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ZIVILCOURAGE DER GEN Z Bei Nick lösen Klassenfahrten sozialen Juckreiz aus. Um diesen zu lindern, beruhigt sich der Bozner Oberschüler mit selbst gedrehten Zigaretten und vertraut sich nur seinen besten Freunden Noah und Emilia an. Rassistische Stammtischparolen, Straßendemos gegen rechts und Touristenmassen streifen Nicks Wahrnehmung, bis er selbst vom Außenseiter zum Mittäter wird und immer weiter in eine Eskalationsspirale gerät.
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Seitenzahl: 108
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Laurenz Koler
Laurenz Koler
Roman
Es war noch dunkel, als wir losfuhren. Müde Augen blickten in müde Gesichter und jeder versuchte, etwas lächerlich Melancholisches in seinen Ausdruck zu mischen. Ich war früher da gewesen und hatte somit die Möglichkeit gehabt, mich vor der Ankunft des Rudels an meinem Fensterplatz schlafend zu stellen. Still und leise war ich in die hinteren Reihen gehuscht, wobei der morgendliche, kalte Duft schon in den Bus gedrungen war und ich den Moment noch kurz genießen konnte, bevor er von fremden Gerüchen misshandelt wurde.
Das Vibrieren des Fensterglases verhinderte ein wohliges Hinwegdösen. Grundsätzlich lösten Klassenfahrten bei mir einen leichten sozialen Juckreiz aus, der meist schon nach einer Viertelstunde seine Blasen warf. Wie ich dann so manche Stellen blutig aufkratzte, wurde es meinem Gegenüber oft zu unangenehm, das Gespräch mit mir weiterzuführen. Manchmal liebte ich Gesellschaft. Es konnte auch passieren, dass ich mich in den Trubel gesellschaftlicher Interaktionen warf. War selten der Fall. Mit dem halben Jahrgang in einer überfüllten Schachtel mehrere Stunden lang durchgeschüttelt zu werden, lag jedenfalls nicht gerade in einem Bereich, wo ich eine solch waghalsige Aktion riskieren würde. Es war für mich einfacher, allein zu sein und den Asozialen zu spielen. Wobei zu spielen ein sanfter Ausdruck für mein Verhalten war.
In der ersten Stunde war es vorläufig ruhig, jedoch wurden schon bald die Lautesten und Hohlköpfigsten mit Gelächter und verliebter Aufmerksamkeit belohnt. Sie peitschten die Stimmung weiter auf, bis sich selbst die autoritärsten Professoren geschlagen gaben und sich Kopfhörer in die Ohren stopften.
Ich musste kotzen. Das passierte mir bei so wackligen Angelegenheiten wie einer Busfahrt des Öfteren. Leider sorgte diese Angewohnheit für verhaltenes, bösartiges Geflüster und war zudem ein Katalysator für allgemeines Naserümpfen. Das konnte ich bis zu einem gewissen Maß nachvollziehen, es war ja kein schöner Anblick. Vielleicht erweckte ich beim einen oder anderen sogar Mitleid. Das war aber nicht notwendig. Ich gaukelte mir schon so lange eine stumme Zufriedenheit und Glück mit meiner Person vor, dass ich nicht mehr zwischen Spiel und Realität unterscheiden konnte. Es half mir. Das System Schule und die damit zusammenhängenden Aktivitäten beförderten mich nur allzu oft in meine alte, selbstgebaute Kapsel mit ihrer abgestandenen Luft der Gleichgültigkeit zurück. Schule. Das Wort hatte nicht einmal einen Funken von Ästhetik in sich. Ich klang wie ein heranwachsendes Kind, das anfing, seine inneren Rebellionen zu entdecken.
Die Sonne ging langsam hinter den Wolken auf und das dunkle Grau wurde schleichend heller. Es nieselte. Nicht unbedingt passend zu meiner Stimmung. Ich bevorzugte Starkregen. Das schiefe Gequietsche und Smalltalk-Gelächter steigerte sich langsam ins Unerträgliche. Ich drehte die Lautstärke meiner Kopfhörer etwas hinauf. Die heiteren Gespräche waren in Hinblick auf unser Reiseziel nicht adäquat. Seit Wochen malte ich mir aus, was ich wohl fühlen würde, wenn ich vor den Großbuchstaben Arbeit macht frei stehen würde.
Ich schlief ein. Träumte nicht. Jemand rüttelte mich freundschaftlich grob an der Schulter. Ich war schon länger aufgewacht und schreckte daher nicht auf. Langsam öffnete ich die Augen. Noah schaute mich mit einer Mischung aus Ironie und Sorge an. Er war einer der wenigen, die wussten, welche Gedanken bei solchen Schultrips in mir aufkamen. Er war nicht mein einziger, aber mein bester Freund. Wir hatten die Eigenheit, in den merkwürdigsten Momenten denselben Gedanken zu teilen. Ich liebte diese Augenblicke.
„Wir sind bald da“, meinte er mit seiner verrauchten Stimme. Wobei, verraucht war noch milde ausgedrückt. Seine Stimme klang, als würde er sie täglich drei Stunden lang in eiskalten Whiskey einlegen und daraufhin mit Sandpapier die Ränder seiner Stimmbänder abschleifen. Ach ja, und dann gab es noch den Pueblo blu, den wir immer dabeihatten. Er war unser Freund, Feind und Begleiter.
Ich packte meine drei Kleinigkeiten in den Rucksack und erhob mich schwankend. Ich liebte Zugreisen und hasste Busfahrten. Ein Zug hatte stets eine geradlinige Spur vor sich, während ein Bus dieser Größe einem verirrten Elefanten im Dschungel glich.
Wir durften aussteigen. Einer nach dem anderen stolperte nach Luft schnappend vor die Tür. Das mag übertrieben klingen, aber zumindest ich fühlte mich so. Die Frischluftpause dauerte nicht allzu lange, denn Noah hielt mir schon eine gedrehte Zigarette hin. Ich steckte sie mir zufrieden an und schielte zu meinen Professoren hinüber. Rauchen war nicht gern gesehen, aber man konnte sich dieses Privileg verdienen. Durch alternative Lösungsvorschläge im Unterricht oder tiefgründige persönliche Gespräche etwa. Sie ließen uns in Ruhe.
Mit hochgezogenen Schultern arbeiteten wir uns gegen den starken, regentreibenden Wind in Richtung Gedenkstätte vor. Die allgemeine Müdigkeit überdeckte die Spannung. Auch das Ziehen und das Rütteln des Windes vermochten mich nicht aus meinem wachen Schlummer zu reißen. Der bläulich weiße Rauch zog schneller davon, als man ihm hinterherblicken konnte. Damit war die eigentlich wohltuende Zigarette kein freudiges Ereignis mehr. Noah hatte seine schwarze Kapuze übergezogen und die Hände in den Taschen vergraben. Er wollte nicht reden.
Der Parkplatz war voll von Bussen und Schulklassen, die laut redend in kleinen Gruppen beieinanderstanden. Ihre Worte wurden vom Wind verstreut und waren für uns schwer verständlich. Ich versuchte vergeblich, ein paar Gesprächsfetzen aus dem Wind zu fischen. Das umhertreibende Murmeln wurde durch mein angestrengtes Zuhören jedoch nur ein wenig lauter. Meine Schläfrigkeit verzog sich schnell und die kalte Luft brachte nun endlich die erwünschte Konzentration. Irgendetwas begann, in meinen Gedanken merklich herumzurühren, und die Veränderung meiner Wahrnehmung überraschte mich. Ich war fokussiert und dabei nicht wirklich abzulenken. Ich hatte so etwas länger nicht mehr erlebt. Ich war aufmerksam, schaute mich um und hörte zu. Eine Seltenheit.
Die Decke drückte auf unsere Köpfe. Der Raum war eng und roch stark nach altem, feuchtem Holz. Meine Beine fühlten sich steif an, dennoch ging ich auf eine Infotafel zu. Die Dielen knarzten laut unter den Füßen der vielen Besucher. Sie schienen alle ihr zur Schau gestelltes Interesse mit Vorsicht zu genießen, denn sie wussten, dass jede Information der angeschlagenen Texte sich tief in ihr Gedächtnis und ihre Gefühle bohren konnte. Der Text vor mir war lang und in blockartige Abschnitte unterteilt. Es dauerte etwas, bis meine Sicht scharf wurde und ich mit dem Lesen beginnen konnte.
Ein Satz blieb an mir kleben und ich nahm ihn mit, sowie ich mich von der Tafel abwandte, um mich weiter schockieren zu lassen: Bei einem nicht perfekt gemachten Bett drohte den Inhaftierten eine Stunde Baum.
Diesen Satz wirklich zu verstehen, war nicht so leicht, wie ich anfangs angenommen hatte. Eine Stunde Baum bedeutete, mit im Rücken zusammengebundenen Händen an einem langen Stock hochgezogen zu werden. Gelenke und Knochen brachen meist. Ich verstand die Worte, aber ihr wahrer Sinn blieb mir verschleiert. Niemand konnte das Gefühl, sich seinem eigenen Ableben zu nähern, auf eine Infotafel packen. An wen hatten die Opfer wohl gedacht? Was war ihr letzter Gedanke gewesen? Familie, ein Freund, ein Geliebter oder eine Geliebte? Oder war es „bloß“ der endlose Schmerz gewesen?
Ich hatte Durst. Es war ein kratzender Durst, der einen zum Husten bringen konnte. Das wollte ich nicht. Ich holte meine Glasflasche heraus und nahm viele gierige Schlucke. Das Wasser machte meine Kehle aber nur noch rauer.
Es herrschte Stille. Eine Stille, die vom leisen, verhaltenen Flüstern beeindruckter Lippen unterbrochen wurde. Ich ertappte mich dabei, wie ich wenige Sekunden lang gedankenlos und planlos im Raum stand. Die Fähigkeit, mich in die gequälten Seelen hineinzuversetzen, war mir für einen Moment entfallen. Das machte mich unruhig. Der Wind, der durch eine kleine Ritze des dunklen Holzes waberte und wie ein sehr kleines Männlein tobte und schrie, holte mich langsam, aber mit großen Schritten in die Realität zurück.
Ein schlaksiger Junge kam durch den Raum stolziert. Sein Gang ließ darauf schließen, dass er im heimlichen Glauben war, der Raum gehöre ihm. Es schien so, als versuchte er die Atmosphäre in den wenigen Augenblicken, die er darin verbrachte, durch sein Auftreten zu zerstören. Er setzte seine stylischen Nike TN viel zu laut auf den Boden auf. Er störte. Noch hatten ihn nicht alle bemerkt. Aber er trat, wie bei fallenden Dominosteinen, immer schneller in das Bewusstsein weiterer Personen. Die Wirkung, die er mit seinem Auftritt erzielen wollte, wurde dadurch nur verstärkt.
Arroganz blitzte in seinen Augen auf, als er an Besuchern vorbeischritt, deren Gesichter sich der Demut ergeben hatten. Ein halbironisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Dann wurde er jedoch abgelenkt. Etwas vibrierte lautstark in seiner Hosentasche und er zog ein schimmerndes Smartphone heraus. Er klopfte mit den Fingern auf das Holz der Betten, daraufhin schrieb er laut klickend WhatsApp-Nachrichten. Dann setzte er sich. Er setzte sich auf das Bett. Einfach so. Mir wurde übel, heiß, kalt und meine Finger begannen zu kribbeln. Ich wusste nicht recht, wie mir geschah. Es überkamen mich Emotionen, die ich schon länger vergessen geglaubt hatte. Wut. Kalte, berauschende, einfache Wut. Sie füllte mich aus und ließ keinen Platz für etwas anderes in mir. Ich atmete in tiefen Zügen, so wie ich es einstudiert und des Öfteren erfolgreich getan hatte. Das half nicht. Jedoch fehlte mir nun ein kleiner, entscheidender Teil in meiner Wut. Das fehlende Stück, das es angeblich erlaubt, Unmögliches zu schaffen und zu erreichen: Mut. Der Mut, um in all diesem Rausch dem dringenden Bedürfnis nachzugehen und aufzuspringen und laut Fick dich! zu schreien. Es fehlte der Funke, der mein Feuerzeug so oft aufflammen lässt. Also blieb ich einfach stehen und konnte nichts weiter tun, als zuzusehen, wie der Junge mir gegenüber sitzen blieb. Er war sicher schon über achtzehn, machte jedoch mit seinem einfältigen Blick den Eindruck eines Kleinkindes. Ich tat immer noch nichts. Warf wieder und wieder einen scheinbar interessierten Blick auf den Info-Text vor mir. Seine Anwesenheit blieb mir jedoch bewusst. Will denn keiner etwas sagen, verdammt?, dachte ich verzweifelt. Sehen sie denn nicht, wie ich leide? Mit diesen Gedanken zog ich mich immer weiter in mich zurück.
Dann ging alles schnell. Noah, der um einiges größer und breiter als ich war, warf dem Jungen einen feindseligen Blick zu, wobei er sein Kinn leicht nach vorne schob. Der Junge getraute sich nicht, etwas zu erwidern. Er stand auf, schob die Hände in die Taschen und schlich an uns vorbei nach draußen. Dabei rempelte Noah ihn unauffällig, aber kräftig mit der Schulter an. Der Junge versuchte, etwas zu sagen. An diesem Protestakt verschluckte er sich. Noah hatte sich wiederum vor ihm aufgebaut und fragte ihn leise: „Wollen wir rausgehen?“ Klischeehaft, aber passend. Der Junge verschwand.
Ich hasste diese Momente. Ich fühlte mich wie ein passiver Zuschauer. Eingeklemmt in einem zu kleinen Kinosessel. Ich schaute den auffällig blitzenden Schuhen des Jungen nach und der Raum schien auf einmal leer ohne ihn. Ob ich nun dem Moment beigewohnt hätte oder nicht: Das Resultat wäre das gleiche gewesen. Es war zum Haareraufen. Ich musste mir einreden, dass Noah keine Schuld an meiner Gefühlslage hatte. Es war anstrengend und ich tat mich schwer, ihm direkt ins Gesicht zu schauen. Er war ein guter Freund, aber dieses Mal brachte ich kein einfaches Danke heraus, weil er mich aus meiner Starre gerettet hatte. Für Noah war dieses Einschreiten eine Belanglosigkeit gewesen und auch schnell wieder in die Tiefen seines ruhigen Geistes verbannt. Für ihn bestand kein Unterschied zwischen solchen Situationen oder darin, jemand auf seine offenen Schnürsenkel hinzuweisen. Er lebte voll und ganz eine ritterliche Lebensweise, ohne sich dabei selbst lächerlich zu machen. Mit seiner interessierten Art ging er in der entgegengesetzten Richtung des Rundgangs weiter. Mein innerer Unmut gegen ihn legte sich wieder und wider Willen legte sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Auch irgendwie unpassend.
Ich brachte kein weiteres Wort des Textes, den ich eben noch in mich aufgesogen hatte, in mich hinein. Vor meinem inneren Auge stand das Bild des dämlich dreinschauenden Jungen. Es wollte nicht so schnell wieder verschwinden. Ich schlängelte mich an Menschengruppen vorbei, hinaus in den Wind. Ich kniff die Augen gegen eine grelle, beinahe weiße Sonne zusammen. Mit fast geschlossenen Augen zog ich ein Etui aus meiner Jackentasche und setzte mir meine Sonnenbrillen mit den kleinen, runden Gläsern auf. Meine Augen waren rot und trocken.
Der Professor, der den Ausflug organisiert hatte, gab uns einen Wink, dass wir eine Gruppe bilden sollten. Eine Führung gesellte sich zu uns. Eine kleine, etwas pummelige Frau mit verirrten Locken. Ihre Stimme hatte etwas Herbes und Schiefes, mit einem leicht kratzigen Unterton. Schon beim ersten ihrer Worte rollten sich mir die Zehennägel auf. Trotz all dieser Furchtbarkeit, die ihre Stimmbänder mit sich brachten, schaffte sie es, eine prägende Monotonie in ihren Vortrag zu bringen. Das Kreischen und Quietschen ihrer Stimme verzog sich bald, aufgrund ihrer Wortwahl und Artikulation, zu einem monotonen Summen. Das bewirkte, dass sich die Aufmerksamkeit der Gruppe, trotz der höflichen Anstrengungen der meisten Beteiligten, in wenigen Minuten mit dem Wind verflüchtigte. Traurig. Genau an diesem Ort durfte das nicht passieren. Dies war kein Museumsbesuch. Wir standen an einem Ort, wo der Mensch im höchsten Maße seine Menschlichkeit verloren hatte. Ein Ort, wo er zur Bestie geworden war. Zu einer Tötungsmaschine.