Aussteigen auf Bayerisch - Stefanie Sommer - E-Book

Aussteigen auf Bayerisch E-Book

Stefanie Sommer

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Beschreibung

Stefanie ist dreiunddreißig Jahre alt und arbeitet für ein großes Filmproduktionsunternehmen in München. Ein Traumjob über der Skyline von Schwabing — für andere. Stefanie hasst ihren Bürojob und die Großstadt, sie träumt von einem wilden, freien Leben in den bayerischen Bergen. Sie träumt davon, über bunte Blumenwiesen zu laufen oder vor einem prasselnden Kaminfeuer zu sitzen, wann immer sie möchte. Ein heißer Sommertag am türkisglitzernden Eibsee bringt die Entscheidung. Ob es das eiskalte Wasser oder der majestätische Anblick der Zugspitze war: Stefanie simst ihrem Chef die Kündigung — und damit beginnt das Abenteuer ihres Lebens. Es führt sie von München über Altötting nach Rosenheim; ihre Begleiter sind verrückte Jobs, lustige Begegnungen und tiefe Existenzängste. In Rosenheim stolpert Stefanie über ihre große Liebe, den urbayerischen Bernhard; er teilt ihren wildromantischen Traum vom Leben am Berg. Als die beiden die Chance bekommen, eine Berghütte im Wendelsteingebiet zu übernehmen, greifen sie sofort zu …

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Todunglücklich trotz toller Karriere

Mir reicht's, ich kündige! Job und Wohnung!

Und wie finanziere ich meine Stadtflucht?

Ein Hoch auf die Altöttinger Pampa!

Ende Gründungszuschuss, Anfang Jobsuche

Ein lässiges Bewerbungsgespräch

Trotzdem wieder nur ein Bürojob!

Eine heiße Affäre, die zum Dauerbrenner wird

Abschied von Altötting – auf nach Rosenheim!

Schluss jetzt mit den verdammten Bürojobs!

Endlich schreiben! Dafür pleite.

Eine Frage der Autoren-Ehre: Der Taxischein!

März 2010 – ein spannender Monat

Ab in den Puff! Der erste Tag als Taxifahrerin

Inkognito auf der Breitenberghütte

Jetzt auch noch unterwegs als Chauffeurin

Mein 36. Geburtstag: schrecklich! Schön!

Alles neu, macht der Mai!

Was ist ein Unimog?

Der Umzug

Nur noch zehn Tage bis zur Eröffnung!

Der Wahnsinn kann beginnen

Nette Gäste, aber es könnte mehr los sein!

Genug Gäste und nun auch genug Muskeln

Weihnachtszauber und Silvesterwahnsinn

Eine kleine Krise und eine kurze Auszeit

Kein Wasser mehr, kein Bock mehr

Schreiblust, Hüttenfrust und die Uschi-Ära

Adventszauber und Silvesterstimmung

Kündigung, Zukunftsängste, Eiszeit

Der letzte Hütten-Sommer – schön und traurig

Nachwort: Und jetzt?

Nachtrag am 2. August 2014

Vorwort

Dies ist eine wahre Geschichte. Die Geschichte meines Lebens. Na ja, eigentlich nur die der letzten sieben Jahre, aber ich liebe dramatische erste Worte. Und immerhin geht es nicht um irgendwelche Jahre: Es geht um die ersten Jahre auf meinem Weg in ein wildes, freies Leben. Selbstbestimmt. Mitten in den Bergen. In der Natur, mit den Tieren aber bitte mit möglichst wenig Menschen.

Nicht, dass ich ein Menschenfeind oder Eremit wäre, ich kann sogar sehr gut mit Menschen, aber ich kann nun mal noch besser ohne. Ich ziehe eben zehn Minuten Kühestreicheln jedem stundenlangen intellektuellen Gespräch vor. Ich sitze lieber schweigend vor dem prasselnden Kaminfeuer als plappernd an einer coolen Bar. Ich hasse die Großstadt, dafür liebe ich die Einsamkeit der Berge. Also doch Eremit.

Aber was soll's, dann ist das eben so. Zumal ich mich damit ausgesprochen wohlfühle, darum war mein Ausstieg auch nur konsequent. Und genau genommen war es nur ein kleiner Ausstieg vor der eigenen Haustür. Raus aus München, rein in die bayerische Bergwelt. Beides trennen keine hundert Kilometer, tatsächlich sind es aber zwei Welten, Lichtjahre voneinander entfernt. Die laute Metropol-Welt, in der ich verdammt war zu funktionieren, und die stille Bergwelt, in der ich einfach nur verdammt frei und glücklich bin. Deswegen habe ich meinen Ausstieg keine Sekunde bereut. Ich würde alles genauso wieder tun, auch Existenzängste in Kauf nehmen, weil mir meine Freiheit alles bedeutet. Weil ich lieber für meinen wildromantischen Bergtraum kämpfe, als mit der knallharten Großstadtrealität Frieden zu schließen.

Und ich habe es geschafft. Ich bin nun nicht mehr der armselige Bürozombie, der ich mal war. Ich bin nicht mehr eingesperrt in einem sterilen Großstadtbüro und sehe nicht mehr nur am Wochenende Tageslicht, ich bin endlich frei …!

Also fast. Ich muss noch arbeiten. Nicht, dass mir Arbeit nicht liegt, nur hätte ich gerne die Wahl zu entscheiden, wie viel ich arbeite. Dem ist noch nicht ganz so. Ich arbeite nach wie vor zu viel. Aber dafür schon ziemlich zu meinen Bedingungen, schon ziemlich selbstbestimmt. Mein Weg war für mich der richtige. Streckenweise war er zwar steinig, ungesichert und steil, mitunter ist er das noch immer, aber dafür ist er auch spannend und bunt und die Aussichten sind im wahrsten Sinne des Wortes großartig.

Diese Geschichte ist für all diejenigen, denen es ähnlich geht. Sie soll bewusst machen, dass wir erst einmal nur dieses eine Leben zur Verfügung haben und es nutzen sollten. Sie soll anderen Bürozombies Mut machen auszubrechen und vor allem soll sie unterhalten. So unterhalten, wie mich die letzten sieben Jahre selber unterhalten haben. Also kommt mit, ich lade euch ein. Auf das Abenteuer meines Lebens …

Todunglücklich trotz toller Karriere

Frühjahr 2006

Ich bin dreiunddreißig Jahre alt und müsste eigentlich verdammt glücklich sein. Zumindest sehen meine persönlichen Rahmendaten danach aus. Ich arbeite da, wo viele arbeiten wollen: in der Filmbranche und mitten im Zentrum von München. Mein Job als Projektkoordinatorin und Assistentin eines Filmproduzenten ist meiner Meinung nach klar überbezahlt. Auf der anderen Seite war natürlich auch ich diejenige, die dieses Gehalt ausgehandelt hat. Ein Gehalt, das ich wie alle anderen Gehälter als Schmerzensgeld betrachte. Ein monatliches Schmerzensgeld, von dem man nie genug bekommen kann und entsprechend hart darum kämpfen sollte. Ganz besonders im pervers teuren München.

Das Filmproduktionsunternehmen, für das ich arbeite, hat seinen Sitz im tobenden Schwabing, direkt an der Münchner Freiheit. Das Gebäude ist neu und mein modernes Büro liegt im vierten Stock. Ursprünglich hieß es, ich würde ein eigenes Büro bekommen. Jetzt teile ich mir eines mit einer Kollegin; ein Durchgangsbüro, mit etwa fünf Quadratmetern – also zweieinhalb Quadratmeter pro Person.

Tatsächlich haben es die gewitzten Architekten hinbekommen, neben einer Eingangstüre gleich zwei weitere Büros abzweigen zu lassen. Es sieht also so aus, dass ich mit keinem Meter Abstand mit dem Rücken zur Eingangstüre sitze. Meine Kollegin sitzt mir in Atemweite gegenüber. Direkt hinter ihr zieht sich eine schmale aber hohe Fensterfront entlang, der Blick nach draußen trifft auf graue Häuser und eine hässliche Seitenstraße. Und will mein Chef in sein Büro, muss er sich hinter mir nach rechts durchquetschen. Will der Chef meiner Kollegin ins Büro, muss er sich nach links durchquetschen. In beiden Fällen eigentlich sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Seit ich hier angefangen habe, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als den Architekten mal so richtig zu verprügeln.

Das Büro ist das Allerletzte. Es hat nicht nur die Größe, sondern auch das Ambiente einer Gummizelle. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die Büros unserer Chefs sind genauso winzig, nur hat jeder eben ein eigenes. Und dann sind die Herren sowieso kaum da. Kann ich verstehen, wäre ich auch nicht, wenn ich die Wahl hätte.

Aber ich habe keine Wahl. Ich bin ein armseliger Bürozombie, wie so viele andere da draußen. Und da ist es scheißegal, ob ich für eine Filmfirma oder eine Schraubenfabrik arbeite: Vollzeit-Büro bleibt Vollzeit-Büro. Ich bin mir sicher, dass keiner der Chefs hier dauerhaft eine Fünf-Tage-Woche á acht Stunden aushalten würde. Aber wir armen Büro-Hühner müssen das – und werden dabei nicht einmal artgerecht gehalten. Nix mit freilaufenden, glücklichen Bio-Mitarbeitern.

Mir ist aber klar, dass ich gar nicht erst nach einem eigenen Büro fragen brauche, geschweige denn darauf bestehen, zumal ich hier ohnehin den Sechser im Job-Lotto gezogen habe: eine der heiß begehrten Parkkarten für die Tiefgarage! Aber was heißt gezogen … wäre mir die blöde Karte nicht vertraglich zugesichert worden, hätte ich den Job nicht angenommen, so einfach. Eine grauenvolle Vorstellung, in München-Schwabing jeden Morgen nach einem Parkplatz zu suchen, der dann auch noch ein Schweinegeld kostet.

Sowohl das Schmerzensgehalt als auch die Parkkarte waren für mich also unverhandelbar. Diese Entweder-so-oder-ich-pfeif-auf-den-Job-Strategie wirkt übrigens erstaunlich gut. Haben Chefs nämlich das Gefühl, du willst den Job mehr als dein eigenes Leben, dann werden sie dich so schlecht bezahlen, dass es für selbiges kaum noch reicht. Und ich wollte diesen supercoolen Jippiyeah-Filmjob eigentlich gar nicht. Ich habe mich dummerweise einfach nur abwerben lassen. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass mein Chef auf meine dreisten Forderungen eingehen würde. Ich dachte, er würde sich lachend abwenden und den Job anderweitig vergeben, aber nein: er ging auf jede unverschämte Forderung ein. Und ich stand nun in der Pflicht, diesen blöden Job anzunehmen, obwohl ich nicht das dringende Bedürfnis hatte, meinen aktuellen Arbeitgeber, ebenfalls eine Filmfirma, zu wechseln. Nicht, weil mir die Arbeit dort so wahnsinnig viel mehr Spaß gemacht hätte. Nur deswegen, weil diese Filmfirma außerhalb Münchens idyllisch an einem großen Wald und in Laufweite zur Isar liegt. Meine Mittagspausen verbrachte ich nicht in der Kantine, ich verbrachte sie fast ausschließlich draußen. Eine belegte Semmel in der Hand wanderte ich im Winter durch den Wald und im Sommer barfuß durch die Isar. Das war es, was ich an diesem Job mochte. Als mir der Wechsel in das andere Unternehmen angeboten wurde, war mein erster Gedanke: Scheiße, Schwabing. Und dann noch jeden Tag durch den Stau. Die Vorstellung, mich täglich durch die Rushhour ins laute, graue Stadtzentrum zu quälen, um dann dort auch noch arbeiten zu müssen, versetzte mich in Panik. Innerlich. Äußerlich war ich eine coole Sau und habe lässig verhandelt. Aber nun ist es wie befürchtet, es ist einfach nur grauenvoll.

Ganz besonders grauenvoll ist es, wenn ich im Stau neben riesigen Werbeplakaten zum Stehen komme, die mit sonnigblumiger Alpenwelt, idyllischen Almhütten und klaren Bergseen für bayerisches Bier oder Joghurt werben. Meine Sehnsucht, genau in diesem Moment genau dort zu sein, ist dann so groß, dass es wehtut. Neben den Architekten würde ich gerne mal diese Werbetypen verhauen. Für die Frechheit, mir das Paradies zu zeigen, mich aber nicht reinzulassen. Und genau deswegen kauf ich den Scheiß auch nicht, Ihr Blödmänner, das ist meine Rache.

In diesem Moment sitze ich in meiner Bürozelle und schaue auf die in der Sonne glitzernden Dächer Schwabings. Nein, ich schaue eigentlich über sie hinweg und sehnsüchtig hin zu den weit entfernten Münchner Hausbergen. Sie sind so weit entfernt, dass man sie nur bei Föhnwetter sehen kann. Und wenn die mächtige Bergkette dann mal hinter dem Dunst der Großstadt auftaucht, kann ich mich kaum noch von ihr abwenden.

Ich starre durch das Monsterfenster. So gerne würde ich es öffnen … nur ist dieses Scheißfenster durchgeknallterweise nicht dafür konstruiert worden! Ich fasse es nicht. Ich kann also nicht einmal aus dem Fenster springen, wenn mir danach ist. Wahrscheinlich wurden diese Fenster genau deswegen ausgewählt: damit alles sicher wie in einer Klapsmühle ist.

Ich stelle mir vor, wie es mit normalen Fenstern wäre. Dann würde alle paar Minuten der ein oder andere Kollege freudestrahlend an meinem Fenster vorbeisegeln, winkend und mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht. Aber wahrscheinlich geht es nur mir so. Wahrscheinlich habe nur ich diesen unnatürlichen Freiheitsdrang.

Trotzdem! Scheiß Fenster! Scheiß Job! Beklemmung steigt in mir auf und gerade geht es mir gar nicht gut, ich fühle mich eingesperrt. Ich muss sofort raus hier!

Ich stolpere aus dem Büro und renne los. Den Gang entlang, an Michael Bully Herbig vorbei, der anscheinend gerade einen Termin im Hause hat oder hatte. Ich renne ihn fast um und dann durch die erste Sicherheitstür hindurch zum Aufzug.

Ich will nicht auf den Aufzug warten, der ebenfalls ein beschissener Aufzug ist, weil er regelmäßig hängen bleibt. Ich hatte schon das Vergnügen und klebte erst vor ein paar Tagen für etwa zwanzig Minuten schweißüberströmt innen an der gläsernen Aufzugtür. Nicht noch einmal, vor allem heute nicht! Also renne ich die gefühlten hundert Stockwerke runter und es dauert weitere gefühlte zwanzig Minuten, bis ich endlich im Freien bin.

Ich atme tief durch und schließe kurz die Augen. Besser geht's mir trotzdem nicht. Kein Wunder, ich befinde mich inmitten von Menschenmassen und dem Lärm der Münchner Freiheit.

Ich verziehe mich schnell ein paar Meter weiter zur Terrasse eines italienischen Restaurants. Die Terrasse ist von großen Topfpalmen umgeben. Ich suche mir die sympathischste davon aus und lehne mich kurz an sie. Das Grün ihrer Blätter und der raue Stamm haben irgendwie eine beruhigende Wirkung auf mich; jetzt geht es mir etwas besser. Ich schließe wieder die Augen und atme tief ein.

Und dann zünde ich mir eine Zigarette an – weil der Smog und der Gestank der Stadt noch nicht reichen. Und weil ich leider ohnehin hoffnungslose Stressraucherin bin.

Zurück im Büro überlege ich mir, wie lange ich das wohl noch aushalten werde. Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich diesen Job überhaupt angenommen habe. Warum habe ich nicht einfach auf mich selbst gehört? Ich weiß doch eigentlich ganz genau, was ich will und was nicht! Aber ich wusste nicht, dass ich mich auf Kosten meines Lebensglücks und meiner persönlichen Freiheit kaufen lassen würde. Ich Medienflittchen, ich. Und jetzt auch noch ein armseliger Bürozombie. Geistig und körperlich.

Gerade ist es mal wieder mein Rücken, der wie verrückt schmerzt; die ewige Sitzerei tut mir nicht gut. Da hilft auch nicht der schweineteure Hightech-Bürostuhl, der mir vor ein paar Tagen ins Büro geschoben wurde. Die Verspannungen haben seelischen Ursprung, da würden auch keine verschriebenen Massagen helfen.

Was mir helfen würde, wäre eine fristlose Kündigung. Bei dem Gedanken fühle ich mich gleich viel frischer. Aber ich habe gerade eben keine andere Wahl. Ich muss ja von irgendwas leben. Und das, was ich wirklich will, ist für mich halt noch unerreichbar: Ich will endlich all die Bücher schreiben, die ich schon immer schreiben wollte. Abenteuerliches, Lustiges und Romantisches. Und ja, ich möchte davon leben können. Bestenfalls irgendwo auf dem Land oder noch besser in den Bergen. Dumm nur, wenn einem für die Schreiberei ausschließlich die Wochenenden zur Verfügung stehen. Dann dauert so ein Projekt schnell mal ein paar Jahre.

Wie mein erstes Drehbuch, an dessen Geschichte ich nun schon seit drei Jahren feile. Ich würde alles dafür geben, Vollzeit daran arbeiten zu können. Stattdessen betreue ich anderer Leute Drehbücher, von der Entwicklung bis zur Produktion. Mal bessere, mal schlechtere – und mal so richtig beschissene. Aber sie machen mich alle gleichermaßen rasend, weil sie mich alle von meiner eigenen Schreiberei abhalten.

Ein paar Wochen nach meinem Arbeitsbeginn kann ich meine Situation nun schon differenzierter einschätzen. Anfahrtsweg: scheiße. Bürosituation: scheiße. Kollegen: verdammt viele Bürozombies. Arbeitssituation: total beschissen.

Mir ist langweilig. Ich habe kein Burn-out, ich habe ein fieses Bore-out und das Gefühl, meine Zeit nur abzusitzen. Es gibt in der produktionsfreien Phase wenig bis nichts zu tun, das war ich bisher nicht gewohnt. Und ich wusste nicht, wie verdammt zäh und lang ein Arbeitstag werden kann, wenn man morgens um zehn schon alles abgearbeitet hat. Wenn man händeringend auf Aufgaben wartet, die nicht kommen. Ich kann von Glück reden, wenn ich die ein oder andere Reisekostenabrechnung oder Kopierarbeit zu machen habe. Und das, obwohl auch die mich rasend machen.

Vor ein paar Tagen habe ich für mich mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angefangen. Ich werte Studien deutscher Filmförderanstalten aus und fasse sie für mich beziehungsweise für meine Abteilung zusammen. Dann beschäftige ich mich mit filmwissenschaftlichen Theorien zum Thema Kinoerfolg. Interessant, aber zu theoretisch, um meinen Chef damit zu belästigen.

Warum ich nicht einfach die toten Bürozeiten nutze, um meine privaten E-Mails zu checken und im Internet zu surfen? Klar ist das nicht erlaubt und klar machen das alle. Ich würde es selbstverständlich auch tun, geht aber nicht, mein Monitor ist für absolut alle Kollegen einsehbar. Jeder, der auch nur an meinem Büro vorbeiläuft, hat volle Einsicht in das, was ich gerade am Rechner mache. Für den Fall, dass ich es noch nicht erwähnt habe: was für ein beschissener Scheiß-Arbeitsplatz! Und umstellen lassen sich die Büromöbel auch nicht. Die Türen zu schließen ist ebenfalls nicht zu empfehlen. Erstens, weil alle Kollegen ihre Türen offen haben. Zweitens, weil die Kollegen, die sie geschlossen halten, für Freaks gehalten und auch entsprechend behandelt werden. Und drittens, weil selbst dann, wenn ich die Türe geschlossen habe (ich bin gerne Freak), diese ungefähr sekündlich von Kollegen und Chefs aufgerissen wird und ich jedes Mal einen halben Herzinfarkt bekomme. Schicksal eines Durchgangsbüros.

Ich könnte ausrasten, dass ich nicht eine einzige Stunde für mich habe! Abgesehen von meiner Mittagspause natürlich, die kann ich alleine genießen und sie ist das Highlight eines jeden Tages. Dafür setze ich mich ins Auto und fahre in den nahegelegenen Englischen Garten, in den hintersten Winkel, wo es ruhig ist, wo sich keine Menschenmassen durchwälzen. Gerade denke ich an meine beiden Hunde, die jetzt wahrscheinlich im Garten unter einem schattigen Baum liegen und so tun, als würden sie das Gelände bewachen. Was für ein Hundeleben. Ich beneide die beiden, denen die Natur den ganzen Tag lang vergönnt ist. Ich hingegen habe nur diese knappe Dreiviertelstunde Mittagspause. Aber die nutze ich dafür richtig!

Heute ist ein brüllheißer Sommertag. Auf der Leopoldstraße flimmert die Hitze, die Innenstadt glüht, die Passanten sehen noch gestresster aus als sonst und vor dem Eiscafé an der Münchner Freiheit stapeln sich die Leute. Ich fliehe in den Englischen Garten, dort ist die Hitze gut auszuhalten.

Ich bin gerade an dem kleinen Bach angekommen, der durch den hinteren Teil des Parks führt. Dort schlüpfe ich aus meinen Sandaletten, kremple meine Jeans hoch und wate durch das kühle Wasser. Ich genieße das Vogelgezwitscher und die Sonne auf meinem Gesicht. Es gelingt mir, für einen Moment zu verdrängen, dass ich gleich wieder zurück ins Büro muss. Eigenartig, wie kurz eine halbe Stunde in Freiheit und wie lang die gleiche halbe Stunde hinter Arbeitsmauern ist.

Auf dem Rückweg höre ich im Auto wie immer laut Musik, heute mal wieder Lenny Kravitz. Irgendwas mit Where are we runnin und Keep on working 'til we're dead. Recht hast du, Lenny, nur dass dich dieses Los nicht ereilt. Du hast die Kohle, dein Leben frei zu gestalten, also heul nicht rum.

Ich nehme die Einfahrt in die Tiefgarage und hoffe, dass die restlichen fünf Stunden bis zum Feierabend schnell vergehen.

Aber diese Hoffnung ist genauso sinnlos wie die Hoffnung, im Filmbiz mehr Menschen mit Herz und Humor zu treffen, als solche, die über ihre Karrieregeilheit den Spaß am Leben verloren haben. Und ihre Manieren. So gibt es erstaunlich viele Kollegen, die nicht einmal auf ein »Guten Morgen!« reagieren, also im Sinne von überhaupt nicht reagieren. Und wenn doch, dann werfen sie einem mitleidig-abfällige Blicke zu. Das sind dann auch die Kollegen, die interne Telefonate und E-Mails unfreundlich beginnen und grußlos beenden. Ein Problem fast ausschließlich auf Assistenzebene, warum auch immer. Nach oben wird gebuckelt und nach unten getreten.

Diese vergiftete Atmosphäre nimmt mir die Luft zum Atmen. Da ändern auch die vielen netten Kollegen nichts dran, mit denen die Zusammenarbeit ein Vergnügen ist – soweit für mich Büroarbeit überhaupt ein Vergnügen sein kann. Und es sind wirklich viele, mit denen es richtig lustig ist. So stürmte vor ein paar Wochen eine nette blonde Kollegin aus einer anderen Abteilung mein Büro, packte kommentarlos meine Hand und zerrte mich mit sich, den Gang entlang, ins Treppenhaus, hoch ins obere Stockwerk, dann die kleine Wendeltreppe hoch und auf die Dachterrasse. Die letzten Meter hält sie sich den Mund zu, als könne sie es nicht abwarten, endlich laut zu schreien. Ich weiß, was kommt, muss grinsen und halte dann auch meinen Mund zu. Wir lassen die schwere Terrassentüre hinter uns zufallen, sind mit zwei Schritten am Geländer und brüllen in der nächsten Sekunde los. Wir lassen alles raus, unser kurzer Urschrei mit all unserem Frust schallt über Schwabing. Und dann lachen wir uns schlapp. Gott tut das gut! Und auch schön, dass ich nicht die einzige Durchgeknallte bin. Wir umarmen uns, bestätigen uns gegenseitig wie cool wir sind und raffen uns wieder auf in unsere Büros.

Vor ein paar Wochen teilte mir diese süße Kollegin mit, dass sie gekündigt hat. Und ich stelle mir mittlerweile fast täglich die Frage, wie lange ich das noch aushalte, wann ich wohl kündigen werde.

Mir reicht's, ich kündige! Job und Wohnung!

Sommer 2007

Ich habe lange ausgehalten, aber jetzt kann ich nicht mehr. Ich mache immer mehr Minusstunden, weil ich mich oft nicht ins Büro aufraffen kann oder früher verschwinde, als es meine Arbeitszeit erlaubt. Es ist kurz vor acht und ich muss eigentlich los, wenn ich es noch bis neun ins Büro schaffen will.

Ich stehe im Badezimmer vor dem Spiegel und denke an den Stau, der mich erwartet. Überhaupt denke ich an alles, was mich erwartet – besser gesagt: nicht erwartet. Und ich grüble darüber nach, wie lange ich wohl noch mit diesem kreisrunden Ausschlag um meinen Mund rumlaufen werde. Ich habe ihn zwar überschminkt, weiß aber, dass er da ist. Der Arzt faselte was von einer perioralen Dermatitis, ich nenne das eine stressbedingte Hackfresse. Wäre ich glücklich, heiter und gelassen, dann würde ich jetzt nicht so aussehen.

Ich schau vom Spiegel weg ins Waschbecken und stütze mich mit beiden Händen darauf ab. Ich kann nicht mehr. Und ich kann und will heute nicht ins Büro! Den Tag stehe ich nicht durch. Ja. Ich mach heute blau. Ich MUSS blaumachen! Auch zum Schutze meiner Kollegen, da ich heute stark amoklaufgefährdet bin.

Ich rufe eine Freundin an und überrede sie, ebenfalls blauzumachen. Ich weiß. Macht man eigentlich nicht. Aber sie ist erstaunlich schnell mit dabei, wir sind uns nach zehn Sekunden einig.

Eine Stunde später befinden wir uns auf der Autobahn Richtung Garmisch. Ich hole aus meinem Twingo alles raus: bergab und mit Rückenwind 185 km/h. Party im Auto, diesmal mit Christina Aguileras Candyman. Wir haben Bock auf die Berge und freuen uns diebisch, einmal aus unserem Bürozombie-Dasein auszubrechen. Ein Sommertag in Freiheit! Ja! Das haben wir uns verdient! Und nein! Ein schlechtes Gewissen müssen wir nicht haben. – Reden wir uns zumindest ein.

In Garmisch angekommen halten wir nicht an, wir fahren weiter. Durch das malerische Grainau durch und hoch Richtung Zugspitze bis zum Eibsee. Bis zu Deutschlands wahrscheinlich höchst gelegenstem Badesee. Für mich der schönste See auf der ganzen Welt. Türkisgrün, kristallklar und lagunenähnlich, mit kleinen Inseln und einem atemberaubenden Blick auf die Zugspitze.

Ich kenne den Eibsee schon seit Kinderzeiten. Ich habe hier zusammen mit meinen Geschwistern und Eltern unzählige glückliche Tage verbracht. Zu jeder Jahreszeit. Im Winter schlitterten wir auf dem gefrorenen See herum, im Sommer überquerten wir ihn mit einem Kajak und einem Schlauchboot, um eine der kleinen Inseln für uns zu beanspruchen. Seitdem weiß ich, wie sich Freiheit anfühlt; hier am Eibsee kann ich sie sogar hören und riechen; sie durchströmt mich, noch bevor ich aus dem Auto aussteige.

Wir packen unsere Rucksäcke und die beiden Hundeleinen, an deren anderen Enden meine Hunde hängen. Ronja, mein dreibeiniger kluger Colliemix, und Bubi, die dumme aber nette Riesendogge. Dann marschieren wir los, den Seeweg entlang, und nach etwa einer halben Stunde haben wir fernab des Weges unseren Badeplatz gefunden. Ein paradiesisches Fleckchen bayerischer Erde. Eine kleine uneinsehbare Bucht mit weichem Kieselstrand. Mit ohne Menschen.

Wir legen unsere Handtücher aus und unsere Klamotten ab. Dann stoßen wir mit einer Flasche eiskaltem Radler aufs Blaumachen an. Ich nehme einen Schluck, stelle die Flasche zwischen zwei größere Steine und lege mich zurück.

Ich schließe die Augen und höre meine Freundin, wie sie meinen Hunden Unsinn erzählt. Sie würden gleich Planschi-Planschi machen, und ob sie denn gute Seehunde wären und anderen Schmarrn. Ich muss grinsen, aber dann blende ich ihr freundliches Gebrabbel langsam aus und genieße den Moment.

Ich weiß nicht, wie lange dieser Moment gedauert hat. Ich weiß nur, dass er mir ewig schien, obwohl es nur ein paar Minuten gewesen sein können. Und danach ist alles anders.

Ich setze mich auf und mir ist klar, dass ich meinen Job kündigen muss. Und kündigen werde. Und zwar jetzt. Ja. Ich will und muss es jetzt tun. Meine Freundin planscht noch mit den Hunden im Wasser, ein schönes Geräusch, klingt nach Urlaub. Ich hole mein Handy aus dem Rucksack und tippe ohne nachzudenken: Lieber Chef ich kündige. Die förmliche Kündigung folgt in den nächsten Tagen. Ich bitte um Verständnis für meine Entscheidung und grüße Sie herzlich. Noch während meine Freundin fragt, wem ich da was schreibe, drücke ich auf Senden.

Mitteilung gesendet.

Ich schreie einen langen lauten Glücksschrei. Meine Freundin zuckt zusammen und schaut mich kariert an. Dann platzt es aus mir raus und ich juble los: »Jaaaaa! Gekündigt! Ich hab grad gekündigt! Aahaa-haaa, ich hab gekündigt, ich hab's echt getan! Jahahaaa …!« Dann fange ich an zu singen »Iiich hab ge-küüündigt, iiich hab ge-küüündigt!«

Ich renne zum Ufer und stürze mich mit einem Hechtsprung in die kalten Fluten. Unterwasser wird mein Kopf dank der Eiseskälte des Bergsees noch einmal klarer. Ich tauche auf und schwöre beim majestätischen Anblick der Zugspitze, mich nie, nie wieder in einem Büro versklaven zu lassen! Lieber würde ich putzen oder Taxi fahren gehen und das meine ich genau wie ich es sage, das meine ich vollkommen ernst.

Zurück zu Hause setze ich mich an den Computer und tippe die Kündigung – mit einem kranken Vergnügen und einem Gefühl tiefster Befriedigung. Die Kündigung wird zwei verdammte Seiten lang. Ich schreibe mir alles von der Seele und habe einen Mordsvergnügen dabei.

***

Was ich meinem Chef soeben überreicht habe, ist nicht das zweiseitige Pamphlet, sondern sein unmutiges Pendant, der feigförmliche Kündigungs-Dreizeiler. Und ich frage ihn auch gleich, ob ich für heute das Büro verlassen kann. Er lässt mich gehen.

Meine Hunde sind überrascht, dass ich so ungewohnt früh eintreffe. Ich feuere meine High Heels von mir, schmeiße mich in meine zerfetzte Jeans und mein Freedom-or-death-T-shirt, dann gehe ich barfuß mit meinen Hunden los, quer durch den Wald und dorthin, wo ich noch nie jemanden getroffen habe. Es ist eine kleine sonnendurchflutete Lichtung in einem Mischwäldchen. Auch die Hunde kennen diesen Platz. Sie wissen, dass wir hier jetzt eine Weile verbringen werden.

Ich setze mich auf die warme Wiese, Ronja und Bubi legen sich sogleich neben mich. Ich sehe meine Hundlinge an und habe plötzlich ein schlechtes Gewissen. Ich habe Verantwortung für die beiden, muss ja schließlich ihr Hundefutter verdienen und will ihnen ein schönes Hundeleben bieten. Die armen Flauschies haben noch keine Ahnung, was ihnen blüht. Und ich auch nicht.

Himmel … Für einen Moment wird mir ganz elend und kalt. So etwas habe ich doch noch nie gemacht? Ich bin doch sonst auch eher der sicherheitsliebende Typ! Und jetzt habe ich gekündigt und alles hingeschmissen, so ganz ohne Plan B. Ich gratuliere mir zu meiner eigenen Dummheit, muss dabei aber schon wieder grinsen. Weil … irgendwie spüre ich, dass dieser Weg trotzdem der richtige Weg für mich ist. Keine Ahnung, wie er dann genau aussieht. Verdammt steinig wahrscheinlich, aber das nehme ich für meine Freiheit in Kauf. Ich sollte also nicht an meiner Entscheidung zweifeln …

… tu ich aber:

Es ist kurz nach Mitternacht und ich kann vor Sorgen nicht schlafen. Ich wälze mich nervös hin und her und grüble. Es ist doch wahnwitzig, einen Job wie diesen aufzugeben! Unbefristet und mit einem fetten Gehalt. Und was ist mit dem Kredit, den ich monatlich bedienen muss? Und wo ziehe ich hin? Klar, dass ich mir mein kleines Mietshäuschen in München dann nicht mehr leisten kann. Bekomme ich schnell genug einen neuen Job? Und was für einen überhaupt? Und vor allem: wo? Und wie überbrücke ich die drei Monate, in denen ich kein Arbeitslosengeld bekomme, weil ich blöde Kuh selber gekündigt habe?

Ich versuche mich zu beruhigen: Alles ist besser, als dieses Leben, in dem ich nur noch herumschleiche wie ein Zombie – alles! Und durch die Kündigung habe ich schließlich überhaupt erst die Chance, in meinem Leben etwas zu verändern. Und verdammt noch mal … jetzt wird es wenigstens auch mal richtig spannend! Ich weiß nicht, was auf mich wartet und das ist mal ein ganz neues, irres Gefühl. Es fühlt sich an, als würde da draußen endlich ein Leben auf mich warten, zumindest die Hoffnung darauf. Es ist meine vermessene Hoffnung, den Sinn des Lebens und die Lebensfreude wiederzufinden. Und ich weiß, wie sich beides anfühlt, deswegen will ich es wiederhaben. Und deswegen werde ich darum kämpfen! Ich werde das hinbekommen!

Wieder muss ich grinsen. Ich komme mir gerade vor wie Scarlet O'Hara in Vom Winde verweht. Wie in der Szene, in der sie vor ihrem abgebrannten Familiensitz steht, auf die Ruinen und den kriegsroten Hintergrund blickt und dabei schwört: Ich werde das überstehen! Und wenn alles vorbei ist, dann werde ich nie wieder hungrig sein! Und wenn ich stehlen oder lügen müsste! Bei mir müsste es dann heißen: Ich werde das überstehen! Und wenn alles vorbei ist, dann werde ich nie wieder eingesperrt sein! Und wenn ich putzen oder Taxi fahren müsste!

Ich glaube, ich bin grinsend eingeschlafen.

Und wie finanziere ich meine Stadtflucht?

Oktober 2007

Wochenlang habe ich mir den Kopf zermartert, wie ich diesen Wahnsinn finanzieren könnte. Die genaue Aufgabenstellung lautete: Finden Sie ein Zuhause auf dem Land und legen Sie dar, wie Sie von dort aus Ihren Lebensunterhalt bestreiten wollen. Diese Frage hat mich nächtelang wachgehalten und fast wahnsinnig gemacht. Für einen kurzen verzweifelten Moment hatte ich mir sogar überlegt, mich mit einem Imbisswagen oder eBay-Shop selbstständig zu machen. Und das hätte ich auch getan – wenn mir nicht gerade schlagartig klar geworden wäre, dass die Lösung doch eigentlich einfach ist: Ich werde schreiben! Ich werde einen Existenzgründungszuschuss beantragen, aufs Land, besser noch in die Berge ziehen und an meinem Drehbuch arbeiten! Parallel werde ich mir überlegen, was ich nach Ablauf der neunmonatigen Unterstützung durch die Gründungsgelder mache; weil die Wahrscheinlichkeit, dass die Drehbuchhonorare pünktlich nach neun Monaten fließen, keine Wahrscheinlichkeit sondern Utopie ist. Aber Hauptsache, mal mit dem anzufangen, was ich wirklich will. Hauptsache, mich schon einmal auf den Weg zu begeben und nicht immer nur feige davor zu stehen.

Heute war ich satte drei Stunden im Büro. Trotz der Gewissheit, dass meine Zeit hier bald vorbei ist, habe ich es keine Sekunde länger ausgehalten. Und jetzt sitze ich daheim auf meiner Riesencouch zwischen meinen Riesenhunden und weihe sie kuschelnderweise in meine Pläne ein. Die nächsten Tage werde ich an meinem Businessplan arbeiten, der Voraussetzung für die Beantragung der Existenzgründungsgelder ist. Während das Gründungsvorhaben geprüft wird, werde ich meinen Umzug vorbereiten. Raus aus München und raus aus meinem winzigen Hexenhäuschen, das die Hälfte meines Gehaltes verschlingt.

Ein paar Wochen später habe ich den Antrag auf Gründungszuschuss eingereicht. Hier heißt es jetzt also abwarten. Dafür nun die Suche nach einem neuen Zuhause und genau da bin ich gerade dran. Ich suche online nach einem kleinen Häuschen mit riesigem Garten. Bitte billig und in Alleinlage, also ohne auch nur einen einzigen Nachbarn. Es gab nämlich noch keinen, der mich nicht irgendwie genervt hätte. Oder den ich genervt hätte. Und irgendwie kann ich ja nachvollziehen, dass es inakzeptabel ist, von meinem Garten aus ganze Sommer lang vom Buena Vista Social Club beschallt zu werden. Zudem will ich unbeobachtet und nackt durch meinen Garten tanzen können und nicht züchtig bekleidet höflich Small Talk am Gartenzaun halten müssen. Für mich spricht also alles gegen Nachbarn.

Und Neubauten kommen für mich auch nicht infrage – das ist für mich alles, was nach 1960 erbaut wurde. Je älter das Baujahr, desto wohler fühle ich mich. Ich brauche ein Haus mit Geschichte. Und es soll ein Haus werden, das mit Holzöfen beheizt wird. Ich liebe flackerndes Kaminfeuer und das Knacken von Brennholz. Für mich gibt es keine wohligere, gemütlichere Wärme. Ich brauche keine Fußbodenheizung und solchen Schnickschnack.

Ich scrolle die Angebote im Immobilienportal runter und überfliege die Bilder. Nichts dabei. Zumindest nichts, was finanzierbar ist und mich sofort packt. Auf der zweiten Seite auch nicht. Ich gehe die vielen nächsten Seiten durch und habe schon fast keinen Bock mehr, als ich dieses eine Bild sehe. Es zeigt einen großen runden Erker mit mannshohen holzverstrebten Fenstern und einer rundlaufenden Fenstersitzbank. Der Blick aus den Erkerfenstern lässt ein grünes Paradies erahnen, einen Secret Garden, riesig und mit alten Bäumen; ich bin hin und weg.

Ich klicke das Angebot an und lese: Alte Direktionsvilla bei Altötting. Altötting? Egal, erst mal das Exposé anschauen. Und was ich sehe, überwältigt mich: Die alte Direktionsvilla hat ein Harry-Potter-mäßiges Entré mit einer großen, verwinkelten Freitreppe. In jedem Zimmer ein Kamin und wundervoller alter Parkett- oder Dielenboden. Vom riesigen Wohnzimmer mit offenem Kamin führt eine breite Terrassentür nach draußen, auf eine Rosenterrasse mit verwitterter Steintreppe und Ausblick auf das darunterliegende Altöttinger Land. Ein weiteres Foto trägt die Unterschrift Die Nachbarschaft. Es zeigt einen kleinen Esel und zwei Pferde – ein braunes und ein gelbes. Mein Herz hüpft. Das sind mal nette Nachbarn! Und dieses Haus will ich! – Aber Altötting …? Verdammt …! Das sind fiese achtzig Kilometer von München weg. Und dann gibt es da noch nicht einmal Berge.

Ich schau mir den Mietpreis an. Ja! Altötting! Ich ziehe nach Altötting!

Ein Hoch auf die Altöttinger Pampa!

Meine kurze Zeit in Altötting ist wohl mit die schönste Zeit in meinem Leben. Endlich bin ich es, die meinen Tagesablauf bestimmt – und dabei arbeite ich mehr, als ich jemals zuvor gearbeitet habe. Vielleicht deswegen, weil mir klar ist, dass ich nur knapp neun Monate habe, in denen mir die Existenzgründungsgelder das Schreiben ermöglichen. Wenn die Kohle aus ist, erwartet mich ein Sprung ins Bodenlose. Ich werde mir irgendwo einen Job suchen und ziemlich sicher aus diesem wundervollen Haus ausziehen müssen. Relativ aussichtslos, dass ich im kleinen Altötting eine Stelle finden werde. Aber ab heute sind es noch sechs Monate und die werde ich nutzen und mich nicht mit destruktiven Existenzängsten belasten.

Tagsüber geht es mir in meiner alten Direktionsvilla saugut. Genauer gesagt immer dann, wenn ich schreibe. Schreibe ich nicht, packen mich sofort die Zukunftsängste. Also schreibe ich wie eine Bekloppte. Dreimal am Tag gönne ich mir meine Auszeiten, die ich versuche ohne schlechtes Gewissen zu genießen. Und die Pausen sehen immer gleich aus – wundervoll gleich: Ich gehe mit den Hunden raus in den Garten oder rauf auf den großen Hügel hinter der alten Villa. Man könnte diesen schon fast als Berg bezeichnen, käme man nicht aus Oberbayern. Oben auf dem Plateau des Hügels befindet sich ein seit Jahrzehnten leer stehendes kleines Ziegelschloss. Halb abgebrannt, von Ranken überwuchert und romantisch wie ein Dornröschenschloss. Und das Beste an diesem idyllischen Ort: bei Föhn sieht man von hier aus die Berge! Aber auch nur bei Föhn. So wie in München.

Mit jedem Föhntag wird mir klarer, dass meine Sehnsucht nicht nur der Natur allgemein, sondern ganz besonders der Bergwelt gilt.

Gerade sitze ich in der Nähe des Schlösschens an meinem Lieblingsplatz. Die Sonne scheint warm auf mich herunter, die Grillen zirpen und der Föhn lässt wieder den Blick auf die weit entfernte Salzburger Bergkette zu. Und plötzlich ist mir klar: da muss ich hin! Ich muss in die Berge! Ich will ganz nahe bei oder noch lieber direkt in den Bergen leben! Ja! Das ist es!

Irgendwie macht mich diese Erkenntnis gleich ein Stückchen glücklicher und ich fühle mich eigenartigerweise irgendwie erleichtert. Ich nehme mir vor, mir nach Ablauf des Existenzgründungszuschusses einen Job ausschließlich in einer Berggegend zu suchen. Wenn ich schon wieder fremdbestimmt arbeiten muss, dann wenigstens in einer geografischen Lage, die mich meinem Lebensglück noch näher bringt.

Kurz vor dem Einschlafen, bei mir anscheinend die Zeit der Zweifel, frage ich mich, ob ich nicht vielleicht doch einfach nur ein ansprüchliches und undankbares Miststück bin. Könnte doch sein, dass meine Lebenswünsche immer weiter ausarten und ich mir am Ende noch einbilde, dass mich nur ein Schloss auf der Zugspitze glücklich machen kann. Vorausgesetzt natürlich, die Zugspitzbahn stellt ihren Betrieb ein. Und vorausgesetzt, die Baumgrenze verschiebt sich in diese hochalpine Lage, weil ohne Bäume ist's dann für mich auch wieder nix …

HIMMEL, entweder bin ich total durchgeknallt oder nur brutal verträumt! Ich frage mich wieder, ob es noch andere Freaks wie mich auf dieser Welt gibt. Und dann frage ich mich, was es in ein paar Monaten wohl für ein Job werden wird. Und vor allem wo! Weil … für mich kommen mittlerweile nicht mehr nur Bayern, sondern auch Österreich oder die Schweiz infrage.

Ende Gründungszuschuss, Anfang Jobsuche

1. Oktober 2008

Ich brauche jetzt schleunigst einen Job. Bis heute habe ich mich nicht darum gekümmert, habe jede Stunde wie besessen zum Schreiben genutzt. Aber in vier Wochen fließt kein Geld mehr, es wird also langsam so was von Zeit!

Meine Jobbeschreibung ist recht einfach: egal was, aber in Bergnähe. Egal was deswegen, weil ich davon ausgehen kann, dass der nächste Job schon jetzt keine Chance hat, mich glücklich zu machen.

Aber was soll's, von irgendwas muss man ja leben, also auf ins Web und zur Jobsuche! Und nachdem es in Deutschland ja leider nun so ist, dass man nicht das machen darf, was man gut kann, sondern nur das machen darf, wofür man qualifiziert ist, versetzt mich meine erste Auswahl nicht in Begeisterung – weil es eben doch wieder nur Bürojobs sind. Und dann fiese Assistenzjobs oder Jobs als Mediaberaterin, was ein netteres Wort für Anzeigenverkäuferin ist.

Anzeigenverkauf wäre wenigstens mal was anderes, dafür bin ich theoretisch durch meine Ausbildung zur Verlagskauffrau qualifiziert. Wofür ich nicht qualifiziert bin, ist der Job einer Redakteurin, was mir deutlich lieber wäre. Ich habe zwar schon zig Artikel und redaktionelle Strecken geschrieben, diese aber leider unter Pseudonym oder gleich unter dem Namen anderer Redakteure. Einer meiner Verlagschefs hatte seinerzeit schnell meine Begeisterung fürs Schreiben entdeckt, da ich aber nur seine Assistentin war, konnte er eine Veröffentlichung unter meinem Namen offensichtlich nicht verantworten.

Aber zurück zu meiner Misere, zur Auswahl zwischen Scheißjob und Drecksjob. Klingt übel, wenn ich das so schreibe, und für andere Menschen können diese Jobs schließlich das sein, wovon sie schon immer geträumt haben. Es gibt bestimmt unzählige Mädels, die gerne als Mediaberaterin oder Assistentin in der Medienbranche arbeiten würden, stattdessen aber als Zahnarzthelferin oder Friseurin tätig sind. Auch keine schlechten Jobs, aber so beschissen bezahlt, dass sie nicht lebenswert sind. Und mir reicht die Jobsuche schon wieder! Ich habe fünf Stellen gefunden, bei denen ich mich bewerbe. Drei als Assistentin/Sekretärin und zwei als Mediaberaterin. Jedes Anforderungsprofil trifft auf meine Qualifikation zu, aber mein Herz wird beim Durchlesen der Stellenanzeigen schwer. Ich will das alles nicht machen. Ich will nicht! Ich weiß jetzt schon, was mir blüht! Ich verschiebe das Schreiben der fünf Bewerbungen auf morgen und beschließe, mich mit einer Freundin, die ich zu mir einlade, zu betrinken.

Das funktioniert auch ganz hervorragend, wir beide vertragen nichts und sind nach einer Flasche Rotwein mehr als nur angeheitert.

Aber die Party geht erst los. Habe ich schon erwähnt, dass ich einen Kerzen- und Kaminfeuer-Tick habe? Ich stehe so sehr auf den Schein des Feuers, auf das Flackern, auf die Schatten, die Kerzenlicht und Kaminfeuer werfen! Also zünde ich jede meiner gefühlten dreihundert Kerzen an und heize den Kamin ein. Das Wohnzimmer und dessen niedlicher Erker sind fast weihnachtlich beleuchtet.

Meine Freundin kommt aus der Küche zurück, sie trägt eine Glasschüssel mit irgendeinem Gesöff – einer schnell zusammengemischten Bowle aus Sekt, Weißwein, Limonade und Tiefkühlerdbeeren. Ich lege meine Rocky-Horror-Picture-Show-DVD ein und die ohnehin gute Stimmung schlägt innerhalb kürzester Zeit in eine wilde Party um. Wir singen, heißt: wir grölen laut mit, wir lachen und tanzen. Wir feiern, als wären wir zu zehnt. Und mir wird plötzlich klar: Das war meine Abschiedsfeier. Der Abschied von meinem freien Schreiberdasein.

Ein lässiges Bewerbungsgespräch

Am nächsten Morgen geht es mir beschissen. Ich habe einen derartigen Schädel, dass ich das Gefühl habe, damit durch keine Tür zu kommen. Ich übergebe mich mehrmals und denke, ich muss sterben. Ich bin wacklig auf den Beinen und extrem geräuschempfindlich. Also lege ich mich wieder hin.

Aber ich muss doch die verdammten Bewerbungen machen!

Nach ein paar Stunden Ruhe im abgedunkelten Zimmer ist die Klarheit in meinem Kopf soweit wieder hergestellt, dass ich mich an die Arbeit machen kann. Ich hole mir das Notebook ins Bett. Nicht nur, weil ich noch immer nicht ganz fit bin, sondern weil ich das immer so mache. Keine Ahnung, warum ich am liebsten in der Horizontalen schreibe, das muss eine weitere Macke sein, aber so ist's halt.

Ich gehe die Stellenausschreibungen durch. Mit der am wenigsten schlimmsten fange ich an.

Die letzte Bewerbung habe ich dann am Abend fertig. Und jetzt bin ich auch fertig. Ich habe insgesamt fünf Bewerbungen abgeschickt und muss nun ohnehin abwarten, was passiert.

Ich koche mir noch eine Kleinigkeit und gehe früh schlafen.

Entsprechend früh wache ich auf. Es ist ein sonniger Herbsttag, ideal für die Gartenarbeit! Die Terrassentüre lasse ich offen stehen, um das Telefon noch hören zu können – für den Fall, dass einer der potenziellen Arbeitgeber sich meldet.

Gegen zehn klingelt das Telefon, ich gehe sofort dran. Und tatsächlich ist es der Zeitungsverlag aus Rosenheim, bei dem ich mich beworben habe, genauer gesagt ist es dessen Anzeigenleiter, Bernhard Materne. Als Münchnerin sollte ich Bayerisch verstehen, aber das Rosenheimer Bayerisch von Herrn Materne bereitet mir massive Schwierigkeiten. Ich verstehe nur Fetzen von: »Dadns af elfe umikemma«, was offensichtlich nicht bedeutet, dass ich um elf umkommen, sondern zum Vorstellungsgespräch erscheinen soll. Eieiei. Das kann ja was werden.

Aber Moment! Wenn es jetzt zehn ist und ich um elf in Rosenheim sein soll, dann müsste ich eigentlich schon unterwegs sein … Ich frage Herrn Materne, ob zwölf Uhr auch möglich wäre, aber die klare bayerische Ansage von ihm schlägt mich mit meinen eigenen Waffen:

»Sie ham gschriabn, sie tatn JEDERZEIT und KURZFRISTIG füra Gspräch zur Verfügung stehn. Und i tat mir hoid wünschn, dass Sie jetztat kurzfristig um elfe do san!«

So. Da habe ich es. Geschlagen mit meiner eigenen Formulierung aus dem Bewerbungsschreiben. Aber ich nehme die Herausforderung an: »Gut, Herr Materne, ich werde um elf da sein!« Ich lege grinsend auf und sage laut »Arschloch!« Was für ein frecher Hund aber auch! Und ich muss jetzt sofort los, beziehungsweise mich erst einmal fertigmachen.

Mein Spiegelbild lässt mich einen Hilferuf quieken. Meine Haare sind nicht gewaschen, ich bin noch ungeschminkt, habe aber dafür Gartenerde unter den Fingernägeln. Das Gammeloutfit samt Gummistiefeln komplettiert das Desaster. Ich renne los ins Badezimmer und reiße mir auf dem Weg dorthin die Klamotten runter. So ein Arschloch aber auch! Keine Zeit zum Haarewaschen, also die Mähne durchgekämmt, mit einem Haargummi gebändigt und ein Stylespray drüber, das das Ganze zementiert. Fünfzehn Sekunden für Zähneputzen und drei Minuten fürs Make-up, wobei mir die Hände dermaßen zittern, dass ich dauernd Gefahr laufe daneben zu malen. Und dann noch zwei Minuten zum Umziehen. Aber wo verdammt sind meine Büroklamotten? Die habe ich zum Einzug feierlich in Kisten gepackt und auf dem Speicher verstaut. Shitfuck, verfluchter! Ah!

Ich renne halb nackt los auf den Speicher. Dort angekommen reiße ich einen nach dem anderen der schwachsinnigerweise nicht beschrifteten Umzugskartons raus und wühle nach einem Outfit. Der Speicher schaut jetzt aus wie Sau, aber ich habe Klamotten gefunden!

Ich renne die Treppen runter, halte dabei immer wieder an, um mich anzuziehen. Arschloch!

Gefühlte Sekunden später sitze ich im Auto und fahre zitternd los, das heißt: ich gebe Vollgas, um wenigstens noch eine kleine Chance zu haben, nur fünf Minuten zu spät in Rosenheim anzukommen. Arschloch! Arschloch! Arschloch!

Nach etwa fünfzig Kilometern ist mein Zorn verraucht. Ich murmle zwar immer noch »Arschloch«, muss jetzt aber dabei grinsen. DER traut sich was! Bin gespannt, was das für ein Typ ist!

Es ist zwei Minuten nach elf, als ich den Zeitungsverlag betrete – nach außen hin völlig entspannt und gelassen, innerlich zitternd von dem Höllenritt über die Autobahn.

Ich scanne kurz den Verlag: Er ist winzig, besteht eigentlich aus einem einzigen Großraumbüro und ich weiß sofort, wer Herr Materne ist. Es ist der Mann, der aussieht wie eine Mischung aus Nikolas Cage und Luis Trenker. Der Mann mit den frechen braunen Augen, die mich herausfordernd mustern. Ich gehe auf ihn zu, begrüße ihn und stelle mich vor – und irgendwie muss ich dabei die ganze Zeit blöd grinsen.

Herr Materne grinst auch blöd. Aber nur kurz, dann kehrt er den wichtigen Anzeigenverkaufsleiter raus, führt mich ins Besprechungseck und bombardiert mich mit Fragen. Live verstehe ich den Mann etwas besser als am Telefon, kann aber auch sein, dass ich mich langsam einhöre. Außerdem reden die hier im Verlag alle so. Und wenn die so reden, dann wird das wahrscheinlich auch der ganze Rosenheimer Landkreis tun. Unglaublich, da komme ich mir als gebürtige Münchnerin tatsächlich wie der letzte Saupreiß vor. Liegt München echt noch in Bayern?

Das Bewerbungsgespräch verläuft gut und irgendwie finde ich den Gedanken hier zu arbeiten nicht ganz so schlimm. Hätte fieser werden können. Die Leute hier sind supernett und meinen Chef finde ich auch sexy, äh … nett.

Ich fahre gut gelaunt heim nach Altötting.

Gleich am nächsten Tag ruft Herr Materne wieder an. Er würde mir gerne den Job geben und bietet mir eine Probearbeitswoche an. Ich sage sofort zu, formuliere es nur etwas dämlich: »Ja, ich will.«

Am Abend ist mir jedoch bewusst, dass meine Zeit in Altötting damit endgültig vorbei ist. Ich werde langfristig nicht täglich über hundertfünfzig Kilometer nach Rosenheim pendeln können, außerdem wäre das sinnlos verfahrene Lebenszeit. Aber abgesehen davon, dass es in Altötting keine Berge gibt, bin ich hier eigentlich glücklich bis in die Zehenspitzen.

Ich schnappe mir die beiden Flauschies und gehe mit ihnen raus, die zwei alten Pferde und den Esel besuchen, die ich mittlerweile zu meinen besten Freunden zähle. Der Esel, Silas, legt wie jeden Tag seinen schweren Kopf in meine Arme und schnauft dann selig – mittlerweile ein festes Ritual von uns. Dann gehe ich zu den Pferden. Ich füttere die drei mit Äpfeln, streichle ihre Nüstern und lasse zu, dass sie ihre Köpfe an meinem Mantel reiben.

Mindestens einmal am Tag bin ich hier auf der Koppel, einem ehemaligen Obstgarten mit alten Apfelbäumen. Wenn die Äpfel reif sind, klettere ich auf die Bäume und pflücke sie. Einen für mich und der Rest für die Huflinge. Ach ja … und ein kleines Stückchen für Ronja, die Äpfel liebt. Bubi mag keine Äpfel, dafür liebt er den kleinen Esel Silas. Wohl deswegen, weil sich die beiden irgendwie ähnlich sehen. Silas ist nur wenig größer als Bubi, hat eine ähnliche Farbe, ein tiefes Dunkelbraun und ist genauso vorwitzig – wobei Bubis Liebe mittlerweile schon wieder etwas abgekühlt ist.

Er wollte vor ein paar Tagen wie immer mit Silas spielen, hat ihn auffordernd mit seiner Schnauze angestupst, aber Silas wollte diesmal nicht und rannte ein paarmal drohend auf Bubi zu. Dieser wiederum war ganz begeistert von Silas' lustigen Attacken. Bubi wiederholte also sein Spiel, aber Silas wurde immer grantiger, legte die Ohren zurück, zeigte Zähne, scharrte angriffslustig mit den Hufen und seine Augen schienen rot zu glühen. Also rief ich Bubi zurück, befahl ihm außerhalb des Gatters Platz zu machen und beschäftigte mich wieder mit den Pferden. Ich hatte nicht mitbekommen, dass Bubi nur kurz meiner Anweisung folgte, um sich gleich wieder zu Silas zu schleichen.

Ich vernahm sodann nur noch ein wütendes Wiehern und Bubis kreischendes Bellen – eher ein lang anhaltendes, lautes Schreien. Was ich dann sah, brachte mich einer Ohnmacht nahe: Silas galoppierte in vollem Tempo auf Bubi zu und rannte ihn im nächsten Moment um. Vielmehr schleuderte er Bubi mit voller Breitseite von sich. Die Dogge flog in hohem Bogen durch die Luft, landete auf dem Rücken und schrie die ganze Zeit dabei. Wie ein Pinscher. Und Bubi machte null Anstalten aufzustehen und abzuhauen. Er lag einfach nur da und schrie, während sich Silas bereits kampfesfreudig umdrehte und Bubi erneut ins Visier nahm. Also rannte ich schreiend auf den Aggro-Esel zu, der zeitgleich wieder zum nächsten Angriff losgaloppierte. Ich habe einmal von Eseln gelesen, dass sie Menschen töten können, wenn sie so richtig austicken – und Silas tickte so richtig aus. Ich schrie den Esel wie eine Geistesgestörte an, er hielt auch für einen kurzen Moment an. Diesen Moment nutzte ich, um nach Bubi zu brüllen: »Buuubiii! HIIEER!« Aber Bubi blieb auf dem Rücken liegen und stellte sich tot. Wenigstens schrie er nicht mehr. Und schon galoppierte Silas wieder los. Mein einziger Gedanke: Oh Gott, er trampelt ihn tot! Bubi muss raus aus der Koppel! Ich rannte zu ihm und er lag noch immer regungslos da. Aber Silas war nur noch ein paar Meter von uns entfernt. Also packte ich mir Bubis Vorderläufe und zerrte die Dogge mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft in Richtung des Koppelzauns. Und ich war verdammt schnell! Ja, Angst verleiht ungeahnte Kräfte. Und hätte ich das nicht geschafft, wäre Bubi heute tot.

Aber ich habe es tatsächlich geschafft, ihn zu retten. Den wohl blödesten und feigsten 70-Kilo-Hund auf diesem Planeten. Gott, war ich sauer auf den Köter! Aber nur eine Minute lang. Als das Adrenalin einen Moment später wieder aus meinem Körper wich, fing ich haltlos an zu lachen. Geheult habe ich vor Lachen. Wenn ich mich gerade wieder einbekommen hatte, ließ mich ein Blick auf das vor Schock noch zitternde und wimmernde Doggenbündel mit tellergroß aufgerissenen Augen wieder zusammenbrechen.

Ja, Bubi wird Silas nie wieder belästigen. Und jetzt stehe ich hier und verabschiede mich von einem wundervollen Alltag mit Hundlingen und Huflingen. Außer an den Wochenenden werde ich mich nur noch ganz frühmorgens oder spätabends und nur kurz mit ihnen beschäftigen können. Bevor ich ganz wegziehe.

Wieder wird mein Herz schwer. Ob ich es wohl irgendwann schaffen werde, meine Arbeit da zu verrichten, wo meine Tiere und mein Zuhause sind? Ich weiß es nicht. Aber ich arbeite dran, mehr kann ich nicht tun. Und in den neun Monaten Gründungszuschuss habe ich immerhin die erste Fassung meines ersten Drehbuches fertiggestellt und mit einem kleinen Beziehungsratgeber angefangen. Ich habe verdammt viel und vor allem verdammt gerne geschrieben.

Mit dem Drehbuch habe ich bereits das Interesse eines Münchner Produzenten gewinnen können. Nachdem dieser das Treatment recht gut fand, bat er um eine erste Drehbuchfassung. Und die hat er nun. Ich habe sie vor ein paar Tagen abgegeben und harre jetzt der Dinge, die da kommen werden. Erfahrungsgemäß wird das nur leider wieder ewig dauern, aber was soll's, ich schreibe einfach weiter. Wann immer es mir möglich ist. Weil … ab morgen werde ich erst einmal nur fürs Reden bezahlt. Und: Ab morgen muss ich mich wieder in Schale werfen, aufbrezeln, wie man in München sagt. Cooles Businessoutfit, gestylt, alles was dazugehört. Und ab morgen muss ich mir auch wieder meine Businessgirl-Maske aufschminken, weil mein privates Gesicht niemanden was angeht. Auf der anderen Seite bin ich in dieser Verkleidung dann auch sofort im Betriebsmodus. In diesem nehme ich mir meine Rolle als Anzeigenverkäuferin sofort ab. So, wie ich mir auch immer die Rolle der Verlagskauffrau und der Assistentin abgenommen habe. Aber eine Rolle ist eben nur eine Rolle. Und ich wollte nie Schauspielerin werden.

Trotzdem wieder nur ein Bürojob!

Meine erste Arbeitswoche in dem netten kleinen Zeitungsverlag war ganz okay – abgesehen von der elenden Fahrerei, die mich schon nach ein paar Tagen im wahrsten Sinne des Wortes zur Raserei bringt. Ja, ich gebe Vollgas und bin immer etwas über der erlaubten Geschwindigkeit. Und das etwas müsste ich eigentlich streichen. Aber ich bin nur deswegen Raserin, damit ich nicht länger als nötig auf Bayerns Straßen verbringen muss und so schnell wie möglich am Abend wieder daheim sein kann. Schlechte Entschuldigung, ich weiß, und ein schlechtes Vorbild; ich schäme mich ja auch schon.

Aber abgesehen von der Fahrerei stört mich nicht allzu viel – nur der komplette Job; weil er auch nur ein Bürojob ist. Und weil die paar Außendiensttage auch nichts daran ändern, was ich mir aber erhofft hatte. Vor allem aber, weil ich festgestellt habe, dass ich die totale Verkaufsniete bin. Wahrscheinlich deswegen, weil ich mich in der Rolle der Verkäuferin nicht sonderlich wohlfühle und entsprechend wenig überzeugend bin. Meine Frustrationstoleranzgrenze ist sehr viel niedriger als gedacht.

Anfangs habe ich noch versucht mich zu motivieren: Du musst dich ja auch erst einarbeiten! – Du wirst noch lernen, die Absagen nicht persönlich zu nehmen! – Du musst erst einmal richtig Kontakt zu den Kunden aufbauen! Und so weiter. Mein Bauch aber brüllte von Anfang an: Nein! Ich will nicht verkaufen! Ich kann das nicht und will das nicht können! Und die Absagen nehme ich verdammt persönlich, weil sie verdammt noch mal persönlich sind! So. Und das ist der Stand der Job-Dinge nach nur einer Woche.

Ich weiß, dass aus mir in diesem Leben keine gute Mediaberaterin mehr wird. Aber ich brauche eben die Kohle und habe gerade ohnehin keine andere Wahl. Also mache ich das Beste daraus und bemühe mich wirklich.

Anfangs gelingt es mir sogar recht gut. Ich ziehe ein paar Anzeigenkunden an Land, die das ganze Jahr durchbuchen. Zugegeben, der Herr Anzeigenleiter hatte mich genau auf diese Neukunden angesetzt, weil da Buchungspotenzial war. Und genauso war es dann auch: diese Kunden buchten. Man kann hier also nicht wirklich von verkäuferischem Talent meinerseits sprechen.

Überhaupt nehme ich den Außendienst anfangs ausschließlich zusammen mit meinem sexy Chef wahr. Natürlich nur deswegen, um von ihm in die Geheimnisse des Außendienstes eingeweiht zu werden. Und ich bin zu tiefst beeindruckt von seiner Arbeit. Er tritt so selbstbewusst, sympathisch und humorvoll auf, dass mir ganz anders wird – schlecht wird mir. Vor Angst. Weil ich schon jetzt weiß, dass ich das nicht kann. Außerdem macht mich Herr Maternes Anwesenheit noch nervöser, als ich es ohnehin schon bin. Doppelt aufgeregt ist aber doppelt scheiße, wenn man Abschlüsse machen will.

Jeden Tag aufs Neue versuche ich, die Absagen nicht persönlich zu nehmen, nur: Es gelingt mir einfach nicht. Und es ist doch auch persönlich zu nehmen, wenn der Gesprächspartner kommentarlos auflegt. Oder noch schlimmer: wenn er vorher durch den Hörer brüllt: »Rufen Sie mich nie wieder an, hören Sie? Nie wieder! Ich werde niemals bei Ihrer Scheißzeitung buchen, verstanden?« Nein. Ich werde nie verstehen, warum man so ausflippen muss. Würde jeder Mensch so mit seinem Gegenüber umgehen, dann hätten wir die Hölle auf Erden. Nun gut, die haben wir ja eigentlich auch. Trotzdem! Für mich gibt es keine Rechtfertigung für so ein Verhalten, maximal eine Entschuldigung. Nur wird diese in den seltensten Fällen kommen. Mir fällt es dabei schwer, zu verstehen, warum solche Menschen ihr Leben damit noch beschissener machen müssen, als es wahrscheinlich ohnehin schon ist. So wird der Brüllaffe von eben, nach unserem Telefonat ziemlich sicher noch wütender gewesen sein als davor. Selber schuld, denn es geht auch anders – wie bei folgendem Dialog einer telefonischen Absage:

»Grüß Sie, Herr Maier, Stefanie Sommer hier, Rosenheimer Zeitung! Schön, dass ich Sie erreicht habe!«

Man kann hören, dass Herr Maier grinst: »Na, find i ned. Wissens, eigentlich versteck i mi vor Anzeigenverkäufern!«

»Warum?«

»Weil die mir aufn Sack gehn. Und weil i eh nix kaufn werd. A ned von Eana. Auch wenns nett san. Glab i. Und guad machens des a! Glab i.«

»Danke! Aber das bringt mich auch nicht weiter, oder?«

»Na. Gwiss ned! Aber i wünsch eana a guade Zeit und vui Erfolg! Und geh mi jetzt wieda weiter versteckn.«

Nach dem Auflegen habe ich mich trotz Abfuhr richtig gut gefühlt. Und das genau meine ich. Der Typ hat seine Menschlichkeit und dadurch seine Freundlichkeit behalten. Und ein Herr Maier hat offensichtlich sehr viel mehr Spaß am Leben als ein Mister Ruf-mich-nie-wieder-an-du-Anzeigenschlampe. Auch ich. Obwohl dieser Job für mich ein schrecklicher Job ist, mache ich ihn so gut und so freundlich wie möglich. Und damit mache ich es mir selber etwas einfacher. Auch, wenn ich jeden Tag darüber nachdenke, ob ich es jemals schaffen werde, nicht mehr auf Jobs wie diesen angewiesen zu sein.

Eine heiße Affäre, die zum Dauerbrenner wird

Anfang November 2008

Ich bin mit meinem Chef wieder mal im Außendienst unterwegs, diesmal im Wasserburger Raum, für den ich ab sofort zuständig sein soll. Wie immer fahre ich in Herrn Maternes Nobelkarre mit. Und wie immer ist mir die ganze Fahrt über speiübel. Ich bin ein ganz miserabler Beifahrer. Ich fahre nur dann gerne, wenn ich selber fahre. Aber ich lasse mir nichts anmerken, ich will nicht würgend unsexy neben meinem heißen Chef sitzen, mit dem ich seit ein paar Tagen ganz offensichtlich flirte. Halt, nein! ER hat angefangen. Es ist nichts Ernstes, nur ein netter Zeitvertreib. Unsere Kollegen bekommen nichts mit, sollen sie auch nicht. Auf der anderen Seite sind wir beide Single, tatsächlich verwerflich ist die Flirterei also auch nicht.

Heute haben wir drei Termine in dem bereits hinreißend weihnachtlichen Wasserburg. Und es schneit. Vielmehr ist es ein heftiger Schneesturm, der unseren Außendiensttag schon nach kurzer Zeit verdammt ungemütlich werden lässt.

Nach dem ersten Termin fliehen wir vor dem Schneegestöber ins Parkhaus und ins Auto. Verglichen mit draußen ist es dort richtig gemütlich. Herr Materne schlägt vor, hier bis zum nächsten Termin zu warten. Und warten ist ja irgendwie langweilig, man muss sich da ja schon irgendwie beschäftigen. Kalt war es auch! Aber dann wurde es ziemlich heiß und am Ende des Außendiensttages wurde aus einem Flirt eine Affäre.

Mehr als das soll es aber nicht werden! Herr Materne ist als erfolgreicher Medienmensch mit schickem Anzug und dickem Audi eigentlich so gar nicht mein Typ Mann. Ich will eher so was wie einen Cowboy. Einen bayerischen Cowboy. Ja, ich stehe auf Holzfällerhemden, Dreitagebart und alte Jeans.

Am folgenden Tag verabreden wir uns für den Abend. Herr Materne steckt mir im Büro unauffällig seine Adresse zu; sehr heiß, der Typ. Für den Rest des Arbeitstages verdränge ich meine Aufregung vor dem Date und konzentriere mich auf den Job.

Gegen sieben, es ist schon stockdunkel, setze ich mich ins Auto, gebe seine Adresse ins Navi ein und fahre los. Raus aus dem Zentrum Rosenheims auf dunkle Landstraßen, die mich in den kleinen Ort Altenbeuern führen. Herr Materne meinte, ich solle beim Dorfwirt parken, sein Haus würde genau gegenüber auf der anderen Straßenseite liegen.