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Augenblicke Gedichte und Kurzprosa aus meinem Leben Thematische Mischung von Kurzprosa und Lyrik Familiäre und zeitgeschichtliche Prägung, Aufbrüche und Einbrüche im Leben, Sinneseindrücke, Naturimpressionen, das Daheim und Begegnungen mit fremden Menschen und Kulturen. Auch Abschiede, Schatten und Begrenzungen sowie das nicht nur angenehme Altern werden als zum Leben gehörig wahrgenommen und bejaht.
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Seitenzahl: 82
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„Jedem meiner Augenblicke zähle ich einen fremden Augenblick zu, den Augenblick eines Menschen, den ich in mir verborgen trage zu jeder Zeit, und sein Gesicht in diesem Augenblick, das ich nie vergessen werde, mein Leben lang nicht.“
Ingeborg Bachmann
Augenblick
Mit allen Sinnen
Meine Augen, Türen zur Welt
Käthe
Meine früheste Erinnerung: der Duft von Brot
Bitter & süss
Haut
Meine Hand
An meinen Ellenbogen
Vom Glück der Versuchungen
Wurzeln
Vier Kilo Geheimnisse
Jeder Tag ein Wagnis – unsere Mutter Courage
Grossmutter
Papa
Oma
Für Rahel Lisa
Liebesbrief an meinen Juragarten
Du
Nicht auch du
Rinne
Verankern
Margrit zum Abschied
An Ihrem Todestag
Rettungsaktion am Randstein
Weite
Flaschenpost vom Indischen Ozean
Wie viele Strassen auf dieser Welt
Goldwasser
Leonida
Windsbraut
Zwischen Erde und Wasser
Schmuggelgut
Lebensfreude trotz allem
Reisen mit 77
Jahreskreis
Vorfrühling
Offenes Fenster
Aprilmorgen
Verheissung
Corona Frühling
Frisch verliebt
Vergissmeinnicht
Corona-Pfingsten in der Grün 80
Sommermorgen
Noch einmal Krieg?
Schwitzpause auf einer Bank
Durchs Engadin
Herbstliches Engadin
Macht hoch die Tür
O Tannenbaum
Advent – eine Zeit für Zärtlichkeit
Hinein ins Neue Jahr
Aufbrüche – Einbrüche
Aus dem Arbeitsprozess in die Pensionierung
Altern
Aufbrechen
Abschied und Aufbruch
Mauern
Auferstehung
Vertrauen
Spuren
Daheim sein
Getrud Stiehle erzählt aus ihrem Leben und von ihrem Schreiben im Gespräch mit Cécile Speitel
Innehalt
Atemzug
der Ewigkeit
Wartesaal
Geistesblitz
Wunderfitz
Vollpräsenz
Blick zurück
im Zorn
im Glück
Blick nach vorn
Jubelinsel
Sonnenspiegel
Tränensee
Tür zum Du
Platzgedeck
Zwinkerbrücke
Augentrost
Spiegelbild
Widerhall
Augen auf
zum Weltenlauf
Augen zu
Geh zur Ruh
Erinnerungen an meine Staroperationen
Durch einen grauen Dezembermorgen bin ich vor der Augenklinik vorgefahren. Und schon kurz danach geht die Fahrt weiter im weissen Spitalhemd auf dem Schragen, durch Spitalkorridore und Lifts hinein in die weiss- und chromblitzende Hochtechnologie des Operationssaales. Da umschwirrt mich eine geschäftig hin- und herhuschende grüne Belegschaft, legt Kanülen, Kabel, sorgt für mein bequemes Liegen, muntert auf und beruhigt, obwohl ich schon ganz ruhig bin und den Augenblick intensiv erlebe. Ich fühle mich wie ein Star. Und darum geht es schliesslich: meine erste Staroperation. Star, der Stern. Sternenzeit also, auf allen Ebenen. Draussen in der Stadt habe ich dieses Jahr die Sterne der vorweihnächtlichen Dekorationen und die realen Sterne am Himmel nur noch milchig-breiig gesehen. Ob sich das nun ändern wird?
Eine grosse Blache wird über mich gebreitet, auf der über meinem rechten Auge ein kleines Fenster zurückgeklappt wird. Ich bin gut informiert, was nun geschehen wird: Die milchig gewordene alte Linse wird durch einen winzigen Schnitt in der Hornhaut mit Ultraschall zu Brei zertrümmert und abgesaugt und danach, zusammengefaltet wie ein kleiner Regenschirm, eine Kunstlinse eingeführt, die sich am neuen Ort aufspannen und einfügen wird.
Der völlig schmerzfreie Eingriff öffnet mir Türen zu einem wunderbaren kosmischen Erlebnis, das mir noch Tage danach präsent ist. In mein Auge fällt nun ein intensiver punktförmiger Strahl weissen Lichtes, dessen Bewegungen ich während der Operation folgen soll. Mit ihm begebe ich mich auf die reinste Reise durchs Weltall.
Sonnen gehen auf und unter, bald kompakt, bald in einem Strahlenkranz, eingehüllt in Blau-, Rosa- und Violett-Töne des Firmaments. Da und dort explodierende gleissende Blasen und sternengleich oszillierende Punkte. Alles ist in Bewegung. Manchmal spielen feine milchige Wolkenschleier dazwischen. Dann spannt sich etwas wie ein durchsichtiger Regenbogen nach anfänglichen Zitterbewegungen still über das ganze Gesichtsfeld. „Alles gut gegangen!“ holt mich abrupt die Stimme des Operateurs auf die Erde zurück.
Die Erfahrung bei der Operation am zweiten, linken Auge wenige Wochen später ist nicht ganz identisch, aber ebenso eindrücklich. Statt dem intensiven Lichtpunkt scheint nun das Licht durch ein Bauklötzchen-ähnliches Tor einzufallen. Wiederum sind da die kosmischen Farbenspiele in zarten Weiss-, Blau-, Türkis- und Rosatönen, einmal erscheinen kurz orange, ins Rot-Violett sich vertiefende Flecken. Neu sind diesmal dunkle scherbenähnliche Partikel, die von einem zentralen Punkt konzentrisch auf gläsernem, von hinten beleuchtetem Grund in grosser Geschwindigkeit auseinanderstieben. Ich kann mich nicht sattsehen, bin aber etwas angespannt wegen einem leichten Druck aufs Auge während der Operation. Sie ist auch diesmal sehr rasch zu Ende.
Beide Male gibt es nach zwei Stunden ein gutes Spitalfrühstück und Taxidienst einer lieben Nachbarin. Auf dem Weg nach Hause wage ich neugierig wie als Kind am Schlüsselloch zum Weihnachtszimmer einen ersten Blick durch einen Schlitz im Augenverband: Alles gestochen klar und leuchtende Farben! In mir ist eine grosse Dankbarkeit für die neu geschenkte Welt, auf der meine Füsse jetzt sicher gehen können. Es muss ja nicht das Weltall sein. Aber schön war der Ausflug doch.
Nie habe ich in ihre Augen sehen können wegen der ausserordentlich dicken Brille, einem undurchsichtigen Vorhang aus mehreren Glasschichten, gefasst in ein billiges Nickelgestell: Käthe, unser Familienfaktotum im 2. Weltkrieg, die uns drei kleine Geschwister und den Haushalt besorgte, während Mama Klassen von über achtzig Schülern unterrichtete. Schwer zu sagen, wie alt Käthe war: klein, dünn, mit entengleich watschelndem Gang und einer unverkennbar lauten, von zärtlich-tief bis schrill wechselnden Stimme.
Meine kleine Schwester hatte sie sozusagen adoptiert und setzte alles daran, sie zu mästen. Eng in den linken Arm geklemmt, stopfte sie ihr den Haferbrei in den Mund: „Maul auf!“, ich höre es noch heute. Was dazu führte, dass unser Baby so lang wie breit wurde und erst auf ärztliches Eingreifen zu einer vernünftigen Ernährung kam. Ebenso energisch versuchte Käthe, mir ihren mit weissen, madenähnlichen Mehlklumpen durchsetzten Spinat aufzuzwingen. Meine Protestversuche gab ich auf, als Mama von der Schule kam und sie mich beide über einem Küchenschemel verdroschen. Ich habe das Käthe längst verziehen, denn sie war eine treue, mit der Familie verbundene Seele.
Für unseren Papa an der Nordsee-Kriegsfront organisierte sie Zigaretten, für Mama Medikamente, woher blieb ein Rätsel. Die ganze Familie und das halbe Dorf wurden von ihr bestrickt. Noch halbblind steckte sie die Nase dicht auf Strickanleitungen: „Da müssen zwei Maschen verschränkt zusammengestrickt werden!“ und wagte sich an die kompliziertesten Zopf- und Lochmuster. Dafür erfuhr sie von den Bestrickten ganze Dorfgeschichten, die sie laut und lärmig weitererzählte. Mama hielt sich manchmal die Ohren zu und hütete sich davor, im Beisein von Käthe etwas von unserer Familie zu erzählen.
Noch in späten Jahren kam Käthe uns zu Hilfe, wenn jemand krank oder im Spital war. Wir waren dankbar dafür, auch wenn nach ihr die Wohnung vor Schmutz starrte, denn sie sah ja fast nichts mehr. Bis ins hohe Alter soll sie die Deisslinger Dorfkinder eingesammelt, zum Kindergarten begleitet und wieder nach Hause gebracht haben. Trotz ihrer Sehbehinderung habe sie es noch als alte Frau geschafft, ganz allein, ohne ein Wort Englisch ihren Neffen in Chicago zu besuchen. Was sie im Kopf hatte, zog sie durch.
Meine frühesten Erinnerungen führen mich zu sinnlichen Erfahrungen. Es wird mir beim Nachdenken bewusst, dass Sinne ihr eigenes Erinnerungsvermögen haben, ihre eigene Welt jenseits von Worten. Ich kann zum Beispiel die Augen schliessen und doch die Bilder meiner Erfahrungswelt wie einen Film abspulen lassen. Ich kann auch meinen Gleichgewichtssinn trainieren. Dann erinnert sich im Ernstfall, in der Gefahr des Stürzens, mein Bewegungsapparat an den eingeübten Ablauf zur Vermeidung des Umfallens, und ich bleibe auf den Beinen. Ich selber bin ein ausgesprochener Nasenmensch. So scheint es mir kein Zufall, dass meine allerfrüheste Erinnerung aus der Riechwelt stammt. Hier ist sie:
Ich erwache am Duft von Brot. Warm und leicht schmiegt sich die Bettdecke um meinen in Seitenlage eingerollten Körper. Gesicht, Ohren, Haare sind eingekuschelt in der Kuhle des Federkissens. Der Atem wird tiefer, die Augenlider beginnen zu blinzeln. Durch die milchige Glastür des Schlafzimmers dringt weiches Licht aus der Küche und ich sehe Mamas Schattensilhouette hin und her huschen. Langsam drehe ich mich auf den Rücken. Mamas Bett neben mir ist leer, aber noch warm. Zu spät, um zu ihr hinüberzurollen. Doch durch meine Nase steigt dieser wunderbare Duft von frischem Brot, wie jeden Morgen. Er gibt mir ein Gefühl grosser Geborgenheit.
Ich wurde 1936, drei Jahre vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges in einem kleinen Dorf in Süddeutschland geboren. Wir wohnten im Dachstock der Dorfbäckerei, wo meine Eltern eine günstige Bleibe gefunden hatten. Von der Bäckerei im Kellergeschoss drang der Duft von frischem Brot durchs ganze Haus. Zu meiner Geburt, so erzählte man mir später, brachte die Bäckersfrau meinen Eltern einen frischen Zopf, ein kostbares Geschenk hinein in ihre Armut als Junglehrer, die über dem Zurückzahlen ihrer Studienschulden oft buchstäblich hungerten.
Während den Kriegsjahren mussten wir immer wieder ein kleines Stück Brot unter den drei Geschwistern teilen, die nach und nach, jeweils neun Monate nach Papas Feldurlaub, unsere Familie vergrösserten. Manchmal teilte ich mein Stücklein auch noch mit Mama, die sonst auf ihren Anteil verzichtet hätte. Es wäre laut meiner Grossmutter eine Todsünde gewesen, altes Brot wegzuwerfen. Heute noch, inzwischen selber Grossmutter, gebe ich wunderbare Rezepte zur Brotverwertung an meine Familie weiter: Brotsuppe mit Zwiebeln, Brotschokoladekuchen, Ofenschlupfer, Vogelheu – köstlich! Der Duft meiner Experimente schlüpft offenbar durch Türritzen und Schlüsselloch ins Treppenhaus meines neuen Mietblocks, denn die Hausbesitzer haben ihn schon – wohlwollend! – registriert.
Die früheste Erinnerung an den Duft von Brot ist mir vor etwa zwanzig Jahren in einem herzzerreissend traurigen Augenblick zum Trost geworden. Damals musste ich am Basler Bahnhof endgültig Abschied nehmen von einer mir lieb gewordenen Flüchtlingsfamilie, die trotz vielen Eingaben und Rekursen die Schweiz verlassen und in ihr krisengeschütteltes Heimatland Liberia zurückkehren mussten. Jack, Victoria und ihr Baby Gladys, mein Patenkind. Trostlos liefen mir die Tränen über die Backen, als ich allein durch die Bahnhofunterführung zum Ausgang zurückging. Da – ein unvergleichlich