Ausgewählte Werke:. »Ich schicke meinen Schatten voraus« - Marina Zwetajewa - E-Book

Ausgewählte Werke:. »Ich schicke meinen Schatten voraus« E-Book

Marina Zwetajewa

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Beschreibung

Marina Zwetajewa, neben Anna Achmatowa die bedeutendste russische Dichterin des 20. Jahrhunderts, war auch in ihrer Prosa unverkennbar Lyrikerin. Ob sie, wie in ihrer Tagebuchprosa, das Chaos der Revolutions- und Bürgerkriegsjahre schildert oder in ihren autobiographischen Erzählungen die verlorenenen Kindheitsparadiese aufruft, immer ist die Sprache – assoziativ, lyrisch, intensiv – die eigentliche Protagonistin.

Der Band versammelt Texte unterschiedlicher Lebensphasen: Die Moskauer Aufzeichnungen aus den Jahren 1917-1921 geben Zeugnis von den Revolutions- und Kriegswirren. »Über Deutschland« entwirft das Idealbild von einem Ort des Geistes, das während der Jahre ihrer Emigration rasch zerfallen wird. 1933, in der Not des Exils, beginnt Zwetajewa, sich in autobiographischen Erzählungen ihrer frühesten Erfahrungen zu versichern: behütete, doch unruhige erste Lebensjahre mit Stationen in Freiburg, Nervi und Lausanne, die überschattet waren vom frühen Tod der Mutter. Die »Erzählung von Sonetschka« vergegenwärtigt ihre Liebe zu der Schauspielerin Sofia Gollidej.

Mit der vorliegenden Auswahl gilt es die Prosa einer der größten europäischen Dichterinnen der Moderne neu zu entdecken, deren Leidenschaft und Dringlichkeit man sich kaum entziehen kann.

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Seitenzahl: 1001

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Marina Zwetajewa

»Ich schicke meinen Schatten voraus«

Tagebuchprosa und autobiographische Erzählungen

Herausgegeben von Ilma Rakusa

Aus dem Russischen von Hilde Angarowa, Marie-Luise Bott, Elke Erb, Regine Kühn, Ilma Rakusa und Margarete Schubert

Suhrkamp

Inhalt

Tagebuchprosa 1917-1921

Oktober im Waggon. (Aufzeichnungen jener Tage)

Brief ins

Ein kleines Stück Krim

Freie Fahrt

Meine Arbeitsstellen

Prolog

Epilog

Der Tod Stachowitschs. (27. Februar 1919)

Begegnung mit Stachowitsch

Dachbodennotizen. (Aus den Moskauer Aufzeichnungen 1919-1920)

Über Liebe. (Aus dem Tagebuch)

1917

1918

Über Dankbarkeit. (Aus dem Tagebuch von 1919)

Auszüge aus dem Buch »Irdische Zeichen«

Aus dem Tagebuch

Raubüberfall

Die Erschießung des Zaren

Das Attentat auf Lenin

Die Krätze

Das Fräulein

Übernachtung in der Kommunalwohnung

Der Krieger Christi

Über . (Tagebuchauszüge aus dem Jahr 1919)

Erzählung von Sonetschka

Erster TeilPawlik und Jura

Zweiter

Der Efeuturm

Das Museum Alexanders III.

Mutter und die Musik

Der Teufel

Die Geißlerinnen

Das Haus beim Alten Pimen

IGroßvater Ilowajskij

IIDas Haus beim Alten Pimen

Mein Puschkin

Der

Der Chinese

Die Lebensversicherung

Anhang

Ilma Rakusa»Die Prosa eines Dichters ist anders als die Prosa eines Prosaikers« — Marina Zwetajewas autobiographisches Werk

Chronik zu Leben und Werk

Quellennachweise

Editorische Notiz

Auswahlbibliographie

Sekundärliteratur

Bildteil

Bildnachweis

Anmerkungen

Tagebuchprosa 1917-1921

Oktober im Waggon

(Aufzeichnungen jener Tage)

Zweieinhalb Tage lang keinen Bissen, keinen Schluck. (Die Kehle wie zugeschnürt.) Die Soldaten bringen Zeitungen — auf rosa Papier gedruckt. Der Kreml und alle Baudenkmäler wurden gesprengt. Das 56. Regiment. Gesprengt wurden die Gebäude mit den Junkern und Offizieren, die sich nicht hatten ergeben wollen. 16 ‌000 Tote. An der nächsten Bahnstation — schon 25 ‌000. Ich schweige. Rauche. Mitreisende steigen, einer nach dem anderen, in die Züge in Gegenrichtung um.

Traum (2. November 1917, nachts)

Wir retten uns. Aus einem Keller heraus ein Mann mit Gewehr. Mit leerer Hand ziele ich. — Er lässt es sinken. — Ein sonniger Tag. Wir klettern auf irgendwelche Trümmer. S. spricht von Wladiwostok. Wir fahren in einer Equipage durch Ruinen. Ein Mann mit Schwefelsäure.

Brief ins Heft

Wenn Sie leben, wenn ich Sie noch einmal wiedersehen darf — hören Sie: Gestern, als wir uns Charkow näherten, las ich die »Südliche Heimat«. 9000 Tote. Ich kann Ihnen von dieser Nacht nicht erzählen, denn sie nahm kein Ende. Jetzt ist grauer Morgen. Ich bin auf dem Gang. Verstehen Sie doch! Ich fahre und schreibe Ihnen und weiß jetzt nicht — aber hier folgen Worte, die ich nicht hinschreiben kann.

Wir nähern uns Orjol. Ich habe Angst, Ihnen so zu schreiben, wie ich möchte, denn ich werde in Tränen ausbrechen. All das ist ein schrecklicher Traum. Ich versuche zu schlafen. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen schreiben soll. Wenn ich Ihnen schreibe, gibt es Sie, denn ich schreibe Ihnen ja! Und dann — ach! — das 56. Reserve-Regiment, der Kreml. (Erinnern Sie sich an die riesigen Schlüssel, mit denen Sie zur Nacht das Tor abschlossen?) Doch das Wichtigste, Wichtigste, Wichtigste sind Sie, Sie selbst, Sie mit Ihrem Selbstzerstörungsinstinkt. Können denn Sie zu Hause sitzen? Und wenn alle zu Hause geblieben wären, dann wären Sie eben alleine gegangen. Weil Sie untadelig sind. Weil Sie es nicht ertragen können, dass andere getötet werden. Weil Sie ein Löwe sind, der seinen Löwenanteil: das Leben — hergibt für alle anderen, für Hasen und Füchse. Weil Sie selbstlos sind und Selbstschutz verachten, weil das »Ich« für Sie unbedeutend ist und weil ich all das von der ersten Stunde an wusste!

Wenn Gott dieses Wunder vollbringt — und Sie am Leben lässt, werde ich Ihnen folgen wie ein Hund.

Die Nachrichten sind verworren, ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich lese über den Kreml, die Twerskaja, den Arbat, das »Metropol«, den Wosnessenskaja-Platz, über Berge von Leichen. In der sozialrevolutionären Zeitung »Kursker Leben« vom gestrigen Tag (vom 1.), dass die Entwaffnung begonnen habe. Andere (von heute) schreiben von Kampf. Ich lasse mir jetzt nicht volle Freiheit zu schreiben, aber tausendmal sah ich, wie ich unser Haus betrat. Wird man in die Stadt hineingelangen können?

Bald sind wir in Orjol. Jetzt ist es ungefähr 2 Uhr mittags. In Moskau werden wir um 2 Uhr nachts sein. Und wenn ich das Haus betrete — und es ist niemand da, keine Menschenseele? Wo soll ich Sie suchen? Vielleicht gibt es auch das Haus schon nicht mehr? Die ganze Zeit habe ich das Gefühl: das ist ein schrecklicher Traum. Ich warte immerzu, dass gleich etwas geschehen wird und es weder Zeitungen noch sonst irgendetwas gegeben hat. Dass mir das träumt, dass ich aufwachen werde.

Meine Kehle ist zusammengepresst, wie von Fingern. Dauernd ziehe ich den Kragen zur Seite, auseinander. Serjoshenka.

Ich habe Ihren Namen hingeschrieben und kann nicht mehr weiter.

Drei Tage lang — mit niemandem einen Ton. Nur mit den Soldaten, damit sie mir Zeitungen kaufen. (Schreckliche rosa Blätter, unheilverkündende. Theater-Anschläge des Todes. Nein, Moskau hat sie rot gefärbt! Sie sagen, es gäbe kein Papier mehr. Es gab welches, aber jetzt ist es ausgegangen. Der eine sieht darin weiter nichts, der andere ein Zeichen.)

Einer schließlich: »Was ist Ihnen denn, Fräulein? Die ganze Strecke über haben Sie nicht ein Stück Brot gegessen, schon seit Losowaja fahre ich mit Ihnen. Ich schaue immer und denke: Wann wird denn unser Fräulein zu essen anfangen? Da denke ich, jetzt holt sie Brot heraus, nein — wieder das Heft und schreibt. Sie bereiten sich wohl auf eine Prüfung vor, wie?«

Ich, vage: »Ja.«

Der da spricht, ist ein Handwerker, schwarzhaarig, kohlschwarze Augen, schwarzbärtig, etwas von einem zärtlichen Pugatschow. Ein wenig unheimlich und angenehm. Wir unterhalten uns. Er beklagt sich über seine Söhne: »Nach dem neuen Leben sind sie verrückt, nach dieser Krätze. Sie, mein Fräulein, sind ein junger Mensch, Sie werden das vielleicht verurteilen, aber meiner Meinung nach ist dieser ganze rote Abschaum, sind diese unzüchtigen Freiheiten nichts anderes als eine Versuchung des Antichrist. Er ist der Fürst und hat große Macht, er hat nur auf die rechte Stunde gewartet, hat Kräfte gesammelt. Kommst du aufs Dorf, ist das Leben dort unkultiviert, das Weibervolk gräulich. ›Teufel, Narr! …‹ Hast du nicht acht, werfen sie mit Kohlstrünken. Aber was ist dir das für ein Narr, wenn er doch der eingeborene Fürst, das erschaffene Licht ist. Gegen ihn musst du nicht mit Kohlstrünken angehen, sondern mit Engelslegionen …«

Ein dicker Offizier steigt zu: rundes Gesicht, Schnauzbart, etwa fünfzig Jahre alt, ein wenig ordinär, ein wenig Stutzer. »Ich habe einen Sohn im 56. Regiment! Ich mache mir schreckliche Sorgen! Am Ende, denke ich, ist der Teufel mit ihm durchgegangen.« (Aus irgendeinem Grund beruhige ich mich sofort) … »Im Übrigen, mein Sohn ist kein Dummkopf: hat selbst keine Lust, sich in die Hölle vorzudrängeln!« (Augenblicklich vergeht meine Ruhe.) … »Er ist Ingenieur von Beruf, und wissen Sie, es ist doch ganz egal, für wen man Brücken baut: ob für den Zaren oder die Republik, — Hauptsache, sie tragen!«

Ich ertrage es nicht mehr: »Und ich habe meinen Mann im sechsundfünfzigsten.« — »Ihren Ma-ann? Sie sind verheiratet? Sagen Sie bloß! Das hätte ich nie gedacht! Ich dachte, Sie sind noch ein Fräulein und beenden gerade das Gymnasium. Im sechsundfünfzigsten also? Da machen Sie sich wohl auch große Sorgen?« — »Ich weiß nicht, wie ich die Fahrt durchstehen soll.« — »Das werden Sie schon! Und Sie werden sich wiedersehen! Aber erlauben Sie, hat so eine Frau — und geht in den Kugelhagel hinaus! Ihr Gatte wird sich schon nichts antun! Er ist wohl auch noch sehr jung?« — »Dreiundzwanzig.« — »Na sehen Sie! Und Sie machen sich Sorgen! Wenn ich dreiundzwanzig wäre und so eine Frau hätte … Aber selbst mit meinen dreiundfünfzig Jahren und ohne auch nur im entferntesten so eine Frau zu haben …« (Ich, in Gedanken: »Das ist es eben!« Aber aus irgendeinem Grund, obwohl ich mir deutlich der Unsinnigkeit bewusst bin, beruhige ich mich dennoch.)

Der Handwerker und ich verabreden miteinander, vom Bahnhof aus zusammen zu fahren. Und obwohl wir überhaupt nicht denselben Weg haben: er muss zur Taganka, ich in die Powarskaja, baue ich weiter darauf: Aufschub für die nächste halbe Stunde. (In einer halben Stunde sind wir in Moskau.) Der Handwerker ist meine Schutzwehr, und aus irgendeinem Grund scheint mir, dass er alles weiß, mehr noch, — dass er selbst einer aus der Heerschar des Fürsten ist (nicht umsonst — Pugatschow!) und dass er, gerade weil er ein Feind ist, mich (S.) retten wird. — Schon gerettet hat. — Und dass er mit Absicht in diesen Waggon eingestiegen ist, um mich zu beschützen und mir Hoffnung zu machen — und Losowaja will gar nichts besagen, er hätte auch einfach vor dem Fenster erscheinen können, bei voller Fahrt, mitten in der Steppe. Und dass er gleich in Moskau auf dem Bahnhof zu Staub zerfallen wird.

Noch zehn Minuten bis Moskau. Es wird schon ein ganz klein wenig hell — oder ist es nur der Himmel? Haben sich meine Augen schon an die Dunkelheit gewöhnt? Ich habe Angst vor dem Weg, vor der Stunde in der Droschke, vor dem herannahenden Haus (Tod, denn — wenn er tot ist, sterbe ich). Ich habe Angst zu hören —

Moskau. Es ist dunkel. Mit einem Passierschein darf man in die Stadt. Ich habe einen, einen ganz anderen, aber das ist egal. (Für die Fahrt zurück nach Feodossija: als Frau des Fähnrichs.) Ich nehme eine Droschke. Der Handwerker ist natürlich spurlos verschwunden. Ich fahre. Der Kutscher erzählt, ich bin abwesend, das Straßenpflaster wirft mich in die Höhe. Dreimal kommen Leute mit Laternen heran. — Den Passierschein! — Ich strecke ihn hinaus. Sie geben ihn zurück, ohne daraufzuschauen. Das erste Läuten. Ungefähr halb sechs Uhr. Es wird ein wenig heller. (Oder scheint es nur so?) Leere Straßen, unbewohnte. Ich erkenne den Weg nicht, kenne ihn nicht (er fährt eine Umleitung), das Gefühl, als gehe es immerzu nach links, wie manchmal ein Gedanke im Gehirn. Irgendwohin durch etwas hindurch, und aus irgendeinem Grund riecht es nach Heu. (Aber vielleicht meine ich auch nur, das sei der Heu-Platz, und deshalb — der Heugeruch?) Kurzer Schusswechsel bei den Grenzposten: jemand ergibt sich nicht.

Kein einziges Mal — an die Kinder. Wenn S. nicht mehr ist, bin auch ich nicht mehr, also auch sie nicht. Alja wird ohne mich nicht leben, nicht wollen, nicht können. Wie ich nicht ohne S.

Die Boris-und-Gleb-Kirche. Unsere, die Powarskajer[1]. Wir biegen in die Gasse ein — unsere, die Boris-und-Gleb-Gasse. Das weiße Haus der Eparchialschule, ich nannte es immer die »volière«: eine offene Galerie und Kinderstimmen. Und links das grüne, altertümliche, strammstehende (der Stadthauptmann wohnte hier und Schutzleute standen Wache). Und noch eines. Dann unseres.

Der Hauseingang den beiden Bäumen gegenüber. Ich steige aus. Nehme das Gepäck herunter. Zwei aus dem Toreingang sich lösende Gestalten in halbmilitärischer Kleidung. Sie kommen heran. »Wir sind die Hauswache. Was wünschen Sie?« — »Ich bin die und die, und ich wohne hier.« — »Wir dürfen niemanden hereinlassen nachts.« — »Dann rufen Sie bitte das Dienstmädchen. Aus Wohnung Nr. 3.« (Der Gedanke: Gleich, gleich, gleich werden sie es mir sagen. Sie wohnen hier und wissen alles.)

»Wir sind nicht Ihre Diener.« — »Ich werde bezahlen.«

Sie gehen. Ich warte. Lebe nicht. Beine, auf denen ich stehe, Hände, mit denen ich die Koffer halte (ich hatte sie nicht einmal abgesetzt). Und das Herz höre ich nicht. Ohne den Zuruf des Kutschers hätte ich gar nicht wahrgenommen, wie lange das ging, wie ungeheuer lange.

»Ja was denn nun, Fräulein, kann ich fahren oder nicht? Ich muss noch in die Pokrowskaja.«

»Ich zahle drauf.«

Stilles Entsetzen, er könnte gleich fortfahren: In ihm ist mein letztes Leben, das letzte Leben vor … Doch ich setze das Gepäck ab und öffne die Handtasche: drei, zehn, zwölf, siebzehn … ich brauche fünfzig … Woher soll ich sie nehmen, wenn …

Schritte. Das Geräusch zunächst einer Tür, dann einer anderen. Jetzt öffnet sich die Eingangstür. Eine Frau im Umschlagtuch, mir unbekannt.

Ich, ohne sie erst reden zu lassen:

»Sind Sie das neue Dienstmädchen?«

»Ja.«

»Ist der gnädige Herr tot?«

»Er lebt.«

»Ist er verwundet?«

»Nein.«

»Wie das? Wo war er denn die ganze Zeit?«

»Na in der Alexander-Akademie, bei den Junkern, — haben wir eine Angst ausgestanden! Gott sei Dank, Gott der Herr hat sich erbarmt. Nur abgemagert ist er sehr. Und jetzt ist der gnädige Herr in der N-Gasse, bei Bekannten. Auch die Kinderchen sind dort, und die Schwestern des gnädigen Herrn … Alle sind gesund und wohlbehalten, sie warten nur auf Sie.«

»Hätten Sie wohl 33 Rubel, den Kutscher zu bezahlen?«

»Aber natürlich, natürlich, jetzt bringen wir nur erst das Gepäck hinein.«

Wir bringen das Gepäck hinein und entlassen den Kutscher. Dunja übernimmt es, mich zu begleiten. Ich stecke noch eines der beiden Brote von der Krim ein. Wir gehen. Die zerstörte Powarskaja. Pflastersteine. Radspuren. Der Himmel wird ein wenig heller. Glocken.

Wir biegen in die Gasse ein. Ein siebenstöckiges Haus. Ich klingele. Zwei in Pelzen und Mützen. Beim Anzünden eines Streichholzes — Aufblitzen eines Pincenez. Das Streichholz mir geradewegs ins Gesicht:

»Sie wünschen?«

»Ich komme gerade von der Krim zurück und möchte zu meiner Familie.«

»Das ist ja unerhört, um 6 Uhr morgens ins Haus hereinzuplatzen!«

»Ich möchte zu meiner Familie.«

»Nur keine Eile. Kommen Sie um 9 Uhr wieder, dann werden wir weitersehen.«

Da setzt sich das Dienstmädchen für mich ein:

»Aber wo denken Sie hin, meine Herren, sie hat doch kleine Kinder. Gott weiß, wie lange sie sich nicht gesehen haben. Ich kenne die Dame sehr gut, sie ist eine absolut vertrauenswürdige Person, ihr eigenes Haus ist in der Poljanka.«

»Und trotzdem können wir Sie nicht hereinlassen.«

Da halte ich es nicht mehr aus:

»Und wer sind Sie?«

»Wir sind die Hauswache.«

»Und ich bin die und die, die Frau meines Mannes und die Mutter meiner Kinder. Lassen Sie mich hinein, ich gehe sowieso.«

Und, halb durchgelassen, halb durchgebrochen, — sechs Treppenabsätze wie nichts! — der siebte.

(So ist sie mir auch in Erinnerung geblieben, die erste Erscheinung von Bourgeoisie in der Revolution: Ohren, die sich in Mützen verstecken, Seelen, die sich in Pelzen verstecken, Köpfe, die sich in Nacken verstecken, Augen, die sich hinter Gläsern verstecken. Die — beim Aufflammen eines Streichholzes — blendende Erscheinung von dickem Fell.)

Die Stimme des Dienstmädchens von unten herauf: »Ein glückliches Wiedersehen!«

Ich klopfe. Es wird geöffnet.

»Schläft Serjosha? Wo ist sein Zimmer?«

Und, nach einer Sekunde, von der Schwelle aus:

»Serjosha! Ich bin's! Eben angekommen. Ihr habt entsetzliche Schufte da unten. Aber die Junker haben trotzdem gesiegt! Ja, sind Sie hier oder nicht?«

Im Zimmer ist es dunkel. Und, nachdem ich mir Gewissheit verschafft habe:

»Drei Tage lang hat die Fahrt gedauert. Ich habe Ihnen Brot mitgebracht. Verzeihen Sie, dass es altbacken ist. Die Matrosen sind entsetzliche Schufte! Ich habe Pugatschow kennengelernt. Serjoshenka, Sie leben — und …«

Am Abend desselben Tages reisen wir ab auf die Krim: S., sein Freund G-zew und ich.

Ein kleines Stück Krim

Ankunft in Koktebel bei irrsinnigem Schneesturm. Das Meer ist grau. Die riesige, fast physisch brennende Freude von Max W. beim Anblick des lebenden Serjosha. Riesige weiße Brote.

Das Bild von Max W. auf dem kleinen Podest im Turm, wie er, Taine auf den Knien, Zwiebeln brät. Und während die Zwiebeln braten, liest er Serjosha und mir die Geschicke Russlands von morgen und übermorgen vor.

»Und jetzt, Serjosha, kommt das und das … Merk es dir.«

Und einschmeichelnd, fast freudig, wie ein guter Zauberer den Kindern, Bild für Bild — die ganze russische Revolution auf fünf Jahre im Voraus: Terror, Bürgerkrieg, Erschießungen, Straßensperren, Vendée, Verrohung, Gesichtsverlust, die entfesselten Geister der Naturgewalten, Blut, Blut, Blut …

Mit G-zew Brot holen.

Ein Kaffeehaus in Otusi. An den Wänden bolschewistische Aufrufe. An den Tischen langbärtige Tataren. Wie langsam sie trinken, wie sparsam sie reden, wie gewichtig sie sich bewegen. Für sie ist die Zeit stehengeblieben. Das 20. gleicht dem 17. Jahrhundert. Auch die Tässchen sind die gleichen, blaue, mit kabbalistischen Zeichen, ohne Henkel … Bolschewismus? Marxismus?

Plakate, schreit euch die Kehle heiser! Was gehen uns eure Maschinen, Lenins und Trotzkis an, was eure neugeborenen Proletariate, eure sich zersetzenden Bourgeoisien … Wir haben den Ramadan, den Mullah, den Wein und die dunkle Erinnerung an eine große Herrscherin … Hier dieses siedende Pech auf dem Grund vergoldeter Tässchen …

Wir stehen außerhalb, wir stehen darüber, wir sind seit ewigen Zeiten. Ihr müsst erst werden, wir sind schon vergangen. Wir sind ein für alle Mal. Uns gibt es gar nicht.

Monddämmerung. Moschee. Heimkehr der Ziegen. Ein Mädchen in himbeerfarbenem bodenlangem Rock. Tabaksbeutel. Eine Greisin, herausgemeißelt wie Gebein. Das Ausgeformte alter Rassen.

Im Waggon (Rückfahrt nach Moskau, 25. November).

»Die Breschko-Breschkowskaja gehört auch zu dem Pack! Hat gesagt: Kämpfen müsst ihr!«

»Die Klasse der Armen noch mehr zugrunde richten und selbst nur wieder im Luxus schwelgen!«

»Armes Mütterchen Moskau, die ganze Front bekleidet und beschuht es! Moskau macht uns keine Schande! Eher verwirren all die Zeitungen. Die Bolschewiken haben ganz recht, wenn sie sagen, sie wollen kein Blut vergießen, die sehen schon nach dem Rechten.«

In der Waggonluft — wie ein Beil — drei Worte: Bourgeois, Junker, Blutsauger.

»Damit ihnen der Handel besser geht!«

»Unsere Revolution ist jung, aber ihre da, in Frankreich, alt und abgestanden.«

»Wie der Bauer, so der Herr — das Fell ist dasselbe!« (Ich, in Gedanken: Fell gibt es doch gerade keines!)

»Und der Offizier, Genossen, das ist der größte Schurke. Ich meine: Der hat am allerwenigsten Bildung.«

Mir gegenüber auf der Sitzbank schläft ein niedergeschlagener, abgemagerter, vernünftiger Eisenbahn-Gewerkschafter.

»Gott, Genossen, ist der größte Revolutionär!«

»Sie sind wohl Moskauerin? Bei uns im Süden gibt es solche Typen nicht!« (Ein Fähnrich aus Kertsch.)

Streitgespräch über den Tabak.

»Ein Fräulein und raucht! Sicher, alle Menschen sind gleich, aber trotzdem, für ein Fräulein schickt sich das nicht. Auch die Stimme wird rauh vom Tabak, und aus dem Mund heraus riecht's nach Mann. Ein Fräulein soll Bonbons lutschen, sich mit Parfüm besprühen, damit es gut riecht. Sonst macht der Kavalier mit seinen Komplimenten — einen Satz, und Sie mit Ihrem Männergeruch hinterdrein — keuch!

Männer können Männergeruch nicht ausstehen. Was meinen Sie dazu, mein Fräulein?«

Ich: »Sie haben natürlich recht: Das ist eine dumme Angewohnheit!«

Ein anderer Soldat: »Und ich, Genossen, also ich bin der Meinung: Mit dem weiblichen Geschlecht hat das überhaupt nichts zu tun. Du ziehst ihn dir doch in den Hals herein, — und der Hals ist bei allen der gleiche. Wie den Tabak, so das Brot. Und wenn die Kavaliere sie nicht mögen, dann ist das vielleicht auch besser so, unsereiner scharwenzelt sowieso mehr herum, als gut ist. Li-iebe! Geilheit ist das, und nicht Liebe! Und wenn einer sie liebt, — dann um der Seele willen, egal mit welchem Geruch wird er sie nehmen, sogar selbst wird er ihr welche drehen. Hab ich recht, mein Fräulein?«

Ich: »Ja, — mein Mann dreht mir immer Zigaretten. Aber selbst raucht er nicht.« (Ich lüge.)

Mein Verteidiger — zu dem anderen: »So ist sie also auch gar kein Fräulein mehr! Na bitte, mein Lieber, da hast du am Ziel vorbeigeschossen! Ihr Mann ist wohl einer von den Studenten, wie?«

Ich, mich an die Warnungen erinnernd: »Nein, er macht so dies und das …«

Der andere, erklärend: »Das heißt, sie leben von ihrem Kapital.«

Mein Verteidiger: »Sie fahren also zu ihm?«

Ich: »Nein, die Kinder holen, er ist auf der Krim geblieben.«

»Sie haben da auf der Krim Ihre eigene Datscha, was?«

Ich, ruhig: »Ja, und ein Haus in Moskau.« (Die Datscha ist erfunden.)

– Schweigen. —

Mein Verteidiger: »Ich sehe, Sie sind doch ein kühnes Frauenzimmer! Gibt man denn jetzt solche Sachen zu? Jetzt ist doch jeder heilfroh, wenn er nicht bloß sein Haus oder sein Geld, nein — sich selbst vor Angst mit eigenen Händen in der Erde vergraben kann!«

Ich: »Warum selbst? Es kommt eine Zeit, — da werden andere mich vergraben. Übrigens hat es das auch früher schon gegeben: Leute, die sich selbst vergraben haben: Bei lebendigem Leib haben sie sich selbst in die Erde eingegraben — zur Rettung ihrer Seele. Und jetzt — zur Rettung ihres Leibes.«

– Sie lachen und auch ich lache. —

Mein Verteidiger: »Und Ihr Gatte, der hält es wohl nicht mit dem einfachen Volk, wie?«

Ich: »Nein, mit dem ganzen Volk.«

»Das verstehe ich nicht ganz.«

Ich: »Wie Christus befohlen hat: weder den Armen noch den Reichen, heißt es, sondern den Menschen, und Christus in allen.«

Mein Verteidiger, freudig: »So ist es! Du hast nicht schuld an deiner Hoheit und auch nicht an deiner Niedrigkeit …« Mit einigem Verdacht: »… Sie werden wohl keine Bolschewikin sein, Fräulein?«

Der andere: »Was für eine Bolschewikin denn, wenn sie ihr eigenes Haus haben!«

Der erste: »Sag das nicht, viele unter ihnen sind aus der gebildeten Klasse, — und auch Adlige und Kaufleute sind dabei. Zu den Bolschewiken kommen jetzt mehr und mehr von der Herrschaft.« Mit einem prüfenden Blick, unsicher: »Und kurzgeschnittene Haare.«

Ich: »Das ist jetzt so Mode.«[2]

Plötzlich mischt sich ein Matrose ein, genauer gesagt — er explodiert:

»Und bei alldem, Genossen, argumentiert ihr doch ganz falsch, ohne Bewusstsein. Diese Gebildeten da und die Adligen und die verdammten Junker haben doch ganz Moskau mit Blut überschwemmt! Die Blutsauger! Das Pack!« Zu mir: »Und Ihnen, Genossin, rat ich eins: ein bisschen weniger an die Christusse und die Datschen auf der Krim denken. Die Zeiten sind vorbei.«

Mein Verteidiger, erschrocken: »Sie ist ja noch sehr jung … Was werden sie schon für Datschen haben, — wahrscheinlich so ein Hüttchen auf drei Beinen, so ähnlich wie bei mir auf dem Dorf …« (Versöhnlich:) »Und hat auch so schlechte Halbstiefelchen an …«

Über diesen Matrosen. Ununterbrochen Mutterflüche. Die anderen schweigen (ein Bolschewik!). Ich schließlich, sanft: »Warum fluchen Sie so? Sagen Sie bloß, das gefällt Ihnen?«

Der Matrose: »Ich fluche doch gar nicht, Genossin, — das ist so eine Redensart von mir.«

Die Soldaten lachen schallend.

Ich, versonnen: »Eine schlechte Redensart.«

Derselbe Matrose am offenen Fenster in Orjol, mit der allerzärtlichsten Stimme: »Ein Lüftchen ist das!«

Alja (4 Jahre alt).

»Weißt du, Marina, das stimmt nicht bei Puschkin! Bei ihm heißt es:

Salve grüßt vom Ufer aus,

Schiffe legen an zu Haus.

Aber es müsste heißen:

Salven donnern — aus dem Haus!«

(Nach dem Aufstand.)

Gebet Aljas während und seit der Zeit des Aufstands:

»Herr, erbarme dich und errette: Marina, Serjosha, Irina, Ljuba, Assja, Andrjuscha, die Offiziere und Nicht-Offiziere, die Russen und Nicht-Russen, die Franzosen und Nicht-Franzosen, die Verwundeten und Nicht-Verwundeten, die Gesunden und Nicht-Gesunden, — alle Bekannten und Nicht-Bekannten.«

Moskau, Oktober — November 1917

Übersetzung: Marie-Luise Bott

Freie Fahrt

Pretschistenka, Institut der Stiftsdame Tschertowa, heute Sektion für Bildende Künste.

Beim Styx, hätte ich vor hundertfünfzig Jahren gelebt, wäre ich unbedingt Stiftsdame geworden! (Ich bin hier wegen eines Passierscheins ins Gouv. Tambow »zur Erforschung der Bauern-Stickerei« — um Hirse zu beschaffen. Freie Fahrt [Fracht] für 1 ‌½ Pud.)

Reise nach Usman, Gouv. Tambow.

Das Einsteigen in Moskau. In letzter Minute — als hätte die Hölle sich aufgetan: ein Klirren und Kreischen. Ich: »Was ist das?« Ein Bauer, grob: »Seien Sie still! Seien Sie still! Man sieht, Sie sind noch nicht gefahren!« Eine Bäuerin: »Herr, erbarme dich unser!« Eine Angst wie vor den Opritschniki, der ganze Waggon — wie ein Sarg. Und tatsächlich, einen Augenblick später wirft man uns alle ungeachtet der Fahrkarten und Reiseerlaubnisse hinaus. Die Rotarmisten, stellt sich heraus, brauchten den Waggon.

In letzter Sekunde gelangen N., sein Freund, die Schwiegermutter und ich dank meiner Dienstreisebescheinigung doch wieder hinein.

Schicksalsschwer mache ich mir allmählich klar, dass wir zu einem Requirierungspunkt fahren, und zwar … beinah in der Rolle von Requirierenden. Die Schwiegermutter hat einen Sohn, der Rotarmist in einer Requirierungs-Abteilung ist. Sie verheißen allerlei Gutes (bis hin zu Schweinespeck). Sie drohen mit allerlei Üblem (bis hin zu Totschlag). Die Bauern sind erbost, es kommt vor, dass sie Waggons in Brand setzen. Die Schwiegermutter tröstet:

»Schon dreimal bin ich gefahren, — Gott war mir gnädig. Und Weißmehl pu-u-udweise! Dass die Bauern sich erbosen, ist nur verständlich. Wer ist schon seinem eigenen Hab und Gut feind? Sie plündern ja, plündern alles kahl! Und ich sag auch meinem Kolka schon immer: ›So fürchte doch Gott! Du selbst, wenn du auch aus keiner Adelsfamilie bist, hast doch dein gutes Auskommen gehabt und deine Ehrbarkeit. Wie kann man denn nur — einen Menschen an den Bettelstab bringen! Na gut, wenn du schon so große Macht ergattert hast — ich sag ja nichts —, nütz sie, gebrauch sie, wohl bekomm's! Du hast nun mal einen glücklichen Stern!‹ Denn jeder, mein Fräulein, hat seinen Stern. Ach, Sie sind gar kein Fräulein mehr? Na, dann ist meine Sache verloren! Ich betreibe nämlich auch Heiratsvermittlung. Was hätt ich Ihnen für einen Bräutigam gefreit! Und Ihr Mann, wo ist der? Verschollen? Und zwei Kinder? Schlimm, schlimm!

Also, ich sag meinem Sohn: ›Nimm's für den halben Preis, dass es dich nicht ärgert und ihn nicht kränkt.‹ Denn was ist das sonst, eine Art Raubüberfall auf offener Landstraße. Wahr-haftig! Es ist ja begreiflich, mein Fräulein (was sag ich denn dauernd ›Fräulein‹, — Ihre Lage ist ja schlimmer als die einer Witwe! Nicht Frau dem Mann, nicht Liebste dem Freund!) … es ist ja begreiflich, Gnädigste: Der Bursche ist jung, die schönste Zeit im Leben, wann sonst soll er sich vergnügen, wenn nicht jetzt? Es will ihm nur nicht in den Kopf, dass einen andern bis aufs Letzte ausplündern sich selbst verderben heißt! Auch zum Kühemelken braucht's Verstand. Drück, aber drück's nicht ab. Ja-a …

Und eine Ehre erweisen sie mir da, auf seinem Requirierungspunkt, — bei Gott, wie so einer Imperatorswitwe! Der eine bringt dies, der andere schafft das heran. Mein Kolka steht sich mit dem Chef der Abteilung ja gut, Klassenkameraden sind sie, beide nach der vierten Klasse von der Realschule abgegangen: Kolka — ins Kontor, und der andere hat sich einfach so herumgetrieben. Aber als dann der Wechsel da kam, da ist er wieder vom Grund aufgetaucht, da ist das Bläschen hochgestiegen. Und meinen Kolka hat er zu sich beordert. Zucker gibt's! Speck! Eier! Und Milch, — fehlt bloß, dass sie drin baden! Das vierte Mal fahre ich jetzt.«

Aus den Waggon-Gesprächen:

»Und das wird so weitergehen, bis übrigbleiben: von Tausenden — Ein Mann, und von Abertausenden — Eine Frau.«

»In Moskau, Genossen, gibt's eine Kirche — ›Erzengel des Obersten Sowjets‹.«

Nächtlicher Streit über Gott. Hass der Soldaten auf die Ikonen und Liebe zu Gott. »Warum ein Holzbrett küssen? Wenn du beten willst, tu's alleine!«

Ein Soldat zu einem Offizier (Typ ehemaliger Lyzeumsschüler, Mittelscheitel, Kehlkopf-R):

»Und Sie, Genosse, welchen Glauben vertreten Sie?«

Aus der Dunkelheit die Antwort: »Ich bin Spiritist der sozialistischen Partei.«

Bahnstation Usman. 12 Uhr nachts.

Ankunft. Die Teestube. Voll beladene Tische. Revolver, Patronengurte, lauter ledernes Zaumzeug. Sie sind gut gelaunt, bewirten. Wir, die Geehrten, sind alle ohne Stiefel, — auf dem Weg von der Bahnstation hierher wären wir beinah versunken. Für die Schwiegermutter fanden sich übrigens Halbstiefel von der Wirtin.

Die Wirtinnen: zwei tückische, verängstigte alte Weiber. Unterwürfigkeit und Hass. Die eine von ihnen zu mir: »Und Sie sind wohl deren Bekannte?« (Sie zwinkert zum Sohn der Schwiegermutter hin.) Der Sohn: das Gesicht eines Tschitschikow, kornblumenblaue schweinsartige Augenschlitze. Die Haut unterm Haar wirkt grellrosa. Eine Mischung aus holländischem Käse und gekochtem Schinken. Mit seiner Mutter ist er auf freche Art zeremoniell: »Mamascha« … »Sie« — und: »Na, Sie hat doch der — gehn Sie doch zum!« …

Ich werde, Gott sei Dank, nicht beachtet. Beim Vorstellen erklärt die Schwiegermutter vage: »Ich habe noch in früheren Zeiten mit ihren Verwandten Bekanntschaft gepflegt …« (Vor fünfzehn Jahren, stellt sich heraus, hat sie für die Frau meines Onkels genäht. »Ich hatte ein eigenes Atelier … Hielt vier Meisterinnen … Alles ganz ehrbar … Doch da spielt mir mein Mann einen Streich und stirbt!«) Mit einem Wort, mich gibt es nicht, ich bin nur: Anhang …

Nachdem sie gegessen und getrunken haben, gehen unsere beiden Reisegefährten gemeinsam mit den anderen in den Waggon schlafen. Die Schwiegermutter und ich (sie ist die Schwiegermutter des Freundes von N., der mich eigentlich zu dieser Fahrt angestiftet hat) — die Schwiegermutter und ich legen uns auf den Fußboden zum Schlafen hin: sie auf die Kopfkissen und Federbetten der Wirtinnen, ich einfach so.

Ich erwache von einem kräftigen Tritt. Die Stimme der Heiratsvermittlerin: »Was ist denn das?« — Ein zweiter Stiefel. — Ich springe auf. Vollständige Finsternis. Immer stärker werdendes Fußgetrampel, Gelächter, Geschimpfe. Eine helle Stimme aus der Dunkelheit: »Seien Sie unbesorgt, Mamascha, das ist die Requirierungs-Abteilung, die zur Durchsuchung gekommen ist!«

Anzünden eines Streichholzes.

Schreie, Weinen, Goldgeklirre, die beiden Alten mit aufgelöstem Haar, aufgetrennte Federbetten, Bajonette … Sie stöbern überall herum.

»Und sucht auch gründlich hinter den Ikonen! Den Heiligen! Auch die Götter lieben Gold!«

»Aber wir … wir haben nichts … Söhnchen! Vater! Sei ein Vater!«

»Halt den Mund, altes Aas!«

Der Kerzenstummel tanzt. An der Wand — die riesigen Schatten der Rotarmisten.

(Auf die Wirtinnen der Teestube, stellt sich heraus, hatten sie es schon lange abgesehen. Der Sohn hatte nur noch auf die Ankunft seiner Mutter gewartet: so eine Art Flottenmanöver oder Truppenparade zu Ehren der Imperatorswitwe.)

Die Durchsuchung dauert bis zum Morgengrauen: Zum wievielten Mal ich auch aufwache — immer noch dasselbe. Morgens, als ich mich zum Tee niedersetze, der nüchterne Gedanke: »Sie könnten dich auch vergiften. Ganz einfach. Sie schütten dir etwas in den Tee, und aus ist es. Was haben sie zu verlieren? Die ›Zarenbande‹ ist verhaftet — alles ist verloren. Und wenn sie dich erschießen — sterben musst du sowieso!«

Endgültig überzeugt, trinke ich meinen Tee.

Noch am selben Morgen ziehen wir um. Der Gedanke kam nicht mir allein.

Die Opritschniki: ein Jude mit einem Goldbarren um den Hals, ein Jude und Familienvater (»wenn es einen Gott gibt, so stört er mich nicht, und wenn nicht — so stört er auch nicht«), ein »Georgier« vom Triumph-Platz, in rotem Tscherkessenrock, für einen Groschen bringt er seine Mutter um.

Meine beiden Reisegefährten sind auf das ehemalige Gut des Fürsten Wjasemskij gefahren: Teiche, Gärten … (ein seiner Bestialität wegen berühmtes Blutgericht).

Sie sind fortgefahren — und haben mich nicht mitgenommen. Ich bleibe alleine zurück mit der Schwiegermutter und meiner eigenen Seele. Weder die eine noch die andere hilft. Die erste beginnt schon, mir gegenüber zu erkalten, die zweite beginnt schon (in mir) zu kochen.

Mit dem Teekessel zur Bahnstation, heißes Wasser holen. Der zwölfjährige »Adjutant« von einem der requirierenden Offiziere. Rundes Gesicht, hellblaue freche Augen, auf den blonden Korkenzieherlocken sitzt keck eine Schirmmütze. Eine Mischung aus Amor und Flegel.

Die Wirtin (die Frau jenes Opritschnik mit dem Goldbarren) — eine kleine (winzige!), ganz rabenschwarze Jüdin, die Goldsachen und Seidenstoffe »abgöttisch liebt«.

»Sind das Platinringe?«

»Nein, silberne.«

»Aber warum tragen Sie sie dann?«

»Ich mag sie.«

»Und goldene haben Sie keine?«

»Doch, ich habe welche, aber ich mag kein Gold: Es ist zu grob, zu aufdringlich …«

»Ach, was sagen Sie da! Gold ist doch das alleredelste Metall. Jeder Krieg, hat mir Jossja gesagt, wird des Goldes wegen geführt.«

(Ich, in Gedanken: »Wie auch jede Revolution!«)

»Aber darf ich erfahren, haben Sie Ihre Goldsachen bei sich? Vielleicht überlassen Sie das eine oder andere? Oh, seien Sie ganz ruhig, ich werde es Jossja nicht weitersagen, das bleibt eine kleine Angelegenheit unter uns Frauen! Unser kleines Geheimnis!« Sie kichert wollüstig. »Wir könnten eine Art Austausch veranstalten.« Mit gesenkter Stimme: »Immerhin habe ich ganz hübsche Vorräte … Das sage ich Jossja auch nicht immer! … Falls Sie zum Beispiel Schweinespeck brauchen — können Sie Schweinespeck bekommen, falls blütenweißes Mehl — dann eben blütenweißes Mehl.«

Ich, schüchtern: »Aber ich habe überhaupt nichts bei mir. Zwei leere Körbe für die Hirse … Und zehn Arschin rosa Kattun …«

Sie, fast unverschämt: »Aber wo haben Sie denn Ihre Goldsachen gelassen? Wie kann man denn seine Goldsachen zurücklassen und selbst einfach fortfahren? …«

Ich, mit Nachdruck: »Ich habe nicht nur Goldsachen zurückgelassen, sondern … Kinder!«

Sie, belustigt: »Ach! Ach! Ach! Wie komisch Sie sind! Sind Kinder denn so eine besondere Ware? Alle lassen jetzt ihre Kinder zurück, bringen sie irgendwo unter. Was denn für Kinder, wenn es nichts zu essen gibt?« Sentenziös: »Für Kinder gibt es Heime.Kinder sind das Eigentum unserer sozialistischen Gemeinschaft …«

(Ich, in Gedanken: »Wie unsere Goldringe auch …«)

Nachdem sie sich von meiner goldenen Insolvenz überzeugt hat, erzählt sie und verschluckt sich dabei fast. Früher war sie Besitzerin eines Strickwaren-Ateliers in »Petrograd«.

»Ach, eine Wohnung hatten wir! Ein Bonbon, keine Wohnung! Drei Zimmer mit Küche, und noch eine kleine Kammer für das Dienstmädchen. Nie habe ich dem Mädchen erlaubt, in der Küche zu schlafen, — das ist unreinlich, es könnten Haare in den Kochtopf fallen. Ein Zimmer war das Schlafzimmer, das andere das Esszimmer und das dritte — der Salon, himmelblau. Ich hatte ja sehr bedeutende Auftraggeberinnen, das ganze bessere Petrograd habe ich mit meinen Jäckchen bekleidet … Oh, wir haben sehr gut verdient, hatten jeden Sonntag Gäste: und Wein und die besten Esswaren und Blumen … Jossja hatte eine ganze Rauchgarnitur: so ein kleines Tischchen aus Filigranarbeit, ein kaukasisches, mit allerlei Pfeifen und Sächelchen und Aschenbechern und Streichholzdöschen … Ein Gelegenheitskauf bei einem Fabrikanten … Und Karten spielten sie bei uns, ich versichere Ihnen, um durchaus nicht unbedeutende Summen …

Und all das mussten wir aufgeben: die Einrichtung haben wir verkauft, manches heimlich beiseitegebracht … Sicher, Jossja hat recht, das Volk darf nicht länger in den Ketten der Bourgeoisie schmachten, aber trotzdem, wenn man einmal so eine Wohnung gehabt hat …«

»Aber was machen Sie hier, wenn es regnet, wenn all Ihre Leute beim Requirieren sind? Lesen Sie da?«

»Ja-a …«

»Und was lesen Sie?«

»›Das Kapital‹ von Marx, Romane gibt mir mein Mann keine.«

Bhf. Usman, Gouv. Tambow, wo ich noch nie war und nie wieder sein werde. Dreißig Werst zu Fuß über die Stoppelfelder, um Kattun (rosafarbenen) gegen Graupen einzutauschen.

Die Bauern.

Sechzig Bauernhütten — ein einziger Kahlschlag: »Nein, nein, wir haben nichts, und verkaufen tun wir nicht, und tauschen tun wir auch nicht. Was wir hatten, das haben uns die Genossen weggenommen. Gebe Gott, dass wir selbst am Leben bleiben.«

»Aber ich nehme ja nichts umsonst und werde auch nicht mit Sowjetgeld zahlen. Ich habe Streichhölzer, Seife, Kattun …« Kattun! Magisches Wort! Erste Leidenschaft (nach der Schlange!) der Urmutter Eva! Aufleuchten der Augen, Aufhellen der Stirnen, Ausstrecken der Hände. Selbst die Urgroßmütter stehen nicht zurück, aus zahnlosen Mündern spritzt es: »Ein bisschen Kattun vielleicht! fürs Totenhemd!«

Und schon bin ich — in einem erdrückend engen Kreis von Großmüttern, Urgroßmüttern, Mädchen, jungen Frauen, Freundinnen, Enkelinnen — vor dem Korb auf den Knien und krame darin herum. Der Korb ist winzig, — ich zeige alles vor.

»Ist die Seife parfümiert? Einfache hast du keine? Was kosten die Streichhölzer? Ist der Kattun denn haltbar? Manka, he, Manka, für dich zu einer Bluse! Wie viel Arschin, sagst du? Ze-ehn! Und acht hast du nicht?«

Betasten, Beschnüffeln, Zerren, Streicheln, passt du nicht auf, nehmen sie ihn wohl noch zwischen die Zähne.

Und plötzlich platzt eine heraus:

»Die Farbe! Die Farbe! Genau wie von dem, den Katka sich letzte Woche zu einem Rock genommen hat! Den hat auch eine aus Moskau verkauft. Baumwollatlas — aber wie Seide! Mit so ganz vielen kleinen Falten … Mamenka, du, Mamenka, sollen wir welchen nehmen? Wie viel, Kaufmannsfrau, rechnest du für ein Arschin?«

»Für Geld verkaufe ich nicht.«

»Verka-aufst nicht? Wie denn das — verkaufst nicht?«

»So eben, ihr wisst doch selbst, dass Geld nichts wert ist.«

»Woher sollen wir das wissen? Unwissend ist unser Leben. Da hat auch so eine Hergereiste erzählt, dass es euch in Moskau anscheinend sogar sehr gut geht.«

»Fahrt hin und seht selbst.«

(Schweigen. Verstohlene Blicke auf den Kattun. Seufzer.)

»Was brauchst du denn?«

»Hirse, Speck.«

»Spe-eck? Nein, Speck haben wir keinen. Was sollen wir denn für Speck haben? Wir schlucken ja selbst alles ganz trocken runter. Und Honig willst du keinen?«

(Blitzartige Vision von mir — übergossen mit ausgelaufenem Honig, und von dieser Vision — fast Wut!)

»Nein, ich will Speck — oder Hirse.«

»Und wie viel, wenn wir mit Hirse zahlen, rechnest du für den Kattun?« (Übrigens, es ist keineswegs Kattun, sondern reinster, seltenster, auf Karten erstandener, rosafarbener Baumwollatlas!)

Ich, sofort wieder schüchtern: »½ Pud.« (Beigebracht hatte man mir — drei!)

»Ein hal-bes Pud! So einen Preis ist er ja gar nicht wert! Ist dein Kattun vielleicht aus Seide, wie? Das einzig Schöne an ihm ist noch die Farbe. Aber sieh zu, wie sie sich auswäscht, mit dem Wasser wird sie ganz herausgehen.«

»Wie viel gebt denn ihr?«

»Deine Ware — dein Preis.«

»Ich habe doch gesagt: ein halbes Pud.«

Zurückweichen. Geflüster …

Ich betrachte die Bauernhütte: alles ist dunkelbraun, wie bronzefarben: die Decken, Fußböden, Sitzbänke, Kessel, Stühle. Nichts Überflüssiges, nur Ewiges. Die Bänke sind wie an die Wand gewachsen, genauer — wie aus ihnen herausgewachsen. Und auch die Gesichter passen im Ton dazu: dunkelbraune! Und der Bernstein am Hals! Und die Hälse selber! Und über all diesem Dunkelbraun — das letzte Blau des Altweibersommers. (Grausames Wort!)

Das Geflüster zieht sich hin, die Geduld spannt sich — und reißt. Ich stehe auf — und, trocken:

»Wie jetzt, nehmt ihr ihn oder nehmt ihr ihn nicht?«

»Ja, wenn wir mit Geld zahlen könnten, — dann ging's ja noch. Aber so, urteil selbst, was haben wir schon für einen Wohlstand?«

Ich packe meinen zusammen (drei Stück Seife, eine Packung Streichhölzer, zehn Arschin Kattun) und verschließe den Korb mit dem Stäbchen.

In der Tür: »Viel Glück!«

Zwanzig Schritte. Bloße Füße mir nach.

»Kaufmannsfrau, he, Kaufmannsfrau?«

Ohne stehen zu bleiben: »Nun?«

»Willst du sieben Pfund?«

»Nein.«

Und weiter, fünf Hütten vor Zorn auslassend, — in die sechste.

Manchmal kommt es auch anders: Wir sind übereingekommen, es wurde abgefüllt und ausgelegt und — in letzter Sekunde: »Weiß Gott, wo du herkommst. Am Ende bringst du noch Unglück ins Haus. Und kurzgeschnittene Haare … Geh mit Gott … Und deinen Kattun brauchen wir auch nicht …«

Und auch das kommt vor:

»Siehst du, du bist eine Moskauerin, du begreifst unser Leben nicht. Glaubst du, uns wird alles umsonst gegeben? Hier diese Hirse — glaubst du, sie fällt uns wie Regen vom Himmel herunter? Leb einmal auf dem Dorf, tu einmal unsere Arbeit, dann wirst du schon sehen. Ihr Moskauer seid glücklicher dran, ihr bekommt alles von den Oberen. Am Ende war wohl auch der Kattun umsonst?

… Schenk uns ein Schächtelchen Streichhölzer, damit wir etwas haben, womit wir uns an dich Hergereiste erinnern können.«

Und natürlich gebe ich. Aus Hochmut, vor Abscheu, so, wie Christus nicht befohlen hat zu geben: auf geradem Weg zur Hölle — gebe ich!

Für den Ausruf: »Die Hühner legen nicht mehr!« bin ich nicht nur bereit, all ihre Hühner zu erwürgen, sondern auch sie selbst — alle! — bis ins zehnte Glied!

(Eine andere Antwort bekomme ich nicht zu hören.)

Markt. Röcke — Ferkel — Kürbisse — Hähne. Die versöhnende und bezaubernde Schönheit der Frauengesichter. Alle schwarzäugig und alle mit Halsketten.

Ich kaufe drei hölzerne Spielzeug-Bauersfrauen, lasse mich mit einer lebendigen ein, handle ihr eine dunkle Bernsteinkette ab (Scheiben) und gehe mit ihr — ohne alles andere — vom Markt weg. Unterwegs erfahre ich, dass sie sich »zum Fest der Gottesmutter von Kasan mit einem Soldaten vergnügt« hat — und nun … Sie wartet natürlich. Wie übrigens ganz Russland.

Zu Hause. Die Empörung der Wirtin über den Bernstein. Meine Einsamkeit. Zur Bahnstation, heißes Wasser holen; die Mädchen: »Bernstein trägt das gnädige Fräulein! So eine Schande! Eine Schande!«

Fußbodenputzen bei der Schurkin.

»Wischen Sie noch die Pfützen trocken! Hängen Sie den Hut auf! Aber doch nicht so! Die Dielenbretter entlang! Macht ihr in Moskau es etwa anders? Wissen Sie, ich kann überhaupt keine Fußböden mehr putzen, — das Kreuz, wissen Sie, tut mir weh! Sie sind es sicher von Kindheit an gewohnt?«

Schweigend schlucke ich die Tränen.

Abends ziehen sie den Stuhl unter mir weg, ich esse meine eigenen zwei Eier ohne Brot (auf dem Requirierungspunkt, im Gouv. Tambow!).

Ich schreibe bei Mondlicht (der schwarze Schatten von Bleistift und Hand). Um den Mond ein riesiger Hof. Eine Dampflok keucht. Die Zweige. Der Wind.

Meine Herrschaften! All meine Freunde in Moskau und überall! Ihr denkt zu sehr an euer eigenes Leben! Ihr habt keine Zeit, einmal an meines zu denken, — dabei wäre es der Mühe wert.

Die Schwiegermutter: eine ehemalige Schneiderin und draufgängerische, redselige Heiratsvermittlerin aus dem Samoskworetschje (»da spielt mir mein Mann einen Streich und stirbt!«). Der Schurke, ein Kommunist mit einem Goldbarren um den Hals; die Kleinbürgerin und Jüdin, ehemalige Besitzerin eines Strickwaren-Ateliers; die Diebesbande in Tscherkessenröcken; verdächtig finstere Bauern, fremdes Brot (es hier für Geld zu verkaufen — das bringt nicht einmal das kommunistische Gewissen fertig!).

Ich bin in jeder Hinsicht Paria: für die Schurkin — eine »Arme« (die Strümpfe keinen Groschen wert, keine Brillanten), für den Schurken — eine »Bourgeoise«, für die Schwiegermutter — eine von den »gewesenen Leuten«, für die Rotarmisten — ein stolzes Fräulein mit kurzgeschnittenem Haar. Mir am nächsten (auf 1000 Werst Entfernung!) die Bäuerinnen, mit denen ich ein und dieselbe Leidenschaft für Bernstein und für bunte Röcke teile — und ein und dieselbe Güte: wie die Wiege.

»Mein Gott! Den totschlagen, der Zucker und Speck hat!«

(Hiesige Redensart)

»Es gab keine friedlichere Stadt als unsere!«

(Erzählung eines Bauern auf der Fahrt nach Usman. — Gilt das nicht für ganz Russland?)

Heute rissen die Opritschniki zum Verheizen einen Telegraphenmasten nieder.

Die Wirtin bückt sich nach etwas. Aus ihrem Ausschnitt fällt ein Haufen Gold, Goldrubel rollen klirrend durchs Zimmer.

Die Anwesenden wenden den Blick, den sie zuerst auf den Boden gesenkt hatten, schnell wieder ab.

Vom frühen Morgen an — auf Raub. — »Du, Frau, bleib zu Hause und koch eine Kascha, und ich werde die Butter dazu besorgen! …«

– Wie im Märchen. — Gegen vier Uhr versammeln sie sich wieder. Bei unseren Kaplans ist so etwas wie eine Garküche. (Die Wirtin: »Für sie ist es bequem und für Jossja und mich von Vorteil.« Die »Lebensmittel« sind frei, die Mahlzeiten werden bezahlt.) Von Wein seltsamerweise keine Spur. Speck, Gold, Tuch, Tuch, Speck, Gold. Müde kommen sie zurück: rot, blass, verschwitzt, böse. Augenblicklich machen die Wirtin und ich uns ans Tischdecken: Hühnersuppe, Kascha, Plinsen, Spiegelei. Zunächst essen sie schweigend. Unter den Liebkosungen von Speck und Butter glätten sich die Stirnen, glänzen die Augen. Nach dem Plündern das Teilen: von Eindrücken. (Die Güterteilung wird gleich an Ort und Stelle vorgenommen.) Kaufleute, Popen, Dorfkulaken … Beim einen soundso viel Leinwand, beim anderen einen Kübel mit ausgelassenem Fett, beim nächsten tausend zaristische Rubel … Manchmal auch einfach nur einen Hahn …

Rusman (der Familienvater) ist gutmütig. Entdeckt er irgendeine verbotene (verborgene) Frucht, einen Sack Mehl etwa, hat er selbst als erster Mitleid:

»Aj-aj-aj! Und so eine große Familie! Das ist doch wirklich unmöglich, sieben leibliche Kinder, Frau, Großmutter und Großvater allein von der frischen Luft zu ernähren!«

Aber auch der Kenner steckt in ihm: So ruft etwas schlau Verstecktes und lange Sich-Widersetzendes sein Wohlgefallen hervor:

»Ein Gauner ist dieser Mikischkin, so ein Gauner! Ihm sollte man ruhig die Liquidierung der Banken anvertrauen! Was meint ihr, wo er seine Nikolajewsker Rubel, wo er die einbalsamiert hatte?!«

Allmählich (der achte Tag!) finde ich mich zurecht, lebe mich ein, teile schon (lyrisch!) Triumphe und Nöte, schon sagt die Wirtin, beunruhigt vom langen Ausbleiben ihres Mannes, zu mir: »Was wird uns denn unser Jossja untreu?«

Ich bin mitten in einem Märchen, mitten drinnen. Der Räuber, die Räubersfrau — und ich, die Magd der Räubersfrau. Sicher, es könnte passieren — und ich greife zur Axt … Höchstwahrscheinlich jedoch streue ich meine 18 Pfund Hirse glücklich durch alle 80 Kontrollposten hindurch aus, stürme fröhlich in meine Boris-und-Gleb-Küche — und atme mich sogleich — ohne Luft zu holen — in ein Gedicht aus!

Sie laden zur Requirierung ein. (So luden in vergangenen Zeiten die Herzöge zur Jagd!)

»Lassen Sie doch Ihre Streichhölzer! … (Wie viel Schächtelchen haben Sie noch? Wie — ganze drei haben Sie umsonst weggegeben? Ach, ach, ach, wie unpraktisch Sie sind!) Fahren Sie mit uns, dann werden Sie ohne Streichhölzer einen ganzen Waggon Mehl nach Hause bringen. Sie sollen nichts mit eigenen Händen tun — ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Kommunist: nicht einmal den kleinen Finger sollen Sie rühren!«

Und die Wirtin, eifersüchtig (nicht auf mich natürlich, sondern auf die eventuellen »Lebensmittel«):

»Ach, Jossja, als ob das möglich wäre! Wer soll mir denn morgen das Geschirr waschen, wenn ich auf den Markt gehe, Hefe kaufen!«

(Das einzige käuflich erworbene »Lebensmittel« in dieser Familie.)

Wie viel mehrmals abgewaschenes Geschirr und der schon zweimal geputzte Fußboden! Das Gefühl, dass ich eindeutig zur Sklavin gemacht wurde. Die nichtsnutzige Schwiegermutter traktiert mich ganz wie die Wirtin. Von meinen wortbrüchigen Theseussen (ein schönes Naxos ist mir das!) nun schon die zweite Woche keine Spur.

Bisher habe ich: 18 Pfund Hirse, 10 Pfund Mehl, 3 Pfund Schweinespeck, den Bernstein und die drei Puppen für Alja. Sie drohen mit den Kontrollposten.

Ich platze vor Lachen und vor Wut. Der Abend verlief wie immer. Sie kamen und gingen, scherzten und rauchten, überdachten die morgigen Raubzüge, überschlugen die heutigen. Mit einem Wort: Friede. Und plötzlich: das Donnerwort: Gott! Wer davon anfing, daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich erinnere mich nur an meine Stimme:

»Meine Herren, wenn es ihn nicht gibt — weshalb hassen Sie ihn dann so?«

»Wer hat Ihnen gesagt, dass wir Gott den Herrn hassen?«

»Oder Sie lieben ihn zu sehr: Unaufhörlich reden Sie von ihm.«

»Wir reden deshalb davon, weil viele an diesen Unsinn immer noch glauben.«

»Ich zuallererst! Als Närrin ward ich geboren, als Närrin werd ich sterben!«

(Damit platzte die Schwiegermutter heraus.)

Lewit, nachsichtig: »Sie, Madame, sind ein durchaus erklärliches Phänomen, all unsere Mamaschas und Papaschas waren gläubig, aber dass«, Achselzucken in meine Richtung, »die Genossin in so jungen Jahren und noch dazu mit der Möglichkeit, alle kulturellen Vorzüge der Hauptstadt nutzen zu können …«

Die Schwiegermutter: »Na, und was soll's, dass sie aus der Hauptstadt ist? Glaubt ihr vielleicht, dass bei uns in Moskau alle ungläubig sind? Bei uns in Moskau gibt es ja allein an Kirchen vierzig mal vierzig und Klöster und …«

Lewit: »Das sind Überbleibsel der bourgeoisen Ordnung. Eure Glocken gießen wir in Denkmäler um.«

Ich: »Für Marx.«

Ein scharfer Blick: »Ganz richtig.«

Ich: »Und für den ermordeten Urizkij. Ich kannte übrigens seinen Mörder.«

(Aufspringen. — Ich halte die Pause aus.)

»… natürlich — wir haben zusammen im Sandkasten gespielt: Kannegiesser, Leonid.«

»Ich gratuliere Ihnen, Genossin, zu solchen Spielen!«

Ich setze hinzu: »Ein Jude.«

Lewit, aufbrausend: »Na, das gehört ja wohl nicht zur Sache!« Die Schwiegermutter ist nicht ganz mitgekommen: »Wen hat das Judengesindel umgebracht?«

Ich: »Urizkij, den Chef der Petersburger Tscheka.«

Die Schwiegermutter: »Da schau her. Und er war wohl auch einer von dem Judengesindel, wie?«

Ich: »Ein Jude. Aus guter Familie.«

Die Schwiegermutter: »Na, da haben sich also die eigenen Leute verzankt. Übrigens kommt das bei dem Judengesindel selten vor, im Gegenteil, bei denen deckt doch immer einer den andern, hat sich der Gevatter verbrannt, bläst der Brautvater, weiß Gott!«

Lewit, zu mir: »Na, und was weiter, Genossin?«

Ich: »Weiter dann das Attentat auf Lenin. Auch eine Jüdin«, zum Wirt gewandt, liebenswürdig, »Ihre Namensvetterin: Kaplan.«

Lewit, Kaplans Entgegnung zuvorkommend: »Und was wollen Sie damit sagen?«

Ich: »Dass es unter den Juden, wie unter den Russen, solche und solche gibt.«

Lewit, aufspringend: »Ich verstehe nicht, Genossin, entweder hören meine Ohren nicht ganz richtig, oder Ihre Zunge spricht nicht das Rechte aus. Sie befinden sich jetzt auf dem Requirierungspunkt Bahnstation Usman, beim ordentlichen Mitglied der Kommunistischen Partei Russlands, dem Genossen Kaplan.«

Ich: »Unter dem Porträt von Marx …«

Lewit: »Und nichtsdestotrotz sagen Sie …«

Ich: »Und nichtsdestotrotz sage ich. Warum soll man nicht seine Meinungen austauschen?«

Einer der Soldaten: »Da hat die Genossin recht! Was ist denn das für eine Redefreiheit, wenn du dich nicht mal getraust, auf deine Art Schluckauf zu haben! Und die Genossin hat auch gar nichts Besonderes verkündet: nur, dass ein Saujude einen anderen Saujuden umgelegt hat, und das wissen wir auch so schon.« Lewit: »Genosse Kusnezow, ich bitte Sie, Ihre Beleidigung zurückzunehmen!«

Kusnezow: »Was für eine Beleidigung denn?«

Lewit: »Sie beliebten von einem Opfer der Idee zu sagen: Saujude?!«

Kusnezow: »Schreien Sie nicht so, Genosse, ich bin selbst Mitglied der Kommunistischen Partei, und dass ich Saujude gesagt habe, das ist so meine Angewohnheit!«

Die Schwiegermutter zu Lewit: »Was sind Sie denn so in Zorn geraten, mein Lieber? Denk bloß — ›Saujude‹. Das sagt doch ganz Moskau, ›Saujude‹, — und daran ändern auch eure Dekrete und Verbote nichts! Darum nämlich ›Saujuden‹, weil sie Christus gekreuzigt haben!«

»Chriss-tuss?!!«

Wie eine Peitsche schlug er zu. Wie mit der Peitsche schlug er zu. Wie mit der Peitsche schlugen sie zu. Er springt auf. Die Flügel seiner Hakennase beben.

»Ach, solche Ansichten vertreten Sie also, Madame! Ach, nach solchen Lebensmitteln fahren Sie also durch die Gouvernements! — Das gilt auch für Sie, Genossin! — Propaganda machen? Pogrome anzetteln? Die Sowjetmacht ins Wanken bringen? Na, Sie werd ich! … In einer Hundertstelsekunde werd ich Sie …«

»Ich hab keine Angst! Wozu hab ich meinen Sohn! Der ist selbst ein Bolschewik, wie er im Buch steht, der wird ein bisschen sauberer sein als Sie! Sieh einer an — außer Rand und Band! Bloß schade, dass mein Kolka nicht hier ist, sonst würd ich's Ihnen schon zeigen, was es heißt, eine ehrbare Witwe wie eine Schlange anzuzischen. Fünfzig Jahre lebe ich schon, aber so eine Schande …«

Die Wirtin: »Madame! Madame! Beruhigen Sie sich. Der Genosse Lewit hat sich nur einen Spaß erlaubt, der Genosse macht immer solche Späße! Urteilen Sie doch selbst …«

Die Heiratsvermittlerin wehrt ab: »Urteilen will ich nicht und spaßen will ich auch nicht. Ich hab euer neues Leben satt. Hatten wir Nikolascha, hatten wir Brot und Kascha[3], aber jetzt laufen wir dieser Kascha da — Gott verzeih's! — wie ein Hund mit heraushängender Zunge 30 Werst durch den Dreck hinterher …«

Einer der Soldaten: »Nikolascha und Kascha? Ach, Mamascha, Sie sind mir eine! … Aber ist es nicht Zeit für uns, Leute, nach Hause zu gehen? Morgen bei Tagesanbruch müssen wir nach Ipatowka …«

N. und der Schwiegersohn sind zurückgekommen. Sie sind fröhlich, haben Mehl mitgebracht. Auch für mich ein halbes Pud. Morgen fahren wir. Falls wir einsteigen.

Stenka Rasin. Zwei Georgsorden. Das Gesicht rund, pfiffig, sommersprossig: Jessenin, aber ohne Seichtheit. Eben erst ist er zusammen mit den anderen Helden vom Requirieren zurückgekommen. Ich sehe ihn zum ersten Mal.

– Rasin! — Nicht ich habe das gesagt: mein Herz hat es ausgeläutet! (Das Herz! Eine Glocke! Nur Glöckner gibt es keine!)

Ich verbessere mich: meinRasin (der aus dem Lied) ist hellblond — hellblond mit einem Stich ins Rötliche. (Hellblonde Locken: sowohl unbändig wie auch hell). Pugatschow ist dunkel, Rasin hell. Und auch das Wort selbst: Stepan! Grasmahd, Strohgelb, Steppe. Gibt es überhaupt dunkle Stepane? Und: Ra-sin! Morgengrauen, Wasserfluten — rase, Rasin! Wo es weiträumig ist, da ist es nicht dunkel. Dunkelheit ist Dickicht. Ein Rasin — vor dem ersten Bartwuchs, aber schon mit tausend Perserinnen! Und gleich stürzte er mit einem Freudenschrei auf mich zu:[4]

»Aus Moskau, Genossin? Natürlich, natürlich, Moskau kenne ich! Von all den sieben Hügeln herunter hab ich mir Moskau angeschaut! Ich war noch ein Knirps, da hab ich einen Vers über Moskau gelernt:

Stadt, du schöne, Stadt, du alte,

Du beschließt in deinem Kreis

viele Märkte, viele Dörfer

Und ein Schloss zu deinem Preis …

Moskau ist die Mutter aller Städte. Von Moskau aus hat auch alles angefangen — das Zarenreich.«

Ich: »Mit Moskau hat es auch aufgehört.«

Er fasst es und lacht auf: »Das haben Sie ganz richtig bemerkt.

Ach Moskau, Moskau, Moskau,

Geliebtes goldnes Haupt,

Zu-grund ge-gange-nes!

Gerade Ostern hab ich in Moskau gefeiert. Wie hat die Glocke von Iwan-Welikij angefangen zu dröhnen — und dann ihr zur Antwort — und jede in ihrer Stimme — und auseinander und zusammen und von vorn und von hinten — schon weiß ich nicht mehr: Ist es das Erz, das klingt, bin ich's, der klingt. Als hätt ich den Verstand verloren, — bei Gott! Nie werd ich das vergessen.«

Wir sprechen über die Kirchen, die Klöster.

»Sie, Genossin, Sie nehmen es übel, wenn man auf die Popen schimpft, Sie loben das Mönchsleben. Dagegen sage ich nichts: Kannst du nicht mit den Menschen — geh in die Wälder. Unter den Menschen wirst du deine Seele nicht retten, vierzig mal vierzig andere wirst du zugrunde richten. Nur, einmal ehrlich gesagt, werden sie etwa deswegen Popen und Mönche? Dem eigenen Wanst, dem süßen Leben zuliebe werden sie es doch! So wie wir zum Beispiel requirieren gehen, — weiß Gott! Aber was soll da noch Gott? Gott wird es doch speiübel, wenn er sich diese Heiligkeit ansieht. Vernichten würde er seine Welt, wenn er nur könnte! Nein, schütz du mir da nicht Gott vor! Gott ist das Licht: All deine Schwärze lässt er an sich vorübergehen. Weder er wird durch dich schwärzer noch du durch ihn weißer. Und nicht gegen Gott, Genossin, lehn ich mich auf, sondern gegen seine Diener: die untreuen Hände. Wie viel Volk fiel durch diese Hände von ihm ab! Hat etwa jeder Verstand? Nehmen wir nur einmal meinen Vater, zum Beispiel, — als die Verfolgungen anfingen, da urteilte er gleich: Vom kranken Kopf wälzen sie's auf den gesunden. Der Pope, der Rattenschwanz, hat Schaden angerichtet — und jetzt gehen sie Gott aufhängen. Aber für den Kropf des Popen ist doch nicht Gott verantwortlich! Und auch wir selbst, sagt er, tragen große Schuld: Wir haben den Popen nicht geachtet, da hat er selbst sich auch nicht mehr geachtet. Aber wie soll man ihn denn achten? Ich, mein Fräulein, hab die Sorte ganz genau studiert. Wer ist der größte Dieb? — Der Pope. — Der größte Vielfraß? — Der Pope. — Der größte Zecher? — Der Pope. Und wenn er sich besäuft — bloß —, Sie sind ein Fräulein, Ihnen das zu erklären schickt sich nicht …«

»Aber die Mönche, die Einsiedler?«

»Von den Mönchen lohnt erst gar nicht zu reden, das wissen Sie wohl selbst. Fastenworte, und mit der Zunge lecken sie sich einen verbotenen Gedanken von den Lippen. Spalt ihm den Schädel: da wirst du nichts anderes als Geräuchertes und Gepökeltes und Weiber und Kirschlikör finden. Das ist ihr ganzer Glaube! Mönchsleben! Seelenheil!«

»Aber in der Bibel, erinnern Sie sich, heißt es: Um des einen Gerechten willen werde ich Sodom retten. Oder haben Sie die nicht gelesen?«

»Ich selbst, muss ich gestehen, hab sie nicht gelesen, — meistenteils hab ich in der Jugend Tauben gejagt und mit den Jungen Unfug getrieben. Aber mein Vater — der ist ein großer Kirchentreuer.« Sich begeisternd: »Wo du sie auch aufschlägst, die Bibel — zehn Seiten schnurrt er dir hintereinanderweg auswendig herunter …

Aber ich wollte Ihnen noch das von den Mönchen zu Ende erzählen, Genossin. Zum Beispiel die Nonnen. Wieso macht mir jede Nonne schöne Augen?«

Ich, in Gedanken: Ja wie soll man dir, mein Lieber, denn nicht …

Er, sich erhitzend: »Sie windet sich, will nicht mit der Sprache heraus, Augen wie Brunnen. Ja, wohin ziehst du mich denn mit diesen Augen? Ja, was bist du danach denn noch für eine Gläubige? Drängt dich das Blut — geh nicht ins Kloster, aber bist du eine Gläubige — halt die Augen nieder!«

Unwillkürlich senke ich die Augen: — Ein moralisierender Rasin. — Laut: »Erzählen Sie mir lieber von Ihrem Vater.«

»Mein Va-ater! Mein Vater ist ein großer Mann! Was will das schon heißen, was sie da in den Büchern schreiben: über Marx, zum Beispiel, und die Brüder Gracchus. Wer hat sie denn gesehen? Sind doch wohl alles Ausländer: einen Namen, dass du dir die Zunge verrenkst, und Vatersnamen haben sie keinen. Vor dreitausend Jahren — hinter sieben blauen Meeren — wenn du sieben mal neun Länder durchquert hast — im dreimalzehnten, — da ist es keine Kunst, groß zu sein! Aber vielleicht sind's auch einfach bloß Erfindungen? Hat's denn den da«, Wink hin zu Marx an der Wand, »… die Zottelmähne — wirklich gegeben?«

Ich, ohne mit der Wimper zu zucken: »Erfunden! Die Bolschewiken haben ihn sich selbst erfunden. Unterwegs aus Berlin — wissen Sie? Da haben sie ihn sich ausgeklügelt, ihm ein Jackett übergezogen, Bart und Mähne aufgezaust und an alle Zäune geklebt.«

»Mutig sind Sie ja, mein Fräulein.«

»Sie auch.«

(Er lacht.)

»… Aber Sie wollten mir von Ihrem Vater erzählen?«

»Mein Vater. Mein Vater ist Revierwachtmeister der Zarenzeit.« (Ich, in Gedanken: geradezu als bewache er die Zarenzeit!) … »Ein großer Mann, ich wiederhol es Ihnen. Tag und Nacht könnt ich so mit der Feder hinter ihm hergehen und alles aufschreiben. Nicht Worte lässt er fallen: Steine, schwergewichtige! Immerzu: Gesetzestafeln und Mächte und Hände Gottes … Es überläuft einen ganz kalt, weiß Gott! Nachts bläst er sich den Samowar an, setzt die Hornbrille auf, öffnet sein Riesenbuch — und dann hebt ein Sturmwind mit den Seiten an!« Er senkt die Stimme: »Alle Schicksale kennt er. Alle Zeitläufte. Alles: was wem vorbestimmt ist und was wem auferlegt, niemanden verschont er. Auch den Sturz des Zaren hat er vorhergesagt. Umsonst hat er doch den Zaren wie Gott verehrt. Und jetzt sagt er: ›Wenn ihr sie auch abschlachtet oder bei lebendigem Leibe fresst, diese Macht wird sich doch nicht länger als sieben Jahre halten. Eine Schlange ist sie, wie eine Schlangenhaut wird sie auch abfallen …‹ Er schreibt ein Buch: ›Die Tränen Russlands‹. Acht in Wachstuch gebundene Hefte, karierte, hat er schon vollgeschrieben. Niemandem zeigt er's, nicht einmal mir … Ich weiß eben nur: ›Die Tränen‹. Jede Nacht sitzt er bis zum ersten Hahnenschrei.«

Zwei Georgsorden. Er rettete die Fahne.

»Was haben Sie empfunden, als Sie die Fahne gerettet haben?«

»Gar nichts hab ich empfunden! Gibt es die Fahne, gibt es das Regiment, gibt es die Fahne nicht mehr, gibt es das Regiment nicht mehr!«

Auf einer Auktion kaufte er sich für 400 Rubel ein Haus in Klimatschi. In Odessa raubte er eine Bank aus, — »die Taschen voller Gold«! Er diente im Regiment des Thronfolgers.

»Da steigt er aus dem Waggon: ganz schmächtig und schön, und fragt mit so einem kläglichen Stimmchen: ›Und wohin darf ich jetzt gehen?‹ — ›Ein Automobil wartet auf Sie, Euer Hoheit.‹ Viele Soldaten haben geweint.«

Ich sage ihm Gedichte auf: »Dem Zarewitsch«, »Dem Zaren zu Ostern«, »Die Vollblutpferde« …

»Was für ein Mensch hat das verfasst? Wohl kein gewöhnlicher, wie? Und was für ein Grollen! Akkurat wie Donner ist es vorübergerollt! — … Tränke — Ställe … Dafür hätte er ordentlich eins abbekommen, für diese Ställe da. Aber ich nehme an — das ist nicht bloß so aus dem Kopf heraus geschrieben, wie? Den Vater haben sie umgebracht, die Mutter haben sie umgebracht, die Brüder haben sie umgebracht, die Schwestern haben sie umgebracht, — da hat er's dann aufgeschrieben! Vor lauter Wohlleben schreibst du so nicht! Könnten Sie mir das Gedicht über die Ställe nicht vielleicht zur Erinnerung aufschreiben, Fräulein?«

»Das bringt Sie zu Fall.«

»Mich?!!« Die begeisterte Miene verzieht sich zur räuberischen. »Ich und zu Fall gebracht werden? Ungeboren ist noch der Fall, durch den ich fallen soll! Ungeboren — unbemessen! Ich hab ja allein vier goldene Uhren, mein Fräulein!« Er schlägt mit den Händen auf seine Taschen! »Wenn Sie wollen — überzeugen Sie sich! Und sie gehen alle nach verschiedenen Zeiten: die eine nach Moskauer, die andere nach Petersburger, die dritte nach Rjasaner und die da«, mit der Faust aufs Herz, »– nach Rasiner!«

»Soll ich Ihnen ein Gedicht über Stenka Rasin sagen? Derselbe Mensch hat es geschrieben. Hören Sie.

Wind ging schlafen, Dämmerung brach herein,

Nacht tritt näher, schwarz wie ein Berg von Stein.

Und mit seiner Liebsten …«

Ich spreche wie ein Ertrinkender, — nein, wie ein Fisch, der sich am eigenen Meer verschluckt hat. (Ein sprechender Fisch … Hm … Im Übrigen, im Märchen gibt es das.)

Nach den Schwiegermüttern, Heiratsvermittlerinnen, Hirsen, Spüleimern, Revolvern, Marxen — dieser Strahl (die Stimme), in diese Bläue (die Augen!) hinein. Denn ich rezitiere ihm geradewegs in seine Augen: Wie sie schauen! In die Kornblumenbläue hinein: verschwinden.

Stenka Rasin!

Stenka Rasin, ich bin keine Perserin, in mir ist nicht die zweischneidige Tücke Persiens und der, die nicht liebt. Aber ich bin auch nicht Russin, Rasin, ich bin vor-russisch, vor-tatarisch, — das vorzeitliche alte Russland, so komme ich dir entgegen! Strohgelber Stepan, hör mich, Steppe: Es gab Kibitkas und Nomadenlager, es gab Feuerstätten und Sterne. Willst du — ein Kibitka-Zelt? In das durch ein Loch herein — der allergrößte Stern scheint?

Aber …

»Nur seien Sie so gut, mein Fräulein, und schreiben Sie ein bisschen größer: Handgeschriebenes lese ich nicht allzu gut.«

Mit kindlicher Freude verfolgt er das Entstehen der Buchstaben (ich schreibe natürlich in Druckbuchstaben).

»De … em … und da ist auch das Jat, — akkurat wie eine kleine Kirche mit Kuppel.«

»Und Sie selbst sind vom Dorf?«

»Aus der Slo-bode!«

»Und jetzt werd ich Ihnen, mein Fräulein, zum Dank für Ihre Mühe, eine Sage erzählen — von einer Stadt unter Wasser. Ich war noch ein Knirps, noch keine acht Jährchen alt, — da hat mein Vater sie erzählt.