Ausgerechnet Luise! - Rena K. Wendell - E-Book

Ausgerechnet Luise! E-Book

Rena K. Wendell

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Beschreibung

Die lesbische Alice ist nicht begeistert über den Brandbrief ihrer betonkatholischen Cousine Luise: Die hat Arbeit und Bleibe als Pfarrershaushälterin verloren und bittet um vorübergehenden Unterschlupf. Als einzige Verwandte fühlt sich Alice moralisch verpflichtet, ihre Cousine trotz über 20 Jahren Sendepause aufzunehmen. Die moralinsaure Luise kommt - und zwar mit einigen Geheimnissen im Gepäck...

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

I.

Kapitel

II.

Kapitel

III.

Kapitel

IV.

Kapitel

V.

Kapitel

VI.

Kapitel

VII.

Kapitel

VIII.

Kapitel

IX.

Kapitel

X.

Kapitel

PROLOG

Heute roch es besonders intensiv, dieses Gemisch aus Weihrauch und der Modrigkeit des alten Pfarrhauses, das Luise seit über siebzehn Jahren umgab. Luise legte ihren schwarzen Hut auf der Garderobe ab, hängte die schwarze Kostümjacke auf einen Bügel, wechselte von ihren schwarzen Halbschuhen in die Filzpantoffel und ging zum Zimmer des Pfarrers, öffnete die Tür. Sie brauchte nicht mehr anzuklopfen: Der Hirte des kleinen niederbayerischen Ortes Banklkofen war vor zwei Stunden zu Grabe getragen worden. Gut über siebzig war er gewesen und nicht mehr gesund; sein Ende war nicht überraschend gekommen.

Luise zupfte die Tagesdecke des frisch bezogenen Bettes ein letztes Mal zurecht und ging dann in ihre Kammer; ein Koffer stand offen, halbfertig gepackt neben dem Bett. Luises Tage hier waren gezählt; mit achtundfünfzig war sie arbeitslos und bald auch ohne Bleibe. Sie holte Briefpapier aus der Schublade ihres Tisches; ohne Denkpause füllte sich Zeile um Zeile. Luise faltete ihren Brief zusammen, steckte ihn in ein Kuvert, klebte es zu. Schrieb eine Empfängeradresse darauf. Die hübsche Briefmarke mit dem Vogel des Jahres machte ihre wichtige Post versandfertig. Sogleich zog Luise ihre schwarzen Halbschuhe und ihre schwarze Kostümjacke wieder an, um ihr Schreiben in den einzigen Briefkasten Banklkofens zu werfen.

Die Türklinke in der Hand stutzte die Haushälterin außer Dienst und atmete ein paar Mal tief ein: Ja, es roch auf einmal anders: heller, frischer...

I.

»Maurice, das ist das zweite Mal in dieser Woche, dass du zu spät zu einem Casting gekommen bist! Der Kunde ist stinksauer, und da hat er voll Recht! Und frag mich lieber nicht, wie ich gerade drauf bin!«

Auf Alices Wangen blühten Wutpusteln. Auch mit fünfzig Jahren konnte sie sich noch herrlich aufregen, schließlich hatte sie einen Ruf zu verlieren. Ihre Münchner Male Model-Agentur »Aliban« war in zwanzig Jahren zu einer ersten Adresse geworden. Auch wenn sie Anfängern mit Potential immer eine Chance gab und sie förderte: Wen Alice durch ihre harte Schule geschickt hatte, von dem erwartete sie bedingungslose Disziplin und Professionalität. Auch von ihrem aufkommenden Topmodel Maurice, einem bildschönen Marokkaner mit Starallüren. Jetzt schon, als Anfänger.

Eine Strähne ihres blondierten Pagenkopfs zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelnd drehte sich Alice auf ihrem Ledersessel zum Fenster. Die jetzt, Mitte April, üppige rosa Blütensymphonie der Kirschbäume in der Schwabinger Görresstraße stimmte sie nicht milder:

»Du hast morgen, Samstag, einen weiteren Termin in Hamburg. Und ich rate dir dringend, pünktlich zu sein. Ich meine das ernst. Und rufe mich sofort an, wie es gelaufen ist. - Ja, dann ist es ja gut.«

Das Smartphone landete unsanft auf dem altertümlichen Schreibtisch, der eher in eine altehrwürdige Anwaltskanzlei gepasst hätte. Alice schwang ihre neunzig Kilo aus dem Ledersessel und begutachtete Bewerbungsfotos auf der Magnettafel an der gegenüberliegenden Wand. In ein paar Minuten, ab eins würden im Viertelstundentakt zehn hoffnungsvolle Talente, die zweiwöchentliche Vorauswahl aus ständig eingehenden Bewerbungen, zum »Vorturnen« erscheinen. Die Kandidaten, die über ihren Scout Mischa den Weg zu ihr fanden, liefen gesondert.

»Tommy!« rief Alice durch die offenstehende Tür. »Ist im Castingraum alles klar?«

»Jaha, alles paletti!« rief ihre Perle von Assistent aus seinem ebenfalls offenen Büro und drückte im nächsten Moment den Türöffner auf seinem Schreibtisch. Es ging los.

Gute drei Stunden später stand Alice mit Tommy wieder an der Magnettafel, drückte ihm fünf Fotos junger Männer in die Hand, die zumindest bei ihr doch keine Chance hatten. Über den verbleibenden fünf sinnierte sie:

»Hm, der hier war echt gut.«

»Ja, schon. Aber für den Laufsteg ist er definitiv zu klein«, gab Tommy zu bedenken.

»Editorials also«, meinte Alice. »Brauchen wir da jemand?«

Bevor Tommy antworten konnte, läutete das Smartphone von Alice. Im nächsten Augenblick wandelte sich die coole Geschäftsfrau in eine Turteltaube und Tommy ließ sie allein:

»Hi, Topolina. Ah, ist das schön, dich zu hören.«

Nach über dreizehn Jahren flitterte durch die Beziehung von Alice und Karola immer noch Verliebtheit und Vorfreude auf einander. Die walkürenhafte, laute Alice und die fünf Jahre jüngere, etwas leisere Karola verband keine Liebe auf den ersten Blick. Erst nach dem zweiten und dritten war der Funke übergesprungen, als sie festgestellt hatten, dass sie wie Eiweiß und Dotter zusammenpassten.

»Wie war das Casting? Hast du dir wieder ein paar fesche Jungs geschnappt?« fragte Karola.

»Ja, drei werden es wohl werden«, sagte Alice und zündete sich eine Zigarette an. »Und bei dir? Ein paar neue Damen?«

Karola betrieb seit zehn Jahren einen Escortservice für lesbische Frauen. Ihre Eltern und ihr gesamter Freundeskreis hatten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wie sie ihren gut dotierten Job als Grafikdesignerin in einer Werbeagentur und das kurz bevorstehende Angebot, als Partnerin aufgenommen zu werden, für diese Schnapsidee aufgeben konnte! Und manche »Freunde« waren durch eine Metamorphose gegangen hin zu Bekannten und schließlich zu Verschollenen. Jene, die mit einer »Zuhälterin« nichts zu tun haben wollten, Mama und Papa eingeschlossen. Alice dagegen war angetan gewesen von der Idee; hatte ein gutes Geschäft in einem nur scheinbaren Nischenmarkt gewittert. Und Recht behalten.

»Hm, jaa«, schwärmte Karola, »eine ganz Besondere: hoch gebildet, niveauvoll, sie hat einfach Stil und Klasse.«

»Ja, und einen Traumkörper, Pfirsichhaut«, ergänzte Alice ironisch. Sie ließ sich auch dieses Mal nicht eifersüchtig machen. Obwohl es manchmal in einer verschwiegenen Ecke in ihr ein wenig piekste, ihre Freundin in ständigem Kontakt mit vielen attraktiven Frauen zu wissen. Aber sie konnte vertrauen. »Und blutjung.«

»Sie wird bald sechzig«, beruhigte Karola.

»Und du hast Kundinnen für sie?«, fragte Alice erstaunt.

»Klar. Intellektuell anspruchsvolle Frauen zum Beispiel, die ihren Abend nicht mit einer Frau verbringen möchten, die Syphilis nicht von Sisyphos unterscheiden kann.«

Alices Lachen dröhnte durch die offenen Bürofenster: »Oder die Aids für eine Hilfsorganisation hält.«

»Oder so. Hihi! - So, was ganz anderes: Ich möchte heute nicht mehr allzu lange im Büro hocken, es ist so ein schöner Tag. Chinesisch essen daheim so um fünf?«

»Gute Idee. Ich hab heute auch keinen Bock mehr. Ich sagen nur: Maurice«, schnaufte Alice durch und wischte eine kleine Säule Zigarettenasche von ihrem Oberschenkel; eine graue Spur krallte sich in sandfarbener Baumwolle fest. »Essen besorge ich im Bao. Dann bis gleich, Topolina.«

»Bis gleich, Mümmelchen.«

Ein paar Abschiedsküsse schnalzten über die Sendemasten. Alice erledigte noch ein paar Telefonate, packte dann das Rauchzeug in ihre Umhängetasche und schaute beim Hinausgehen nur kurz auf die fünf gut aussehenden Männerporträts an der Tafel. Die hatten auch noch Zeit bis Montag. Der Assistent konnte sich dagegen jetzt schon über eine gute Nachricht freuen:

»Lass uns Feierabend machen.«

Aber Tommy zögerte: »Äh, danke. Aber ich möchte noch die Abrechnungen für den letzten Monat machen. Und nachdem es heute relativ ruhig ist...«

Alice lächelte in sich hinein: Sie hatte nicht nur für Models ein zielsicheres Gespür. Ihr 32-jähriger Assistent war in vier Jahren eine verlässliche Stütze im Backoffice geworden, eine Allround-Begabung bis hin zu einer therapeutischen, wenn er manch abgewiesenen Bewerber im Flur seelisch wieder aufrichtete.

»Wie du meinst. Aber am Montag möchte ich dich vor eins hier nicht sehen. Okay?«

Eine Viertelstunde später verkürzte sich Alice mit Espresso und Zigarette beim Stamm-Chinesen um die Ecke die Wartezeit für das Menü für zwei. Mehr musste sie nicht sagen: Der Wirt, Bao, kannte die Wünsche seiner Stammgästinnen.

Mit einer großen, duftenden Tüte marschierte Alice zurück in die Görresstraße: ihr Ladenbüro lag im Parterre, ihre geräumige Altbauwohnung im dritten Stock. Und wenn die Renovierung des ehemaligen Kurzwarengeschäfts zwei Hausnummern daneben keine weitere Katastrophe ereilte, würde ihre Freundin nächste Woche mit ihrem Escortservice vom hintersten Mittersendling in das weit repräsentativere, dafür etwas teurere Schwabing umziehen.

Kaum hatte Alice die ersten Schritte auf dem knarzenden Parkett im Flur getan, eilte Karola aus der Wohnküche und schmatzte ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange, nahm die Essenstüte:

»Ja, ich bin schon da. Tisch ist fertig gedeckt, Jasmintee ist gleich durchgezogen. Und ich hab noch eine Überraschung.« Wie ein schelmischer Troll tänzelte sie davon.

Alice erschien kurz danach im bequemen Seidenjogging in der Küche und setzte sich freudig lächelnd an den wuchtigen Fichtenholztisch; es duftete verführend. Auf zwei Rechauds reihten sich weiße Porzellanschalen mit Löffeln darin; die Essensschalen standen auf Tischsets aus Bambus – Gabel und Löffel für Alice, Stäbchen für Karola; Servietten passend in beige. Und natürlich fehlten auch nicht ein paar Teelichter, die heute zwischen ein paar Zweigen Goldregen leuchteten. Karola hatte die Gabe, selbst eine schnelle, gemeinsame Tasse Espresso nicht einfach hinzustellen, sondern zu zelebrieren.

Auch nach dreizehn Jahren lobte Alice die Ästhetin in ihrer Partnerschaft: »Du hast das wieder so schön gemacht!« Sie klatschte in die Hände. »Mmh, selbst wenn ich keinen Hunger hätte...«

»Was so gut wie nie vorkommt«, ergänzte die schlanke Karola augenzwinkernd und füllte Reis in die Schale ihrer Freundin, die zwei Löffel von der doppelt gebratenen Ente dazu gab. Jasmintee gluckerte in die stilgerechten Tassen. Sein blumiger Duft verband sich mit dem des Frühlings, der durch die offene Balkontüre hereinlächelte.

Bei Huhn mit Paprika fragte Alice: »Du hast was von einer Überraschung gesagt.«

Karola kaute, nickte und grinste gleichzeitig. Sie hob ihren Hintern ein wenig vom Stuhl, zog ein Metallschild hervor und hielt es hoch: »Ta-ta, Ta-ta! Das neue ‚Eve To Eve‘.«

»Ah ja. - Ganz okay.«

Das Ausbleiben der erwarteten Begeisterung verunsicherte Karola: »Wie jetzt? Findest du es nicht gut?« Sie betrachtete das Messingschild, eine stilsichere Mischung aus Eleganz und geschäftsmäßiger Nüchternheit. Die ungläubig aufgerissenen Rehaugen ihrer Liebsten ließen Alice keine Chance:

»Ich wollte dich nur auf den Arm nehmen. Nein, ganz ehrlich: Es ist richtig gut. Perfekt.«

Karola schnaufte auf: »Wie witzig du wieder bist! Ich hätte jetzt echt Lust, dir ein Essstäbchen zwischen die Rippen zu rammen.«

Alice verteilte schmunzelnd eine Portion von etwas Rotbraunem mit grünen Kringeln und weißen Streifen auf den Rest Reis in ihrer Schale. »Und ich finde es herrlich, dass ich dich immer noch auf den Arm nehmen kann, und du merkst es nicht.«

»Ja, die überraschenden Momente sind es, die eine Beziehung interessant und frisch halten«, philosophierte Karola und wartete zurückgelehnt auf den ersten Bissen ihrer Freundin.

Alice hob zustimmend einen Daumen, die volle Gabel glitt in ihren Mund. Zunge und Gaumen jaulten auf. Alice schnappte nach Luft. Der Feuersturm trieb ihr Tränen in die Augen. Ein großer Schluck Jasmintee ließ den Quell der Qualen die Speiseröhre hinunter rutschen; Alice spürte sie zentimeterweise lodern.

Karola reichte ihrer leidenden Liebsten die große Reisschale; Alice schaufelte einen gehäuften Esslöffel in sich hinein und stöhnte dankbar:

»Ah, tut das gut!« Zwei weitere ließen das Feuer allmählich erlöschen. »Oh Gott, was war das denn?«, schniefte Alice.

Karola tauschte die Essschalen aus und stellte ihrer Freundin zahmes Schwein mit Bambus hin. »Rind mit Zwiebeln. Mein scharfes Lieblingsgericht ist doch immer dabei.« Mit einem zuckersüßen Lächeln: »Ach, Mümmelchen, das tut mir jetzt echt leid. Ich dachte, du wolltest das mal probieren.«

»Canaille!«, Alice durchschaute die Retourkutsche. »Eins zu eins, unentschieden. Noch«, drohte sie augenzwinkernd.

Nur eine gute Portion Reis blieb übrig. Während Karola den Tisch abräumte, holte Alice die private Post von der Flurkommode. Das Abendessen war prinzipiell lesefreie Zone und Wichtiges oder Urlaubsgrüße und Einladungen trudelten ohnehin via E-Mail oder auf dem Smartphone ein. Den Stapel Kuverts, Probekataloge und Fachzeitschriften durchblätternd, kam Alice in die Küche zurück. Setzte sich an den Tisch und stutzte: Ein handbeschriebener Umschlag an sich war schon höchst ungewöhnlich, die Absenderadresse eine dicke Überraschung:

»Das glaube ich jetzt nicht!«

»Was? Was Schlimmes?« Karola zündete sich die erste ihrer zwei abendlichen Virginias an.

»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Alice. »Der Brief ist von Luise.«

»Luise, Luise...« versuchte Karola den Namen zuzuordnen.

Alice half ihr auf die Sprünge: »Meine Cousine mütterlicherseits. Katholischer Mädchenbund, katholischer Frauenverein, irgendwelche zwanzig Jahre in Tansania als Missionarin. Ich glaube, zuletzt war sie Haushälterin bei einem Pfarrer.«

»Ach ja, genau: die Altarblüte!«, fiel es Karola wie Schuppen von den kleinen grauen Zellen. »Du bist doch mit ihr aufgewachsen, oder?«

»Sechs verdammt lange Jahre. Nachdem meine Tante gestorben war, auch so eine Fromme, da war Luise sechzehn oder so, ich sieben, haben wir sie aufgenommen.« Alice lehnte sich zurück und kramte Blitzlichter aus ihrer Erinnerung hervor. Auch die aus jüngerer Zeit: Bis vor drei Jahren alle Jahre wieder eine Weihnachtskarte mit allen Varianten der berühmten betenden Hände. Das letzte Mal hatte sie ihre Cousine vor fast 25 Jahren gesehen als diese ein paar Tage aus Tansania zu Besuch bei Alices Eltern kam. Alices Miene verfinsterte sich, ihre Lippen pressten sich kräuselnd zusammen. Sie zwirbelte eine Haarsträhne.

Karola kannte die Zeichen, holte aus dem Kühlschrank ein Weißbier und stellte es samt passendem Glas vor ihre Freundin. Mit einem leise dankenden Lächeln schenkte sich Alice ein.

»Das ist schon manchmal ulkig, wie unterschiedlich Geschwister sein können«, sinnierte Karola. »Wenn ich da an deine Mom denke. Und an deinen Dad: So was von locker drauf und Leben und leben lassen. Schwul, lesbisch, schwarz, gelb, Buddha, Mohammed – alles okay. Ich find sie richtig klasse.«

»Das sind sie, ja«, stimmte Alice zu. Ihre Eltern waren vor fünfzehn Jahren nach Kanada ausgewandert, da war die Mutter fünfundfünfzig gewesen. Lust auf Neues, auf eine Herausforderung, noch mal komplett von vorne anfangen. Mit einem bayerischen Restaurant- mittlerweile zwei - hatten sie den richtigen Riecher gehabt. Erst mit ihren jetzt siebzig war Mom ein bisschen leiser geworden und auch Alices Dad stand nicht mehr jeden Tag in der Küche. Die Läden liefen auch so hervorragend.

Alice starrte das Kuvert an. Wie konnte man denn vor dem Brief einer Verwandten Angst haben? Mit einem unguten Gefühl riss Alice das Kuvert auf, faltete drei Bögen Papier auseinander und las vor:

»Meine liebe, einzige Cousine, welche Wege uns dereinst auch getrennt haben mögen, immer bist du mir im Herzen geblieben. Gottes Wege sind ...« Alice verdrehte ihre Augen, überflog die nächsten Sätze in gestochen klarer Handschrift und las weiter: »Mir wurden zwei schwere Prüfungen auferlegt: Mein Dienstherr, Pater Dominian, dem ich über siebzehn Jahre den Haushalt geführt habe, ist vor ein paar Tagen von uns gegangen. Mit seinem Hinscheiden stehe ich nun da ohne Erwerb und bald auch ohne Bleibe. Und Gott hat mir als zweite die schwerste aller Prüfungen angedeihen lassen, denn nur er… «

Alice murmelte die nächsten salbungsvollen Sätze mit genervten Augenbrauen im Schnelldurchlauf vor sich hin, drehte zur Rückseite. Karola hatte ihr Kinn in die Handflächen gestützt in weit größerer Neugier zu hören als ihre Freundin las.

»… ein bösartiger Hirntumor entdeckt wurde, der nicht operiert werden kann. Anbei der Arztbericht.«

Alice und Karola erschraken fast gleichzeitig: »Ach, du Scheiße!«

Karola zog ihrer Freundin das letzte Blatt aus der Hand: »Das ist der Arztbericht, von einem Neurologen in Passau… Stimmt tatsächlich: inoperabel steht da. Therapiemöglichkeiten werden von der Patienten derzeit noch überdacht.«

»… werde mich dem Ruf unseres Schöpfers beugen und keine Behandlung...« Alice schüttelte den Kopf: »Spinnt die?«

»Vielleicht ist das schon eine Auswirkung des Tumors«, mutmaßte Karola. »Je nachdem, wo das Teil sitzt, kann sich die Persönlichkeit verändern.«

»Oder sie ist zu den Zeugen Jehovas gewechselt. Das spräche allerdings für eine gewaltige Persönlichkeitsveränderung«, stimmte Alice zu und rief aus: »Oh, jetzt kommt es: Und so hoffe ich, dass meine Bitte nicht fehl getan ist und ich das halbe Jahr, das mir höchstens noch bleibt, in Ruhe und Frieden bei meiner großherzigen Verwandten verbringen darf.«

»Sie will echt nach Toronto zu ihrer Tante, deiner Mom?« fragte Karola lachend.

Alice lachte nicht: »Nein, sie will zu mir.«

Zwei Kinnladen klappten herunter. Die beiden Frauen schauten sich ungläubig an.

»… soll nicht zu deinem Schaden sein. Selbstverständlich komme ich für alle Unkosten auf«, las Alice weiter.

Alice leerte ihr Bierglas, Karola zündete sich die für den Fernsehabend vorgesehene, zweite Virginia an. Schweigendes vor sich hin Brüten. Der sonst kaum hörbare Motor des Kühlschranks sprang an. Er dröhnte durch die Küche wie ein startender Düsenjet.

Alice schnaufte durch, schaute noch mal auf den Absender von Luises Brief: »Banklkofen. Habe ich noch nie gehört. Neun-vierer-Postleitzahl: Das klingt nach niederbayerischem Outback.« Sie blätterte Luises Brief durch:

»Da zu leben, ist wahrscheinlich wie Wachkoma, auch wenn man gesund ist.«

»Und da hockt sie ganz allein und todkrank«, ergänzte Karola, die ahnte, was ihre Freundin umtrieb. Wenn sie ehrlich war: auch sie selbst. Sie stellte die entscheidende Frage: »Was machen wir?«

Alice antwortete nicht, starrte auf die Tischplatte.

»Ich meine, Platz hätten wir. Das Gästezimmer könnten wir noch ein bisschen aufhübschen«, überlegte Karola laut.

»Zu dritt auf hundertfünfzig Quadratmetern zu leben, ist nicht das Problem. Wenn eine unserer Freundinnen oder Freunde aus welchen Gründen auch immer kurzzeitig ein Dach über dem Kopf braucht, ist das überhaupt kein Thema.« Alice schaute ihrer Freundin eindringlich in die Augen. »Aber es ist für ein halbes Jahr – und es ist Luise.«

Karola ahnte: »Ein Alien auf der ganzen Linie.«

Alice nickte. »Gleichzeitig fühle ich mich richtig beschissen, wenn ich sie abweise. Trotz allem, sie ist meine Cousine und todkrank und sie hat wirklich keine Verwandten mehr. Und Freunde bestimmt auch nicht.« Sie stand auf und tigerte in der Küche umher. »Aber wenn wir sie zu uns nehmen sollten...« Alice lachte auf. »So, wie wir leben, das bringt sie wahrscheinlich schon in einem Vierteljahr unter die Erde.«

»Wieso? Wir leben doch ganz normal.«

Alice zog die Augenbrauen hoch.

Karola dämmerte es: »Oh, Luise weiß nicht, dass du lesbisch bist? Und von mir und überhaupt?«

»Nein. Von mir jedenfalls nicht und von Mamma bestimmt auch nicht. Die war genauso froh wie ich, als Luise nach Afrika abgedüst ist. Die haben sicher keinen Kontakt mehr miteinander.«

Es wurde kühl in der Küche; die Sonne verabschiedete sich aus dem Hinterhof mit immer längeren Schatten. Karola fröstelte in ihrer dünnen Baumwollbluse. Während sie die Balkontüre schloss, meinte sie lapidar: »Ja mei, da muss sie halt durch. Wenn ich irgendwo Unterschlupf bekomme, muss ich mich an meine Gastgeber anpassen. Und nicht umgekehrt.« Schulterzuckend setzte sie sich wieder zur ihrer Freundin.

»In dem speziellen Fall wäre ich für einen Kompromiss«, schlug Alice vor.

»Und wie soll der aussehen? Getrennte Schlafzimmer und Tischgebete, oder wie?«

Alice konnte ihre Partnerin nur teilweise beruhigen: »Nein, das nicht. Aber halt nicht unbedingt rumknutschen vor ihr und so Sachen.«

Karola verschränkte ihre Arme vor der Brust. Das konnte ja heiter werden! Durch ihr Hirn purzelten Vokabeln wie Nächstenliebe, Mitgefühl, Blut ist dicker als Wasser, freitags kein Fleisch, Selbstverleugnung, durch die Wohnung schleichender Weihrauchgeruch. Während sie in Gedanken eine Liste der Für und Wider zusammenstellte, gab Alice eine Entscheidungshilfe:

»Ich sehe zwei Möglichkeiten, wenn wir Luise zu uns nehmen. Entweder wir ziehen unser Leben durch wie immer. Dann haben wir höchst wahrscheinlich ein Sauerampfergesicht und eine mit Bibelzitaten um sich werfende, alte Jungfer um uns. Oder wir machen auf ...«, Alice winkte mit angewidertem Gesicht ab: Sie lebte, wie sie lebte und sie lebte glücklich. Und wenn jemand nicht damit klar kam, war das sein Problem. »Nichts oder.« In Karolas erleichtert lächelndes Gesicht ergänzte sie: »Aber eines ist klar: Ein Alien wird bei uns einziehen. Wenn du einverstanden bist. Du hast das letzte Wort. Aber das müssen wir nicht heute entscheiden.«

Karola stützte ihr Kinn in die Hände, lehnte sich wieder zurück, suchte nach den passenden Worten: »Versteh mich jetzt bitte nicht falsch, aber was ist, wenn sie nach einem halben Jahr nicht … also länger… Ich wünsche es ihr wirklich, aber ...«

Ein ähnlicher Gedanke war auch in Alice schon spazieren gegangen: »Wenn ich Luise zusage, dann nur mit der klaren Ansage, dass wir auskommen müssen miteinander.

Dass das Zusammenleben klappt. Wenn nicht, muss sie sich eine andere Bleibe suchen.«

»Was in München weiß Gott nicht einfach ist«, wand Karola ein. »Fettes Krankengeld wird sie bestimmt nicht bekommen.« Die Lösung ihrer Freundin war nicht wirklich eine.

Aber Alice wusste mehr: »Sie hat von Tante Hedwig so um die sechzigtausend Euro geerbt. Wenn Luise die Kohle nicht zur Bekämpfung des Hungers in der Welt gespendet hat oder für eine goldbestickte Tagesdecke für den Papst, sehe ich da kein Problem.«

Karolas Augenbrauen hüpften vor Überraschung hoch. »Ja dann – okay. Machen wir es.«

»Echt?« Alice stand auf und ging zu ihrer Liebsten, knuddelte sie: »Danke.« Als sie die Ohrläppchen ihrer Freundin zu lecken begann, zog Karola in Vergnügen quietschend den Kopf ein:

»Hihi! - Du willst ein paar Punkte sammeln für oben! Gibs zu! Unsere große Atheistin!«

»Agnostikerin«, korrigierte Alice und umschlang ihre Freundin. »Und gelernte Versicherungskauffrau: Auf Nummer sicher gehen. Außerdem hoffe ich auf eine Göttin da oben. Obwohl«, Alice zog Karolas Gesicht zu ihrem und hauchte: »ich habe ja schon eine hier bei mir.«

»Dann schlage ich vor … Mmh … du huldigst mir …«, seufzte Karola zwischen dem Kusskonzert ihrer Freundin, »erst unter der Dusche und dann in unserem frisch bezogenen Seide-Altar der Lüste.« Sie stand auf und lockte im Türrahmen: »Du darfst mir auffällig folgen.«

Alice folgte ihrer Freundin. Trappste ihr auf dem Flur nach mit angewinkelten Armen und nach unten gekippten Handgelenken wie der Zeichentrickkater Sylvester, wenn er etwas im Schilde führte. Es war so herrlich, ab und zu albern zu sein! Und um den Faktor zwei herrlicher, es mit der Partnerin sein zu können.

Kichernd, küssend, sich gegenseitig einseifend standen die beiden Frauen unter der sich warm und trotzdem erfrischend auffächernden Wasserkaskade. Mittendrin stand Alice still; mit ihren an den Kopf hingeklatschen Haaren, den tropfenden Wimpern und ihrem Kampfgewicht war sie optisch weit entfernt von ihren male models und von Karolas Escortdamen. Sie schaute ihrer um fast einen Kopf kleineren Freundin tief in die Augen, prustete Wasser von den Lippen, öffnete ihren Mund.

Karola kam ihr zuvor: »Ich liebe dich auch, Mümmelchen.«

Nach dem üblichen, ausgiebigen Samstagsfrühstück wanderte Karola am nächsten Vormittag mit einem Meterstab im Gästezimmer herum; maß hier und dort, überlegte. Für einen länger bleibenden Gast musste ein Schreibtisch rein und ein passender Stuhl.

»Kommst du mal bitte?« rief sie ihre Freundin.

Eine Zigarette in der einen und das Smartphone in der anderen Hand erschien Alice.

»Was meinst du?«, fragte Karola und stellte sich vor das Fenster zum Hof: »Da kommt der kleine Schreibtisch mit Stuhl aus deinem Büro hin. Das offene Regal stellen wir an die Wand daneben. Ausziehcouch und Tischchen bleiben...«

Alice hörte nur halb, dafür amüsiert zu. Ihre Freundin war nicht zu bremsen, wenn es um das Gestalten von Räumen ging. Die geschmackvollen hundertfünfzig Quadratmeter ihrer gemeinsamen Wohnung waren überwiegend das Werk Karolas. Sie liebte es, tagelang maßstabsgetreu ausgeschnittene Pappmöbel auf Millimeterpapier gezeichneten Zimmern herumzuschieben. Immer auf der Suche nach der perfekten Lösung. Und sie hatte ein Händchen für Ästhetik, die ohne Luxusbudget auskam. Meistens.

»Jetzt sag halt: Passt doch, oder?« weckte Karola die auf ihr Smartphone konzentrierte Freundin auf.

»Ja, ja, mach nur. Das ist super.«

Karola verschränkte die Arme vor der Brust und hakte ironisch nach: »Was habe ich gerade gesagt?« Sie wusste, auf welchen Anruf ihre Freundin wartete.

»Äh, Schreibtisch, Ausziehcouch...«

Endlich klingelte Alices Smartphone: »Hi, Maurice. Und? Wie ist es gelaufen? - Okay, sehr gut. - Der Kunde war schwierig? Es gibt keine schwierigen Kunden, nur anspruchsvolle. Und du spielst in der ersten Liga, da ist das so. - Fein. Hast du gut gemacht. … Jo, wir hören.«

Alice balancierte das lang gewachsene Stück Zigarettenasche zum Aschenbecher auf den Couchtisch. »Mein alter Schreibtisch ans Fenster. Okay. Den trage ich mit Tommy am Montag rüber.«

Sie schaute sich in dem sechzehn Quadratmeter großen Zimmer um. Die Kiefermöbel, die rotbraune Ausziehcouch und der Berberteppich hatten fast zwanzig Jahre auf dem Buckel, was man ihnen nicht ansah. Und mit den von Karola plazierten Accessoires wie einer Bodenvase mit künstlichen Gräsern und einer tiffany-mäßigen Stehlampe war es richtig gemütlich. Eine Studentenbude höheren Niveaus – und Satellitenfernsehen. Mit den damit empfangbaren kirchlich angehauchten Sendern war Luises Freizeitgestaltung gesichert.

»So pressiert es jetzt doch nicht«, meinte Karola. »Ich wollte hier auch noch sauber machen. Aber dazu habe ich am Wochenende echt keine Lust.«

Die beiden Frauen gingen in die Küche zurück. Der Rest Kaffee füllte zwei Haferl halb. Alice kippte ihn hinunter mit Blick auf die letzte Seite von Luises Brief mit ihrer Telefonnummer. Die des Finanzamts wäre Alice lieber gewesen. Aber noch weniger Lust hatte sie, sich das Wochenende von einem über ihr schwebenden Damoklesschwert vermiesen zu lassen. Denn Karola hatte im Internet den Passauer Neurologen recherchiert, nur zur Sicherheit: Es gab ihn; Luises Arztbericht war also echt.

Ganz langsam tippte Alice eine Ziffer nach der anderen in ihr Handy. Sammelte sich. Es läutete an, länger, lang. Schon wollte Alice wieder auflegen:

»Pfarrei Banklkofen, Luise Fechner.«

II.

Den Dienstag darauf stand Alice pünktlich vor der Anzeigetafel des Münchner Hauptbahnhofs und vergewisserte sich noch einmal, auf welchem Gleis der Regionalzug aus Deggendorf kurz vor halb drei ankam. Sie postierte sich ans Bahnsteigende von Gleis dreiundzwanzig, weithin sichtbar in ihrem tomatenroten Sakko, das mit Luise verabredete Erkennungszeichen. Nach der Personenbeschreibung ihrer Cousine am Telefon erwartete Alice eine schlanke Frau mit hochgestecktem Grauhaar in beigem Trenchcoat. Ein echter Hingucker!

Noch zwei Minuten. Alice sah schon das froschäugige Gesicht der Lokomotive draußen auf dem Wirrwarr der Gleise. Es schien zu grinsen und mit jedem Meter, das es näher kam, flatterte Alices Magen heftiger. Adrenalin macht keinen Unterschied; es kündigt das Rendezvous mit einer neuen Liebe in der gleichen Weise an wie einen Prüfungstermin.

Als sich die Waggontüren öffneten, spähte Alice nach ihrer Cousine. Hinter einem Grüppchen Reisender entdeckte sie die farblose Luise. Bis auf ihr grau gewordenes Haar hatte sie sich nicht wesentlich verändert. In gewisser Weise war sie immer schon alt gewesen.

Alice winkte ihr zu und ging ihr entgegen. Noch im Taxi zum Bahnhof hatte sie überlegt, wie sie ihre Cousine begrüßen sollte. Eine Todkranke, arbeitslos, wohnungslos und obendrein eine Gästin, die sie nicht mit Freuden aufnahm, sondern aus Pflichtgefühl. Luise nahm ihr die Entscheidung ab, als sie nur noch einen Meter von ihr entfernt stand:

»Alice, du gute Seele!« Sie stellte ihren Rollkoffer in die Senkrechte und breitete ihre Arme aus. Alice fügte sich in die Umarmung, die schwere Handtasche ihrer Cousine schlug gegen ihren Rücken: »Grüß dich. Hattest du eine gute Fahrt?« Mehr fiel Alice nicht ein.

Luise löste sich und betrachtete ihr Gegenüber lächelnd im Schnellblick von oben bis unten: »Ja, danke. Ach, wie du aussiehst! - So, so außergewöhnlich.«

Alice nahm Luises Koffer und presste heraus: »Das rote Sakko war verabredet. Sonst laufe ich untertags nicht so herum.«

Luise blieb stehen, legte eine Hand vor den Mund: »Oh nein, so meinte ich das nicht. Das hast du missverstanden.« Im Weitergehen: »Ich meinte nur, du schaust gut aus. So geschminkt mitten am Tag und dieses Blond.«

»Danke, Luise. Du hast dich aber auch kaum verändert. Wann haben wir uns zuletzt gesehen? Das ist ja ewig her.«

»Über zwanzig Jahre«, wusste Luise. »Und nun führt uns das kleine Teufelchen in meinem Kopf wieder zusammen«, meinte sie bedauernd.

Ohne es zu wissen, brachte Luise ein Thema aufs Tapet, das Alice seit in paar Tagen umtrieb: Wie sollte sie mit ihrer Cousine angesichts deren tödlicher Krankheit umgehen? Sie kam sich schon in den Anfangsminuten des Wiedersehens unbeholfen und hölzern vor. Im Aufzug zur Tiefgarage fragte Alice rundheraus:

»Sag mal, ist es dir lieber, wenn wir deinen Tumor mehr oder weniger ignorieren und du einfach noch eine schöne Zeit hast. Oder...«

»Das ist sehr rücksichtsvoll, dass du das fragst, Alice. Und so wertschätzend. Ach, das tut gut. Und ja, so machen wir es.«

Alice holte ihren Funkschlüssel aus der Sakkotasche und verstaute den Koffer in ihrem dunkelblauen Volvo-Kombi.

Luise ließ sich in den weichen Beifahrersitz sinken und schnallte sich an: »Das ist aber ein schönes Auto«, stellte bewundernd fest, »und so bequem. Das war sicher teuer.«

»Ja, schon, aber ich kann auch viel von der Steuer absetzen«, antwortete Alice.

»Was arbeitest du? Noch Versicherungsagentur? «

»Nein, ich habe seit zwanzig Jahren eine Agentur für male… für Männermodels.« An der ersten roten Ampel zündete sich Alice eine Zigarette an, drehte die Lüftung auf und ließ das Fenster auf der Fahrerseite ein Stück herunter.

»Ach, würdest du bitte nicht rauchen? Ich vertrage das nicht so gut. Da wird mir gern schwindelig und übel. Und mit meinem Tumor ist es ja noch schlimmer geworden.«

Alice beförderte die angerauchte Zigarette durch den Fensterschlitz nach draußen. »Nein, schon klar.«

»Ich weiß, es ist dein Auto und ich kann dir ja eigentlich gar nicht verbieten...«, säuselte Luise.

»Ist schon okay«, erwiderte Alice bemüht freundlich und verzog ihr Gesicht nur zum Fahrerfenster hinaus: Dieser demutsvolle, dienernde Ton! Eines hatte sich schon mal nicht geändert: Ihre Cousine war nach wie vor eine wandelnde Entschuldigung, dass es sie gab. In Wort und Bild. Nach außen hin.

»Männermodels«, knüpfte Luise in der Augustenstraße an. »Was genau machst du da?«

»Na ja, stell dir einfach vor, du bist Modedesignerin und brauchst Männer, die deine Kleider bei einer Modenschau vorstellen. Dann rufst du eine Agentur wie mich an und die schickt dir welche. Du ziehst ihnen die Klamotten an, lässt sie ein paar Schritte gehen und sagst: Ja, der bringt das gut rüber oder der halt nicht. Und wenn du welche von meinen Models nimmst, machen wir einen Vertrag über das Honorar und so. Und einen Teil von dem Honorar kriege ich dann als Provision.«

Alice bog in die Görresstraße ein und spähte nach einem Parkplatz.

»Das ist so gar nicht meine Welt: Tand und Putz und...«

»Wenn du einen freien Parkplatz siehst, schrei sofort«, würgte Alice den befürchteten Vortrag über die Oberflächlichkeit der Welt und den Verlust wahrer Werte ab.

Zehn Minuten später sperrte Alice die Wohnungstür auf, Luise betrat den geräumigen Flur mit zwei freudigen Lächeln; eines für sich und eines für ihre Gastgeberin:

»Oh, ist das schön bei dir!«

Alice hängte Luises Trenchcoat an den Garderobenständer und führte sie in ihr Zimmer, Luise erhaschte durch die offenen Türen einen Blick in Küche und Wohnzimmer.

»Das ist dein Reich. Das Bad ist die nächste Tür; in dem Spiegelregal sind zwei Fächer leer geräumt für dich, die Toilette ist nebendran«, erklärte Alice und stellte den Koffer auf die Couch. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr kürzte sie die Willkommenstour ab: »Ich zeig dir schnell noch in der Küche, wo was zu essen und zu trinken ist. Dann muss ich leider nochmal ins Büro zu einem Termin. Ich bin aber bestimmt in einer guten Stunde wieder da.«

»Ach, jetzt bringe ich dir auch noch deine Arbeit durcheinander!«, bedauerte Luise. »Geh nur. Ich werde in Ruhe auspacken und mich dann ein bisschen hinlegen. Die ganze Aufregung heute...«

»Fein«, Alice stand im Türrahmen. »Ja, dann bis später und – fühl dich wie zu Hause.«

Alice eilte zur Wohnung hinaus und die Stufen hinunter. Nie war sie dankbarer für einen Geschäftstermin als jetzt.

Luise räumte währenddessen ihre Garderobe in den Kleiderschrank, stapelte in die Seitenfächer Pullover akkurat Kante auf Kante, ihr Tagebuch dazwischen. Die gedeckten Kleiderfarben fügten sich harmonisch in das Hellbraun des Kieferschranks. Als auch die baumwollene Unterwäsche ihren Platz gefunden hatte, legte sie eine abgegriffene Bibel auf den Schreibtisch und suchte nach einem passenden Platz, ihr kleines Holzkruzifix aufzuhängen.

Einstweilen musste es im Regal neben dem Schreibtisch stehen.

Beim Rundblick in ihrer neuen Heimat auf Zeit seufzte Luise zufrieden. Es war schön, hell, freundlich, sauber. Sie öffnete das Fenster zum Hof, sog die heute etwas kühlere Frühlingsluft tief ein. Lauschte. Mitten in der großen Stadt war es genauso still wie in Banklkofen. Sie würde mit offenem Fenster wunderbar schlafen können.

Den Kulturbeutel im Kleiderschrank verstaut, legte Luise ein großes, braunes Kuvert auf den Schreibtisch und eine Papiertüte in das Regal. Den leeren Koffer hob sie auf den Kleiderschrank. Luise zog ihre Halbschuhe aus, stellte sie neben die Couch, schlüpfte in die Filzpantoffeln und legte sich Kissen und Wolldecke zurecht für ihr Nickerchen. Kurz überlegte Luise: Wo war noch mal die Toilette? Ach ja! Übernächste Tür.

Auf ihrem Weg zum stillen Örtchen betrachtete die neue Hausgästin ein paar Gemälde an den Flurwänden, auf allen waren Frauen zu sehen. Gegenüber der Toilette stach ihr eines besonders ins Auge, ebenfalls modern, abstrakt. Aber nicht so abstrakt, dass Luise nicht eindeutig ein Paar Brüste erkannte. Und ein Dreieck und Finger… In verbotenem Interesse und erlernter Empörung zugleich betrachtete Luise das Bild, während sie die Türklinke der Klotür langsam herunterdrückte.

Kopfschüttelnd wandte Luise ihren Blick von der gemalten Lüsternheit. Im nächsten Moment schnellte die Türklinke wieder hoch, Luise wich einen Schritt zurück: Ein Bodybuilder mit nacktem Oberkörper saß mit heruntergezogenen Hosen auf einer Kloschüssel. Offen lächelte er Luise von dem Poster herab ins Gesicht, eine Hand in der Schamgegend etwas nach unten fixierend, von dem sie wusste, was es war, aber für sie unaussprechlich. Und was sollte sie von der Bildunterschrift halten: »Wir Männer mögen es bequem, auch bei kleinen Sachen.«

Als die letzten Tropfen in die lila Kloschüssel plätscherten, kamen Luise doch Zweifel, ob sie hier die Fürsorge und Geborgenheit finden würde, die sie immer Anderen hatte angedeihen lassen. Ein paar Blätter vierlagiges Klopapier abreißend mahnte sich Luise zur Dankbarkeit, besann sich: Für alles gab es einen höheren Grund, den zu erkennen die Erdenmenschen viel zu klein und niedrig waren. Und es gab Luises Grund...

»Ist sie schon da?«, fragte Karola aufgeregt am Telefon.

»Ja, seit einer guten Stunde. Die Bahn war pünktlich«, antwortete Alice.

»Und? Wie war es, wie ist sie drauf?«

Alice blähte schnaubend die Backen: »Wir haben eigentlich noch nicht wirklich geredet. Ich musste ja gleich weg zu einem Termin. Sie wollte sich hinlegen. Ich gehe gleich hoch. - Kommst du dann auch bald?«

Karola erhöhte den Hilferuf ihrer Liebsten: »Ich fahre gleich los. Und besorge noch ein paar Blumen.«

»Oh, Mensch! Daran hab ich überhaupt nicht gedacht! - Topolina, du bist einfach die Beste.«

Nach ein paar besonders innigen Turteleien am Telefon kruschte Alice in Papieren, machte uneilige An- und Rückrufe. Schaute zwischendurch auf ihre Armbanduhr. Nervte ihren Assistenten Tommy mit überflüssigen »Druckst du mir bitte das noch aus« und »Darüber müssen wir noch mal reden«.

Der nächste Blick auf ihre Uhr ließ Alice aufatmen: Karola müsste eigentlich in ein paar Minuten kommen und sie den ersten Tag mit ihrer Hausgästin nicht allzu lange allein verbringen müssen.

Alice ging hoch in die Wohnung. Ertappte sich, dass sie besonders leise aufsperrte und besonders leise all die automatisch ablaufenden Griffe tat, die sie eben tat, wenn sie von einem Arbeitstag nach Hause kam: Luise war da. Auch wenn immer noch nur ihr abgegriffener Trenchcoat an der Garderobe davon zeugte.

Leise tappste Alice in die Küche, schloss ausnahmsweise deren Tür, vermutete und hoffte sie doch ihre Cousine schlafend. Im nächsten Moment fuhr sie zusammen, schnappte erschrocken nach Luft, als es vom Balkon tönte:

»Hallo! Du bist ja wieder da. Wie schön.« Luise kam herein: »Hab ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht.«

»Ich dachte, du schläfst.«

»Das wollte ich auch. Aber ich konnte nicht einschlafen, weil es ist alles so neu und ich war so aufgewühlt. Und es ist so ein schöner Tag.« Verlegen blickte Luise auf das leere Glas in ihrer Hand. »Ich hab mir Orangensaft genommen.«

»Das ist doch okay. Du bist jetzt hier zu Hause«, erklärte Alice und öffnete den Kühlschrank. »Also frag bitte nicht jedesmal, ob du etwas nehmen darfst.«

Luises Glas füllte sich wieder. Alice holte für sich eine angebrochene Colaflasche heraus und ein Glas aus dem Hängeschrank über der Spüle, schenkte sich ein. Nahm einen erfrischend sprudelnden Schluck und sagte:

»Entschuldige, dass ich dich so schnell wieder allein gelassen habe. Aber ich hatte einen wichtigen Termin im Büro, den konnte ich nicht verschieben.«

»Das macht gar nichts. Im Gegenteil:«, Luise schaute ihre Cousine sanft an. »Deine Arbeit und Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen, ehrt dich.«

Alice folgte Luise auf den Balkon. Wo blieb nur Karola? Die U-Bahn konnte ja nicht im Stau stecken! Am Balkontisch zündete sich Alice eine Zigarette an, blies den Rauch zur Seite aus.

Milde lächelte Luise: »In großen Räumen und im Freien macht mir der Rauch nichts. Und wir alle haben doch unsere kleinen, so menschlichen Laster.«

»Du auch?«, fragte Alice ihre ältliche Cousine erstaunt und reckte ihren Hals: »Komm, spucks aus!«

Aber Alices Versuch eines Scherzes ging ins Leere: Luise wandte ihr Gesicht zum Hof und deutete gleich darauf zu der großen Robinie:

»Sieh doch nur: ein Eichhörnchen! Ein rotbraunes!«

Dem Finger ihrer Cousine folgend erklärte Alice: »Das ist Charly. Der oder die wievielte weiß keiner. Aber ein Charly ist immer hier. Ein Mieter hat mal in dem Baum ein Nest entdeckt und...« Alices Exkurs in die ungeklärte Familiengeschichte des putzigen Nagers wurde unterbrochen: die Küchentür ging auf. Sofort sprang Alice von ihrem Stuhl hoch. Endlich war die Verstärkung da!

»Boah! Eine Viertelstunde bin ich am Sendlinger Tor gestanden, weil keine U-Bahn kam!« Der innige Begrüßungskuss ihrer Freundin besänftigte Karola nicht: »Personenschaden. Da hat sich wahrscheinlich wieder so eine arme Sau vor die U-Bahn geworfen!« Sie legte einen bunten Frühlingsstrauß auf den Esstisch und fragte: »Schläft unsere Altar...«

Alices energisches Kopfschütteln und das Verdrehen ihrer Augen Richtung Balkon ließen Karola verstummen. Sie wandte sich zur Balkontür. Eine grauhaarige Frau in hochgeschlossener, weißer Bluse, dunkelgrauem Wollrock und Filzpantoffeln kam ihr lächelnd entgegen:

»Du bist Karola, nicht wahr? Alices Freun… Mitbewohnerin.« Luise streckte ihre Hand aus: »Danke auch dir, dass ich bei euch sein darf.«

»Ja, äh, kein Problem.« Karola nahm den Blumenstrauß vom Tisch und hielt ihn Luise hin: »Herzlich willkommen.«

Ergriffen legte Luise ihre Hände vors Gesicht: »Ist der schön! Ach, ist das lieb von dir! Danke, danke.« Sie nahm das Gebinde und betrachtete es blütenweise mit leuchtenden Augen: »Ist es nicht immer wieder ergreifend, welch wunderbare Werke Gottes Schöpfung uns geschenkt hat?« Zustimmung heischend schaute Luise ihre Gastgeberinnen an.

»Ja, unbedingt«, sagte Alice und nahm aus dem großen Regal neben Küchentür eine passende Vase, drapierte die Blumen darin und trug sie auf den kleinen Balkontisch.

Ganz Kavaleuse überließ sie ihrer Liebsten den Bistrostuhl und quetschte sich auf einen Klappstuhl neben sie.

Elend lange Sekunden im sich wortlosen Anlächeln vergingen, bis Karola die Verkrampfung löste:

»Wir müssen ja noch einiges Organisatorisches besprechen. Aber das können wir auch bei einem lecker Essen.« Sie schaute kurz ihre Partnerin an. »Wir möchten dich an deinem ersten Abend gern zum Essen einladen. Chinesisch, italienisch, griechisch, bayerisch. Worauf hast du Appetit?«

Nicht die Vielfalt der Möglichkeiten ließ Luise zögern: »Das ist eine liebe Idee. Nur, meine Hauptmahlzeit ist mittags. Abends esse ich nur einen Joghurt oder Obst.« Verschämt glucksend fügte sie hinzu: »Oder mal ein Stückchen Schokolade oder geröstete Erdnüsse – beim Fernsehen.«

Damit lagen die Laster der Luise Fechner auf dem Tisch. Alice und Karola schauten sich ratlos und mit leerem Magen an.

»Wir können doch trotzdem zusammen weggehen«, sagte Luise.

Ihr Vorschlag fand keine Zustimmung: »Ach nö, das ist blöd, wenn wir essen und du nicht«, lamentierte Alice.

»Ja, das ist irgendwie … komisch.« Karola vermied das Wort »ungemütlich« und schlug ihrer Partnerin vor: »Dann bestell ich uns Pizza.« Zu Luise gewandt: »Und wir holen das Essen die nächsten Tage mittags nach.« Sie stand auf und ging zur Küche hinaus. Im Türrahmen meinte sie scherzend: »Hauptsache, der Champagner ist gut gekühlt.«

»Den habt ihr aber hoffentlich nicht extra wegen mir gekauft? So was Teures.«

»Nö, wir haben immer einen kleinen Vorrat auf Lager für besondere Anlässe«, beruhigte Alice ihre Cousine.

»Ich bin ein besonderer Anlass?«, fragte Luise mit einem leisen Anflug von Keckheit.

»Das kann man schon so sagen«, entgegnete Alice.

Karola kam auf den Balkon zurück: »Eine große quattro stagioni und ein großer Salat. Okay so? - Fein. Dauert aber eine halbe Stunde.«

Alice stöhnte auf: »Mönsch, ich brauch echt was in den Magen!«

»Dann mach ich den Schampus auf, als Aperitif«, schlug Karola vor und verschwand in der Küche.

»Für mich bitte nicht!«, rief Luise ihr nach.

»Ach so ja, du nimmst bestimmt Medikamente. Daran hab ich jetzt nicht gedacht«, entschuldigte sich Alice. Karola kam mit der Flasche und zwei Gläsern zurück. Drehte den Draht um den Korken auf.

»Ich trinke generell keinen Alkohol. Ich bin auch ohne ihn fröhlich und ausgelassen«, erklärte Luise.

Ein Prusten unterdrückend wandte sich Alice ab, suchte Charly in der Robinie. Karola schrie kurz und hell auf, kriegte die Kurve: »Der sitzt aber so was von fest, der Korken, dieser Schlingel!«

Nach einem dezenten Plopp perlte der Champagner in die Gläser und traf sich in gedämpftem Klang mit lauwarmem Orangensaft.

»Dann würde ich sagen, besprechen wir das Organisatorische«, schlug Alice vor. »Nachdem Karola und ich fast nur am Wochenende richtig kochen, hat unser Kühlschrank meistens nicht viel zu bieten. Wenn du also was ...«

»Geht ihr jeden Tag in ein Restaurant?«

»Nein, meistens lassen wir was kommen oder machen in der Mikrowelle was Tiefgefrorenes, Fertiges«, ergänzte Karola.

Luises fassungsloser Blick nötigte Alice zu einer Klarstellung: »Wir haben einfach keine Zeit, unter der Woche groß zu kochen.«

Mit vor der Brust verschränkten Armen sagte Luise: »Aber ich habe jede Menge davon. Und es wäre mir so eine Freude, wenn ich euch bekochen darf und mich erkenntlich zeigen darf für eure Gastfreundschaft.«

»Das ist nett gemeint, aber macht wenig Sinn, weil wir so konfuse und unterschiedliche Arbeitszeiten haben«, warf Karola ein und Alice pflichtete bei:

»Das läuft bei uns immer recht spontan. Und flexibel.«

»Ja, genau. Und Alice muss auch manchmal ein paar Tage weg.«

Aber Luises fürsorglichen Krallen hatten sich festgehakt: »Dann koche ich immer ein wenig vor und friere es ein. So habe ich immer ein warmes Mittagessen und ihr zwei etwas Hausgemachtes für die Mikrowelle.« Die zögernden Blicke ihrer Gastgeberinnen parierend, ergänzte sie in bestimmtem Ton: »Ich kann sehr gut kochen. - Gott möge mir meine Unbescheidenheit verzeihen.«

Es klingelte; Karola sprang auf: »Ah, endlich!« Hunger und die Möglichkeit, dem Gespräch zu entfliehen, ließen Karola zur Wohnungstür eilen.

Der Duft der frischgebackenen Pizza erfüllte die Küche schon allein durch den Karton. Alice hatte den Tisch gedeckt: pragmatisch, praktisch, schnell; zwei Teller, Besteck, eine Salatschüssel für zwei und Küchenpapier als Servietten.

»Wo ist denn Luise?«, fragte Karola, setzte sich neben ihre Partnerin und füllte den insalata mista in die Schüssel.

»Sie wollte noch was aus ihrem Zimmer holen«, antwortete Alice und schnitt ein kapitales Stück von der Pizza auf ihrem Teller ab, verdrehte die Augen, als der Frühling ihren Mund füllte: »Mhm, mhm...«

Als Karola sich ein Stück Sommer mit Miesmuscheln nahm, kam Luise mit einer dunkelbraunen Papiertüte zurück, und einem Kuvert. Ohne langes Suchen fand Luise einen Teller und ein Obstmesser. Ihre Schlaflosigkeit hatte sie für eine kleine Erkundungstour durch die Wohnung genutzt mit Schwerpunkt Küche, ihrem für sie bereits feststehenden Wirkungskreis. Und natürlich hatte sie die Intimsphäre ihrer Cousine respektiert und das Schlafzimmer nicht betreten.

Luise setzte sich gegenüber ihren Gastgeberinnen an den Tisch, riss die Papiertüte auf und griff sich eine gesprenkelte Banane. Schälte sie zu zwei Dritteln und biss in die stellenweise überreife und schon knatschige Frucht.

»Magst nicht doch ein Stück Pizza oder wenigstens Salat? Der ist total frisch.« Alice fühlte sich unbehaglich, sich selbst schlemmend zu wissen und ihre Verwandte mit einer vergammelten Banane.

»Nein, wirklich nicht. Ich hatte mittags ja schon einen Schweinebraten in Banklkofen, mein Abschiedsmal sozusagen«, beruhigte Luise.

Zwei kleine Gartenäpfel schlossen ihr Abendessen ab, die anderen beiden legte sie in den Obstkorb auf dem Tisch und machte sich daran, nicht nur ihr Geschirr abzuräumen.

»Nein, nein. Du bleibst sitzen. Ich mach das schon«, bremste Karola. Während sie die Spülmaschine füllte, fragte sie in die Runde: »Espresso, Cappuccino?«

»Danke, für mich nicht. Ich trinke keinen Kaffee.« Luise ging zu Karola. »Aber zeig mir doch bitte, wie die Maschi - ne funktioniert. Dann kann ich euch immer ...«

Alice fuhr dazwischen: »Luise, dass Eines von vorneherein klar ist: Du bist hier als Mitbewohnerin.« Sie drehte sich auf dem Stuhl zu ihrer Cousine um. »Nicht als Köchin, nicht als Hauswirtschafterin und nicht als Bedienstete.«

Die Schuldhaltung, mit der Luise zurück an den Tisch kam, kostete Alice den letzten Rest Beherrschung. Sie zwirbelte eine Haarsträhne. Unter dem eindringlichen Blick ihrer Cousine nickte Luise fürs Erste nur. Sie wartete, bis der laut schnorchelnde Milchschäumer verstummte und Karola zwei Cappuccino auf den Tisch stellte.

»Ich weiß schon, was du meinst. Aber ich bin halt nun mal so: Mir war und ist es immer noch das größte Glück, Menschen Gutes zu tun. Diese Dankbarkeit und Freude in ihren Augen leuchten zu sehen. Und das wunderbare Gefühl, gebraucht zu werden, da zu sein in Not und ...«

Karola leckte sich ihr Milchbärtchen ab: »Das ist ja auch eine schöne Aufgabe. Aber wir sind nicht in Not, sondern du. Und so gesehen müsste es doch eher umgekehrt laufen.«

»Nein, nein, nein!« widersprach Luise. »Meine Krankheit ist keine Not, sie ist eine Prüfung. Und wie viele andere zuvor werde ich sie ohne Klage annehmen und meine Aufgabe der Nächstenliebe erfüllen, solange der Tumor es mir erlaubt.«

Verstohlen schauten sich Alice und Karola kurz an: Es war aussichtslos, Luises Erster-Klasse-Flugticket in den Himmel umzubuchen. Es gab noch andere Themen des künftigen Zusammenlebens, die einem Kompromiss hoffentlich zugänglicher waren. Alice brachte das erste zur Sprache, während Luise aus dem Kuvert eine handgeschriebene Liste und einen Kugelschreiber vor sich hin legte.

»Putzen wirst du aber nicht. Weil einmal die Woche, donnerstags, kommt Milenka, unsere Reinemachefrau.«

Luises Zeigefinger fuhr auf der Liste entlang, stoppte; sie zögerte, den Punkt auszustreichen: »Lasst das bitte mich machen. Es spart euch doch auch Geld.«

Alice schaute ihrer Cousine tief in die Augen: »Du willst einer Mutter von zwei Kindern den Job wegnehmen?«

Erschrocken hielt Luise ihre Hand vor den Mund: »Nein, um Gottes Willen! Natürlich nicht!« Sie strich den Punkt durch; Karola verkniff sich mit Mühe ein Lachen.

Dann übernahm Luise das Zepter, sie deutete auf ihre Liste: »Es gibt ja so viel zu besprechen, wenn man in eine neue Umgebung einzieht. Und wir wollen doch harmonisch miteinander leben. - Der nächste Punkt wäre...«

Alice zog ihrer Cousine das Blatt weg, überflog es kurz und zerknüllte es. »In unserem Haushalt gibt es nur drei Regeln. Wenn etwas von den Dingen des täglichen Bedarfs zu Ende geht, schreibt man es auf die Liste am Kühlschrank und wir sprechen uns ab, wer was einkauft. Zweitens: Wenn wir unsere Ruhe haben wollen, machen wir die Tür zum Wohnzimmer oder zum Arbeitszimmer zu. Zutritt nur im Notfall und nur mit Anklopfen. Drittens: Unser Schlafzimmer ist no go area. Ansonsten geht hier alles auf Zuruf. Okay?«

Konsterniert von den Organisationslücken dieses Haushalts und von »unser Schlafzimmer« zog Luise aus dem großen Kuvert ein kleineres. »Nur eins noch. Ich habe dir ja geschrieben, dass ich für meine Unkosten selbstverständlich aufkomme.« Verlegen schob sie das kleine, weiße Kuvert vor sich herum. »Ich weiß nicht so recht, wie viel im Monat...« Sie zuckte die Schultern. »München ist ja nicht Banklkofen und bei meinem bescheidenen Lohn waren Kost und Logis immer schon abgezogen.«

Alice und Karola schauten sich ratlos an. Sie hatten sich entschieden, zu helfen und Geld dafür zu nehmen, auch wenn es angeboten wurde, fühlte sich komisch an. Andererseits…

Karola stand auf und nahm aus dem Regal eine chinesische Porzellandose, zeigte sie Luise: »Das ist unsere Haushaltskasse. Leg einfach rein für einen Monat, was du meinst. Und wenn die Kohle zum Monatsende hin nur noch für Tütensuppen reicht, wissen wir: Da stimmt was nicht. Das wird sich einspielen, denke ich.«

»Das ist eine gute Idee.« Luise fischte aus dem kleinen, weißen Kuvert drei Hunderteuroscheine und hielt sie Karola hin, die einen kurzen Blick mit ihrer Partnerin wechselte:

»Das ist viel zu viel, der halbe Monat ist ja schon rum.«

Aber Luise bestand darauf: »Geiz ist zwar keine der sieben Todsünden, aber auch Krämerseelen bereiten unserem Herrn keine Freude.« Sie steckte ihren großzügigen Haushaltsbeitrag in die Dose und den Geldumschlag wieder in das große Kuvert.

Der Abend war jung, es war gerade mal halb sieben durch. Wie langsam doch die Zeit vergehen konnte! Gott sei es gelobt, standen noch ein paar Themen an, die es zu klären gab.

»Im Flur in dem kleinen Kästchen liegt ein roter Schlüsselbund«, erklärte Alice ihrer Cousine. »Der ist für dich. Und dann zeig ich dir gleich noch, wie man die Schlafcouch in ein Bett verwandelt. Die zickt manchmal ein bisschen. Und die Fernbedienung vom Fernseher und Satellitenreceiver.«

»Apropos: Brauchst du noch was in deinem Zimmer?« fragte Karola fürsorglich.

»Nein, nein, ich habe alles. Und es ist so schön. Wie überhaupt eure Wohnung so geschmackvoll eingerichtet ist.« Luises Blick wanderte durch die Küche in Fichtenholz, weiß und schwarz gehalten. »Und ihr interessiert euch für Kunst, habe ich im Flur gesehen, als ich zur Toilette musste. Ich kenne mich da ja überhaupt nicht aus, aber da ist schon ein sehr … ungewöhnliches Bild dabei.«

So, wie Luise in einer Mischung aus Verlegenheit und Vorwurf Blick und Stimme gesenkt hatte und imaginären Schmutz vor sich auf dem Tisch wegwischte, war Alice und Karola sofort klar, um welches Kunstwerk es ging.

»Meinst du das mit den Brüsten und der Vulva?« Nach fast zwei Stunden Rücksicht und Wohlverhalten war der Drang in Alice unwiderstehlich, ihre Cousine zu provozieren. »Das ist gut, gell? Karola hat ja auch dafür Modell gestanden.« Den tadelnden Oberschenkelzwicker ihrer Liebsten unter dem Tisch steckte sie weg, ohne eine Miene zu verziehen. Das Amüsement über Luises erschrockene Blicke übertünchten den Schmerz.

»Das war ein Scherz«, beruhigte Karola.

Luise atmete mit dem Versuch eines Lächelns durch und meinte: »Verzeih mir bitte, einen Moment dachte ich wirklich, dass es stimmt. Weil Alice hat mir erzählt, dass du beruflich was mit Frauen machst. So eine Art Vermittlung. Was genau eigentlich?«

Karola zögerte keine Millisekunde mit der Antwort: »Ich habe einen Escortservice für lesbische Frauen.«

Von einem Moment auf den anderen schloss Luise die Augen, riss sie wieder auf, hielt sich mit beiden Händen an der Tischkante fest, begann zu schwanken und presste stockend hervor:

»Entschuldigt bitte, das kommt immer aus heiterem Himmel. Dieser Schwindel und ...«, sie hielt sich die Hand vor den Mund.

Fast gleichzeitig sprangen Alice und Karola auf. Alice griff aus dem Schrank unter der Spüle die erstbeste Plastiktüte, Karola fasste Luise sanft an den Schultern.

»Das geht gleich vorbei, gleich vorbei«, hauchte Luise hinter vorgehaltener Hand. Alice stand mit der Kotztüte neben ihr bereit:

»Wie oft hast du diese Schwindelanfälle denn? Und die Übelkeit? Nimmst du was dagegen?«

Luise atmete ein paar Mal tief durch: »Wenn es irgend geht, nehme ich keine Medikamente. Aber ich sollte wohl doch ab und zu.«

»Mach das bitte, weil wenn dir das auf einer Treppe passiert oder mitten auf der Straße … Du kannst ja keinen Schritt allein aus dem Haus gehen«, mahnte Alice aus zweierlei Sorge.

Langsam stand Luise auf, gestützt von Karolas untergehaktem Arm. »Ich werde mich ein bisschen hinlegen«, mit Blick auf ihre Cousine, »und eine Tablette nehmen.« Nicht ohne ihr großes, braunes Kuvert vom Tisch mitzunehmen, ging sie mit Karola hinaus. Alice kam mit einer Flasche Mineralwasser nach.

Auf der Couch ausgestreckt und zugedeckt, zwei kleine gelbe Pillen geschluckt, seufzte Luise: »Ah, es geht mir schon viel besser. Eure Fürsorge tut so wohl.« Kurz schaute sie auf den Fernseher: »Vielleicht noch: Wie funktioniert der bitte?«

Entweder war Alices Crashkurs didaktisch hervorragend oder Luise unerwartet clever: Ruckzuck hatte sie das Gerät im Griff und zappte durch die Programme, machte lauter, leiser, heller, dunkler…

Auf dem Weg zurück in die Küche sah Alice gegenüber durch die offene Wohnzimmertür ihre Freundin mit dem restlichen Champagner sitzen, ihre erste Abendvirginia paffend. Alice schloss die Tür; ab jetzt machte die ungezwungene Zweisamkeit eine lange Pause.

»Und, wie findest du sie? Bereust du dein Ja schon?«, fragte Alice und ließ sich neben ihrer Liebsten auf die taubenblaue Ledercouch fallen.

»Mei, sie ist schon anders«, Karola nippte am Champagner. »Ziemlich anders. Und sie reizt mich schon auch, sie auf den Arm zu nehmen. Aber weißt du, ich finde das total bewundernswert, wie sie mit ihrer Krankheit umgeht. Mit ihrem, ja, Todesurteil.«

Dreizehn Jahre Beziehung machten Alice sicher, dass ihre Freundin noch mehr zu sagen hatte.

»Stell dir mal vor, du erfährst, was weiß ich, übermorgen, dass du nur noch ein halbes Jahr zu leben hast. Wie würdest du reagieren?«

Alices Feuerzeug klickte. Zwei Rauchwölkchen schwebten nebeneinander über den Couchtisch.

»Ich weiß es nicht, ich weiß es echt nicht. Ich könnte jetzt sagen, ich lass noch mal richtig die Sau raus mit dir. Verkaufe meine Agentur, eine Hälfte der Kohle auf dein Konto, mit der anderen ab mit dir auf die Bermudas und nach uns die Sintflut.« Alice streckte ihren Arm aus, Karola schmiegte sich an.

»Aber ich glaube, niemand kann sagen, wie er mit so einer Extremsituation umgehen wird.« Kurz lachte Alice auf: »Mangels Erfahrung, zwangsläufig.«

Karola kuschelte sich noch enger an ihre Freundin. »Ja, stimmt schon. Ich wüsste auch nicht, wie ich reagieren würde. Aber ich finde schon, dass man bei jemandem, der in so einer Situation ist, nachsichtiger sein sollte und geduldiger. Auch wenn es nicht die super tolle Freundin ist.«

Einem Rauchkringel nachschauend, überlegte Alice. Ihre Partnerin war eine Seelenfrau mit unglaublich feinen Antennen. Und nicht frei von Anflügen eines Helfersyndroms, nur ganz leichte und eher seltene. Aber Luise trug sämtliche Auslöser auf einem Tablett vor sich her. Alice baute vor:

»Ja, das sehe ich auch so. Aber unterschätze Luise nicht. Sie ist nicht blöd.«

»Wie meinst du das?«

»Sie wusste immer schon, was sie wollte und war unglaublich geschickt darin, es zu erreichen. Sie konnte, kann sehr überzeugend sein.«

»Hältst du Luise für eiskalt berechnend?«, fragte Karola ungläubig und trank ihr Glas leer.

»Nein, so hart würde ich es nicht sagen. Aber als sie damals bei uns war, hat sie mich manchmal ganz schön …«, Alice winkte ab. »Lassen wir es. Das ist lange her. Das erzähle ich dir ein andermal.«

Karola insistierte nicht weiter, auch wenn sie neugierig geworden war auf ein paar unbekannte Schwänke aus ihrer Liebsten Jugend: Wenn Mümmelchen nicht wollte, wollte sie nicht. Punkt. Man musste bei manchen Themen nur ein bisschen Geduld haben und den richtigen Moment abpassen, dann wandelte sich der Beton des Neins in löchrigen Bimsstein.

Zudem stand bei Karola etwas anderes in der Pole-Position: die kurz bevorstehende Eröffnung ihres neuen »Eve to Eve« diesen Samstag. Sie zog den blauen Schnellhefter auf dem Couchtisch heran:

»Ich habe wegen meines neuen Büros noch ein kleines Problem.«

»Der Boden ist morgen nicht fertig und die Möbel kommen erst nächsten Montag«, feixte Alice.

Letzte Woche war Karola ein paar Mal am Rande eines Nervenzusammenbruchs vorbeigeschrammt. Die Abstimmung von Maler, Bodenleger und Elektroinstallateur war mit Zeitpuffern gut geplant. Aber die Realität wäre keine, hätte sie nicht ein paar Querschläger in der Hinterhand.

Karola druckste herum: »Ja, also der Boden wird auf jeden Fall am Nachmittag fertig verlegt sein. Sie haben schon angefangen. Nur, die Möbel …«, sie zog verlegen den Kopf ein. »Die kommen tatsächlich früher: schon morgen Vormittag. Ich hab das heute erst erfahren.«

Alice überlegte kurz nicht über das Wohin mit den Möbeln generell, sondern über das Wohin in ihrem Büro. »Okay, stell sie im Castingraum unter.«

Die stürmischen Dankesküsse ihrer Liebsten empfing Alice mit gedämpfter Freude: Sie dachte bereits an das Schleppen am Donnerstag.

Erleichtert schnaufte Karola durch: »Oh, das ist super! Weil der neue Boden soll ja auch eine Nacht arbeiten, bevor man was draufstellt. - Und am Donnerstag kann ich den Wagen haben für Computer und Kleinkram?«

»Jo, geht klar.«

Karola strich einen weiteren Punkt von der Checkliste mit den restlichen Umzugsarbeiten. So relativ klein das alte wie das neue Domizil mit knapp dreißig Quadratmetern waren, die organisatorischen Herausforderungen waren dieselben wie bei zweihundert Quadratmetern.

»Gut. Dann passt das mit dem Entsorgen der Sendlinger Möbel wunderbar zusammen.« Karola ging ihre Party-Checkliste durch: Snacks vom Metzger und Chinesen waren bestellt, Getränke auch. Dreißig Einladungen versandt; die Einweihung sollte im eher intimen Rahmen stattfinden. Den Vermieter hatte Karola persönlich eingeladen und extra sein Lieblingsbier bestellt. Als Anerkennung, dass er seine moralischen Bedenken ob eines radikalen Schwenks von Kurzwaren hin zu Escortservice für Frauen überwunden und ihr den Laden denn doch vermietet hatte.

Karola steckte die Checklisten in den Schnellhefter. Als sie den Plan ihres neuen Firmensitzes und Pappvierecke aus einer Klarsichthülle hervorholte, erhob Alice Widerspruch:

»Ach nö, Topolina, lass uns bitte für heute Schluss machen. Ich will nur noch faul sein.« Alice ächzte sich ins Rückenpolster und schloss die Augen.

»Hast Recht. Du hattest heute wirklich Stress.« Karola stopfte das Millimeterpapier und Pappmöbel in die Hülle, rückte an das Couchende und lud ihre Freundin ein: »Komm, Füße hoch.«

Flugs schwenkte Alice in die Längslage und streckte sich aus, gleich eine Fußmassage genießen zu dürfen. Sie seufzte schon bei Karolas erstem Kneten. Als sie ihre Augen schloss und sich wohlig der Verwöhnung hingab, klopfte es:

»Ich bin es. Ich störe euch nur kurz. Aber ich möchte gerne schlafen gehen.«

Alice blieb liegen: »Komm rein, wir sind angezogen.«

Langsam ging die Tür auf, Luise steckte ihren Kopf nur halb herein und bat: »Könntet ihr mir bitte zeigen, wie man die Couch ausklappt?«

»Ach so ja, klar.« Alice wollte aufstehen.

»Bleib, ich mach das schon«, übernahm Karola.

In Luises Zimmer schob sie den Couchtisch weg, nahm die Rückenpolster von der Couch und hob die Vorderkante des Sitzes ein wenig hoch, von Luise aufmerksam beobachtet.

»Und jetzt langsam rausziehen.« Auf halbem Weg ging nichts mehr. »Jetzt musst du links ganz vorsichtig, nur ein bisschen anheben, da ist nämlich die Schiene verbogen und das Rad kommt nicht weiter und dann langsam rausziehen. - Mach du, zum Üben.«

Beherzt griff Luise die Sitzfläche, hob sie links an, zog sie über die Engstelle und dann ganz aus.

Karola war beeindruckt: »Wow! Du hast den Bogen raus!«

Luise lächelte verlegen. Karolas Angebot, sich im Schlafzimmer Bettwäsche auszusuchen, schlug sie aus. Solcherlei Luxusfragen waren Luise fremd. Dem Schlaf der Gerechten waren Seide und Stroh gleicherlei.

Es war nach zehn Uhr abends, als Luise sich bei einem Gruselfilm im Fernsehen die gelb und lachsfarben bezogene Decke zwischendurch vor die Augen zog, als sie nicht mehr hinschauen konnte. Der Schrecken kitzelte sie dennoch; er war auf eine Weise unterhaltsam, die sie noch vor einem Vierteljahr als verwerflich abgelehnt hätte. Seitdem war viel geschehen…

III.

Am nächsten Morgen streckte sich Luise im Bett von den Haar- bis zu den Zehenspitzen. Sie war es gewohnt, früh aufzustehen und wachte automatisch kurz vor sechs Uhr auf. Nach einem wunderbaren Schlaf bei offenem Fenster und in der nach Flieder duftenden Bettwäsche war Luise putzmunter und schwang sich in der Morgendämmerung hoch, knipste das Licht der Stehlampe an und machte sich mit frischer Leibwäsche auf den Weg ins Bad.

Sachte öffnete sie die Zimmertür und lauschte: kein Stäubchen regte sich. Das Knarzen des Parketts unter ihren Zehenspitzen schien aus allen Winkeln wiederzuhallen. Die letzten Schritte trippelte Luise eilig und schloss die Badtür leise hinter sich. Von den zwei leer geräumten Fächern in dem hohen Spiegelschrank belegte Luise nur eines halb: Kernseife, Kölnisch Wasser, Bürste und Kamm, Deo. Und eine Duschhaube, in der sie ihre langen, grauen Haare verstaute, bevor sie verboten ausgiebig die begehbare Dusche genoss.

Das Badfenster geöffnet und die Türe offen lassend trippelte Luise in BH, Leibchen und Liebestöter zurück. Ein kräftiger Windhauch ließ sie frösteln, gleich danach ein dumpfer Knall zusammenzucken: Die Badtür hatte der Zugluft durch das nachgegeben. Schuldbewusst lauschte Luise; es regte sich nichts. Schnell huschte sie in ihr Zimmer.

Fast gleichzeitig waren Alice und Karola hochgeschreckt, blinzelten sich im halben Tageslicht schlaftrunken an und legten noch eine Kuschelrunde ein: Das Haus stand, der Boden schwankte nicht, die Rauchmelder gellten nicht, also konnte nichts Schlimmes passiert sein.

Währenddessen hatte sich Luise ihren mitgebrachten Pfefferminztee aufgebrüht und saß mit einem Toast mit Butter am Küchentisch, machte sich mit Schlagermusikuntermalung aus dem Radio ihren Tagesplan: Bankkonto eröffnen, Sparbuch übertragen; wo war welcher Laden zum Einkaufen? In diesem Haushalt fehlte es ja wirklich an jeglicher Grundausstattung! Und sie brauchte einen Neurologen, der sie weiter betreute.

Der Wasserkocher rief zum zweiten Teebeutel. Luise hatte gedeckt für ein Frühstück mit frisch gebrühtem Kaffee in der Warmhaltekanne, zwei Schälchen mit Joghurt, Scheibchen von Tomate und Essiggurke auf einem Teller; zwei Eier lagen zum Kochen bereit und Toastbrot. Richtig echtes Brot war keines da.

Luise schwenkte kopfschüttelnd den Teebeutel in ihrer Tasse: Es war schon halb acht! Hatten ihre Gastgeberinnen verschlafen? Oder war es in deren seltsamen Berufen üblich, erst mittags zur Arbeit zu gehen? Wie auch immer: Ohne ordentliches Frühstück kam Luise keiner aus dem Haus.