Austreibungen - Markus Mittmansgruber - E-Book

Austreibungen E-Book

Markus Mittmansgruber

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Beschreibung

Um einer soliden Obsession professionell nachgehen zu können, braucht man idealerweise jemanden, der einem dabei hilft: Durch Zufall kreuzen sich die Wege von Pharmavertreter Thomas Nebig und Museumsaufseher Andreas Geierhos. Die beiden freunden sich an, und es sieht so aus, als würde ihnen zu zweit die Verwirklichung ihrer geheimen, obsessiven Wünsche gelingen. Bis dunkles Misstrauen zwischen ihnen aufkeimt und alles aus dem Ruder laufen lässt. Zur gleichen Zeit schlägt sich Paul Nebig, Kunst-Journalist, mit seiner tiefen Verachtung des Bruders Thomas und dem Schreiben eines provokativen Magazinartikels herum. Ein schmerzhaftes Ereignis im Kino verhindert, dass er den Artikel beenden kann. Ein neuer Auftrag führt ihn mit seiner Frau Cornelia nach Italien – auf eine Reise, von der das Paar nur unvollständig zurückkehrt. Was wiederum die Eltern der Nebig-Brüder auf den Plan ruft: Man will Klarheit. Mit großer Fabulier- und Sprachlust hat Markus Mittmans­gruber mit seinem zweiten Roman Austreibungen eine beeindruckende Erzählung über die boshaften Grauzonen des Lebens, über fixe Ideen, Irritationen und Triebe erschaffen. Und über die Menschen, die diese sehnsüchtig und bis zum bitteren Ende aneinander austragen.

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Um einer soliden Obsession professionell nachgehen zu können, braucht man idealerweise jemanden, der einem dabei hilft: Durch Zufall kreuzen sich die Wege von Pharmavertreter Thomas Nebig und Museumsaufseher Andreas Geierhos. Die beiden freunden sich an, und es sieht so aus, als würde ihnen zu zweit die Verwirklichung ihrer geheimen, obsessiven Wünsche gelingen. Bis dunkles Misstrauen zwischen ihnen aufkeimt und alles aus dem Ruder laufen lässt. Zur gleichen Zeit schlägt sich Paul Nebig, Kunst-Journalist, mit seiner tiefen Verachtung des Bruders Thomas und dem Schreiben eines provokativen Magazinartikels herum. Ein schmerzhaftes Ereignis im Kino verhindert, dass er den Artikel beenden kann. Ein neuer Auftrag führt ihn mit seiner Frau Cornelia nach Italien – auf eine Reise, von der das Paar nur unvollständig zurückkehrt. Was wiederum die Eltern der Nebig-Brüder auf den Plan ruft: Man will Klarheit.

Mit großer Fabulier- und Sprachlust hat Markus Mittmansgruber mit seinem zweiten Roman Austreibungen eine beeindruckende Erzählung über die boshaften Grauzonen des Lebens, über fixe Ideen, Irritationen und Triebe erschaffen. Und über die Menschen, die diese sehnsüchtig und bis zum bitteren Ende aneinander austragen.

Markus Mittmansgruber, geboren 1981 in Linz. Veröffentlichungen in diversen Literaturzeitschriften. Sein erster Roman mit dem Titel Verwüstung der Zellen erschien 2016 im Luftschacht Verlag. Austreibungen ist sein zweiter Roman.

Markus Mittmansgruber

Austreibungen

Roman

© Luftschacht Verlag – Wien

luftschacht.com

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Umschlaggestaltung: Bruch—Idee&Form – studiobruch.com

Lektorat: Luftschacht

Satz: Luftschacht

gesetzt aus der Metric und der Noe

Druck und Herstellung: PRINT GROUP Sp. z o.o.

Papier: Munken Print cream v1.5 90 g/m2, Surbalin glatt 115 g/m2

Gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien, Literatur

ISBN: 978-3-903081-26-0

ISBN E-Book: 978-3-903081-67-3

Für Veronika

Inhalt

Von Drüsen und Träumen

Sue Tilley döst auf ihrem Sofa, hört Brüdergespräche und andere Gespräche und nimmt nicht am Abendessen ohne Essen teil

Die Suche nach dem Diorama

Opferschalenwasser, Gips und explodierende Glasflaschen

Einsturz einer Augenhöhle und Krankenhauskaffee

Thomas Nebig und Andreas Geierhos werden Freunde, Markus Krittner wird Schriftsteller

Besuche im Haus am Stadtrand, in der Stadt-WG, in Entenhausen

Die Eltern

Ein Mord am Rande, ein Protokoll von Gabriela Lang für die Akten, Friedrich Lang im Springbrunnen, Merlin und Cheburashka im Kinderzimmer

Garagenspiele, fachmännisch und kunstgerecht

Die Fahrt nach Italien, der Bau des „Fühlungsfügers“, die simulierende Schäferhündin, Pacman und das Jahr der Horrorhändetrockner

Über den Ritt des betrunkenen Kondors auf einem Stier, über die gefährliche Verwirklichung eines Anliegens, darüber, wie Barbara Nebig vor Jahren das Happy-Picture-Fotolabor erlebt hat, und was es mit dem niedlichen Wombat auf sich hat

In der Zukunft schreibt Cornelia Nebig eine Bewertung, während in der Vergangenheit ihr Mann in Scherzoville einen Mann interviewt, während in der gleichen Vergangenheit Julia Wandelackowitz bei Andreas Geierhos auf einen Sprung vorbeischaut

Lala und die drei Erinnerungen – Thomas und die eine Sporttasche

Das gute Gesetz von Jante und das schlechte Diorama von Andreas

Raketenwürmer leben unter der Erde, aber Hunde können selten fliegen

Cast: Besetzung, Ensemble, Guss, Abdruck, Gips, Schmelze, Typumwandlungcast: werfen, arbeiten, betonieren, austreiben, suchen, verstoßen, vertreiben, wegwerfen

Eventuell brauchbare Abspann-Indizien

Ich habe viel Glück gehabt in all diesen Jahren,

das Glück hat mich verwöhnt, unruhig war ich gewesen,

aber Unruhe innerhalb des Glücks führt zu nichts.

Franz Kafka

Ist das nicht der Wunsch eines jeden Paranoiden?

Methoden der Unbeweglichkeit zu perfektionieren?

Thomas Pynchon

Everything is everyone’s fault.

Untertitel aus dem Film „Левиафан“

You always have to make your own fun.

Gogol Bordello

Genießen ist Leiden.

Jacques Lacan

[…] (denn es zerfleischt sich bekanntlich niemand so ausführlichwie Menschen, deren Ideen sich ähnlich sind).

Christian Kracht

Es hat angefangen als Dummheit,

aber endet als Bosheit.

Hospital der Geister

Viele wollen sich für etwas rächen,

was ihnen nie jemand getan hat.

Elfriede Jelinek

Doch in Wahrheit wissen wir nichts von den Gefühlen des Herings.

Winfried Georg Sebald

Bei Sätzen kann das Unverständnis drin herumkriechen.

Franz Kafka

Ich bin kein Zitat. Oder doch? Oder bin ich ein Knoten irgendwo?

N.N. (wahrscheinlich Ausspruch eines eitlen, aber relativ unbekannten oder beinahe vergessenen Autors)

Von Drüsen und Träumen

Das soll mal ein normaler Mensch kapieren, diese Sachen. Er saß an seinem Schreibtisch vor den Unterlagen zur Verlängerung der Unfallversicherung, als Johanna von der Arbeit nach Hause kam. Thomas hörte sie leise vor sich hin schluchzen. Er stand auf und ging in den Flur. Seine Frau lehnte beim Schuhregal, noch in den lackschwarzen Stiefeln und im Mantel. Er fragte, was passiert sei, bekam aber keine Antwort. Und als er seine Arme ausstreckte, um ihr aus dem Mantel zu helfen, schüttelte sie sich nur, als wollte sie radioaktive Tröpfchen aus ihrem Fell loswerden, ihre Schultern zuckten, und er ließ seine Hände sinken. Dann lehnte er sich gegen den Türrahmen und schaute ihr zu, wie sie sich aus den Kleidern schälte. Ihre Lippen zitterten ein bisschen wie Laub, und auf ihren Wangen lag eine Patina, die ihr Profil im Vorzimmerspiegel wie die rechte Seite einer Kippbildvase leuchten ließ, umgeben von einer kalt-weichen Mondhoflasur. Seltsame Korona. Sie schaute Thomas nicht an, und es kam auch kein Geräusch mehr aus ihrem Mund.

„Ich leg mich in die Wanne“, sagte sie und ging, nur in Unterwäsche, ins Badezimmer. Er hörte das Wasser mit zwei, drei Unterbrechungen im Rauschen, wahrscheinlich kontrollierte sie mit einem Finger die Temperatur. Ihre Kleider ragten wie geschmolzene Stahlröhren aus dem Parkettboden des Vorzimmers, als hätte sie die Sachen tief in die Holzdielen gerammt. Er ließ alles in Ruhe liegen, stieg darüber hinweg und näherte sich der Badezimmertür, die einen Spalt breit offenstand. Johanna war gerade dabei, in die Wanne zu steigen, als sie ihn bemerkte.

„Was willst du“, fragte sie über die nackte Schulter.

„Nichts.“ Er zog die Tür weiter auf. „Gar nichts. Nur … geht es dir gut? Alles klar?“

„Warum sollte nicht alles klar sein.“

Ihre Stimme hatte einen blechernen Klang. Vielleicht war es auch nur wegen der gnadenlos gefliesten Wände.

„Ich weiß nicht, nur … du bist …“

Sie hockte sich in die Wanne, dann breitete sie sich aus, wobei sie, auch bei durchgestreckten Beinen und mit Anstrengung, das eine Ende der Wanne nur knapp hätte berühren können. Das Wasser, auf dem sich eine dünne Schaumschicht gebildet hatte, stand nur knöchelhoch, es bedeckte nichts. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig. Sie hatte zugenommen, ihre Beine drückten sich aufdringlich gegen die porzellanweißen Seitenwände, während ihre Fotze fremdelte und sich zugeknöpft und stumm zwischen ihren Schenkeln versteckte. Er schloss die Tür und ging wieder Richtung Schreibtisch. Auf halbem Weg hörte er einen dumpfen Schlag, der ihn stehen bleiben ließ. Er horchte, kein Ton, kein Folgegeräusch. Wird schon rufen, wenn etwas ist. Sie braucht Ruhe. Hektik, Besprechungen, Herbstmüdigkeit usw. Hinterlässt Spuren, klar. Und sie findet eine Möglichkeit, wenn sie wirklich auf sich aufmerksam machen will. In der schlimmsten Lage findet sie eine Möglichkeit. Dann widmete er sich wieder den Versicherungspapieren. Nein, das kapiert wirklich kein normaler Mensch.

Eine Wolkenbank zog über die Sonne, der Garten schaute grimmig, es kam graues Licht durch das Fenster beim Schreibtisch, obwohl die richtige Dämmerung noch nicht eingesetzt hatte. Das Licht lag vor Thomas auf dem Parkettboden, ein Sprungbrett, das von einem heizkörpergroßen Skelett angesägt worden war.

Ihr müssen schon Schwimmhäute gewachsen sein. Er schloss die Dokumentenmappe, stand auf, dehnte die Arme nach oben und hinter dem Kopf und ging wieder zum Badezimmer. Er drückte die Klinke langsam nach unten und öffnete die Tür. Drinnen lag Johanna, fast genauso wie noch vor einer knappen Stunde, nur berührte das Wasser jetzt auch ihre Brustwarzen und flutete ihren Bauchnabel.

Und noch etwas anderes war nun anders, etwas, das Thomas nicht sofort zuordnen konnte. Eine Unstimmigkeit hatte sich ihren nackten Badewannenkörper einverleibt, eine Art Deformation oder offensichtliche Lüge, die ihre Gestalt irgendwie entstellte. Jahrmarktzerrspiegel. Auf mikroskopischer Ebene war eine lautlose Infektion geschehen, während seiner Abwesenheit, ein kleiner, unsichtbarer Stich eines bösen Insekts irgendwo durch die Haut seiner Frau, ein Stich mit Gift, das sich mittlerweile auf ihren gesamten Organismus ausgebreitet hatte und diesen nun unter dem schwachen, gelblichen Glühbirnenschein in einem chaotischen Zusammenhang zeigte. Unproportional, missgebildet, falsch. Johanna hatte ihn noch nicht bemerkt. Er musterte sie, sein Blick zeichnete die Körperkonturen nach, sofern sie über dem Wasserstand lagen, und dachte sich jene Linien, die sich unter der Wasseroberfläche befanden und daher nicht gut einsehbar waren, dazu. Da öffnete sie die Augen und hob ihre linke, tropfende, alt gewordene Hand, als wollte sie winken oder etwas verscheuchen, und das Wasser staubte grob über den Rand der Badewanne durch den Raum und auf die Wandfliesen, und er sah ihr Handgelenk, das dicker war als sonst, das einen größeren Umfang hatte als sonst, Anomalie, amphibische Drüsenhand, das Ding flatterte vor ihm herum, es ähnelte einem OP-Handschuh, mit brombeerdunklem Sirup ausgegossen, ansteckend, aufgebläht und gefährlich, als leiste es gegen etwas Widerstand, und er runzelte die Stirn und deutete ihr, sie solle hinsehen, und sie sah hin, mit müden Augen.

„Schon gut“, sagte sie, „ist mir heute passiert, beim Stufensteigen im Büro. Hab den Sturz gerade noch abfedern können, sonst wär ich mit dem Gesicht voll auf die Kante geknallt.“

Aber warum hatte diese lokale Schwellung solche Auswirkungen auf ihre gesamte Erscheinung?

„Tut es weh?“

„Ja, schon, es zieht und pocht gewaltig.“

„Vielleicht solltest du zum …“

Er schluckte, der Speichel fühlte sich hart an.

„Aber es geht. Halb so wild. “

„Nur zur Kontrolle, meine ich. Bevor noch …“

„Es geht, ist nur verstaucht. Wird schon wieder.“

Ein Blick auf die Zehen, die wie eierschalenfarbene Schlingpflanzen im Wasser schaukelten. Er schwieg und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann sagte er so ruhig wie möglich, dass er morgen früh raus müsse, denn morgen sei der längste Tag in seiner Woche und somit der anstrengendste, er habe sich außerdem noch kaum vorbereitet, auf die vier Termine morgen, das könne er heute unmöglich schaffen, und auch die in der letzten Woche eingetroffenen Berichte mit den wichtigsten Nebenwirkungen vom eben erst zugelassenen Garmonboziahexal forte (gebräuchliche Kurzformen: GBH-f, Garmon; laut Lifestylemagazinen bei nihilistischen Wohlstandsverwahrlosten beliebt, vorwiegend erhältlich auf urbanen Schwarzmärkten, grenznahen tschechischen Flohmärkten und in der Großraumclubszene, Slang-Ausdruck: Gary) müsse er noch aufarbeiten und in eine anständige Form bringen. Das einzig Positive am morgigen Tag: Die Ziele, ausschließlich Privatpraxen, seien halbwegs gut erreichbar, er werde sie daher in wenigen Stunden mit dem Auto abklappern können.

Johanna nickte, richtete sich auf und nahm ihr Duschgel, das in der rechten hinteren Badewannenecke Bereitschaft schob. Dort, wo das Fläschchen eben noch gestanden hatte, blieb ein Abdruck vom Plastikboden zurück, getrockneter Belag, schuppig, rau und zornig. Aus der Öffnung des Fläschchens spritzte zähe, perlmuttig schimmernde Flüssigkeit, die sie mit ihrer hohlen Hand auffing und dann großzügig auf ihren Oberarmen und ihrem Schlüsselbein verteilte, bei gerecktem Hals, man konnte ein paar Sehnen sehen. Sie nahm dazu die rechte Hand, die linke ließ sie vorsichtig zurück unter die Wasseroberfläche sinken. Im Badezimmer begann es nach künstlichem Honig zu riechen.

„Ich bin morgen bestimmt bis um acht im Büro, mindestens“, sagte sie.

„Ich weiß nicht, ob das so gut ist, ich meine, die Hand, das heiße Wasser …“

„Drei Besprechungen. Zwei am Vormittag, eine am späten Nachmittag.“

„Warme Temperaturen sind bei Schwellungen kontraproduktiv, du solltest lieber so Cool-Packs …“

„… und dann feiert Peter seinen Abschied am Abend, er wechselt kommende Woche nach Holland, in die Zentrale, das hat er mir erst heute …“

„… im Eisfach, ich könnte sie dir holen, wenn du …“

„… von den Besprechungen hab ich dir letztes Wochenende erzählt, du erinnerst dich …, apropos Wochenende, was ist für das kommende geplant, ich bin nämlich …“

Er machte einen Schritt zurück in die Dunkelheit des Flurs, in seinem rechten Augenwinkel schlief die Küche einen traumlosen Schlaf. Plötzlich fuhr der Raum hoch, als hätte jemand der Einbauzeile einen tiefen Nierenstich verpasst: Durch das geschlossene Küchenfenster kam ein spitzes Klirren, eine Art Hexenschuss durch Glas, gefolgt von etwas, das sich wie ein Schrei anhörte, eine Frau schrie jemandem etwas zu. Sie rief nicht, sie schrie. Der Jemand schrie aber nicht zurück. Dann so etwas wie ein Stöhnen. Aufquietschendes Fahrrad? Waldspaziergänger? Hermann und Erika? Marina oder die alte Greiff konnten es nicht sein, von dort oben hörte man nie etwas, viel zu weit weg. Nur Abendfantasie vielleicht, bestimmt.

Johanna sah nicht so aus, als hätte sie etwas gehört. Aber sie spürte zumindest, dass er noch dort stand, und das war ihm auch schon einiges wert. Jaja, dein plätscherndes Hin- und Herruckeln und nervöses Herumdrucksen. Die Dunkelheit drängte sich an seinen Rücken, wo das schweißnasse Hemd klebte, sie stemmte sich dagegen, vom Genick bis zu den Fersen. Thomas gab dieser Bedrängnis nach und er gab sie weiter: Johanna hatte ihn im Hinterkopf, seine Augen brachten ihre Haarwurzeln zum Kochen, verkrallten sich in den Strähnen, zerrten an ihnen, er war ihr eindeutig unangenehm, wie sie so dalag, was er als einen gewissen Erfolg verbuchte, denn es tat ihm gut zu wissen, dass er die Ursache dafür war, er allein, alles nur seinetwegen. Dann sagte er Okay und dass er sich schon mal in die Falle lege. Er sagte extra „Falle“, nur um zu sehen, ob sie auf diese altmodische Floskel irgendwie anspringen würde.

Er schloss die Tür hinter sich und ging langsam durch das dunkle Haus. Er stieß nirgendwo dagegen. Beim Küchenfenster blieb er kurz stehen und lauschte angestrengt, aber es gab keine Wiederholung, keine Fortsetzung. Und er dachte, dass er ohnehin nichts getan hätte, und dass ihm mit der Einmaligkeit des Schreis zum Glück ein schlechtes Gewissen erspart geblieben sei.

Er hörte Johanna nicht mehr zu sich ins Bett steigen.

Schwertfischköpfe, die sich am Straßenrand stapeln, silbern und vergoren, ihr Gestank und ihre Schnauzen und polierten Schuppen stechen ihm Tränen in die Augen, ihre Augen schauen noch, sie haben das Schauen nicht verlernt, ihre schwarzen Dotter laufen aus und ihm hinterher, und dann zappeln die Köpfe, verwundert darüber, ohne Fleisch und Gräten und Knorpel zu sein. Konturen eines Kinderspielplatzes, der bei Ebbe wie ein Walskelett aus dem Sand ragt, ganz sonnengebleicht. Ein Sessellift kommt und er setzt sich, der Lift hebt ihn hoch in die Luft, er schaut nach unten, da ist kein Riegel, er muss sich Halt suchen, um nicht zu fallen. Die schwebenden Sessel sind glatt und rutschig. Die Köpfe der Schwertfische sind im Tal geblieben, irgendwo im hohen Gras, oder sie haben sich auf das Moos in den Wäldern zurückgezogen und schlafen. Der Sessellift bewegt ihn weiter, und er lässt sich bewegen, weiter nach oben, immer weiter, bis es ihm zu viel wird und die Luft zu dünn und der Atem zu kurz, dann wartet er und sucht und sucht nach einer geeigneten Stelle, an der er abspringen kann, eine Stelle, wo der Lift knapp über den Boden dahinzieht, dort hält der Lift auch und er hält sich die Nase zu und den Atem an und springt ab und landet mit beiden Beinen wie ein olympischer Bodenturner auf einem weichen Teppich, violett, mit hohen, dichten Fransen, und vor und unter ihm tauchen gefärbte Stoppeln von Schilfrohren auf, orange und blau, seltsame Dreiecke im violetten Teppichfeld, Schnittmarken, und er schreitet darüber hinweg, wie über kurz geschorene, niedergemähte Grasbüschel, weiter vorne sind manche nicht geschnitten, die struppigen Halme stehen sehr gerade und spitz in die Höhe wie Nadeln und sehen aus wie die struppigen und spitzen Haare von Trollen, die man zu hunderten in die Erde gesteckt und eingegraben hatte, Trollrüben, noch in der Erde herumstrampelnd, und …

Der Morgen war trüb und heiser. Im Wald hinter dem Haus rosteten die Kiemen der Baumrinden nach dem Herbstregen, und über den Bettdecken zerflüsterten sich die aus Schlaf und Halbschlaf geronnenen Bilder wie miteinander konkurrierende Souffleusen.

Thomas Nebig rollte sich aus dem Bett, ein flanelliger Medizinball, die schlafende Johanna ließ er links liegen, diese blonde, leerstehende Mehrzweckhalle, eingewickelt in Decke und Dunkelheit. Er duschte, putzte sich mit der Schallzahnbürste die Zähne (für blutige Zahnseide würde am Abend noch genug Zeit bleiben), schmierte besänftigenden Schaum auf Wangen und Kinn, rasierte sich, legte sich die harten Kontaktlinsen in die Augen und blinzelte mehrmals, sah sich nicht richtig im Spiegel, nicht ganz, strich sich die Augenbrauen zurecht, streifte eine grinsende Wimper von der Wange, alles bloß mit dem Handtuch um die Hüften, dann zog er sich an, Hemd, Anzug, Krawatte vom Kleiderbügel, der seinen Hakenfinger um die Handtuchhalterstange über der Waschmaschine gebogen hatte, ein angeschnittener Löwenzahnstengel aus dem Garten in einer Schüssel mit Wasser, im Frühling oder Frühsommer. Redete er sich ein. Die brav abgewehrte Wahrheit war aber, dass ihn der gebogene, silbrig glänzende Finger des Kleiderbügels eher an einen klebrigen Fleischerhaken erinnerte.

Am Schreibtisch seines Arbeitszimmers likte er zum Frühstück auf dem iPad ein paar Kommentare bei diversen Facebook-Gruppierungen und blätterte sich dann bei halbleerer Kaffeetasse und mit fahler Morgenkonzentration durch die feinsäuberlichen Präsentationsunterlagen auf FSC-Papier, um danach als vorbereitet zu gelten, bei den Ärztinnen und Ärzten, seinen Kundinnen und Kunden, denn gute Vorbereitung ist alles, ohne Vorbereitung braucht man gar nicht erst anfangen, das war quasi der inoffizielle Leitsatz beim Fernstudium gewesen, und dieser Satz war, soweit er sich erinnern konnte, auch wortwörtlich in einem seiner Skripten gestanden, in nächster Nachbarschaft zu einem zweiten Satz, den er nicht mehr auswendig wusste, der aber so ähnlich wie ein Werbespruch geklungen hatte, ein netter Eselsbrückenreim, der ungefähr so ähnlich klang wie „Flexibel, mobil / es beginnt alles im Kopf / so kommt man ans Ziel / pack die Chance jetzt beim Schopf“, wobei das Jetzt betont werden musste, und daran hielt er sich, sowohl an die powerful message des Reims als auch an die wichtige Hervorhebung des Jetzt, des Gegenwärtig-seins, er hielt sich daran, so gut es ging. Und wenn es einmal nicht möglich war, weil zum Beispiel ein Stau am Franz-Josefs-Kai seine Pünktlichkeit verhinderte und dadurch der Timetable eines ganzen Tages wie in einer Schrottpresse zu einem kindhohen Würfel komprimiert wurde, mit ihm hinter dem Lenkrad, aus dem kein Airbaggespenst fuhr und sich hilfsbereit aufplusterte, heizte sich jedes Mal sein Kopf unbarmherzig auf, und es dauerte nur eine knappe Minute, bis ihm das Hemd am Rücken und am Kunstledersitz festklebte, und er spürte, dass sich die Nässe auch auf den Saum seiner leicht ausgewaschenen CK-Boxershort auszuweiten begann und der Schweiß langsam und zielsicher nach unten floss, fast bis zu seinem Arschloch. Und in jenen Momenten wurde ihm oft auch bewusst, wie sehr er dieses Gefühl des Drucks und des Gewichts der Zeit eigentlich auch genoss. Wenn es ihn erfasst hatte und eingekeilt hielt, wenn es seinen sitzenden und schwitzenden Körper bis zu seinem Arschloch in festen Augenschein genommen hatte und nicht mehr ausließ, ihn nicht mehr hergab, um ihn dann, im zarten, fleischigen Schein der vorderen Bremslichter, sanft erstarren zu lassen.

An diesem Morgen lief alles glatt: Die Straßen spiegelten den Morgen zwar kieselsteingrob wider, sie waren aber aus irgendeinem Grund fast feiertagsfrei, die Kunden (alles Ärzte, keine Ärztin, was ihn leicht enttäuschte) waren höflich, sie ließen ihn nicht unnötig lange warten, wie einer auch sagte, was aber nicht ganz stimmte, denn ein Arzt ließ ihn dann doch unnötig lange warten, wobei Thomas dieses Warten im Stillen eigentlich nie als „unnötig“ empfand, ganz und gar nicht, vielmehr hatte dieser Aufschub fast etwas Andächtiges für ihn, er war wie so eine Art Entschlackung, eine Leerlaufphase, während der er einfach nur teilnahmslos dasitzen und in ein Nichts auf der Wartezimmerwand starren konnte. Ein Arzt, relativ jung, bot ihm auch Kaffee an (den er ausschlug), dann entkoffeinierten (den er ebenfalls ausschlug), ein anderer ein Glas mit mildem Mineralwasser (das er annahm), die übrigen unterbrachen ihn kaum, sie ließen ihn ausreden und taten interessiert, manchmal betrachteten sie ihn sogar mit einem leichten Anflug von seltsamer Faszination. Er war ihnen dankbar, dass sie ihm das Gefühl gaben, professionell zu agieren, obwohl er wusste, dass er es nicht war und obwohl sie dieses Wissen bestimmt mit ihm teilten. Er war kein besonders überzeugender, geschweige denn eloquenter Redner, kein „geborener Verkäufer“, in seiner ihm eigenen Geistesabwesenheit verlor er trotz der übersichtlichen, mit Überschriften erster, zweiter und dritter Ordnung gegliederten und präzise formulierten Unterlagen oft den Faden und fand dann nicht mehr zu den Worten zurück, die er eigentlich hatte sagen wollen. Dann lachte er meistens ein grunzendes, verlegenes Lachen mit geschlossenem Mund, wischte sich mit dem kleinen Finger die Augenwinkel aus, und sein Blick, den ein hochfrequentes Blinzeln befiel, als wehe ihm ein Ventilator Sand auf die Pupillen, durchwühlte die nähere Umgebung nach Anhaltspunkten, die ihn eventuell wieder zurück in das Gespräch führen konnten, während er unzusammenhängende Allgemeinheiten vor sich ausstreute, zwischen denen sich dann auch noch verschiedene Körpergesten unbeholfen hineinschoben wie in einen voll besetzten Aufzug. Gerne: ein Kratzen am Hinterkopf, mit dem Handrücken über die Stirn wischen, auf den Daumennagel beißen usw. Er wusste, dass es zu mehr nicht reichte, dass er zu mehr nicht fähig war, dass die meisten seiner Kunden letzten Endes aus Mitleid unterschrieben (besonders die Frauen). Aber das störte ihn nicht groß, eben weil er das wusste und sich regelmäßig und fast händereibend bewusst machte, dass ihm diese Tatsache bewusst war. Jeder, sagte er sich, hat so seine eigene, geheime, manipulative Hinterhandstrategie.

Alle wollen nachhause. Die Parkplatzreihen vor dem riesigen Merkur Markt hatten sich gelichtet, besonders die vierte und fünfte Reihe waren bereits ausgedünnt, sie bestanden inzwischen fast nur noch aus Löchern. Sein Peugeot ruhte sich in der fünften Reihe aus. Das Sakko hing hinten am Haltegriffhaken, zum Rückenfreihalten, er konnte es im Rückspiegel mit dem Paris-Saint-Germain-Wimpel sehen, das Sakko war sein Agent, sein dunkler Türsteher. Vorne, an den oberen Ecken der Windschutzscheibe, klebte der Nachtregen, instantbraun und diesig. Das bedächtig quietschende Nein-Nein-Nein-Nein-Nein der Scheibenwischer wird dort in die Ecken nie hinkommen, dachte Thomas, die armen, auf ewig scheiternden Scheibenwischer. Außer sie wachsen plötzlich, die zwei schwarzen, dürren Finger, machen sich irgendwie lang bis übers Dach, bis zur Schiebedachöffnung, zerren mich wie einen räudigen Teddy hinaus und benutzen mein Hemd samt Körper als Reinigungstuch. Diese eigenwillige Fantasie blüht im Kopf manchmal bunter als im blasierten Internet.

Neben dem Supermarkteingang versuchte eine junge, hübsche Frau in einer Army-Jacke, Studentin vielleicht, Soziologie? Ethnologie?, einen der ineinander verkeilten Einkaufswägen zu befreien. Ein Jungfamilientross ging an ihr vorbei, auf dem Weg zum Auto, das anscheinend irgendwo weiter rechts in erster Reihe abgestellt war, neben dem Behindertenparkplatz. Auf dem linken, angewinkelten Unterarm des Vaters saß die blonde Tochter, „blondes Engelchen“ oder „Goldlöckchen“ sagt man bestimmt zu ihr, mehrmals pro Tag, irgendwann wird sie das würgen, dann wird sie sich die Mähne büschelweise vom Schädel rupfen, inklusive Haarwurzeln und allem, und die Strähnen wird sie dann aufessen, vom rechten Vaterarm baumelte eine schwarze Einkaufstasche. Von der Mutter pendelten ebenfalls zwei vollgepackte Taschen, sie sah für einen Moment aus wie eine sehr gerechte Waage. Sie rief dem jüngeren Sohn irgendetwas hinterher, der, am steirischen Grillhendlstand vorbei, zum Fahrzeug rannte. Der Junge drehte sich im Lauf nicht um.

Auf dem Rücksitz hinter Thomas tauten die Fertiggerichte teigig in den drei silbernen Plastiktaschen. Dank der Selbstbedienungskassen, die mittlerweile sämtliche Kassiererinnen ersetzt hatten, war ihm beim Scannen und Bezahlen jede mühsame Kleinstkonversation erspart geblieben. Thomas war angeschnallt und hatte über seinen Schoß die alte, gelbliche, an den Ecken leicht eingerissene Wanderkarte aus dem Handschuhfach gebreitet, darunter hielt die Hand den steifen Schwanz. „OM“ nannte er es manchmal meditativ, was ausgeschrieben so viel wie „Offline-Masturbieren“ bedeutete und ihm ein Gefühl der Sicherheit und der Kontrolle gab: auch ohne Porncloud steif werden, anschwellen zu können. Für jemanden, bei dem die Porncloud täglich so tief über dem Kopf hing, dass er schon beim kleinsten Hopser quasi über beide Ohren darin versank, war das eine beachtliche Leistung. Oder er nannte es „mein O und A“: „Das O und A [frz.: Onanisme analogique] ist mein A und O“, so einer seiner Sprüche. Das fand er oft witzig, weil schön albern und pubertär, und dann grinste er ganz für sich alleine und ein bisschen debil darüber, so auch jetzt, das musste er selbst zugeben, als er sein seltsam ausgeschnittenes Gesicht im Rückspiegel sah. Der Grillhendlgeruch schien intensiver zu werden. Und Thomas versuchte, sich möglichst intensiv an das heutige Wartezimmer in Praxis 3 zu erinnern:

Hustende Menschen, vorwiegend „ältere Semester“, wie man so schön sagt, wahrscheinlich mit donaublauen Krampfadern und freundlich-fröhlichen Besenreiserformationen unter den karzinogenen kik-Billigjeansstoffen, weiße, haarlose Zahnstocher, mit ziselierten Venen ornamentiert, manche auch richtig dick, Venen, die in der blanken Sonne bestimmt kaltblau aufgeplatzt und so falsch miteinander verlötet wirken, dass einem die eigenen Beine weh zu tun beginnen, der kürzeste Blick würde genügen, eine Nanosekunde. Die älteren Semester unterhalten sich entweder leise oder abgehackt oder gar nicht, blättern in den dafür vorgesehenen Magazinen, die alte Frau mit den schulterlangen, schlohweißen Haaren, die schräg gegenüber sitzt, sieht aus, als sei sie den Tränen nahe, nicht Hustentränen und nicht wegen körperlicher Schmerzen, sondern wegen etwas anderem, weil ihr etwas Grundsätzlicheres fehlt, vielleicht ist ihr Kanarienvogel gestorben und sie vermisst die oft stundenlangen Unterhaltungen mit ihm, zärtliche, verschwörerische, brutale Gespräche, wer weiß, das wäre auch etwas Grundsätzliches, zutiefst erhaben, zutiefst traurig, zutiefst lächerlich, die Wanduhr über der Tür zum Untersuchungszimmer mit dem Big-Ben-Ziffernblatt ruft und quatscht und schnarrt, unter ihr hängt eine Kohlestiftzeichnung mit fünf als Ärzte gekleidete Krähen, die, miteinander diskutierend, um einen Operationstisch stehen, wo ein halb entkleideter Mensch liegt, ein kahlköpfiges Menschlein, Männlein, das um einiges kleiner ist als die fast titanisch wirkenden Ärzte-Krähen und sanft und geduldig und mild vor sich hin lächelt, bei geschlossenen Augen. Und da betritt der Fahrradbote mit Helm und neongelbem Red-Bull-Funktionsshirt gemächlich, nur leicht verschwitzt und gar nicht außer Atem, die Ordination. Er legt ein Paket vor die Ordinationsgehilfin auf das Pult, der Mythos Fahrradbote, die Existenz dieser so mystischen, mysteriösen und scheuen Geschöpfe: hiermit erneut bewiesen. Die Ordinationsgehilfin nimmt das Paket schnell an sich und legt es unter den Tisch wie ein furchtbares Geheimnis, dann unterschreibt sie schnell auf dem kleinen elektronischen Gerät. Die Wanduhr ruft und quatscht lauter, hört sich an, als könnte sie meine schwindende Aufmerksamkeit nicht mehr ertragen, sie will die allmählich lähmende Langeweile der Leerlaufphase übertönen, denn das Nichts an der Wand, in das ich starre, dieses Nichts neben dem Ärzte-Krähen-Bild ist jetzt gar nicht mehr so angenehm, aber da öffnet sich die Tür zu den Füßen ihres Minutenzeigers, endlich, und die Tür steht kurz planlos und überrascht offen, „Ja, nächste Woche dann wieder, genau, danke, Ihnen auch, Wiedersehen“, verabschiedet sich der Arzt, und eine Frau schiebt sich auf asphaltgrauen Krücken an Thomas vorbei, irgendeine Frau, einbeinig hüpfend. Ihr rechter Fuß: bis zum Knie hinauf still gestellt, eingemauert – er ist eingebettet in diese Schale, in diese harte Hülse, diese spröde, hermelinweiße, wunderschöne, unfassbar bezaubernde, schneeig leuchtende Materie …

Und Thomas zog die alte Wanderkarte beiseite, entblößte seine Eichel, so glatt und sonnenuntergangsviolett wie eine Eichel von einer der paar wenigen Eichen hinter seinem Haus, er stöhnte ein lautes „Oh, là lààà!!“ und sein Samen spritzte hervor und das klebrige Schneebrett verschüttete vierzehn Serpentinen des Wanderwegs 47 durch das Gebirgsmassiv in G5. Er hielt gleich Ausschau nach möglichen Beobachtern oder nach Vorbeigehenden, die möglicherweise trotz seines Aufpassersakkos hinter ihm zu Beobachtern werden konnten. Als er sich vor Zeugen sicher fühlte, zog er die Karte ganz beiseite und wischte sich am Feld mit Maßstab und Legende den Schaft trocken. Er schloss den Reißverschluss seiner Anzughose. Er lehnte sich nach hinten gegen die Kopfstütze und atmete mehrmals tief ein und aus. Grillhendl, aus den tiefsten Tiefen der Steiermark. Sein Magen stürzte sich knurrend auf dieses Wort. Dann klappte er die Karte zusammen, auf Anhieb korrekt, legte sie zurück ins Handschuhfach, drückte den Motorstartknopf, stellte das mit einem Unterdrucksaugnapf leicht schief an der Windschutzscheibe festgezeckte, extrem nervige, weil komplett veraltete und nicht mittelkonsolenmittig integrierte Navi gerade, ohne es einzuschalten, und fuhr eineinhalb Kilometer Richtung Nordwesten zur nächsten vollautomatisierten, topmodernen und äußerst lackschonenden Waschstraße mit Bürstenfransen aus lockenwicklerblauem Polyethylen.

Früher hatte Thomas einen anderen Namen für sie gehabt. Jetzt nannte er sie einfach Johanna. Der andere Name hatte sich irgendwann ausgeleiert oder war seinen Geschmack losgeworden wie HubbaBubba. Als kaue man auf einem langwierigen Bandscheibenvorfall herum. Vielleicht war er ihm irgendwann auch zu verspielt gewesen. Johanna hatte, soweit er sich erinnern konnte, gar keinen Namen mehr für ihn; sie vermied es, seinen in den Mund zu nehmen. Er hatte schon ein paar Mal, meistens vor dem Einschlafen, überlegt und verschiedene Optionen durchgespielt, wie es ihm gelingen könnte, sie zu zwingen. Dass er dazu in der Lage wäre, davon war er verzweifelt überzeugt.

Sie saß am Küchentisch und stocherte auf dem iPad im Leben von prominenten Leuten und irgendwelchen Leichen herum, das Kinn fest in ihrer Hand. Er stellte seine Aktentasche auf den Boden unter die mantelbehängte Garderobe. Jemand zu Besuch? Zwei oder sogar drei Mäntel, die er nicht kannte. Er rüttelte am hellblauen Krawattenknoten, lockerte ihn mit dem Daumen, kramte aus der Hosentasche seines Anzugs ein gebrauchtes Tempo hervor, drückte ein paar Mal die Backenzähne in den Kaugummi und spuckte ihn dann zwischen die papiernen Knitter. Cortex. Trepanation. Er wischte sich mit der oberen Taschentuchecke einen Schmutzfleck von der Lebenslinie, knüllte das Tempo mit der kümmerlichen, fingernagel-großen Gehirnmasse zusammen und drückte diese dann zwischen den Fingerkuppen zu einer Scheibe. Trepanation. Rußschwarzer Hirntod.

„Hallo, jemand da?“, rief er in Richtung Küche.

„Wer soll da sein“, antwortete es, „ich bin da, ich sitze hier. Nur ich. Bin auch erst vor ein paar Minuten nachhause gekommen. Die Feier war sehr kurz.“

„Ich frag ja nur.“

„Wer soll sonst noch da sein.“

„Wem gehören diese ganzen Mäntel?“

„Sind alles meine.“

„Hab ich noch nie gesehen. Wann hast du die denn …“

„Bitte“, sagte sie, und Thomas sagte nichts mehr. Er ging in die Küche und warf die weiche Scheibe in den Eimer unter der Spüle.

Draußen war Abend und auch drinnen im Haus. Vor einer halben Stunde hatten ihn die Nachtlichter der Bürogebäude im Vorbeigehen noch wegen Einbruchs angeschwärzt. Sie hatten ihm diese Absicht einfach so unterstellt. Sie waren beim Bezichtigen samtpfotig gewesen, doch kaum im Rücken, hatten sie ihm gemeinsam und lauthals nachgeblinkt: Feigling. Versager.

Er ging ins Wohnzimmer, wo er das Sakko über eine Stuhllehne hängte, öffnete die oberen zwei Hemdknöpfe und ließ sich mit einem Seufzer, fast wie nach einer großen, nun endlich abblätternden Anstrengung, auf das weiße Ledersofa fallen, das ihn wie ein Kuvert aufnahm. Ah, mein weiches Asyl. Mein Anthraxkuvertasyl.

Seine Augen schlachteten vom Lederkuvert aus den Raum aus; er wollte am liebsten tief in die Sofaritzen zurückschlüpfen, wie weißes Pulver; das stille Zimmer, es hielt still: Das Regalgerippe hatte viel ungelesenes Buchfleisch zwischen den Holzknochen, vor allem waltranfettes, ihre skandinavischen Krimis. Sebastian Fitzek. Und Wolfgang-Hohlbein- und wolfgang-hohlbein-artige Fantasyableger, mit ähnlich breiten Rücken („Morgan Rhodes“, das klingt schon nach sehnsüchtigem Galoppieren im Morgenrot). Das Wohnzimmer war auch gut mit Licht gefüllt, vom Deckenfluter stieg es warm nach oben, tauchte nach unten, pulste gastfreundlich und sauber und ohne jede Verdunkelungsgefahr quer über die Wände. Und er hatte das ziemlich hoffnungslose Gefühl – ein Gefühl, so verlässlich wie ein souverän präsentierter Wetterbericht –, in einem Zimmer zu sein, wo das versprochene Blutbad aufgeschoben war und niemals stattfinden würde.

Der Weg, leicht abschüssig, er muss den Kinderwagen fest am Griff packen, damit er sich nicht selbstständig macht und davonrollt. Seine Arme sind dünn und noch nicht sehr kräftig. Der Kinderwagen streckt sie. Auch seine Hände sind noch schmal und klein, und Paul im dunkelblauen Kinderwagen ist schmal und klein, er ist wirklich schmal und klein. Das Baby hat eine weiße Haube auf dem Kopf und lacht ihm babyhaft zu, und er lässt den Kinderwagen los und läuft am selbstfahrenden Gestell vorbei, überholt es, stellt sich dem kapitänlosen Gefährt in den Weg und fängt es auf. Das Baby liegt drinnen wie ein winziger Käfer und sieht nur den hohen blauen Himmel am Land. Felder neben der Straße. Mutter und Vater kommen hinten nach spaziert. Sie gehen Hand in Hand. Die Mutter ruft etwas von Aufpassen und Vorsichtigsein. Er umkreist den Kinderwagen, legt die Hände wieder auf den Schiebegriff und schiebt. Das Baby gähnt, und er merkt, dass der Weg stärker abzufallen beginnt, schon ab dem Kanaldeckel, der wie ein einsames, plattgewalztes Zahnrad ausgesehen und ihn beim Drüberfahren angeschnauzt hat. Und da nimmt er wieder die Hände vom Griff, lässt den Kinderwagen wieder selbstständig sein, der nimmt Fahrt auf und er rennt schnell und noch schneller, kommt auf gleiche Höhe mit dem Kinderwagen, in dem Paul Babygeräusche macht und strampelt, und er muss noch schneller rennen, um das Überholmanöver zu Ende zu bringen, um ihn wieder zu stoppen. Der Rollsplitt unter seinen Schuhsohlen lässt ihn wie auf einer Eisfläche ausgleiten, oder stellt ihm jemand ein Bein?, er sieht es nicht, stolpert, knickt um und fällt auf die Knie. Das Gestell mit dem dunkelblauen Korb rollt davon und er hört die Mutter und den Vater gemeinsam entsetzt schreien und das Baby still sein, während die Räder auf der rechten Seite über das sandige Bankett schlittern und der Wagen zittert und schlingert, immer weiter nach rechts, bis er von der Straße abkommt. Ein Abflussschacht stellt sein graues Maul klaffend in den Weg, und die Reifen prallen lieblos dagegen. Der Käfer wird nicht zerquetscht oder aus der gepolsterten Kapsel geschleudert. Thomas sieht es aus achtzehn oder zwanzig Metern Entfernung. Er rafft sich hoch und humpelt hin, die Eltern sind bereits dort, an ihm vorbeigelaufen, und als er hinkommt, liegt der Käfer mit geschlossenen Augen im Korb, nur ein bisschen zur Seite gedreht, und die Mutter ist gerade dabei, ihn herauszuheben und seine Haube zurechtzurücken. Das ist dem Thomas nicht recht. Aua, heult er, aua, mein Fuß tut weh. Aber niemand sagt etwas, und niemand schenkt ihm Beachtung. Abends im Krankenhaus wird man den Eltern mitteilen, dass er sich eine Fraktur des Mittelfußknochens zugezogen hat.

Zwölf Jahre wohnten Thomas und Johanna Nebig nun schon in dem zweistöckigen Fertigteilhaus zwischen Stadtrand und Waldrand. Zwölf ganze Jahre. Sie hatten es sechs Tage vor ihrem zweiundvierzigsten und neunundsechzig Tage vor seinem vierundvierzigsten Geburtstag gekauft. Es gab nur zwei Nachbarhäuser, eins gleich daneben, das andere weiter oben am Hügel. In diesen Häusern hieß es vermutlich, dass die Nebigs „halbwegs etwas aus sich gemacht hätten“. Der kürzlich vollendete Wintergartenzubau untermauerte diesen Verdacht. Sooft man vorbeiging, wartete der Peugeot in der Auffahrt vor der geschlossenen Garage. Als wäre der betonierte Bereich hinter dem geschlossenen Garagentor mit leicht angestaubtem Zeug in hoch gestapelten Kartonschachteln vollgestellt, oder als würden in diesem Haus mindestens zwei Leben geführt, die allzeit bereit waren zum unvorhersehbaren Abruf oder zur fluchtartigen Abfahrt. Nur der Motor lief nicht.

Johanna Nebig stand an diesem Abend höchstpersönlich in ihrer roten Jogginghose und ihrem Lieblings-Coachella-T-Shirt beim Bügelbrett und bügelte Hemden, das neue Dampfbügeleisen funktionierte tadellos. Zisch. Thomas Nebig kam herein, sah, dass Johanna Nebig Hemden bügelte. Johanna Nebig machte Anstalten, dass sie alleine sein wollte. Thomas Nebig verstand diese Anstalten nicht und blieb und setzte sich an den Tisch. Johanna Nebig murrte nicht, drehte aber die Temperatur am Bügeleisen höher und beschleunigte das Straffziehen und das Glätten der Stoffe. Zisch. Thomas Nebig sah ihr zu, und da fiel ihm auf, dass um die linke Hand von Johanna Nebig eine Bandage gewickelt war, dank der immergleichen Bewegungen am Bügelbrett, durch die der Ärmel ihres Pullovers eine Spur nach oben gerutscht war, über das Handgelenk. Johanna Nebig bemerkte den Blick von Thomas Nebig, ließ das dampfende und zischende Bügeleisen wie erloschen im nachlassenden Zimmerkonfettiregen stehen (sie wünschte sich insgeheim oft, ein Star zu sein, Singer-Songwriter oder Influencer oder so, immerhin hing seit mehreren Monaten ein sehr erotisches Foto von ihr im Schaufenster vom Fotostudio Christine Kniewasser im sechzehnten Bezirk, unter der Dusche bewegte sie aber die Lippen immer nur lautlos wie eine Forelle, und ihre Schminkkünste, so fand jedenfalls ihr Mann, waren an normalen Tagen und auch auf dem erotischen Foto in etwa so ausgewogen und ausgefeilt wie eine Kronenzeitungskolumne) und striegelte sich mit der bandagierten Hand die langen, braunen Haare hinter ihr Ohr. Sie wiederholte die Bewegung mehrmals, bis Thomas Nebig einen zunehmend öligen Glanz in ihren Haaren wahrzunehmen glaubte.

Thomas fragte sie, wie es ihrer Hand gehe, und deutete dabei auf den Verband, und sie antwortete, dass es ihr noch nicht möglich sei, die Finger zu einer Faust zusammen zu ziehen, es sei aber schon besser geworden und sie … Er sagte, sie solle aufpassen und das Bügeleisen wieder bewegen, sonst gäbe es Brandflecken. Sie gehorchte. Er ging zu ihr und drückte sich von hinten an sie, dann streichelte er über ihre Hüfte, weiter nach oben, ihre Brüste, und dann endlich, endlich über ihre Hand, die wieder auf dem Griff des Bügeleisens lag und es hin und her zog und schob, wie an einer Fleischleine. Die Bandage duftete im Dampf nach Desinfektionsmittel und Medikamentenschrank. Ihre fein strukturierten Verflechtungen hätten ruhig stabiler und härter sein können, aber sie fingen ihn auch so ein, zerfledderten und zerlaugten seine Gedanken und ließen seinen Blick nicht los, als hinge er in diesem unsteten Fangeisen fest, das hypnotisch vor und mit ihm hin und her pendelte. Thomas Nebig vergaß auf die restliche Johanna Nebig, die vor ihm stand, bis sie ihn mit dem Ellbogen daran erinnerte, wie unverhältnismäßig nahe sie sich gerade waren. Da gab er sich einen Ruck und löste sich von ihr.

Er war enttäuscht und wütend, und seine Wut äußerte sich, indem er wort- und satzkarg den Raum verließ. Sie war wütend und enttäuscht, und ihre Enttäuschung äußerte sich, indem sie ihre Tränen zurückhielt und sie tief nach unten schluckte, tief in sich hinein, dorthin, wo man sie nie vermuten würde, in die Milz vielleicht. Sonst äußerten beide nichts. Der Feierabend schwieg monolithisch vor sich hin, es war auch nichts mehr aus ihm herauszufräsen. Und beide waren sich dessen bewusst, und sie wussten, dass sie sich auch nicht anders hätten äußern können, selbst wenn sie gewollt hätten.

Jahrzehntelange Arbeit laugt einen aus, zwangsläufig, das geht nicht anders, das ist vorgegeben, natürlich, und lässt sich nicht ändern, sie laugt einen aus und frisst einen auf, von innen, von außen, und völlig egal, um welche Arbeitsform es sich handelt, wie und wo man sich abrackert und ruiniert: in einem Rohbau, an einem Schreibtisch, hinter dem Steuer eines Stückguttransporters, in einer Boutique, hinter einer Bar, auf der ISS, einem Schrottplatz, einer Theaterbühne, an einem Ticketschalter, im Home Office oder in einem Coworking Space vor dem MacBook oder eben in irgendeiner Arzt-Ordi. Sie nagt einen ab, die Arbeit, langsam und genüsslich wie richtige Piranhas, ein Schwarm, der es Länge mal Breite auskostet, dass er vor kurzem gelernt hat, mit Messern und Gabeln zu essen. Begleitet einen auf Schritt und Tritt, ob man will oder nicht, gibt einem Tritte, immer wieder, gezielt auf die Schienbeine und von hinten in die Kniekehlen, bleckt auf dem Handy die Mitteilungszähne, damit man sich ja nicht zu sicher werden kann, sich nirgendwo sicher fühlen kann, bis zum Burn-out, damit man ja kein Refugium welcher Art und wo auch immer aufbauen kann. Refugium, schönes Wort. Zugige Säulenhalle mit spiegelglatten Fliesen, wo niemand sonst ist, menschenleer, und in der Mitte blitzt eine blaue Toi-Toi-Baustellentoilettenkabine auf. Refugium. Ja, auch ein blindes Huhn wie ich findet manchmal ein Wort … und nicht nur der liebe Paul. Und wenn man sich dann vornimmt, in die Offensive zu gehen und abzuschalten, wenn man sich Meuterei vornimmt, den Aufstand probt, dann spürt sie das sofort, die Arbeit, und dann meuchelt sie einen erst recht schnell und gnadenlos, von hinten nimmt sie einem das sinnlose Pflichtbewusstsein aus der Hand und schneidet dir damit die Kehle durch, bevor du überhaupt in der Lage bist, dich umzudrehen, die Waffe zu heben, sofern du überhaupt noch eine parat hast, und abzudrücken. Lasst … mich … alle … in … Frieden …

So oder so ähnlich, in einer jammervollen Tonlage jedenfalls, ahnte Thomas Nebig vor sich hin. Wenige Minuten zuvor hatte er seine E-Mails abgerufen, die vielen ungelesenen Nachrichten waren ihm als dunkler Niederschlag vom iPad entgegengeprasselt, nächste Woche versprach besch…eiden zu werden: Reklamationen en masse, Ärger mit einem Labor, und die Praxis, die hervorragend ausgestattete Stammpraxis vom netten Dr. Langenscheidt schließt und wird von niemandem übernommen werden. Bereits die dritte Praxis im letzten halben Jahr aus seinem Zuständigkeitsbereich, die eingehen wird. Als stürben alle einträglichen Arztpraxen weg und verzichteten freiwillig aufs Nachwachsen.

Das Salamifett der Fertigpizza aus dem Hause Wagner ätzte ihm gehörig den trockenen Gaumen auf. Er verschlang das letzte Viertel mit fünf Bissen. Auf dem Küchentisch die leere Obstschale, sie wartete geduldig wie eine Parabolantenne auf so etwas wie ein kalorienarmes, heilendes Signal von weiß der Teufel woher, vielleicht von einem Satelliten, oder von einem Planeten, wo die Zeit in den Birnen nicht weitertickte, sondern sie aufs Braunwerden verzichten ließ, aufs Fleckig-, aufs Weichwerden. Immerhin, die vergangene Woche ist produktiv gewesen, ausgesprochen produktiv, ich bin außerordentlich produktiv gewesen, viel vom lästigen, administrativen Kram erledigen können. Auch das Online-Datenerfassungssystem mit den häufig auftauchenden Masken- und Back-End-Problemen hatte sich zu seiner Überraschung überaus zutraulich verhalten. Nein, eigentlich war es keine Überraschung für ihn gewesen, auch keine positive. Er hatte alles zur Kenntnis genommen und weitergearbeitet. Er hatte nichts gefühlt. Keine Freude, keine Traurigkeit, nichts. Die Ärztemusterprobepackung Medikinet hatte ihm bei jedem Frühstückskaffee ihre Vorderseite mit den gefüllten und den ausgedrückten, durchsichtigen Blisterpickeln angeboten, und ihren kühlen Rücken mit der aufgeplatzten Alufolie. Sie hatte sich angeboten, und er hatte abgedrückt. Wie immer. Alles Leben ist Chemie. Noch eine Leerstelle mehr.

Durch das gekippte Fenster kamen Anfeuerungsrufe und Pfiffe, dann Klatschen, Brüllen und Johlen, wahrscheinlich wieder Eltern aus dieser merkwürdigen Lerngruppe beim 60-Meter-Kinderwettrennen auf der Försterwiese, ganz scientologisch auf Höchstleistungen vom Nachwuchs lauern, brüllt und peitscht die Kinder zu besseren Leistungen! Ja nichts versäumen, nicht nachlassen, immer begeistert am Ball bleiben, und dabei ganz natürlich sein, bitte, völlig natürlich bleiben.

Er wünschte sich emotionslose oder zumindest halbwegs ausgeglichene, sachliche Zaungäste, mit weniger monströsem Stolz, mit weniger monströser Zärtlichkeit. Er wischte sich mit der Serviette die Augen- und dann die Mundwinkel aus. Dann hörte er die Haustür, dann das Klimpern ihres Schlüsselbunds wie bei einem Kleingewinn im Centbereich an einem einarmigen Banditen. 1 Kirsche, 1 halbe Melone, 1 Stern.

„Wo warst du denn?“, fragte er.

„Spazieren.“

„Bei dem Wetter?“

Johanna betrat das Wohnzimmer in Schuhen und Mantel. Der Mantel sonderte kühle Laub- und Spätherbstluft ab.

„Soll heißen?“

„Ist es nicht kalt draußen?“, fragte er sehr ruhig.

„Wozu gibt es warme Sachen. Hast du heute überhaupt schon mal rausgeschaut? Die Sonne scheint.“

Er betrachtete sie vorsichtig von der Seite. Ihre Gestalt hatte tatsächlich wieder zu einer ordentlichen Regelmäßigkeit zurückgefunden, obwohl ihr Handgelenk noch immer in die Bandagenwolke eingesponnen war.

„Bist du fertig?“, fragte sie. „Wir müssen gleich los.“

„Ja, sofort.“

Der heutige Samstagnachmittag war durchprogrammiert. Die Termine beruhten auf einem gegenseitigen Einverständnis, das sie am Ende einer kurzen Unterhaltung vor rund einem Monat während der dritten Werbepause einer zweieinhalbstündigen Dokumentation über Eichenprozessionsspinner auf der Couch getroffen hatten. Johanna und ihre sogenannte Beiläufigkeit. Von wegen „Kontakt halten“. Von wegen „Familie“. Von wegen „gemeinsam“.

13:30 Uhr Kaffee bei Paul und Cornelia

15:30 Uhr Ausstellung

17:30 Uhr Abendessen im SAPA

Die funkgesteuerte Wetterstation auf der Kommode zeigte 12:47 Uhr und fallenden Luftdruck. Er erhob sich und nahm seinen Teller mit den Teigrandresten. Im benachbarten Garten kreischte das Laubgebläse in den Händen von Hermann Wurstmann die Blätter zusammen. („Bei aller Liebe“, so Johanna vor einiger Zeit beim Mittagessen, „aber welche Eltern nennen ihr Kind bitteschön ‚Hermann‘, wenn man mit Familiennamen ‚Wurstmann‘ heißt; der hat ja überhaupt keine andere Chance gehabt, der Arme. Der musste einfach ein tribaltätowierter, bulliger Pitbull-Prolet werden; mit Narben und Zahnlücke; testosterongesteuerter, aufgepumpter, Marschierpulver ziehender Fitnessfreak. Kann mir gut vorstellen, dass dem ab und zu die Schlagringfaust auskommt.“)

Auf dem Rückweg vom Geschirrspüler zur Garderobe streifte sein kleiner Finger wie unabsichtlich ihren Verband.

„Komme.“

Sue Tilley döst auf ihrem Sofa, hört Brüdergespräche und andere Gespräche und nimmt nicht am Abendessen ohne Essen teil

„Sie müssen bald hier sein“, sagte Cornelia Nebig, „Paul, holst du bitte noch die Gläser und Tassen?“

Warum muss das sein, dachte er, warumwarum die Besucherei, warum. Man könnte absagen, jetzt ist noch Zeit, anrufen und absagen, Ausrede: plötzliches Fieber, Blutvergiftung, akute Migräne, Tollwut o.ä., aber das würde als Ausrede erkannt werden, bestimmt sogar, so dämlich sind Thomas und Johanna nicht. Sollen sie ruhig, das wär mir egal, wenn ich daran denke, wie die nächsten vier Stunden verlaufen werden, mit Sicherheit, wua, Gänsehaut, ich weiß, wie Big Brother Thomas tickt und wie er und sie gegeneinander ticken, das sieht man vom Mond aus, dass da etwas, nein, alles nicht stimmt. Sollen sie unter sich bleiben, das habe ich Cornelia gesagt, in ihrem zweistöckigen Bunker mit dem Wintergarten- oder Gewächshäuschentumor an der Seite sollen sie bleiben, mit ihrer gegenseitigen Verachtung, keine gute Idee, hab ich zu ihr gesagt, oder hab ich das nicht?, doch, hab ich, hab ich. Aber nein, sie dann: „sollen doch vorbeikommen, die zwei“, und: „Familie“. Und dann kommen sie vorbei und nutzen das Vorbeikommen beinhart aus, um andere mit hineinzuziehen, brauchen dann andere, die sie davon ablenken, benutzen dann andere, das heißt uns, das heißt MICH, damit sie Publikum haben, jeder für sich, jeder sein eigenes, wie letztens auf dieser einen Geburtstagsparty, wo alle Gäste nur herumgestanden sind, arrogant geparkte Betonpfähle, in diesem verrauchten Club in der Innenstadt, an Tischen mit ungleich langen Standbeinen, dumme Stehtische, die unruhig und asynchron zuerst zur Gitarrenmusik einer Status-Quo-Cover-Band und ab Mitternacht zu den unangesagtesten Triple-Step- und Trap-Beats (dazwischen noch, was war noch? Ja genau, irgendwelche Soundcloud-No-Names, FKA Twigs, Peaches und die refraingeloopten Schröders, ah, und Egotronic-Einsprengsel, und ein zwanzigminütiger Kanye-West-Gold-Digger-Remix) eines übermotivierten und unterbelichteten Kraut- und-Rüben-DJs den unebenen Steinboden antippten, die Visuals an der Decke: eine rachitische und neurodermitische Irrelevanz; die Cluster, Grids und Lines beweinten sich fast schon selbst wegen ihrem uninspiriert flackernden und stotternden Hingerotztsein, und dazwischen, zwischen Hölle und Hölle, diese abgedroschenen, armseligen Menschen, und irgendwo zwischen diesen Gestalten Thomas und Johanna. Sie haben sich nur kurz angesehen, ich habe es genau beobachtet und habe alles gewusst. Beide so Blicke, wie auf Willhaben eingeloggt: Abscheu- und Hass-Auktion, nur diese zwei Bieter, gerade als ich zu ihnen rübergesehen hab, drei Meter voneinander entfernt, Luftlinie, und die ist durchwegs von ihren aufrichtig gehässigen Blicken verstrahlseucht gewesen, so muss man das nennen, und hätte mit ihrer hochgradigen Strahlkraft jeden altmodischen Geigerzähler und jeden zeitgemäßen Nahfeldscanner mit SAR-Wert-Digitalanzeige zur Verzweiflung gebracht. Thomas und Johanna haben sich angesehen, mit einer derart ab- und augenfälligen Verächtlichkeit, dass … Und interessant, wie sie sich in ihrem jeweiligen kleinlichen Sadismus immer wieder gegenseitig ihre Wörter verleidderben und madig machen: „Seltsam … würdest du bitte mal ein anderes Adjektiv benutzen als seltsam? Ente süß-sauer beim Chinesen an der Ecke kann seltsam schmecken, gut, einverstanden. Aber für dich ist die kleinste Kleinigkeit immer gleich seltsam-seltsam-seltsam. Das Wort Kainszeichen ist für dich seltsam. Eine Bowlingkugel ist für dich seltsam. Weil sie drei Löcher hat oder rund ist, oder was?“ – „Und du? Bei dir ist es wahnsinnig – wahnsinnig gut, wahnsinnig toll, wahnsinnig was weiß ich. Alles ist wahnsinnig bei dir.“

Hinrichtungen vom Feinsten, Verleidderbung dreier armer, unschuldiger Wörter auf einen Streich, dreifacher Genickschuss, Verleidderbung, ja, so muss man das nennen, wenn man mit Sprache kreativ und spielerisch umgehen will, und das will ich, wenn sich das schon beruflich nicht machen lässt, dann zumindest im Kopf umsetzen, ganz privat – die Gedanken sind ja bekanntlich frei – wenn das berufliche Schreibkorsett alles Kreative nun einmal abtötet. Und ich will das alles gar nicht so genau hören bei dieser Geburtstagsparty, aber die Ohren sind nun mal offen, und die Augen nehmen sich an ihren lieben Nachbarn ein Beispiel, und sahen und sehen Johanna immer noch auf dieser Party in ihrem roten, etwas zu eng geschnittenen Zara-Kostüm, das sie immer zu derartigen Anlässen trägt, Thomas in einem seiner erlesenen Nadelstreifanzüge von der Stange, aber geht schon in Ordnung, weil in diesen Anzügen entspricht er dem, was er wesensgemäß ist: ein kleiner Handlanger der Pharmaindustrie, der sich selbst bereits für tot erklärt hat und dafür nun bemitleidet werden will. Er spielt das schöne, tote Opfer so schön und gelungen, glaubt er zumindest. Und sie schauspielert auch, nämlich die Leidtragende, nein, noch besser, das Opfer des Opfers. Johanna habe ich bisher noch nie direkt oder explizit sagen hören, dass Thomas der Böse sei, weil – mit solchen Kategorisierungen von gestern hält sie sich dezent zurück. Überhaupt mit allen Kategorisierungen. Wahrscheinlich, damit sie nicht als Neandertalerklischee der armen, tyrannisierten Frau in die Köpfe der Freunde und Verwandte einzieht, also ist Thomas immer ein „Opfer seiner Umstände“, wie sie sagt. Obwohl, nein, das hat sie auch noch nie gesagt, das würde sie wahrscheinlich auch nicht so sagen, das denkt sie höchstens, ja, denken wird Johanna das bestimmt, und sie denkt bestimmt auch, dass sie selbst an diesen „Umständen“ beteiligt ist und dass sie in ihrem Dunstkreis verharren muss, die gute Passivraucherin im Dunstkreis der „Umstände“, die sie ganzganz tief inhalieren muss, die Umstände atmet sie so lang und tief ein, bis in die letzten und winzigsten Lungenbläschen hinein. Welche Umstände das auch immer sein mögen, dachte Paul Nebig, wobei, ich glaube nicht, dass es wirklich Umstände sind, sondern nur einer, ein einziger Umstand, von dem ich mir vorstellen könnte, dass Thomas diesem zum Opfer geworden ist, und das ist der Abstand zu seinem eigenen Ich, der sich irgendwie verkleinert hat, die Distanz zu sich selbst ist weg, und in der Bruthitze dieses Ichs suhlt er sich jetzt, so billig und seicht das auch klingt. Für Thomas mit Sicherheit. Wobei dieses ganze Gefasel vom Ich fühle Ich spüre Ich verwirkliche mich Ich erkenne mich Ich … er hat recht, wenn er das sagt, es ist Gefasel. Aber er hat sich verkleinert, dieser Abstand, das merkt man allein wenn er mit einem redet, wie er mit einem redet, so gekünstelt und verworren und übertrieben ernst, so gar nicht mit sich im Reinen. Ich würde ihm das aber niemals persönlich ins Gesicht sagen, weil er lässt sich in dieser Hinsicht ohnehin nichts sagen und schon gar nichts vorschlagen, von niemandem, und von mir schon gar nicht, da ist und bleibt er vollkommen resistent und unzugänglich, auch was Hobbys oder Therapien betrifft, Psychotherapie, Psychoanalyse, Partnertherapie, Reden über die eigenen Gefühle, sogar die heilige katholische Kirche, das sakrale Comeback, hach, oder die sakrale Renaissance meinetwegen, oder Zen-Buddhismus, Yogasutren, Indienreise, Homöopathie, Fliegenfischen, Ornithologie, Mykologie, Modallogik – keine Chance bei ihm. Er ist „nicht der Typ für solche letzten Instanzen“, für solche „letzten Weltanschauungsinstanzen“, wie er einmal gesagt hat, oder habe ich das über ihn gesagt? nein, er hat, er hat, und zu letzten hat er Gänsefüßchen gemacht, und Johanna und er werden darum weiterhin alles tun, um bei jeder sich bietenden Gelegenheit von den Freunden und Bekannten und Verwandten und Kollegen jeweils mehr Mitleid einzuheimsen als der andere. Um am Ende eines Tages, einer Woche, eines Monats, jeder in seinem Geldspeicher, auf einem höheren Mitleidsgebirge zu sitzen als der andere, gerüstet für den nächsten Mitleidserntenvergleich. Und ausgerechnet mit den beiden in eine Lucian-Freud-Ausstellung latschen, ausgerechnet. Den großen, kunstfernen Bruder samt Gattin mitschleifen. Schon befremdlich und ironisch, oder plakativ und tragisch, wie man’s nimmt. So oder so: wie die Faust aufs Auge; wie wenn man den lieben, fremden Onkel mit den dicken Brillengläsern und lieben Süßigkeitsversprechen auf den Lippen an der Hand nimmt und durchs Kinderfreibad zum Ausgang schleift, komm, Onkel, komm, obwohl man ganz genau weiß, was einen hinter dem nächsten Gebüsch erwartet. Sir Clement Freud, der soll ja auch so ein lieber Onkel gewesen sein, Lucians Bruder, ausgerechnet der, und ausgerechnet ein Enkel von … na ja. Alles Gestörte, durchwegs. Ich warte nur noch darauf, dass … die Türglocke.

„Und? Was tut sich im Kunstjournalismus? Was macht das Schreiben?“, so Thomas beiläufig.

„Geht voran“, sagte Paul und rührte die Milchschlieren in seinem Kaffee dunkelbraun, „langsam, aber es geht. Sitz gerade an einem Artikel über die Möglichkeit einer schleichenden Islamisierung des westlichen Kunstmarktes. Und bei dir? Wie … Zucker steht dort.“

Thomas seufzte laut.

„Ah, frag nicht“, eine wegwerfende Handbewegung, „todmüde. Viel zu tun. Permanent. Viel … Druck von oben, neue Direktion. Man kann sich das als Außenstehender ja gar nicht vorstellen. Tun alle immer so, als hätten wir alle Freiheiten der Welt. Und dann wollen die doch glatt, dass …“

Er hätte wirklich nicht fragen sollen. Außer ein paar Silben, die Paul automatisch wie einen Lego-Todesstern zusammensetzte und die vermutlich Wörter ergaben wie „Umsatzrückgang“, „Arbeitsaufkommen“, „Bürokratieboom“, „Umstrukturierungsmaßnahmen“ (dazwischen auch der eine oder andere medizinisch-pharmakologische Fachbegriff, mit dessen Bedeutung und Klang er rein gar nichts anfangen geschweige denn zu tun haben wollte, und dann noch irgendetwas Zusammenhangloses über „Windmühlen“ und „Kirschen“), schmolzen die Sätze seines Bruders zu Kurzmeldungen aus einer Presseagentur, da und dort von uncodierten Sonderzeichen verstümmelt. Gratulation, Erwartung erfüllt, dachte Paul Nebig. Er sah sich als lang- und weißhaarigen, rauschebärtigen Propheten auf einem Berg in einer Steinwüste stehen und hörte sich zu den Steinen mehrmals das Wort „Wahrlich“ sagen oder sogar rufen. Schon sabbern einander diese Selbstmitleidsätze voll, dachte er, ihre arme Syntax und ihre armen Kontexte, und mittendrin der arme Thomas, der sich von seinen eigenen Sätzen genussvoll volltriefen lässt. Das Daktylogramm von Pauls Zeigefinger deckte sich fest mit erdnussbraunem Schnee aus der Kaffeetasse zu und hoffte auf einen baldigen Erstickungs- oder Erdrückungstod. Er hätte wirklich nicht fragen sollen.

„… ständig in Alarmbereitschaft sein, ständig abrufbar sein, ich meine, wie soll das gehen auf die Dauer? Da wird man irgendwann kaputt oder wahnsinnig oder …“

Wird? Ha. Paul musste plötzlich an die Nachbarn von früher denken, als Thomas und er noch mit den Eltern in einer Wohnung im sechzehnten Bezirk gewohnt hatten, an die Nachbarn mit dem behinderten Sohn im Rollstuhl. Der Familienname fiel ihm natürlich nicht ein, genauso wenig wie der medizinische Fachausdruck für die Behinderung des Sohnes. Aber das würdest du ganz bestimmt wissen, Tommy, dachte Paul, das musst du einfach wissen, berufshalber. Ich bin damals schon mit deinem Pharmavertreter-Vokabular und dem ganzen damit verbundenen Raster zerstritten gewesen. Egal. Den Vornamen des Sohnes, den weiß ich noch, dachte Paul Nebig: Simon hat er geheißen, ja, Simon, genau, und Simon ist immer fröhlich gewesen und hochgestimmt und eben auch geistig zurückgeblieben, er hat nur „Jaaa“ und „BaaaBaaa“ hervorstöhnen können, und sein Pullover ist immer wasserfalldurchnässt gewesen vom eigenen, dicken Sabber, und auch seine spastisch verwinkelten Hände. Auf ihr Flachdach sind die Tropfen geplatscht, an Speichelfäden haben sie sich aus Simons lachenden Mundwinkeln hinuntergelassen. Und von seinem nassen, spitzen Kinn. Tropfen wie defekte Jo-Jos.

Thomas performte über der gerade von Cornelia aufgetragenen Biskuitrolle mit Darbo-Naturrein-Marillenmarmelade mittlerweile die vierte Strophe seines Klagelieds zu seinem Arbeitsleid als Pharmareferent. Und Paul Nebig musste an den Vater von Simon denken, der dem sabbernden und grunzenden Jungen, egal wo, egal vor wem, immer mit der gleichen, unverstellten Selbstverständlichkeit begegnet war, einer aufrichtigen Selbstverständlichkeit im Umgang, indem er zum Beispiel Simon seine väterliche Hand wie zur Segnung, aber ohne priesterlich weihevoll zu sein, auf den Kopf gelegt hatte oder mit den Fingern über dessen nasse Wangen gefahren war – eine wunderliche Selbstverständlichkeit. Und stets aufs Neue entsetzlich. Diese Selbstverständlichkeit hatte dann auch stets aufs Neue zwei Rudel aus Nässe in seinen Augen zusammengetrieben, diese aus reinstem Wasser bestehende Selbstverständlichkeit von Simons Vater. Sie hatte ihm weh getan und ihn daran gehindert, mit Simon, dem Nachbarsjungen, ohne latentem Ekel umzugehen, mit Simon, den er insgeheim „den Downer“ genannt hatte, aber nicht wegen Trisomie 21, dieser medizinische Fachausdruck war ihm bekannt, sondern weil er sich immer ganz down gefühlt hatte, sobald er in seiner Nähe gewesen war, was Paul selbst natürlich nicht so gut fand, weil man so etwas natürlich nicht fühlen durfte. Wobei, fiel ihm jetzt plötzlich ein, der ausschlaggebende Grund für seinen latenten Ekel könnte gewesen sein, dass da ein Wesen im Rollstuhl gelehnt hatte, unfähig, diesen Stuhl und auch den anderen, die eigenen Ausscheidungen, die eigenen Schließmuskeln aus eigener Kraft zu kontrollieren. Ein Wesen, das völlig auf andere angewiesen war, abhängig wie nur was. „Downer“ in Geiselhaft. Weil er nicht so funktionierte wie die anderen. Weil „Downers“ Funktionsweise und Ausmaß seiner körperlichen und geistigen Aufnahmefähigkeit für alle und jeden absolut unergründlich bleiben musste – was dem Ganzen eine noch viel gravierendere, weil ungewissere Note hinzufügte. Wie viel Welt, wie viel von ihrem ganzen Irrsinn bekam der „Downer“ eigentlich wirklich mit? Diese Unergründlichkeit, die noch viel tiefer ging als jede andere, sogenannte herkömmliche, zwischenmenschliche Unergründlichkeit, ließ die Vermutung in Paul reißzweckig herumspringen, dass es sich bei Simon, dem „Downer“, am Ende vielleicht doch nicht um eine ganz und gar unbrauchbare, zwecklos-hohle und bedürftige Kreatur handelte, sondern um einen hellwachen, glasklaren, aber äußerst verschlagenen Verstand – vielleicht sogar um einen überlegenen Verstand, der dasaß, in sich selbst ruhend, alles still beobachtete und sich einen unergründlichen, genüsslichen, überlegenen Reim auf die Dinge um ihn herum machte und den er daher abstoßend finden musste. Vielleicht, überlegte Paul jetzt, musste er Simon aber nicht nur wegen seiner möglichen Verschlagenheit abstoßend finden. Vielleicht musste er ihn deshalb abstoßend finden, weil Simons Bedürftigkeit, ob gespielt oder nicht, ihn so sehr an seine eigene Bedürftigkeit erinnerte. Nur dass man Simons Bedürftigkeit nachgekommen war.

Er blickte rasch auf. Thomas laberte. Laberte. Laberte. Und auf einmal schob sich aus irgendeinem Winkel des Wohnzimmers das halbtransparente Gesicht von Simon heran, flatterte wie ein sehr großer Schmetterling über das Gesicht seines Bruders und überblendete es – und für einen kurzen Moment hatte Thomas vier Augen und zwei Nasen und zwei Münder, weil sich Simons Gesicht nicht exakt auf die Konturen legte, aber dann flackerte es kurz auf und passte sich ein, und am Tisch saß plötzlich Simon neben ihm, so fröhlich wie gehabt, wie damals. Und Paul Nebig bemerkte, dass etwas in ihm aufkeimte, so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Es drängte ihn, sich vor dieser Misch-Maske aus dem Fenster zu stürzen. Fünfter Stock, das wäre machbar und aussichtsreich.

Cornelia und Johanna kehrten in einem Zustand zwischen geheimnisvoll und geheimnislos aus der Küche zurück. Cornelia erklärte, sie habe Johanna den neuen Quickboy gezeigt. Sie setzten sich.

„Du siehst blass aus“, sagte Cornelia fast entrüstet zu Paul, der mit einem dünnen „Ja“ antwortete.

„Und du, lieber Thomas“, sagte sie, dieses Mal durchwegs entrüstet und mit halb gespieltem Tadel, „ich hab gehört, du misshandelst neuerdings deine Frau? Sieh sich das mal einer an. Hätt ich jetzt nicht von dir gedacht.“

Cornelia zeigte auf Johannas Verband. Johanna zupfte mit ihrer gesunden Flosse zuerst daran herum, danach wieder am unteren Ausschnittsende ihres roten Kostüms.

Simon/Thomas errötete. Der Halbscherztadel entfaltete seine Wirkung. Simon/Thomas rang nach dem passenden Text.

„Gehen wir dann?“, fragte Paul. „BITTE.“

Sein Herz klopfte. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass sich alles um ihn herum vervielfältigte: die Simon/Thomas-Melange vor ihm, dieser Dialog, die Möbel – all das zusammen zersplitterte in unzählige Kitchen-Sink-Dramen, wo der ausgeleierte, melancholische Schwarztee der Familie neu und neu aufgegossen wurde. Aufgewärmt wie wässriges Mikrowellenfressen. Er wollte hier weg. Er wollte damit nichts zu tun haben.

Simon/Thomas sabberte nicht mehr ganz so vergnügt und selbstmitleidig, lächelte aber weiterhin etwas zu geradlinig und gerade mal so, dass diese Spinne auf seinem Gesicht noch als Lächeln durchgehen konnte, und fragte, ob er vor dem Gehen einen letzten Kaffee haben könne, er brauche unbedingt noch einen Espresso, „schwarz wie ein Tintenfass“, die Arbeit habe ihn diese Woche kaum länger als 5-6 h/Nacht schlafen lassen. Johanna lächelte weiblich-humanitär und sagte, das entspreche völlig der Wahrheit, ihr armer Mann sei nur noch am Rackern und Schuften, aber, und daran komme man nun einmal nicht vorbei, sie selbst habe zur Zeit auch unglaublich viel um die Ohren mit den häuslichen und den beruflichen Verpflichtungen, so wahnsinnig-wahnsinnig viel, ähnlich wie ihr armer Mann, ja fast noch mehr als er, dass sie kaum einen Tag vor Mitternacht und damit sogar immer erst nach ihm ins Bett gekommen sei, was ihren Schlafschnitt inzwischen auf rund 3-4 h/Nacht gesenkt habe, auch deshalb, weil sie etwas mehr Zeit brauche als sonst, um einzuschlafen, da der arme Thomas-Tropf mehr und viel viel lauter schnarche als früher, „kein Wunder“, sagte sie, weil Stress beeinflusse erwiesenermaßen das Schlafverhalten inkl. Regeneration äußerst negativ, und Stress habe ihr armer Mann wahrlich genug.