene verlässt ihren perfekten Ehemann, versucht sich auf Tinder und begegnet Jupiter. Nikki muss als sexy Geliebte den Serien-Tod sterben und verliert nicht nur ihr sicheres Einkommen, sondern auch ihren Partner Mats – an eine zwanzigjährige Influencerin. Sie alle betreiben die eigene Schadensbegrenzung, bis einer der Freunde spurlos verschwindet ... Jasmin Ramadan, Autorin von Soul Kitchen und der taz-Kolumne »Einfach gesagt«, unterhält im allerbesten Sinn: mit scharfsinnigem Humor, psychologischer Tiefe und lakonischer Eleganz. »Erst mit etwa 45 Jahren werden Menschen wahrhaftig interessant. Nie zuvor habe ich beim Schreiben so aus dem Vollen geschöpft.« Jasmin Ramadan

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Jasmin Ramadan

Auf Wiedersehen

Alle Rechte vorbehalten

© Weissbooks Verlagsgesellschaft mbH, Berlin 2023

Umschlag, Gestaltung und Satz: Harald Hohberger Grafikdesign, Berlin

ISBN 978-3-86337-210-1

www.weissbooks.de

[email protected]

für Heidi Ramadan

30.8.1940 – 5.12.2021

Teil I – Sommer

I’m only humanOf flesh and blood, I’m madeHumanBorn to make mistakes

The Human League

Ochsenherz

Symptome lautete der Titel von Leilas neuem Buch, und leider klang nichts daran nach einem Liebesroman. Ben las online eine Zusammenfassung der Handlung und sah sich ein Interview an, in dem Leila sagte, sie habe beim Schreiben noch nie so aus dem Vollen geschöpft. Jetzt war er also eine Romanfigur.

Ben betrachtete seine Umrisse in der Scheibe der Balkontür. Das matte Licht der hohen Bogenstehlampe ermöglichte ihm einen vagen Blick auf seine Erscheinung.

Das bin ich, dachte er, ohne zu verstehen, was dieser Satz für ihn bedeutete. Vielleicht würde Leilas Buch ihm Klarheit darüber verschaffen, wie er zu so einem Menschen geworden war, meist allein in seiner Wohnung, ohne soziale Kontakte, von den Boten für verschiedene Dienstleistungen einmal abgesehen. Mit über vierzig lebte er seit einer Weile vor sich hin wie ein depressiver Student, der sich mehr und mehr das Hirn wegkiffte.

Seit dem Ende ihrer Ehe behauptete Leila, Ben habe eine narzisstische Störung entwickelt. Dank seiner Internetrecherche wusste er nun, narzisstisch gestörte Menschen würden lieben lassen, anstatt aktiv zu lieben, Sexualität sei dabei oft nur ein Mittel zum Zweck.

Ben löschte das Licht, zog sich nackt aus, legte das Telefon umgedreht beiseite, setzte sich mit verschränkten Armen aufs Sofa und versuchte Zugang zu dem zu finden, was er fühlte. Seit Kurzem mochte er sich nicht mal mehr einen runterholen. Bestenfalls lag es am Alter, aber wahrscheinlich doch eher an ihm, so wie alles. Leila nahm ihn nicht mehr ernst. Andere Frauen zu verunsichern, war leicht.

Er sah gut genug aus, nordisch, schlank, hielt immer eine gewisse Distanz, sprach dennoch über seinen Weltschmerz und weinte bei der dritten Verabredung. Wegen seiner »genetisch bedingten Melancholie«. So nannte er es. Immer wieder aufs Neue hörte er sich so reden und wusste, nun berührte er die Frauen an ihrer berechenbarsten Stelle, ihrer Disposition zur Mutter. Bevor er mit ihnen schlief, ließ er sich Zeit, Bedürftigkeit war nicht begehrenswert. Er war eloquent, erfolgreich, trug immer gute Schuhe und kannte sich mit vielem aus, am besten mit Politik. Nichts interessierte ihn mehr als das Auflehnen gegen Diktaturen. Vor allem dort, wo das Militär einen schnell beseitigen konnte. Er verschlang Berichterstattungen darüber, wie Menschen ihr Leben für die Freiheit riskierten, bereit, sich zu opfern, um Autoritäten zu Fall zu bringen.

Manchmal verschickte Ben Selfies mit tränenüberströmtem Gesicht an verschiedene Frauen. Er schrieb dazu, welche politische Ungerechtigkeit ihn aus der Fassung gebracht hatte. Es war ja nicht mal gelogen. Vielleicht ein wenig überinszeniert. Aber Bilder waren sein Leben. Ben arbeitete als Werberegisseur und war zudem noch immer Künstler. Mit der Kunst machte er Eindruck, verdiente sich Aufmerksamkeit und Bewunderung, als Werberegisseur unanständig viel Geld.

Wollte er Frauen wieder loswerden, wusste er ebenso genau, was zu tun war. Er musste nur reduzieren: Komplimente, Nachrichten, Zuverlässigkeit. Wenn sie ihn darüber zu reden drängten, redete er stattdessen über politisches Tagesgeschehen, einen aktuellen Krieg, die Ungerechtigkeit der Welt, Wichtigeres eben, und zu guter Letzt sagte er, es habe einfach nicht über das Körperliche hinaus gepasst, da gebe es nichts groß zu besprechen. Schwache Frauen konnte Ben nicht ertragen, sie erinnerten ihn an seine Mutter. Mit selbstzerstörerischer Konsequenz versuchten sie sogar den Verlust des Allerschlechtesten zu vermeiden, und Ben wunderte sich jedes Mal aufs Neue, dass sie mit universaler Entschlossenheit bedingungslos zu lieben bereit waren. Sobald auch diejenigen mit dem geringsten Selbstwertgefühl endlich genügend Wut aufbrachten, die Nachrichten zur Nacht immer seltener wurden und endlich ganz ausblieben, erfüllte es ihn feierlich. Ben ging dann wieder mehr unter Leute, streifte durch Bars und alles begann von Neuem. Eine Zeit lang lebte er nur noch von Adrenalin und anderen Hormonen. Das Zeug war tückisch, ein trügerischer Ersatz für Glück. Er liebte nicht mehr, er war auf Liebe.

Doch seine Methode, auf diese Art das Ego zu füttern, funktionierte schon länger nicht mehr, sie ließ ihn bei seinen letzten Versuchen nur noch beschämt und unbefriedigt zurück. Als Romanfigur würde er nicht mehr viel hergeben.

Leila wusste von all dem nichts. Ihre Liebe war wie eine Hypernova gewesen, die Explosion eines massiven Sterns, die gewaltige Energie freisetzt, und am Ende bleiben nur schwarze Löcher.

In seinem Unbehagen fragte Ben sich nun, wann er eigentlich zum letzten Mal Kontakt zu seinen besten Freunden gehabt hatte und ob Leila in ihrem Roman die Ereignisse schildern würde, die damals zu dem schleichenden Bruch mit Mats und Linus geführt hatten.

Ben hatte seitdem nie wieder vergleichbare Freundschaften geschlossen. Die meisten seiner Kollegen hielt er für Idioten, oder sie waren nett, aber langweilig. Als er nun darüber nachdachte, erschienen ihm die WG-Jahre mit Mats und Linus als die schönsten seines Lebens. Zumindest bis zu der Sache, als sie zusammen auf Kreta waren. Die letzten zwanzig Jahre hatte Ben weitgehend ausgeblendet, was damals passiert war, doch die Leichtigkeit der Jugend war nie zurückgekehrt.

Mats’ kleiner Bruder hatte sich auf den Weg zu einer Party gemacht, um ein Mädchen zu treffen, während Linus, Mats und er besoffen im Appartement pennten. Er kam nie bei der Party an und blieb für immer verschwunden.

Ein paar Monate nach Bens Rückkehr aus Griechenland traf er Leila in einer Bar, und vielleicht lag es an seinem Zustand der Trauer, dass er sich gefährlich tief in sie verliebte und bald schon wusste, das ist jetzt für immer. Und so war es auch, nur, dass es nicht für immer gut war.

Ben nahm das Telefon und klickte Instagram an, um nach seinen alten Freunden zu sehen. Mats war jetzt mit einer sehr jungen Frau zusammen, wohnte in Berlin und posierte auf dem neusten Foto mit ihr im Bett, in einem pastellgelben Camouflage-Hemd, schielend und mit albern wuscheligem Haar.

Linus’ Profil enthielt nur Bilder von seinem Garten, von selbst gepflanzten Kräutern und vor allem Tomaten in vielen Formen, Größen und Farben. Auf einem Foto waren auch seine zwei Kinder von hinten am gedeckten Tisch zu sehen. Linus’ Frau tauchte nie auf. Sie selbst hatte auch ein Profil, allerdings ohne einen einzigen Beitrag.

Ben überlegte, sich bei Linus zu melden, aber er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Nach so langer Zeit. Zwei Jahre zuvor hatte Linus ihm eine Nachricht geschrieben, nachdem Bens Mutter gestorben war, darauf könnte er sich vielleicht beziehen, der Tod verjährt nie.

Als Bens Mutter kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag plötzlich starb, trauerte er dauerbekifft und arbeitete so viel wie noch nie zuvor. Er nahm einen Job nach dem anderen an, gerne Drehs im Ausland, immer neue Außenreize, das funktionierte einigermaßen. Aber während dieser Zeit wurde er so verdammt wütend auf Leila, und egal, was sie tat, es hörte nicht mehr auf, nicht für einen Tag, nicht mal für ein paar Stunden.

Ben entschied im Strudel dieser Wut, dass er nur noch an sich denken durfte, um klarzukommen. Alles andere verkomplizierte sein emotional strapaziertes Gefüge unnötig, und er konnte nicht mehr der perfekte Ehemann sein.

Leila hatte sich zu Beginn ihrer Ehe manchmal bei seiner Mutter bedankt, für den empathischen, treuen und loyalen Mann, den sie großgezogen hatte. Ben versuchte sich an diesen Mann zu erinnern, der seine Frau so glücklich machen konnte. Aber Leila war auch schon ohne ihn der seligste Mensch gewesen, den er kannte. Am liebsten lag sie im Bett in ihrem Chaos von Büchern, Notizen, Zeitungen und Klatschmagazinen. Dort schlürfte sie bis zum Nachmittag längst erkalteten Kaffee aus ihrem bizarr großen Becher und verschob jeden Termin mindestens einmal. Leila kam ihm immer ein bisschen schlauer vor als er selbst, und in ihrer Willensstärke erinnerte sie ihn, trotz ihrer einnehmenden Sinnlichkeit, an seinen Vater.

Die meiste Zeit ihrer Ehe war sie ein unerschütterliches Phänomen der absoluten Selbstakzeptanz, was in Faulheit den schillerndsten Ausdruck fand. Wenn sie nicht im Bett lag, lag sie auf dem Sofa und sah den ganzen Tag fern, oft mit einem Kater, nach hart durchfeierter Nacht mit vielen Schnäpsen. Sie erschien ihm oft nichtsnutzig und grandios zugleich. Zwei Adjektive, die für ihn unvereinbar waren. Ben hatte über Jahre alles dafür getan, um sie noch glücklicher zu machen, als sie ohnehin schon war, damit sie bloß nicht merkte, dass sie ihn eigentlich gar nicht brauchte. Sein Geld verschaffte ihr die Sicherheit, in Ruhe einen Roman nach dem anderen zu schreiben, ohne sich um Verkaufszahlen zu scheren.

Nach dem Tod seiner Mutter hörte Ben auf, sich an das Glück mit Leila zu erinnern, denn Frieden war etwas Unerträgliches geworden. Seine Frau war auch nur ein Mensch, sie war sterblich, wie seine Mutter, wie sein Vater. Er begriff, er würde es überleben, dass nichts für immer war, und er begann Leila zu betrügen. Während seiner Jobs im Ausland betrog er sie jedes Mal, wurde dabei immer dreister und unvorsichtiger, so lange, bis sie es endlich bemerkte.

Seit einer Weile war es nun vorbei mit dem Reisen, denn er hatte vor ein paar Monaten eine Panikattacke auf dem Rollfeld bekommen und konnte das Flugzeug nicht besteigen. Auch beim nächsten Versuch, ein paar Wochen später, wiederholte sich diese erniedrigende Situation. Nie zuvor hatte er geglaubt, dass es solche Totaleinbrüche wirklich gab, war immer überzeugt gewesen, Menschen simulierten Panikattacken, um sich vor Arbeit oder Verantwortung zu drücken. Von seinem Hausarzt erhielt er nach dem dritten Mal die Telefonnummer einer Therapeutin. Er musste sich wieder auf die Reihe kriegen, denn die besten Kampagnen wurden im Ausland produziert.

Noch zögerte er, sich einen Termin geben zu lassen, aber er musste etwas unternehmen, denn es ging ihm ja längst schon auch abseits von Rollfeldern schlecht.

Das Kiffen, sein Allheilmittel seit Jugendzeiten, verschlechterte die Lage nun eher, er bekam davon manchmal Hirngespinste und oft ein sonderbares Jucken in den Handflächen. Und wenn er versuchte, über irgendetwas nachzudenken, reduzierten sich seine Gedanken schnell auf einen einzigen Satz: Ich bin so verdammt wütend. Ben hoffte, selbst drauf zu kommen, womit er es zu tun hatte, um die verteufelte Angelegenheit allein zu lösen.

Nur bemerkte er schnell, dass er im Grunde einen Groll auf jede einzelne Person hatte, die er kannte, und am Ende war es immer wieder Leila, an die er mit außerordentlichem Zorn dachte, und an dieser Stelle kam er nicht weiter, weil sie ihm eigentlich nichts getan hatte, außer sie selbst zu sein.

Ben googelte die Therapeutin und fand nur ein einziges Foto. Sie sah freundlich aus. Doch während er sich das Bild ansah, wurde er auch auf sie wütend, und als er mit schweißnassen Händen hektisch in seinem Telefon nach irgendeiner Ablenkung suchte, klickte er wieder Instagram an, wo Linus gerade das Foto einer monströsen Tomate hochgeladen hatte. Irritiert stellte Ben fest, dass er auf Linus nicht wütend war, keine Spur, sein alter Freund war der einzige Mensch, der trotz der albernen Tomatenfotos keine Abscheu in ihm hervorrief, und Ben fragte sich, wie es Linus wohl gerade ging, ob er glücklich war. Mit Schrecken wurde ihm bewusst, dass er sich schon lange nicht mehr gefragt hatte, wie es irgend jemand anderem ging, und er suchte in seinen Kontakten nach Linus’ Nummer.

Der Fahrgastwunsch

Machst du heute abend wieder dein Hühnchen?

Marlene saß im Bus und starrte auf ihr Telefon. Wieso ihr Hühnchen? Linus wollte es, er mochte es, es war sein blödes Hühnchen in Butterzitronenthymiansoße mit Wildreis. Sie bekam Lust, eine zu rauchen, so wie immer, wenn sie wütend war. Schon seit Jahren hatte sie sich keine Zigaretten mehr gekauft, denn sie führte nicht mehr so ein Leben.

Vielmehr verharrte sie in Zuständen und ging ihrem Alltag nach. Meist war sie dabei gelangweilt und ab und zu wütend, aber nie zu lange. Manchmal war sie sogar gelangweilt davon, dass sie wütend war. Denn es war immer dieselbe Art von gedämpfter Wut, die ihr niemand anmerkte. Marlene gab ihrem Mann Linus die Schuld für diese Zustände und fühlte sich in dieser Ordnung einigermaßen sicher.

Es funktionierte, denn Linus bemerkte nicht, dass er der Grund für alles war, dafür war er zu nett, zu wenig narzisstisch, zu zufrieden mit seinem Job, zu stolz auf seine Kinder, zu glücklich in seiner Ehe.

Marlene lehnte ihren Kopf an die Fensterscheibe des Busses und nickte kurz ein. Der Schmachter verging, alles verging, sie blieb.

Vielleicht würde sie heute Abend mal einen anderen Wein kaufen, nicht den Côtes du Rhône, den verlässlichen aus dem guten Supermarkt, den sie beide mochten, der weder zu fruchtig noch zu herb war, der leicht war, aber dennoch Charakter hatte. Vielleicht kaufte sie einen deutschen Wein, wegen des ökologischen Fußabdrucks. Irgendwas musste man ja tun.

Sie ging schon mal die Zutaten durch. Huhn vom Bio-Schlachter, Zitronen mit der Schale, die zum Verzehr geeignet war, Thymian aus dem Topf auf der Fensterbank, Brühe hatte sie noch genug in der Gefriertruhe im Keller. Ein, zwei Knoblauchzehen, aber nur für den Geschmack. Die mussten vorm Essen raus, denn wenn Linus eine erwischte, bekam er gegen ein Uhr früh Blähungen. Marlene wachte dann vom Geräusch des Wasserkochers auf, wenn dessen betriebsames Rauschen stärker wurde, als würde irgendwas losgehen, doch dann goss Linus bloß kochendes Wasser auf den Beutel Fenchel-Anis-Kümmel-Tee in dem Snoopy-Becher. Der stammte noch aus seiner WG-Zeit. Da hatten sie sich kennengelernt.

Eigentlich war sie in einen seiner Mitbewohner verknallt gewesen: Ben Kubik. So ein Rumvögler, einer, der immer auf dem Sprung war, ein mit sich allein Glückseliger. Er hatte die Angewohnheit, während er das Kondom überstreifte, darauf zu verweisen, dass er wirklich nur Sex wolle, sie solle sich bitte nicht in ihn verlieben. Aufrichtigkeit und Integrität seien ihm wichtig, das Wichtigste im Leben.

Es war nie so richtig gut, mit ihm zu schlafen, es war nur gut, ihm nah zu sein, weil sie gern so gewesen wäre wie er. Frei, egoistisch, aber korrekt. Ohne den dringenden Wunsch, geliebt zu werden, weil man sich selbst schon weitaus genug liebte. Zu ihrer Verwunderung hatte er doch irgendwann geheiratet, eine Schriftstellerin, das war wild genug für ihn, das machte was her, und natürlich hatten sie keine Kinder bekommen. Sie folgte ihm auf Instagram, und nachdem sie davon gehört hatte, dass er und seine Frau getrennt waren, schrieb sie ihm eine Nachricht, fragte, was er so treibe. Er antwortete noch am selben Tag: Hey Marlene, schön von dir zu hören, hab gerade extrem viel Trubel, melde mich bald ausführlicher.

Das war jetzt über ein Jahr her.

Er war Werbefilmregisseur geworden, drehte sogar mit internationalen Stars, reiste viel in der Welt herum und unterstützte Hilfsprojekte in Ecuador und Bolivien. Es gab Gerüchte, er habe seine Frau dort betrogen.

Linus war so treu, dass es wehtat.

Marlene sah aus dem Fenster, der Bus fuhr langsam durch die kinderreiche Wohngegend. Auf der Straße stritt ein sehr junges Paar, sie entriss ihm das Telefon, Marlene schaute ihnen nach, der junge Mann wehrte sich nicht, überließ dem Mädchen das Handy und ging einfach in die andere Richtung davon. Marlene wickelte das Spiralband fester um ihren Dutt. Sie wäre so gern mal eifersüchtig gewesen. Wenn eine andere Frau Linus begehrte, könnte das ihre Gefühle für ihn vielleicht neu entflammen. Dabei war das Feuer auf ihrer Seite ohnehin nie besonders groß gewesen.

Linus hatte sich damals bei einem Sushi-Dinner in der WG auf der Stelle in Marlene verliebt. Ben hatte sie zum ersten Mal zu so etwas eingeladen, sonst trafen sie sich immer nur auf Partys. Nach dem Essen tranken sie eine Menge Wodka-Shots und hörten das erste Daft-Punk-Album so laut, dass man sich nur schreiend unterhalten konnte. Marlene fühlte sich schön unter Linus’ Blicken, so schön wie noch nie. Irgendwann brach Ben Kubik noch zu einer Party auf, und alles fügte sich.

Auf Marlenes Handy-Display waren ihre halberwachsenen Kinder zu sehen: Milan und Paula lachend Arm in Arm, im Hintergrund die Garderobe im Flur, an der Linus’ grüne Funktionsjacke hing. Sie konnten sich glücklich schätzen, so einen Vater zu haben. Linus war mit großem Enthusiasmus fürsorglich, er züchtete verschiedene Sorten Tomaten im Garten und las oft Ratgeber für eine gute Lebensführung. Mittlerweile hatte er als Bauingenieur alles erreicht, er besaß eine eigene Firma, die auf Tunnelbau spezialisiert war. Marlene war in Sicherheit. Es war klug, ein Leben zu führen, das man für richtig hielt, und wichtiger, sich geliebt und geborgen zu fühlen, als ständig irritierende Leidenschaft zu empfinden.

Ihre Freundin Verica, die damals Philosophie studiert hatte, sagte oft, es gebe keinen richtigen Mann im falschen, und damals dachte Marlene dabei an Ben Kubik, jetzt dachte sie an Linus.

Der Bus fuhr ihre Haltestelle an, die nur wenige Schritte von ihrem Stadthaus entfernt lag, sie wandte den Kopf ihrer Sitznachbarin zu und fragte: »Würden Sie mich bitte rauslassen?«

Die junge Frau sagte: »Nein, ich kann nicht.«

»Wie? Sie können nicht?«

»Ich kann nicht, ich habe gerade eine Panikattacke und kann mich nicht bewegen.«

Marlene wunderte sich, dass sie nicht wütend wurde, und fragte: »Wie lange wird dieser Zustand noch anhalten?«

»Das kann ich nicht sagen, ich mache gerade meine Atemübungen und versuche zu meditieren. Wenn Sie nicht mit mir reden, geht es schneller.«

Die Türen des Busses schlossen sich, und er fuhr weiter. Die junge Frau roch nach Vanille, und wie Marlene hatte sie einen blond glänzenden Dutt oben auf dem Kopf. Kleine lila Herzen schmückten die Ohren, und um den Hals trug sie eine Kette mit einem goldenen Anhänger, Liese in geschwungener Schrift. Liese hatte eine klitzekleine Nase, so eine, wie Marlene sie sich immer gewünscht hatte.

Liese fragte: »Könnten Sie bitte meine Kopfhörer aus dem Rucksack holen, mir aufsetzen und dann bei Spotify in meiner Meditationsliste Track sieben anmachen? Vorher müssen Sie aber noch mit meinem rechten Daumen das Handy entsperren.«

In ihrem Rucksack lag zwischen allerlei Krams eine Packung Zigaretten. Marlene nahm sich zwei Zigaretten und steckte sie in die Tasche ihres Trenchcoats. Dann entwirrte sie das Kopfhörerkabel, steckte es in das Handy, setzte Liese die gelben Hörer auf die Ohren und griff nach ihrem Handgelenk. Es war schlaff, die kleine weiche Hand ganz warm. Marlene entsperrte das Telefon mit dem Daumen, dessen Nagel ozeanblau lackiert war. Als Track sieben begann, schloss Liese die Augen und lehnte sich zurück. Marlene hatte schon seit Jahren keine Musik mehr gehört, die sie selbst ausgesucht hatte. Manchmal, wenn Linus Sex wollte, machte er eine Jazz-Playlist an und öffnete einen der Weine für besondere Anlässe.

Liese wirkte in ihrer Panik ziemlich organisiert, sie schien die Abläufe zu kennen und zu wissen, wie sie sich wieder in ein erträgliches Gleichgewicht bringen konnte. Marlene kam das bekannt vor. Eigentlich ging es ihr so, seit sie wegen der zweiten Schwangerschaft das Stellenangebot der Großkanzlei abgelehnt hatte.

Marlene setzte sich aufrecht hin, steckte die Hand in die Tasche des Mantels und drehte eine der Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger. Nach drei weiteren Stationen sagte Liese: »Ich glaub, ich könnte jetzt aussteigen. Ich denke, ich kann einen Fuß vor den anderen setzen. So fängt es immer an, und dann wird es langsam besser.«

»Gut, dann steige ich auch aus.«

»Es tut mir leid, dass Sie Ihre Station verpasst haben, ich gebe Ihnen Geld für ein Taxi.«

»Nein, nicht nötig, ich bin nicht in Eile, ich laufe einfach ein Stück.«

Liese nickte und sagte: »Bitte nehmen Sie mir den Kopfhörer nun wieder ab.«

Marlene tat es und legte ihn zurück in den Rucksack. Sie standen nebeneinander an der Tür, der Bus hielt an.

»Drücken Sie bitte den Fahrgastwunsch-Knopf, sonst öffnen sich die Türen nicht«, bat Liese.

Sie war in allem so präzise, und Marlene fragte: »Meinen Sie, man kann sich etwas wünschen, wenn man den Knopf drückt?«

Zum ersten Mal lächelte Liese.

»Das wäre schön«, antwortete sie.

»Es wird so sein, denn da steht Fahrgastwunsch drüber, und wir sind Fahrgäste.«

»Aber der Wunsch ist bereits von der Gesellschaft für öffentlichen Personennahverkehr festgelegt worden. Er lautet: Aussteigen.«

»Gut«, sagte Marlene und drückte den Knopf.

Fetzen und Sterne

Der Produzent hatte Nikki per WhatsApp in sein Büro gebeten. Sie saß vor seinem Schreibtisch. Er ging hinter ihm auf und ab und erzählte von seinem neuen Personal Trainer, der es endlich schaffte, ihn zu Höchstleistungen zu motivieren.

Der Produzent setzte sich und seufzte.

»Nikki, was soll ich sagen, es tut mir weh, denn ich mag dich, ich mag dich wirklich, das weißt du. Du hast viel für die Serie getan. Aber deine Figur ist auserzählt. Unsere Serie ist kein Autorenkino. Wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken. Du bist mit vierundvierzig einfach zu alt, um weiter die Geliebte zu spielen, die Frau, vor der sich andere Frauen fürchten, die Frau, wegen der Männer ihre Ehe riskieren. Mehr war deine Figur nie, sie hat keine Entwicklung durchgemacht, sie ist nur älter geworden. Deine Figur wird sterben. Das Einzige, was ich dir noch anbieten kann, ist mitzuentscheiden, wie sie stirbt.«

Der Produzent war Mitte fünfzig, er besaß mehrere Wohnungen in der ganzen Stadt und lebte in der Hafencity. Er hatte seit Kurzem ein Baby. Das Baby hieß Lothar. So wie der Produzent. Der Produzent war jetzt mit der Mutter seines Sohnes zusammen – einer sechsundzwanzigjährigen Stylistin, mit der er seine Frau, eine bekannte Regisseurin, zuvor über Monate hintergangen hatte. Nikki war ihm einmal in der Sauna begegnet. Seine Eier hingen. Es sah aus, als hingen sie an einem seidenen Faden.

»Nikki?«

»Ja?«

»Wie gesagt, es tut mir leid, aber so kannst du dich auch noch mal ganz neu orientieren oder vielleicht Theater spielen! Wann, wenn nicht jetzt?! Schicksal als Chance, sag ich ja immer. Ich wünschte, mir würd mal jemand einen Arschtritt verpassen, dann würd ich endlich mein eigenes Weingut in Angriff nehmen. Und wegen Geld, Existenz et cetera pp. musst du dir ja keinen Kopf machen. Mats ist doch sehr erfolgreich. Was? Ihr seid so ein tolles Paar. Da denkt man sofort, Liebe für immer ist doch machbar, wenn man euch so sieht.« Der Produzent schaute auf sein Telefon und fuhr fort: »Ich muss dann jetzt auch mal.«

Er stand auf und streckte seine Hand aus, die sich rau und rissig anfühlte. Nikki schauderte.

»Nikki, du hast noch was vor dir, da bin ich sicher.«

Leiden und sterben, dachte sie. Aber wer kümmerte sich dann um ihren Instagram-Account? Warum dachte sie jetzt an Scheißinstagram? Vielleicht weil es so gut in den Sexismus-Kontext passte. Sie wurde aus Sexismus aus der sexistischen Drecksserie gefeuert, mit der sie seit Jahren ihr Leben und ihre Karriere ruinierte. Im gläsernen Fahrstuhl aus dem fünften Stock nach unten wühlte sie ihre Handcreme aus der Umhängetasche und drückte extra viel heraus, um die Produzentenhände aus ihrem Kurzzeitgedächtnis zu entfernen. Sie überlegte, jemanden anzurufen, sich auszuheulen. Aber alle würden dasselbe sagen – das, was auch ihr vollkommen klar war: Es ist besser so! Nikki motzte seit Jahren über ihren Job, ohne sich um etwas Neues zu bemühen, und niemand, wirklich niemand wollte es mehr hören.

Nun musste sie sich kümmern, dabei hatte sie insgeheim längst entschieden, sich bis zum Tag ihres Todes um nichts Neues mehr zu kümmern, gemütlich frustriert in ihrer Komfortzone zu verbleiben und sich bloß ab und zu kurz herauszuwagen, aufzurichten und eine Pose für ein Foto einzunehmen, um sich im Internet abzubilden, weil man das der Karriere wegen eben musste. Damit die Leute sich an die Existenz anderer Leute erinnerten. Immerhin hatte es finanziell gestimmt, die größte Scheiße war ja meistens unanständig überbezahlt, und wenn man sich das kapitalistische Elend dieser Welt ansah, war das ein wirklich großes Geschenk. Und wer liebte schon seinen Job? Es hätte zum Überleben gereicht. Nikki hätte es gereicht. Sie war dankbar, genügsam oder bequem, was genau, wusste sie selbst nicht mehr, und es war ihr auch längst vollkommen egal. Warum musste man sich selbst verstehen? Dieser Anspruch war ihr fremd, ebenso die Neigung zu depressiven Verstimmungen, die vermutlich bei vielen anderen die verlogene Suche nach einem höheren Sinn im Leben auslösten.

Tula aus der WG im zweiten Stock war Anfang zwanzig und die Zahl ihrer Follower bei Instagram absurd höher als die von Nikki, dabei hatte Tula nicht mal einen Beruf. Sie war auf banale Weise sexy und immer stylish gekleidet. Sie ging ins Fitnessstudio, feierte viel und legte manchmal in coolen Bars Elektro auf. Das reichte heutzutage, um zu faszinieren. Nikki war so angeödet, sie war von gar nichts mehr fasziniert, nicht mal von ihrem Rauswurf. Tula war leicht zu beeindrucken, sie hatte immer begeistert über irgendetwas gefaselt. Chinesische Aktionskunst, das Baby ihrer großen Schwester, den Concept-Store um die Ecke, Island, Intervallfasten, veganes Duschgel, muslimische Feministinnen, fair gehandelte Schnittblumen. Sie war ein ganz normales halbintelligentes und leicht überdurchschnittlich hübsches Mädchen mit langen mittelbrauen Haaren, und Nikki rätselte noch immer, warum Mats sich in sie verliebt hatte. Er musste wie ein Irrer darauf aus gewesen sein, sich zu verlieben, es gab keine andere Erklärung. Tula hatte oft geklingelt, um sich den Staubsauger zu leihen, und manchmal war sie noch auf einen Espresso geblieben. In ihrer WG wurde ständig gefeiert, und Tula hatte sie immer beide eingeladen. Mats war irgendwann hingegangen, hatte dann nicht mehr damit aufgehört und bald von nichts anderem mehr gefaselt als von der Energie junger Leute – vielleicht noch von seinem Chef, den er schon seit Jahren für ein kapitalistisches Arschloch hielt.

Nikki war so verdammt müde, sie war zu müde, um richtig wütend zu sein. Ihr taten einfach nur alle leid. Der Produzent tat ihr leid, Mats tat ihr leid, ob sie sich selbst leid tat, wusste sie nicht. Das sollten andere beurteilen.

Mats hatte oft in schwammiger Weise von seiner inneren Unzufriedenheit gesprochen, hatte Dinge gesagt wie: »Ich will nicht weg von dir, ich will nur neue Perspektiven, irgendwas muss doch noch passieren im Leben und auf der Welt, Dinge müssen sich ändern, auch wenn dabei irgendjemand oder irgendwas zu Schaden kommt. Sonst bewegt sich nichts.«

Sie hatte nie begriffen, was er meinte, dann hatte sein Penis neue Perspektiven gefunden, er hatte seinen hoch bezahlten Job gekündigt und war mit Tula nach Berlin gezogen.

Nikki betrat den Hähnchengrill nahe ihrer Wohnung. Die alte Inhaberin schwitzte und hantierte hinterm Tresen mit einem rohen Huhn. Regine war im letzten Jahr ein bisschen verrückt geworden, nachdem ihr Mann gestorben war.

»Ein Halbes mit Pommes bitte.«

»Gern, Kindchen.«

Wenn Regine sie »Kindchen« nannte, fühlte Nikki sich kurz auf gute Weise zerbrechlich.

Mats hatte sie dafür verachtet, dass sie hier manchmal aß. Sogar ihr BH roch dann nach altem Frittierfett. Er verstand nicht, dass sie Regine unterstützte, denn niemand von all den neuen guten Menschen aß noch Tiere mit grausamer Biografie, und deshalb würde Regine bald aussterben.

Tula hatte immer betont, sie interessiere sich vor allem für die Ungerechtigkeit der Welt! Deshalb ließ sie die Finger von allen Tabus, außer von Mats. So viel Egoismus brachte sie gerade noch auf.

Mats war irgendwann, als er immerzu von neuen Perspektiven gesprochen hatte, ganz versessen auf eine bessere Welt. Er ernährte sich zwei Drittel vegan, bestellte nichts mehr im Internet, fuhr mit dem Fahrrad statt in den Urlaub und trank nur noch Weine aus der Region.

Während Mats versuchte, ein besserer Mensch zu werden, ging es Nikki immer schlechter, und sie suchte nach dem kosmischen Zusammenhang, obwohl sie eigentlich an nichts glaubte, was man nicht anfassen konnte.

Ihr Handy-Display war verschmiert von dem Hähnchenfett an ihren Fingern. Sie wollte Tinder öffnen, tippte stattdessen auf eine Nachricht von der potenziellen neuen Mitbewohnerin. Sie hieß Liese und wollte schon eine Stunde früher kommen als abgemacht. Nikki log, das ginge nicht, sie habe noch Berufliches zu tun, und legte das Handy mit dem Bildschirm nach unten auf den Tisch. So wie Mats seins während jener Monate hingelegt hatte, in denen er mit Tula fremdgegangen war. Nikki stopfte das Huhn in sich hinein. Warum konnte sie essen? Warum war sie nicht in Panik? Warum bekam sie nicht mal Sodbrennen? Sie musste irgendwann diese Woche noch weinen, sonst würde sie verrückt werden, und sie musste mit jemandem schlafen, sonst auch.

»Biste heute traurig, Kindchen?«

»Ach, ich wurde bloß gefeuert.«

Regine kam um den Tresen herum und umarmte sie fest.

»Leider brauch ich keine Aushilfe, sonst könntest du hier anfangen.«

»Danke Regine, ich weiß, ich weiß.«

»Weißt du, Kindchen, das Leben ist manchmal eben das, was übrig ist, und das andere muss man einfach abhaken. Aber du bist jung und immer so freundlich, dir werden noch tolle Wunder geschehen. Ich werd heute Abend mal mit meinem Manfred im Paradies darüber reden, der kann von da aus bestimmt was für dich organisieren.«

»Danke, liebe Regine, das weiß ich zu schätzen, grüß ihn bitte ganz herzlich von mir.«

Liese schrieb, sie würde schon vor Nikkis Haustür warten.

Sie war eine junge, zierliche Person mit gelben Kopfhörern, und sie tanzte esoterisch langsam auf der Straße herum. Sie sah noch jünger aus als Tula.

Liese riss sich die Kopfhörer runter und umarmte Nikki.

»Oh, das freut mich so, dich persönlich kennenzulernen, ich liebe deine Serie!«

Hoffentlich war das nur Schleimerei, immerhin wirkte sie hellwach. Das Mädchen roch stark nach Vanille, was auf banale Weise erheiternd wirkte.

Oben in der Küche machte Nikki Espresso auf dem Herd, und sie fragte Liese, wo sie jetzt wohne und warum sie da raus müsse oder wolle. Sie hatte in einem Internetforum zum Thema WG-Casting gelesen, dass das eine gute Frage sei.

Liese lächelte schief und antwortete: »Ich wohne vorübergehend wieder bei meiner Mut-ter. Ich habe meinen Freund verlassen, weil ich irgendwann mal Kinder will. Hendrik ist aber schon Mitte vierzig, und die Qualität der Spermien wird mit dem Alter immer schlechter. Im Internet steht, dass die Wahrscheinlichkeit behinderter Kinder bei Spermien älterer Männern krass ansteigt. Ich habe nichts gegen behinderte Kinder, ich will nur einfach keine.«

Nikki nickte und erwiderte: »Klingt ziemlich pragmatisch.«

»Na ja, ich bin jung, da muss ich planen, es ist mein Leben, ich hab alles noch vor mir, da kann ich keine Rücksicht nehmen, und das Alter ist eben ein Risikofaktor! Sorry.«

Nikki verschränkte die Arme und zog eine Augenbraue hoch.

»Ich bin genauso alt wie dieser Typ, Mädchen.«

Liese wedelte mit den Armen.

»Aber ich feiere das Alter, und ich stehe total auf alte Männer. Die jungen Typen sind meist nur posende Fassaden! Wie machst du das mit der Augenbraue?«

Nikki überging Lieses Frage.

»Was ist so toll an alten Männern?«

»Sie berühren mich auf so eine Weise, wie soll ich das erklären? Ich will sie beschützen und gleichzeitig zerstören.«

Nikki zog beide Augenbrauen hoch, und Liese fuhr fort: »Ich liebe es, wie traurig und geschwächt sie aussehen, wenn sie zu viel getrunken haben oder sich unbeobachtet fühlen ... wie verunsichert sie davon sind, dass ihr Körper sich unaufhaltsam verändert, und ihre dünne, weichraue Haut übt so einen sentimentalen Sog auf mich aus, und ich steh drauf, wenn sie megaverrückt nach mir sind und ich sie sexuell beherrsche.«

Nikki zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Du wirkst nicht wie eine, die dringend Mutter werden will.«

»Vielleicht, aber ich denke, ich sollte es werden, weil das wichtig ist, um sich als Frau wirklich als Frau zu fühlen.«

»Meinst du das ernst?!«

»Ja, und ich würde nie die Pille nehmen, die Frau braucht einen natürlichen Zyklus, auch wenn alles dadurch weniger berechenbar wird und die Blutungen auch mal superstark sind, das ist so wichtig für die Authentizität der Weiblichkeit, dieser Urkraft des großen Ganzen, das Bluten im eigenen Rhythmus und in all seinen Facetten ist ein Reinigungsprozess und ewige Erneuerung! Das feiere ich, und Männer können diese Magie nie erleben, sie ist exklusiv!«

Nikki verschränkte die Arme, dachte sich ihren Teil und fragte: »Vermisst du ihn?«

»Wen?«

»Na, deinen Ex, den alten Mann!«

»Doch, schon, Hendrik hatte so anrührende Seiten. Er hatte ein großes Tattoo, lauter Sterne auf dem gesamten Oberkörper, dadurch sei jeder Tag feierlich. Er sei schon immer ein Romantiker gewesen, hat er zumindest gesagt und dann über das Tattoo gestrichen, als wäre er verliebt in sich selbst oder zumindest in diesen Teil seines Körpers. Den Teil, den er sich selbst zugefügt hat, sozusagen, also der Tätowierer, aber darum geht es doch, oder?

Wie wir uns selbst gestalten, also alles, jeden Tag. Wir können unsere Vergänglichkeit nicht manipulieren, aber was wir währenddessen treiben und wie wir dabei aussehen, schon. Allerdings hat Hendrik mit dem Älterwerden einen dicken Bauch gekriegt, seine Haut hat sich verändert, und jetzt sehen viele Sterne aus wie Fetzen.«

Nikki stellte die zwei Espressotassen auf den Tisch, ihr Tränenkanal vibrierte und sie konnte den unterdrückten Strom nun nicht mehr zurückhalten. Zum ersten Mal seit Wochen weinte sie. Sie setzte sich Liese gegenüber und ließ die Tränen laufen. Liese legte die gefalteten Hände auf den Tisch, sah Nikki mit ernster Miene an, beinahe barmherzig wie eine Nonne, und hielt die Situation offensichtlich gut aus. Nikki schluchzte jetzt wie ein Teenager auf Hormonen, es fühlte sich an wie mit dreizehn, als das Leben eine einzige grenzenlose Überforderung gewesen war.

Nachdem Nikki sich ausgeheult hatte, sagte Liese: »Es ist das Beste zu weinen, es ist auch ein Reinigungsprozess, es führt zu Freiheit. Ich weine zu selten. Irgendwann bekomme ich dann Panikattacken. Ich bekomme sie auch, wenn ich mir nicht sicher bin, wie ich mich entscheiden soll. Ich hasse es, Entscheidungen zu treffen, ich bin beschissen darin, ich hab immer Angst, was zu verpassen, und es macht mir Angst, dass alles, was man tut, für immer ist und sich nie wieder korrigieren lässt, weil es ja keine Zeitmaschinen gibt, und selbst wenn, dann würde das nicht funktionieren, weil man ja nicht als dieselbe Person zurückreisen würde. Darüber gibt es Filme. Wenn man an der Vergangenheit dreht, zerstört man am Ende das Gute in der Zukunft, das, was man vorher gar nicht gesehen hat. Verstehst du?!«

Nikki schnäuzte sich die Nase, ging in den Flur, holte das Augenserum aus der Umhängetasche, sie fragte: »Warum redest du so viel?«

»Na ja, ich wollte mich auch offenbaren, weil du das jetzt gemacht hast, ich wollte eine Vertrauensbasis schaffen, weil ich gern das Zimmer hätte.«

»Zwei, es sind zwei Zimmer.«

»Oh, okay, viel Platz. Wer hat hier vorher gewohnt?«

»Mein Freund.«

»Oh, okay. Tut mir leid. Liebst du ihn noch?«

»Manchmal.«

»Wann?«

»Morgens, direkt nach dem Aufwachen.«

»Und abends vor dem Einschlafen?«

»Nein, da nicht mehr, zumindest nicht mehr so, als hätte es was mit der Gegenwart zu tun.«

»Am Ende des Tages zählt mehr.«

»Warum?«

»Weiß ich nicht, aber das sagt man doch so: Am Ende des Tages ist es so und so, unterm Strich, im Endeffekt, in der Summe, schlussendlich, letzten Endes, zu guter Letzt.«

Nikki begann zu lachen, beinahe wie früher im Unterricht, dieses Lachen, das die Lehrer in den Wahnsinn trieb, und sie fühlte sich dabei so ähnlich wie gut.

Liese griff nach der kleinen Tube.

»Wow, Chanel, wer braucht Augenserum von Chanel? Na ja, du kannst es dir leisten, du bist Serienstar.«

Nikki lachte jetzt Tränen und erwiderte laut: »Ich wurde heute gefeuert!«

»Oh, okay. Aber das ist nicht witzig, oder? Warum? Also mit welcher Begründung?«

Nikki wischte sich über die Augen und zuckte mit den Schultern.

»Ich bin zu alt, um atemberaubend zu sein, wie du gesagt hast, das Alter ist ein Risikofaktor.«

Liese schlug sich vor die Stirn.

»Ich rede viel dummes Zeug, wenn ich unsicher bin.«

»Aber du hast ein bisschen recht damit, Altern ist der Supergau, wenn man immer nur auf sexuelle Attraktivität gesetzt hat.«

»Alles ist der Supergau, wenn man das tut.«

Liese rührte in ihrem Espresso und fügte hinzu: »Die Serie ist nicht gut, in feministischer Hinsicht sogar katastrophal.«

»Vorhin hast du was anderes gesagt.«

»Das war nur Schleimerei.«

Nikki zündete sich eine Zigarette an und fragte: »Hältst du dich für eine Feministin?«

»Nein, ich bin in feministischer Hinsicht eine Katastrophe. Ich brauche Bestätigung von Männern, und ich lasse mir ziemlich viel gefallen, um in einer Beziehung zu sein. Ich war noch nie Single, seit ich zum ersten Mal Sex hatte.«

»Wann war das?«

»Mit vierzehn, wir haben einen Porno im Internet gesehen und uns dabei hormonell schockverliebt. Er war fünfzehn. Wir waren für ein paar Monate zusammen. Bis ich mich in seinen Bruder verliebt hab. Die reden bis heute nicht miteinander. Eine Zeit lang hab ich mich durch so was aufgewertet. Ich war echt kaputt, weißt du? Ich hab nie Schluss gemacht, bevor ich einen Neuen hatte. Ich hab gebrochene Herzen gesammelt. Das Schlussmachen hat mir immer einen krassen Ego-Kick gegeben, voll krank, ich weiß.«

Liese fasste sich an den Hals und rieb an einer Stelle immer wieder über ihre Haut, bis ein knallroter Fleck entstand.

Nikki beobachtete das eine Weile, bis sie fragte: »Und jetzt willst du es mal ohne Typ versuchen?«

Liese legte beide Hände flach auf den Tisch, seufzte und antwortete: »Muss ich wohl, hab dieses Mal keinen gefunden, der sich auf die Schnelle wie verrückt in mich verliebt. Eigentlich hätte ich mich schon vor Monaten von Hendrik trennen sollen. Er trinkt zu viel und hat deshalb seinen Job verloren. Danach hat er noch mehr getrunken. Ich glaub, er war mir auch nicht treu. Aber das war nicht das Schlimmste.«

»Was war das Schlimmste?«

»Er hat sich nicht um seine Tochter gekümmert, ich hab einmal gehört, wie er morgens seine Ex angerufen und gelogen hat, um nicht den Tag mit ihr verbringen zu müssen, wie abgemacht. Das hat mich so wütend gemacht, dass ich auf der Stelle aufgehört habe, ihn zu lieben.«

Nikki verschränkte die Arme.

»Dann hast du ihn nicht geliebt.«

»Vermutlich nicht, er ist ein Idiot, postet peinliche Fotos von sich auf Instagram. So melancholisch sexy in Schwarz-Weiß. Ich fand toll, dass er mich toll fand. Ich seh mich durch die Augen von Männern auf Hormonen. Ich muss damit aufhören. Ich muss mein Leben ändern.«

»Und wie ändert man sein Leben?«

Liese zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht ... hört man erst mal auf, immer wieder die gleichen Fehler zu machen. Dadurch beginnt womöglich irgendein Umwälzungsprozess. Wegen der Panikattacken geh ich seit ein paar Wochen zur Therapie, seitdem hab ich sie besser im Griff. Und du? Was wirst du jetzt tun, Nikki?«

»Ich weiß nicht, vielleicht ruf ich morgen mal meine Agentin an.«

»Wow, das klingt cool, eine Agentin, so einen Satz würde ich auch gern irgendwann mal sagen.«

»Was machst du denn beruflich, Liese? Hast du ein Einkommen?«

Wieder fasste sie sich an den Hals und rieb an der verblassten roten Stelle.

»Ich studiere Philosophie und Psychologie und bin Social-Media-Managerin bei einem Start-up, klingt gut, ist aber eigentlich kinderleicht und schlecht bezahlt. Mein Vater hat mehrere Mietshäuser geerbt und arbeitet aus Bock als Motivationstrainer. Ich seh ihn so gut wie nie, aber er überweist mir jeden Monat dreitausend Euro und hat mich noch nie gefragt, was ich damit mache. Er hat zwei neue Kinder.«

»Warum willst du in einer WG wohnen?«

»Ich kann nicht alleine sein.«

Nikki lächelte, sie mochte Lieses ungefilterte Aufrichtigkeit.

Liese griff nach Nikkis Zigarettenschachtel.

»Darf ich?«

»Ja, klar, du rauchst?«

»Ich fange jetzt damit an.«

»Jetzt in diesem Moment?«

»Ja, dann stört es mich weniger, wenn du rauchst, ich würd hier gern einziehen, du bist so ... ähm, nett.«

Nikki verschränkte die Arme hinterm Kopf, lehnte sich zurück und grinste.

»Nett« hatte sie noch niemand genannt. Eher charismatisch, trinkfest, loyal, tolerant, dickhäutig. Das waren zumindest die nettesten Adjektive, die ihr jetzt einfielen. Aber »nett«? Vielleicht könnte sie nett sein, vielleicht wäre das der Anfang von irgendetwas, vielleicht würde das etwas in Gang setzen. Wie war man eigentlich nett? Sie würde das googeln. Liese hustete kein bisschen, nachdem sie an der Zigarette gezogen und inhaliert hatte.

»Kann ich hier einziehen?«

»Ich geb dir morgen Bescheid.«

Die alte Muräne

Hendrik streifte unruhig durch die Schanze. Voll war es, voll und heiß. So wie er selbst. Irgendeine würde er heute noch aufreißen. Es waren ja nicht alle Ladys bei den Festivals. Einige, o ja, so einige jeden Alters und jeder Liga traf man auch hier beim Saufen und Eskalieren.

Aber es war nicht mehr so einfach wie früher, nichts war mehr einfach. Er war nicht mehr der Jüngste, und wenn er seine Umrisse zufällig in einer Fensterscheibe erblickte, erschrak er, beschämt über seine zwar hochgewachsene, doch nun auch ausufernd rundliche Silhouette. Frauen durften rund sein, rund und weich, aber er, er musste Eindruck machen mit seiner Statur, die lange Zeit die eines Kriegers gewesen war, so wie sich Frauen, auch heute noch archaisch motiviert, einen Krieger und Beschützer ersehnten, obwohl sie keinen mehr brauchten. Doch schon seit Langem war Hendrik nicht mehr besonders schnell zu Fuß und oft aus der Puste, obwohl er nur noch eine halbe Schachtel rauchte, und sein Bauch war immer irgendwie im Weg. Doch wenn er trank oder es schaffte, eine hübsche Lady zu beeindrucken, störte ihn seine wabernde Beschaffenheit weniger, und manchmal vergaß er dann, dass alles zu Ende ging, schleichend und rasend zugleich. Hendrik war noch immer auf der Suche, nur hatte er früher gewusst wonach.

Seine gute Zeit durfte noch nicht vorbei sein, er hatte doch noch immer diese stechend blauen »Wikinger-Augen«, wie Verica sie nannte, seine Verica.

Er brauchte heute dringend einen Ausgleich, ein gutes